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LEA

Nun ist es auch schon wieder 35 Jahre her, seit unsere Tochter geboren wurde – und der Geburtstag war gleichzeitig ihr Todestag. Die Erinnerung ist so stark wie am ersten Tag danach…

Allzu kurz durften meine Frau und ich das Kind in den Armen halten. Dann wurde es gewaltsam (so habe ich es zumindest empfunden) weggerissen – auf Nimmerwiedersehen. Dabei war es eine schöne Tochter, eine wunderschöne Tochter. Sie hatte dichtes schwarzes Haar und eine ebenmäßige Figur und das Gesichtchen – ein Traum. Wir wollten sie Lea nennen.

Ich habe ihr viele Jahre später ein literarisches Denkmal gesetzt – es ist meine ureigenste Form, mit einem Problem fertigzuwerden. War es zu naiv, so zu tun? War es vielleicht vermessen? Vielleicht sogar anmaßend oder (mehr als das) überheblich! War meine Vorgangsweise präpotent, so wie es meine Art ist – im Vollgefühl meiner Überlegenheit in allen anderen Dingen. Ich schrieb:

Natürlich könnte man behaupten, es handle sich hier um die Geschichte eines toten kleinen Mädchens. Oder um Geschichten von mir und dir und uns und euch. Aber das wäre falsch. Man wird auch nichts vom Heurigen finden, obwohl wir hier in Wien sind. In Wahrheit passiert in diesem Buch formal gar nichts: ein Autor und sein potentieller Verleger, sitzen an einem Wochenende in einem Zimmer und studieren einen längeren Text: Die vielzitierte Einheit des Ortes, der Zeit und der Handlung. Und noch andere Arten von Einheit: Der Autor repräsentiert mit seinem Werk die Einheit der ästhetischen Gestaltung (oder wenigstens den Versuch dazu). Den Verleger beseelt die Einheit des Zweifels an der Weltsicht seines Gegenübers. Bei dem, was er liest, fällt ihm auf, dass die Totalität der Welt durch das Bewusstsein eines erlebenden Subjekts gefiltert wird. Aber so einfach ist das auch wieder nicht: Seine editorische Routine lässt ihn diese selektive Totalität als prismatisch gebrochen erkennen, wobei in jedem Bereich des Spektrums unterschiedliche Einheiten der Reflexion auftreten.

Die Behauptung, man könne nicht mehr schreiben nach Joyce und Thomas Mann und Rilke weise ich zurück. Im Grunde gibt es ohnehin nur eine Handvoll guter Geschichten, die immer von neuem erzählt werden. Man kann auch noch schreiben nach den Katastrophen der Geschichte, selbst der Zeitgeschichte – und nach persönlichen Katastrophen. Sonst würde man wahrscheinlich nicht einmal mehr imstande sein, die eigene Biographie fortzusetzen – was oft ohnehin schon schwer genug fällt.

Als Außenstehender kann man sich aber manchmal gründlich täuschen. Ich verließ zum Beispiel den gymnasialen Deutschunterricht mit der Vorstellung von der Droste-Hülshoff als einer älteren Dame, die ihre Worte mit Bedacht wählte. Bestärkt wurde diese fixe Idee, als ich Jahre später vor dem westfälischen Wasserschloss stand und partout nichts anderes sehen wollte als den Anschein adliger Behaglichkeit. Bis ich dann – drei Jahrzehnte später – folgende Verse las:

So an seiner Jugend Scheide
Steht ein Herz voll stolzer Träume,
Blickt in ihre Paradiese
Und der Zukunft öde Räume …

Auf den Punkt gebracht: Die Dichterin war später gar nicht dort zuhause, wo ich sie ansiedelte, sie wurde auch nicht mehr als 51 Jahre (ein Alter, das mir nur zu vertraut ist), das heißt sie war eine junge oder wenigstens jung gebliebene Revolutionärin, gefangen in einem langsam alternden Körper – willens, den Rest des Lebens hinzugeben mit einer Handbewegung für die Möglichkeit, das Vergangene nochmals zu ergreifen und festzuhalten um jeden Preis:

Und die Jahre, die sich langsam,
Tückisch reihten aus Minuten,
Alle brechen auf im Herzen,
Alle nun wie Wunden bluten …

Ob es nun wirklich Sinn macht oder nicht, man muss es immer wieder tun, und darum wird auch immer wieder geschrieben und meinetwegen nur immer wiederholt, was ohnehin schon längst jeder weiß, aber nicht wahrhaben möchte, was immer auch (und sei es noch so katastrophal) passiert sei. Dann, dann erst gibt es ein Überleben.

