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2. TEIL
DER SCHREINER-PLAN
UND ANDERE BELANGLOSIGKEITEN

Grafik 2.0

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Du, Brigitte, jetzt muss ich dir noch etwas erzählen. Ich suchte Berenice, von der wir so viel gehört haben, viel später auf – mit der Bitte, mir eine Rückkehr zu mir selbst zu ermöglichen, wofür sie so hervorragend geeignet ist wie die Summe eines ganzen abendländischen Teams von Sozialwissenschaftern und Sozialfunktionären. Du musst wissen, dass das Leben auf Lady Pru’s Anwesen ab einem gewissen Zeitpunkt richtig beschaulich geworden war – den Orden der Orangenblüte (°B°) gab es zwar noch, aber er war ein Schatten seiner selbst (.|.). Angesichts der guten informellen Kontakte zu seinem Stabschef und geschäftsführenden Obmann, dessen interimistische Administration sich wie jedes gute Provisorium verfestigt hatte und der daher unangefochten regierte, waren keine weiteren Konflikte zu erwarten.

BRIGITTE:
Kann es sein, dass dieser Orden von Anfang an weniger ein Klub der bösen als vielmehr der dummen Buben war?

Frage oder Feststellung?

BRIGITTE:
Wollte nur auf deine männliche Empfindsamkeit Rücksicht nehmen. Aber wenn es dir lieber ist, kann ich auch mit lauter und klarer Stimme behaupten, dass das Hauptübel der heutigen Welt nicht das abgrundtief Böse, sondern das abgrundtief Dumme ist.

Umso wichtiger wird es, dass wenigstens manche sich diesem Phänomen therapierend entgegenstellen, also etwa Berenice, die sich ja eigentlich schon seit jeher lieber als Therapeutin denn als Kämpferin sehen wollte. Sie hatte mittlerweile in London eine psychiatrische Praxis eröffnet, nachdem es ihr gelungen war, sich stärker in der Art des Lebens zu strukturieren, das wir anderen rund um sie führen. Obwohl sie schon eine Menge, wenn nicht alles wusste, hatte sie studiert, um auch die abendländische Qualifikation zu erwerben. Die wissenschaftliche Abschlussarbeit ihres Studiums („Geburt, Leben und Tod von Organisationen. Psychographie und Psychopathologie des Kollektivs”) wurde mit höchstem akademischen Lob bedacht und erzielte – jedenfalls in Fachkreisen – größte Resonanz. Berenice hatte mit diesem Thema weiß Gott genug Erfahrung, und durchaus keine einseitige.

Die Walemira Talmai war bekanntlich infolge ihrer besonderen natürlichen Ausstattung (das war der eine Teil ihres Selbst, denn darauf hatten im Stamm jene wenigen, die das Wissen weitergeben, besonders geachtet: ob das Kind einschlägige Neigungen zeigte, auf einem Niveau dachte, das gar nicht kindlich war, intuitive Zusammenhänge herstellte oder auch mit magischem Blick die Dinge seiner Umwelt betrachtete) und ebenso infolge der komplexen zerstörerisch-schöpferischen Initiation (die ihr das Geistwesen und unter dessen Führung als physisches Werkzeug der eine oder andere Stammesgenosse appliziert hatte) imstande, mehr Dimensionen zu durchschreiten als wir anderen: Für sie war daher der Orden der Orangenblüte in gewisser Weise auf keiner niedrigeren Wertebene als ihre eigene kleine Gruppe, obwohl diese ganz anderen Zielsetzungen folgte als jener. Chicago war mit einer solchen Abwägung nicht sehr glücklich, denn ihm erschien der andere Verein mit seinem unreflektierten, selbst die Akteure ermüdenden Zwang, Böses zu tun, schon sehr viel merkwürdiger als sein eigener. Auf seine Einwendungen hin lächelte die Schamanin milde, irgendwie geistesabwesend, überall und nirgends zugleich.