Aber jetzt etwas ganz anderes: Sie sehen, dass es natürlich auch für dieses Buch einen richtigen Autor gibt.

Wer ich bin? Ich gehe einem bürgerlichen Beruf nach und verbringe bereits mindestens mein halbes Leben mit diesem Text, der wächst und wächst, weil er ja ALLES enthalten soll. Was ich außerdem noch mag, ist Fernsehen und Musik hören (Sport eigentlich nur sehr in Maßen). Während ich schreibe, widme ich meine halbe Aufmerksamkeit zum Beispiel dem Turnier der Sumo-Ringer in Tokio. Oder der Übertragung eines Santana-Konzerts. Oder einem Weltraumabenteuer. Oder einem amerikanischen Serienkrimi .

Irgendwie habe ich das Gefühl, ich sei ganz klein, hätte mich aber in eine überlebensgroße Maschine gesetzt, gleich dem Zauberer von Oz. Mit Hilfe der Technik kann ich dem Hauch des gesprochenen Wortes das Tosen des Sturmes verleihen, dementsprechend auch der Stille der Pausen eine ungeheure Wucht. Mag sein, dass mich irgendjemand irgendwann in meinem Versteck aufspürt und meine wahre Dimension erkennt: dass ich nicht brüllen, ja nicht einmal singen kann – nicht einmal zur schönsten Melodie.

Aber jetzt zurück zu ADH. Soll ich es vielleicht verbergen, dass ich mich zu ihr hingezogen fühle? Wir sind eben nur zeitlich nicht zusammengekommen – zwei Zivilisationen auf verschiedenen Planeten verschiedener Sonnen. Mein Vorteil ist, dass ich von ihr weiß. Was sollte mich also in dieser Fiktion davon abhalten, sie zu begehren?

Komm mit mir, Annette, altes Mädchen. Machen wir noch einmal (meinetwegen wieder einmal) eine heiße Reise in eine kalte Welt.

Ich war insgeheim davon überzeugt, dass aus Lea eine gute Lyrikerin wie zum Beispiel Annette von Droste-Hülshoff geworden wäre. Vorerst wäre ich ihr bestimmt ein guter Vater (und meine Frau eine gute Mutter) geworden. Das haben wir mit unserem Sohn – so war ich überzeugt, obwohl man sich da nicht so sicher sein kann – unter Beweis gestellt. Die Sorge um unseren lebenden Nachwuchs überlagerte fallweise die Beschäftigung mit der Tochter – all diese Freuden und Leiden, die das Leben mit sich brachte. Wir hatten es uns nicht ansatzweise vorgestellt, wie es sein muss, Kinder zu haben. Das ging bis 25 Jahre mehrheitlich gut – ich dachte zwar noch an Lea, aber aus einer gewissen Distanz.

Und dennoch ging mir immer wieder die Frage im Kopf um, was aus ihr wohl geworden wäre: Geschäftsführerin in einem Autohaus wie ihre Mutter, Bankmanager wie ihr Vater (was unsere Brotberufe waren) – berühmte Jazz-Pianistin und bekannter Schriftsteller (was unsere Träume waren). Wie müßig das alles ist…

Und dann hatte ich einen schweren Schlaganfall – ging um Leben oder Tod. Es kam der Tag, an dem meine Tochter in meinen Träumen sehnsüchtig rief, ich möge mich um sie kümmern – um meinen Sohn hätte ich mich lange genug gesorgt. „Was verlangst Du von mir – dass ich sterbe?“, kam mein Einwand. „Wenn Du es so ausdrücken willst, in aller Brutalität. Ja, so ist es!“ Ich erwachte schweißgebadet. Ich war nicht imstande, etwas Vernünftiges zustande zu bringen. Ich war ohnehin labil, und da kam mir eine derartige Aufforderung wie ein Ausweg vor. Und das, obwohl aus dem Agnostiker von einst ein Atheist geworden war, in Form einer langsamen Weiterentwicklung. Mit einem Wort, ich glaubte an ein Jenseits nicht mehr, was die Sache mit der überirdischen Welt absolut unmöglich zu machen schien.

Und dennoch war Lea da! In meinen Gedanken, in meinen Gefühlen – was immer…

Man sagt ja, solange jemand Lebender an einen denkt, Empfindungen für einen hegt, existiert man weiter. Erst wenn sich niemand an uns erinnert und jede Emotion erloschen ist, ist man wirklich tot. Für den Lebenden ist es absolut widersinnig zu sterben, denn dann würde die Erinnerung an die Toten endgültig erlöschen.

Meine Einstellung änderte sich von dem Moment an grundsätzlich!

Unaufhaltsam ging die objektive Zeit voran – Lea entfernte sich immer weiter von mir! Gleichzeitig war mir jedoch bewusst, wie sehr ich sie nach wie vor brauchte! Ich schrieb:

Wenn Sie die Neugier aufgebracht haben, über einige leere Seiten hinwegzublättern, werden Sie nicht überrascht sein, nach dem endgültig klingenden letzten Satz noch immer Text zu finden (die Beatles, von denen hier schon dann und wann die Rede war, haben’s vorexerziert: noch ein Fetzen Musik nach den anscheinend letzten Noten der LP ‘Abbey Road’ – eine Botschaft aus dem Jenseits?). Es ist ja gewissermaßen üblich geworden, nach dem (wenn überhaupt / hoffentlich) effektvoll gelungenen Ende eines Romans noch einmal nachzusetzen: dies aber muß zwangsläufig zu etwas geraten, was den Leser ernüchtert, demotiviert, ihn aus dem schönen Schein (auch Häßliches ist in der künstlerischen Abstraktion ästhetisch!) der Fiktion zurückholt, ihn schmerzhaft erkennen läßt, daß es keinen Trost der Abgeschlossenheit einer Sache gibt, mit der er – zumindest im Kontext eines reinen Sprachgebildes – nicht unbedingt etwas zu tun haben muß, während er in seinem Alltag dazu aufgefordert wird, sich in der medial erweiterten Bewußtseinssphäre für alles (selbst wenn es sich, aus seiner Sicht, im hintersten Winkel des Globus ereignet) mitverantwortlich zu fühlen.

Mit einem Wort: es ist üblich geworden, ein Stück Literatur, das vielleicht alle alten Anforderungen an sein Genre erfüllt hat, am Ende und noch in sich selbst mit der aggressiven Brühe zu übergießen, die Sprache in ihre Bestandteile auflöst, vordergründig mit dem Anspruch zeitgeistiger Fragen, hintergründig mit jenem des bloßen Alphabets.

Könnten die Fragen der „neuen Unordnung der Welt“ in einem schematischen Werk der Scholastik beantwortet sein, in einem klassischen Roman oder in einem zeitgenössischen Science Fiction Paperback? Könnte das Set von Begriffen aus der „neuen Ordnung der Sprache“ Bestandteil eines dieser drei Texte sein? Und ist der jeweilige Aufhänger für Leserinteresse der „Sex“ bzw. das was dahinter steckt? Zum Beispiel: Der Offizier ließ die Frau erschauern, bis sie einen – klar, daß jeder halbwegs informierte Illustriertenkonsument hier heutzutage das Wort „Orgasmus“ erwartet, aber das steht nicht in unserem Vokabelheft.