Als mich Dr. Berenice W. Talmai in ihrer Praxis empfing, sah ich sie zum ersten Mal persönlich. Sie hatte den früheren Zustand der Weltferne, der mir als ein Hauptcharakteristikum genannt worden war, sichtlich zurückgedrängt (ob unter permanenter Anstrengung oder am Ende ohne Mühe, kann ich nicht beurteilen). Sie umrundete energisch ihren großen Schreibtisch und kam mir fast bis zur Tür entgegen. Ihr Outfit war selbst für die liberale Londoner Szene ungewöhnlich: sie trug ein sehr stoffreiches Kleidungsstück, eine Art Sari aus silberfarbener Seide, dazu Silberschmuck. Obwohl nicht gerade dünn…

BRIGITTE:
… wohl eher das Gegenteil, soviel ich weiß, und somit ganz nach deinem Geschmack…

Aber, aber – Eifersucht auf eine Heilige, auf eine Initiierte des Koori-Volkes, die sich nur anlassweise und punktuell in die Niederungen von uns gewöhnlichen Menschen herabließ!

BRIGITTE:
Wie gerne hätte ich ihre Fähigkeiten!

Aber würdest du sie auch zu gebrauchen wissen?

BRIGITTE:
Darauf kannst du wetten, denn diesen Aufwand, der auf dem Weg dorthin nötig ist, vergisst man nicht – und man lässt ihn auch nicht einfach sausen.

Wobei vor allem der sexuelle Aspekt der Initiation, soweit man aus vagen Berichten weiß, jeglichen vorstellbaren Rahmen verlässt. Dagegen wirkt der Alltag einer normalen Geschlechterbeziehung…

BRIGITTE:
… was immer das auch sein mag!

… direkt banal.

BRIGITTE:
Mich fasziniert der Gedanke, dass diejenigen, die Berenice initiiert haben (nennen wir das ruhig weiter so), in unserer aufgeklärten Gesellschaft wegen Missbrauchs einer Minderjährigen einsitzen würden. Jedenfalls würde ihnen vor Gericht der Hinweis auf ein obskures Geistwesen wohl eher schaden als nützen.

Die Frage ist letztlich, ob sich diese Männer nicht kraft ihrer Fähigkeiten sogar der staatlichen Gerichtsbarkeit entziehen könnten. Durch Berenice ist jedenfalls manches Wundersame passiert, und zwar auch so, dass man es verstehen kann – was wichtiger ist als jede naturwissenschaftliche Erklärung. Zum Beispiel das selige Gefühl der Komtesse und nach dem Tod ihres Vaters nunmehrigen Gräfin von B., ihre Tochter doch einmal in den Armen zu halten – es ist dabei völlig gleichgültig, ob das Mädchen, wie man annehmen muss, wirklich und wahrhaftig tot war oder in einem Paralleluniversum lebte.

BRIGITTE:
Und mehr noch – das Glück der Gräfin entstand völlig unabhängig davon, ob die Walemira Talmai ihr die Umarmung nur intensiv vorgegaukelt hat oder ob sie wirklich die beiden Sphären entlang einer momentanen Berührungsstelle eine kurze Weile synchron halten konnte.

Die beste Voraussetzung jedenfalls, um auch mir mit meinen wahrscheinlich weniger anspruchsvollen Problemen zu helfen. Zur Einleitung stellten wir uns mitten im Raum auf, verharrten bei ruhigen Atemzügen. Dann erhoben wir langsam die Arme wie zwei große Flügel, griffen so weit über uns, wie wir uns nur strecken konnten, hinein in die reine unverbrauchte Energie über uns und schaufelten sie mit vollen Händen in uns hinein, bis wir davon ganz erfüllt waren. Mit der gleichen Bewegung pressten wir die verbrauchte Energie nach unten, aus unseren Körpern hinaus in den Boden. Als Ergebnis dieses physischen Vorgangs, aber auch im Bewusstsein des mentalen Hintergrunds begann dann unser Gespräch.

Was dabei zählte, war die Erkenntnis der Disharmonie zwischen den verschiedenen Ebenen der Wirklichkeit im allgemeinen und damit auch meiner Wirklichkeit im besonderen. Die Walemira Talmai analysierte mit gezielten Fragen meine Lebensumstände, meine Beziehungen, mein potentielles Verhalten unter bestimmten Umständen und meine psychische Beschaffenheit selbst, um zu erfahren, welchen Belastungen ich unter Umständen ausgesetzt werden konnte.

BRIGITTE:
Klingt auf den ersten Blick interessant und aufregend, auf den zweiten jedoch ziemlich nichtssagend und banal.

Für mich ja auch, Brigitte, du kennst mich doch! Wann hätte ehrliches Bemühen mir je etwas anderes entlockt als einen jener kleinen zynischen Aphorismen, für die ich so bekannt bin? Vollends zur Hochform laufe ich auf, wenn es geradewegs um religiöse Belange geht, wenn ewige Wahrheiten so verkündet werden, als ob ein x-beliebiges höheres Wesen weniger dialektisch, weniger kontrapunktisch oder weniger ambivalent sein könnte als wir, seine Geschöpfe. Insofern wurde Berenice von mir instinktiv viel glaubhafter erlebt, denn ihre Wanderschaft zwischen den Welten war nicht der Routine-Rundgang eines autoritären Nachtwächters. Wenn sie, wie es diejenigen wünschten, die hilfesuchend an sie herantraten, für Harmonie zwischen den Ebenen der Wirklichkeit sorgte, geschah es niemals unter Vorspiegelung der Endgültigkeit. Niemals ließ sie einen Zweifel darüber bestehen, dass es sich bei jeder ihrer Lösungen nur um etwas Vorübergehendes, Fließendes handeln musste, somit unter Umständen sogar um die Ausgangsbasis eines neuen Problems.

BRIGITTE:
Und die Behandlung selbst?

Die geschah in Form von Anrufungen meiner Person in unterschiedlichen Zeitstufen – jeweils eine pro Termin. Ich saß da, fast ein wenig unachtsam wegen der Fülle der Gedanken, die auf mich einströmten.

– – – – –

„Die Tochter des Schlafs” ruft Tiamat, intonierte die schwarze Dame, wie ich sie insgeheim nannte – aber was blieb ihr schon verborgen? Tiamat, die Göttin des Unbewussten, war, das fühlte ich, die Regentin meines Ichs im Alter von sechs Jahren.

Spontan und in einem Satz! lockte die Therapeutin: Und möglichst in einer nicht alltäglichen Modulation, um das Entscheidende besser herausarbeiten zu können.

Selig die Nähe der Mutter! sagte ich ohne zu überlegen und kam mir dabei fast ein wenig lächerlich vor. Aber es stimmte, und sie hatte genau den harten Kern provoziert und in meiner Antwort waren sämtliche dazugehörigen Assoziationen enthalten. In Krankheit und Gesundheit hatte ich stets danach getrachtet, der Mutter nahe zu sein, in der Küche, im Bett, im Garten, im Bad (dort beweinte sie des öfteren nachts ihr Schicksal, artikulierte sich mir gegenüber allerdings nicht, lediglich ein dumpfes Unbehagen gegenüber dem Vater nahm ich von solchen düsteren Begegnungen mit). Aber leider, als diese unbewusste sexuelle Attraktion sich in Bewusstsein wandelte, zog sie sich von mir zurück, wollte an dieser speziellen Entfaltung meines Selbst nicht teilhaben.

Und was schließen wir daraus? folgte die pädagogische Frage. Darauf ich: Dass in meiner individuellen weiblichen Typologie beziehungsweise Typenbildungsstrategie dieses Modell gefährlich unerreichbar und damit auf die möglichen physischen Konkretisierungen…

BRIGITTE:
Psychologen-Quatsch!

Nein, nicht ganz. Tatsache ist, dass ich zwar keine Schwierigkeiten hatte, Frauen von unterschiedlicher Art zu appetieren, auszuloten ob da oder dort eine Vertiefung und Verinnerlichung der Beziehung möglich wäre, aber bei diesem einen Typ nicht, da ich ihn völlig tabuisierte. Aber dessenungeachtet begleitete er mich durch meine Träume und ließ mich da und dort nah am Abgrund entlangtaumeln.

BRIGITTE:
Das ist ja hochinteressant! Das heißt doch wohl nichts anderes, als dass du mich und andere mit einem Phantom von inzestuöser Wucht verglichen und gemessen hast.