Ich selbst lese – im Gegensatz zur lang verflossenen Gymnasialzeit – ja nur noch das, was mich interessiert, d.h. nichts, wo nicht Erotik ihren Platz hat. Damit man mich aber nicht mißversteht – es kann für mich auch sehr subtiler Sex sein, wofür sich als ausgezeichnetes Beispiel (denn dieser Roman hat für mich einen äußerst noblen Platz im Schöpfungsplan) Goethes „Wahlverwandtschaften“ eignen, denn es läuft natürlich nicht von vornherein darauf hinaus, daß man als Leser mit Ottilie bumsen möchte, aber auf die Idee kommen könnte man im Lauf des Lesens schon.

Damit sind wir beim Kern des Sprachkunstwerks: wenn auch schwer vorstellbar ist, daß die Dame heute und hier zur Verfügung stünde, so ist es umso leichter, in Gedanken in ihre Zeit zuzukehren, mit der Kutsche vorzufahren und ihr den Hof zu machen. Gedachte Realitäten gibt es sonder Zahl, wie man sieht, und der Unterschied zu der einen und (so glauben wir zumindest) einzigen Wirklichkeit ist von einem zum anderen Fall nicht größer und nicht kleiner, ob nun die Akteure der Fiktion in der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft beheimatet sind. Natürlich glauben wir, modern sein zu müssen, einfach deshalb weil wir das Neue auf jeden Fall erwarten – erwarten müssen, also warum nicht gleich es begrüßen? Schließlich haben wir ja nicht das Richtige für die Zukunft gelernt (wer hätte es uns auch beibringen können?) und, um das Kind mit dem Bad auszugießen, wir haben auch nicht gelernt zu lernen (obwohl immerhin das möglich gewesen wäre). Spezialisten für die Zukunft sind wir also jedenfalls nicht, für die Vergangenheit jeder nur nach seinem Dafürhalten: denn kollektive Erinnerung ist nicht gefragt, würde sie doch die Illusion des bedingungslosen Neubeginns zerstören. Über die Gegenwart brauche ich in diesem Zusammenhang ohnehin kein Wort verlieren: da halten wir Anfänge und Enden von Entwicklungen in Händen und können nur den Kopf schütteln.

Als einer der in seinem Leben viel prognostizieren mußte, weiß ich, daß der beste Weg, um in die Zukunft vorzudringen, wohl der ist, sie zu erfinden – also los: Um jene Ottilie geht es, deren Tagebuchaufzeichnungen so viel Naivität widerspiegeln wie das „Mir geschehe nach deinem Wort“ der Heiligen Jungfrau selbst, der dominanten Gestalt unserer westlichen Kultur, wert, daß man ihr Kathedralen errichtete: Nôtre Dame, Hagia Sophia, Santa Maria Maggiore; wert des Genius eines Villon, Dante oder Eliot, des Schubert’schen Ave, der zahllosen Gemälde, auf denen der Engel dem verstörten Teenager verkündigt. Wozu da noch die päpstliche Unfehlbarkeit verschwenden, wir glauben’s auch so. Eigentlich revolutionär, diese Verkündigung im privaten Raum, sowohl in einer physischen als auch in einer symbolischen Dimension, ein Phänomen der historisch wesentlich später anzusiedelnden sozialen Emanzipation: hinter geschlossenen Türen kann man bekanntlich alles machen, selbst das Verbotenste.

Ach, Ottilie, wie gerne habe ich deine Seele dem Hauptmann überlassen und mich (fiktiv oder, um ehrlich zu sein, nicht ganz fiktiv) mit deinem Körper begnügt, den mir des Dichters Phantasie auf meine innere Netzhaut projiziert hat! Auf der anderen Seite besaß ich die Seele der einen oder anderen Dame meiner eigenen (realen?) Biographie, aber ihren Körper nicht: Darum handelt dieses Buch, wie nunmehr jeder weiß, von einem Kind, das von vornherein und von der Gesellschaft insgesamt allein gelassen worden ist, und auch von dem einen oder anderen Kind, das zuletzt ebenfalls und mitten in der Gesellschaft allein gelassen worden ist, denn eigentlich wird man immer alleingelassen, und darum sucht man immer wieder die kleine tiefe Umarmung, bis endlich die große weite Umarmung kommt – aber das hatten wir jetzt schon mehrfach. Eben, denn es ist alles ein Perpetuum mobile (wie der legendäre, aber abgelutschte Bolero), und das ist jetzt hoffentlich endgültig klar!