Lassen wir die Kirche im Dorf. Noch sind wir ja bei der Anrufung meines sechsjährigen Ich, das von solchen Dingen noch nichts wissen konnte, sie bestenfalls späteren Verhaltensweisen zugrundelegte – und es ist ja keineswegs so, dass die älteren Ichs nicht gegen derartige Präkonditionierungen gekämpft hätten.

– – – – –

„Die Tochter des Schlafs” ruft Zababa, intonierte Berenice. Zababa, der Gott der Zerstörung, war, das fühlte ich, der Regent meines Ichs im Alter von zehn Jahren.

Ich wusste schon, was man von mir erwartete: Eroberer und Eroberte, glücklich und mutlos zugleich! Damit bezeichnete ich die Erinnerungen an die kindlichen, aber doch nicht mehr ganz harmlosen Abenteuer in den wüsten Gegenden rund um unser Wohngebiet, vor allem immer wieder das Indianerspiel. Da wurde man von den aggressiveren Freunden an einen Baum gebunden, möglichst straff, sodass man sich kaum mehr zu rühren vermochte und die Riemen das Blut in den Gliedmaßen absperrte. Dann wurde man gefoltert, und dabei schienen der Phantasie keine Grenzen gesetzt – am wenigsten einfallsreich war dabei noch der Griff zum Geschlecht des Gemarterten. Dennoch erwies er sich von allen Torturen am eindrucksvollsten, denn er verstrickte Täter und Opfer gleichermaßen in ein Geflecht aus dumpfer Lust und süßer Qual. Nicht bloß einer von uns ist dort vom frühen Nachmittag bis in die sinkende Nacht gehangen, bis ihn schon bohrende Angst befiel, aber auch diese wieder durchmischt mit ganz elementaren Gefühlen: einem unversöhnlichen Hass und dem Durst nach doppelter und dreifacher Rache. Wenn dann am anderen Tag das Spiel aufs Neue begann, waren daher meist die Rollen getauscht: Der gestern um Gnade gefleht hatte, halbherzig vielleicht, weil er nicht vorzeitig um den Genuss kommen wollte, brach nun jedenfalls auf der Seite der Sieger über die anderen herein und übte sich in sadistischen Feinheiten, die das Bisherige überschritten. Da reichte der Marterpfahl nicht mehr, da wurde vielleicht einer ganz eng zusammengeschnürt, über Böschungen gestoßen und durch Schmutzpfützen gezerrt, bis er vor ekstatischer Erniedrigung stöhnte. Den Eltern fiel nicht wirklich etwas auf, denn wider Erwarten gab es keine sichtbaren und bleibenden Blessuren und gottlob auch niemanden, der gar da draußen, in Panik von den anderen verlassen, zugrunde gegangen wäre.

BRIGITTE:
Ich möchte dich verabscheuen dafür, wie du das erzählst, und dennoch gestehe ich, dass es mich fasziniert und meine eigenen Träumereien beflügelt: Bei dem Gedanken, dass wir Mädchen da vielleicht auch hätten mitspielen können, wird mir eigenartig zumute.

Mit Mädchen hatten wir noch gar nichts im Sinn. Sie hatten keinen Platz in diesem Labor dampfender Männlichkeit. Aber wenn du es schon auf den Punkt bringst – jetzt, da man alles weiß, was man damals nicht wusste –, steht mir der Verstand still.

BRIGITTE:
Aber welche Lehre hast du in deiner Therapie- oder besser Reparaturstunde daraus gezogen?

Dass uns niemand geholfen hat, unbeschadet groß zu werden, und dass daher unsere Bemühungen, erwachsen zu sein, nicht viel Erfolg haben werden. Wenn ich auch einräume, dass man früher oder später zu seinem eigenen Leben Stellung nehmen muss und von dort an niemanden mehr vollinhaltlich zur Verantwortung ziehen kann, denke ich doch, dass wir zu jeder Zeit unserer Entwicklung ein wenig Interpretationshilfe hätten brauchen können. Der günstige Umstand, dass vordergründig außer Dreck nichts von all dem zu bemerken war, stellt eine mehr als billige Ausrede der Eltern dar…

– – – – –

„Die Tochter des Schlafs” ruft Ishtar, intonierte Berenice. Ishtar, die Göttin der dualistischen Prophetie und des Seins-Mysteriums, war, das fühlte ich, die Regentin meines Ichs im Alter von dreizehn Jahren.

Spontan! – Jaja, jadoch! – Glühendes Dreieck zerfällt zu Asche. Damit bezeichne ich eine auf denkwürdige Weise entstandene Gruppe: wobei ich ehrlich gesagt nicht mehr genau nachvollziehen kann, ob sie mittels Aufnahme eines Mädchens in eine bisherige Bubenfreundschaft oder – ebenso unmerklich – mittels Adoption zweier junger Männer durch eine junge Frau herbeigeführt wurde. Alles wurde gemeinsam unternommen, und alles was man schon zuvor getan hatte, bewirkte in der neuen Konstellation neues tieferes Vergnügen: ein dauernd spannungsgeladenes Vergnügen allerdings, denn die stets präsente Entscheidungsfrage wurde, aus Angst, die Gruppe zu zerstören, lange nicht gestellt. Unser dringendster, aber unausgesprochener Wunsch, DDD zu besitzen, artikulierte sich in absurden Spielen, die von immenser schmeichelnder Zärtlichkeit ebenso geprägt waren wie von bestürzender latenter Gewaltbereitschaft.

BRIGITTE:
Die zwei Dreikäsehoch-Eroberer, Zwerg-Barbaren, Mini-Machos: Allein der Begriff des Besitzes, von dir im Abstand von – so kann man jetzt schon sagen – Jahrzehnten noch immer so wie damals gebraucht! Besitz, das merk dir, muss für einen allfälligen Erwerb verfügbar sein, und dieser Erwerb sollte daher bestimmten zivilisierten Regeln folgen!

Aber so war’s nicht, und wenn du dich auf den Kopf stellst! Was hätte es für einen Sinn gehabt, meiner Therapeutin ein gesellschaftlich korrektes Bild unseres Dreiecks zu zeichnen?

Wir, Romi und ich, saßen links und rechts von DDD auf dem Sofa und wetteiferten. Es war mein Zimmer, aber DDD bewohnte es in jenem Sommer als Gast meiner Familie, während ich im Wohnzimmer auf einem Notbett schlief. Romi lebte praktisch ebenfalls bei uns – nur widerwillig ging er spätabends nach Hause, nicht ohne mir das Versprechen abgenommen zu haben, während seiner Abwesenheit nichts, aber schon gar nichts zu unternehmen, was ihn hätte ins Hintertreffen bringen können (da durfte er übrigens ganz unbesorgt sein: meine Eltern wachten jedenfalls nachts eisern darüber, dass DDD unversehrt blieb).

Es ist heiß, DDD, sagte ich, und du hast viel zu viele Knöpfe deiner Bluse geschlossen. Geh, sei lieb, mach einen auf – oder noch besser: ich mache ihn auf! Und schon war der Knopf offen. Dann war Romi an der Reihe, dann wieder ich, dann wieder Romi (Herrgott, wieso derart viele Knöpfe!), dann atmete DDD tief, und ihre ganz vorwitzigen Brüste – sie waren schon sehr gut entwickelt – hoben und senkten sich, dass Romi und mir ganz schwarz vor Augen wurde. Kaum hatten wir uns ein wenig gefasst, begann Romi: DDD, bei dieser Hitze könntest du ohne weiteres den Rock über die Knie hochziehen (der Mini war zu jener Zeit noch nicht erfunden), und er griff auch gleich zu, um ihr zu zeigen, wie er es meinte. DDD hob die Arme über den Kopf, während ein kleiner Ruck durch ihren Körper ging, und sie überströmte uns mit der Duftpalette ihrer Achselhöhlen. Als ihr Rock ganz weit oben war, erlaubte sie uns, vor sie hinzuknien und dort hineinzuspähen: strahlendes Weiß, eingerahmt von blondem Flaum.

BRIGITTE:
Und – wie endete die Idylle? Habt ihr es schließlich nicht mehr ausgehalten, sie gefesselt, geknebelt und der Reihe nach (wer das längere Zündholz zieht, beginnt) vergewaltigt?