Glasklar!

DAS HAUPTPROBLEM…

Es gibt keine neue Kunstform, die nicht für sich wieder eine zumindest selbstreflexive und damit spezifische Ästhetik entwickelt, mit der sie sich von ihrer materiell-biologischen Basis ablöst. Zum Beispiel TECHNO: Beim ersten Hinhören unangenehm, dann aber doch assoziativ wie etwa die beiden Sängerinnen von „Burning Ocean“. Ich sah die Bilder, die aus den flammenden Schaumkronen der Wellen aufstiegen:
– der schwarze Junge, der von seinen Schulkameraden die Straße entlang gehetzt wird: seine weit aufgerissenen Augen;
– die Flüchtlingsfrau, der das Baby irgendwo auf der Straße aus den erschöpften Armen geglitten ist: ihre leeren Augen;
– das Mädchen, das nach einem Napalmangriff an der Straße liegt: seine geschmolzenen Augen;
– der Soldat, den es nach vielem Töten selbst erwischt hat, ehe er die rettende Deckung erreichen konnte: seine erstaunten Augen.

Dass man überhaupt in der Lage ist, einfach alles in eine ästhetische Dimension zu transponieren! Und immer wieder diese imaginären Straßen: Pipelines der Angst, und worum geht es eigentlich? Egal! Wir sind viele, zu viele vielleicht, und bis es nicht alle gelernt haben, dass niemand, nein niemand in seiner Wertlosigkeit sich der Vernichtungsmaschine entziehen kann, wird das weitergehen: es gibt das Absolute nicht, nein das vor allem nicht. Der Trost der Philosophie in der Erniedrigung und im Tod gilt nicht: wer ihn formuliert hat, war noch nicht wirklich gezwungen, in extremis extremarum zu kosten, wie’s schmeckt. Noch konnte man einen Funken Hoffnung haben, bis minus Delta vor dem Zeitpunkt X.

HABE ICH STETS DARIN…

Gefühle sind eigentlich Symptome (Kundgaben).
Gefühle sind eigentlich Symbole (Berichte).
Gefühle sind eigentlich Signale (Appelle).

Gefühle sind eigentlich Wellen, die an das Gestade des Ich schlagen, das Harte in stetiger Bemühung zermahlen, bis es gestaltlos dahinrieselt. Das Zusammentreffen zwischen Land und Meer ist ein liquider Zustand, in dem die Positionen der einzelnen Wassertropfen oder Sandkörner nicht mehr als eine statistische Evidenz aufweisen. In all dem Geschiebe sich festzuhalten, sich an etwas zu befestigen, geschweige denn sich aneinander zu klammern – ach wo finde ich dich, Kind, wenn du fragst, wozu du eigentlich in die Welt gekommen bist, dich überflüssig fortgeschwemmt fühlst und verfolgt durch die überkommenen Konventionen? Ich habe dich verloren, ehe du geboren wurdest, wie auch ich längst verloren war, und diese Erkenntnis hat lediglich den einen positiven Sinn, dass nichts wirklich je ganz wichtig ist, aber man tut so als ob. Beziehungen können besser gar nicht dargestellt werden als durch ein Videoband, auf dem nur die fetzenartigen Zitate des Surfens auf den Fernsehkanälen zu sehen sind. Unser Prophet ist jener Reisende in einer Winternacht, der in einer Szene den Angelpunkt seines Lebens entdeckt zu haben glaubt, aber da ist er längst schon wieder in einer ganz anderen Geschichte, und wie er einigermaßen in dieser Fuß gefaßt hat, endet auch sie abrupt, und eine neue Story beginnt, ohne dass man je wissen wird, wo sie Anfang und Ende hat, denn das spart der Erzähler aus. Fragment ist ja per se nicht das Unfertige, sondern das scheinbar Vollendete, weil es uns einen falschen Eindruck der Realität vorgaukelt.