Nicht ganz so, obwohl ich ehrlich gestehe, dass wir diese Möglichkeit mehr als einmal durchdiskutiert haben.

BRIGITTE:
Da wird einem angst und bang – bist du der, den ich zu kennen glaube?

Was wirklich geschah, war ein wenig subtiler. Einer von uns beiden kam eines Tages dazu, wie sich der andere – eine vorübergehende Zweisamkeit ausnützend – an DDD zu schaffen machte (warum in aller Welt, dachte er, ließ sie das zu, weiter nämlich, viel weiter als je zuvor). Des Rätsels Lösung: der andere hatte sie stark betrunken gemacht, sie wusste nicht mehr, was um sie herum vorging. Sie lag auf der Couch, er (der andere) schob ihren Rock hoch, aber augenscheinlich nicht in der gewohnten freundlich-neckenden Art, sondern rasch und grob. Dann zog er (der andere) ihr den Slip aus und hob ihre Beine hoch über seine Schultern. In dieser Stellung versuchte er (der andere) in DDD einzudringen, aber in seiner Nervosität gelang es ihm nicht gleich, was die Sache bis zu dem Moment verzögerte, in dem der eine hereinkam. Schon wollte er (der eine) sich diskret zurückziehen, dachte, der andere habe den wochenlangen Wettstreit gewonnen, da bemerkte er (der eine) plötzlich etwas, was nicht zu dieser Sicht passte: Die Hand, die DDD scheinbar zärtlich auf den Nacken des anderen gelegt hatte, fiel kraftlos herab, und der Arm hing wie leblos zu Boden. Da wusste er (der eine), dass DDD gegen ihren Willen gebumst werden sollte, und schlug zu. Teilnahmslos starrte das Mädchen auf den gespenstischen Vorgang, in dem die beiden einander blutig prügelten. Der eine verzieh dem anderen nichts mehr und auch nicht sich selbst, der andere dem einen und sich selbst. Auch DDD verloren sie für immer, denn auch sie verzieh, als sie wieder bei sich war, weder dem einen noch dem anderen noch schon gar sich selbst.

BRIGITTE:
Und – wer war der eine, wer der andere? – Verdammt! Mein Verstand verachtet dich, aber meiner Muschi gefallen deine Geschichten!

Ich hoffte, dir zur Genüge zu verstehen gegeben zu haben, dass dieser Umstand bei dem Ganzen völlig irrelevant war: Romi hätte es sein können – ihm war’s glatt zuzutrauen – mir war’s erst recht zuzutrauen, da ich innerlich das Privileg des Platzhirschen zu haben glaubte – aber Romi hatte es sich zehnmal überlegt – zehnmal verworfen – ich genauso – wie gesagt: es ist gleichgültig!

BRIGITTE:
Was sagte eigentlich die Walemira Talmai dazu?

Sie sagte nichts, hier nicht und an keiner anderen Stelle unserer Sitzungen, was mehr war als irgendwelche Steuerbefehle, wie etwa: geht es ein wenig genauer? war das jetzt alles? (vor allem weil sie es ja ohnehin genausogut oder womöglich sogar besser wusste als ich). Nein – etwaige Deutungen hörte ich von ihr nicht!

BRIGITTE:
Wenn dem so ist – was hältst du dann von einer Erzählpause? Ich könnte nämlich im Moment auch ein wenig Therapie gebrauchen…

Woran denkst du?

BRIGITTE:
Ach, seid ihr Männer schwer von Begriff! Lass es mich so ausdrücken: Sex bringt Frauenkörper in Schwung. Der stärkere Lymphfluss stärkt das Bindegewebe und bekämpft Cellulite. Die Haut erneuert sich rascher, gewinnt an Festigkeit und Elastizität, weil eine Extraportion Östrogen ausgeschüttet wird.

Wenn das so ist…

Ich griff mit beiden Händen zu.