GESEHEN, DASS WIR NUR…

Natürlich würden mich Ivanhoe und Robin Hood und Lancelot nicht beneiden. Sie hatten ja die Möglichkeit einzugreifen, mit einem Schlag die Situation zu bereinigen, damit aus ihrem Kopf zu bringen. Ich aber habe das Meer brennen gesehen und obendrauf die Tochter des Ozeans, der ich immer nachgelaufen bin, weil sie für mich alles zusammen repräsentierte, was mein Leben summa summarum anstrebte, deren Unerreichbarkeit ich alles hingeopfert habe, was mir ermöglicht hätte, in schöner Beschaulichkeit zu existieren mit allen Attributen des bürgerlichen Seins. Hätte ich früher erkennen sollen, dass ich in einem Reagenzglas aufgewachsen bin, in dem die Gesetze der Political Correctness verwirklicht waren, längst ehe sie formuliert wurden? Ist es die Vorhut des Denkens, die den Kanon toter weißer Machos (Plato und Konsorten) außer Kraft setzt, nichts mehr zu tun haben möchte mit dieser zweiten Säule der Tradierung von stammesgeschichtlicher Substanz neben den genetischen Anlagen, deren unendliche Variabilität ohnehin längst den originären Schöpfungsakt mutiert hat, bevor noch der technische Eingriff in das Erbgut durch die Betroffenen selbst möglich wurde?

Ich lebe damit, dass die willkürlichen Gebote eines diffusen Multikulturalismus gelten. Stabile Institutionen gelten als solche für fragwürdig, wenn nicht hassenswert: Brutstätten der Intoleranz. Ich leugne das nicht. Welchen Sinn hätte es zu leugnen, wenn ich mich nicht wirklich durch Kinder, die heimatlos durch die Straßen streunen, beunruhigen lasse, und mich elternlose Jugendliche, deren Gewalttätigkeit uns erschreckt, erstaunt fragen – warum eigentlich nicht?

MEHR OBJEKTCHARAKTER…

Man kann natürlich einem Kind Geschichten erzählen, es weit fortführen von der Realität in das Feenreich, in das Land des Zauberdrachens. Man kann ein Kind lange fernhalten von der grausamen Realität, deren Teil man selbst ist. Aber es ist nicht zurückzudämmen, was kommen muss: Wenn schon jung, dann auch kompromisslos, trunken ohne Wein. Oder doch mit Alkohol oder gar mit noch gefährlicheren Giften. Bunter Vogel Jugend, ich gehe dir eben nach und hebe dich auf, wenn du irgendwo liegst, von oben bis unten angekotzt. Bei all dem denke ich mir, dass du unter diesen eigenen Fehlern, so bewusst sie dir auch sein mögen, weniger leidest als unter meiner sogenannten Weisheit. Wie könntest du auch darauf vertrauen, dass ich dich nicht als Marionette missbrauche, und vor allem darauf, dass nicht durch mich andere, die wiederum mich als Marionette missbrauchen, dich als Marionette missbrauchen: Politisches, soziales oder sonstwelches Engagement nennt sich das, und es ist sehr gefragt. Als Eintrittskarte nämlich in jenen Teil der Zweidrittelgesellschaft, wo noch alles einigermaßen funktioniert (du sagst: vergiss nicht, dass dies im globalen Maßstab die Einzehntelgesellschaft ist, und nur dort hat man jemals so gelebt, wie wir Leben verstehen – mit allem Drum und Dran!). Ich merke jetzt, dass ich nicht den Fehler machen darf, o Jugend, zu glauben, die Grenzen dieser Sprache seien die Grenzen dieser Welt.

FÜREINANDER AUFWEISEN.

Nieder mit der Gemütlichkeit! rief Victor Adler seinen Genossen 1904 zu. Das Glas Wasser sah Otto Bauer als Protest gegen Spießergewohnheiten. Viel später ist eine Generation herangewachsen, die an den irdischen Gütern (auch an den gehobenen) teilhaben möchte. Unterhaltung über Weine, Listen feiner Restaurants in der sozialdemokratischen Parteizentrale: es geht das Schlagwort von der „Toskana-Fraktion“ um. Inszenierungen – wie sehr verändert ein bourgeoiser Lebensstil das Bewusstsein? Die Einsamkeit des Spin Doctors in seinem War Room wurde zum Zeichen des wahren Elends moderner Politik.

Er machte den Weg frei dafür, dass jemand als Jungsozialist die Fremdenpolizei als Instrument gegen die Arbeiterbewegung identifiziert hat (sogar wenn sie von einem parteieigenen Innenminister verwaltet wurde) und dann, selbst zuständiger Sektionschef in jenem Ministerium geworden, eine beinharte Anti-Asylpolitik abzog. Jedenfalls haben wir das Ende der Subversivität erlebt. Die Rebellen sind Fernsehstars geworden – oder denkfaul – oder beides. Was haben ihnen diejenigen noch zu sagen, die einmal versucht haben, die Welt zu erklären? Oder die Romantiker und ihre Transportfiguren, ob Romeo, ob Graf von Monte Christo? Wir leben aus dem Koffer der virtuellen Versatzstücke: schließlich kann man ohne weiteres mit dem Auto durch einen Schneesturm fahren und dazu vom Band arabische Musik hören.

Apropos: wir haben ohnehin schon gespendet, sei es für die Palästinenser oder wen auch immer, nehmt unsere Almosen und „Schleicht’s euch!“ – das können auch jene verstehen, deren Namen zeigen, dass sie aus aller Herren Ländern kommen, aber lange genug da sind, um sich als Inländer zu fühlen.

DAS ANDERE ABER IST DIESE…

Ist es nicht frivol, das Ziel der Schöpfung als Happy End zu konzipieren? Der Abschied vom allmächtigen Gott ist passiert, aber anders. Günther Schiwy sagt als Biograph Teilhards de Chardin, Gott habe sich selbst entmachtet, um andere zu ermächtigen. Das mündet naturgemäß in einen Selbsterfahrungsprozess, der noch längst nicht einmal so richtig begonnen hat, obwohl wir, technisch gesehen, in atomare, chemische, biologische und psychische Grundstrukturen eingreifen können. Es könnte schon sein, dass am Ende alles gut ausgeht. Das Schlimme ist nur die Tatsache, dass zuvor alle Umwege wie zwanghaft gegangen werden müssen (also keine neuen Messiasse als Dei ex machina!). Gott ist eben (wenn schon) eher gütig denn allmächtig, und so ließ er seinen Partner Mensch als Täter und als Opfer nach Auschwitz und Hiroshima und an tausende andere schlimme Plätze gehen – weitab jener geraden Linie, die vom Alpha zum Omega der Kosmogenese führen könnte. Die absolute Schönheit dessen, was von der Schöpfung unseren Sinnen zugänglich ist, wird konterkariert durch bestialische Schrecken. Noch sind wir nicht imstande, die planmäßige Errichtung der Hölle auf Erden zu begreifen. Wir sehen nur, wenn wir nicht ganz gefühlskalt sind, dass rund um den Sockel jedes Meisterwerks die Exkremente der Barbarei liegen. Und dennoch: der unausschöpfbare metaphysische Erkenntniswert der Kunst hilft weiter, hilft vielleicht, auf jene Direttissima zurückzukehren.

UNGEHEURE BELIEBIGKEIT.

Am Ende fragte ich mich, ob ich aufhören sollte zu schreiben.

Zuerst schien es sinnlos, Gedichte zu schreiben.

Dann schien es sinnlos, Analysen zu schreiben.

Noch später schien es sinnlos, Erzählungen zu schreiben.

Zuletzt schien es sinnlos, Romane zu schreiben: nur noch Sprache, die Sprachlosigkeit ausdrücken konnte, bewahrte sich noch einen gewissen Sinn.

Habe ich jetzt also doch noch ein Stück Literatur geschrieben, das bleiben könnte? Oder müssen wir auf ein anderes warten?

Wenn ich meditierte, klang das

lea – lea – lea – lea –

anstelle von

om – om – om –