202

Nun scheint es aber an der Zeit, über den Schreiner-Plan zu sprechen, der seinerzeit, als der Orden der Orangenblüte rapid an Bedeutung und Einfluss verlor, plötzlich in aller Munde war…

DER GROSSE REGISSEUR:
… wobei das Eine mit dem Anderen eigentlich nicht das Geringste zu tun hatte, wenn wir uns ganz ehrlich sind, sodass es sich bei der gedanklichen Verknüpfung um einen willkürlichen und sich über kurz oder lang selbst entlarvenden Kunstgriff und damit im wahrsten Sinne Fehlgriff handelt.

Nun, wir wollen sehen. Immerhin wurde die Idee des Amerikaners deutscher Abstammung Fritz Schreiner sowie der Entwurf seines besten Freundes und gleichzeitig akademischen Konkurrenten Pjotr Ivanovich, eines US-Bürgers russischer Herkunft, vielfach kolportiert – nicht zuletzt in der Sphäre des Boulevards. Immerhin hat aber die renommierte BBC in einer ihrer Zukunftsserien beiden je eine 90-Minuten-Sendung gewidmet.

DER GROSSE REGISSEUR:
Als jemand, der sein Geld ehrlich verdienen musste – du brauchst dich hier gar nicht demonstrativ räuspern, was kann ich schließlich dafür, dass die legendäre Besetzungscouch des Regisseurs von den antretenden Schauspielerinnen als unumgänglich betrachtet wird – als jemand also, der für seinen Erfolg hart zu arbeiten gezwungen war, kann ich das Schreiner-Ivanovich-Duo nicht genug verachten: die kamen über den Teich, setzten sich mittels irgendwelcher obskuren, in der Alten Welt erworbenen Diplome ins gemachte Nest einer amerikanischen Traditionsuniversität und verstanden es schamlos, die Gutgläubigkeit und Großzügigkeit der dortigen Sponsoren dermaßen auszunützen, dass ihnen ein guter Teil des Gesamtetats zufloss. Dementsprechend groß war der Zulauf an wissenschaftlichen Assistenten und Studenten, was automatisch wieder eine Steigerung der Geldzuwendungen bewirkte.

Und ich behaupte jetzt, dass jedenfalls der Schreiner-Plan eine interessante Spekulation ist, eine jener phantasievollen Belanglosigkeiten eines Wissenschafters, mit der zwar – wenn ein wahnsinniger Politiker sie verwirklicht – viel Leid über die Menschheit gebracht würde, die aber – wenn sie auf dem Papier bleibt – ein ganz besonders interessantes Gedankenexperiment darstellt.

DER GROSSE REGISSEUR:
Wie zum Beispiel die faschistische Ideologie oder die Erfindung der Kernspaltung oder das Klonen von Lebewesen…

Man sollte hier jedenfalls nicht Beispiele des reinen Geistes mit solchen, die in die Wirklichkeit getreten sind, vermischen.

DER GROSSE REGISSEUR:
Das und genau das muss man tun, weil ja ex ante nicht vorhersehbar ist, welche deiner geliebten lausigen Ideen eines Tages in die Realität entkommen werden – und dann ist es immerhin zu spät.

Ich spreche nicht von meinen lausigen Ideen, sondern als Drehbuchautorin von einem interessanten Sujet: der Darstellung der fiktiven Beschaffenheit der Welt nach vollzogenem Schreiner-Plan. Der revolutionäre Ansatz Schreiners bestand darin, dass er der Menschheit ihre rassistisch–nationalistischen Allüren sozusagen administrativ austreiben wollte, und zwar durch ein gewaltiges Umsiedlungsprogramm, das unsere Spezies gleichmäßig über die verfügbare Landfläche der Erde verteilen sollte: zentraler Punkt war die tatsächliche Herbeiführung der statistischen globalen Bevölkerungsdichte von aktuell 45 Personen pro Quadratkilometer Festland in den einzelnen Weltregionen (das später so genannte Szenario 1).

In dieser ersten Entwicklungsphase seines Plans befasste sich der Wissenschaftler noch nicht im Detail mit den erforderlichen technischen Phantasien, die solchen Maßnahmen zugrundegelegt werden müssten, sondern postulierte diese lediglich im allgemeinen. Auch war es ihm zunächst ein Anliegen, einen möglichst kleinen Teil der Erdbewohner, nämlich nur rund ein Drittel, umzusiedeln, während die übrigen in ihren angestammten Regionen verbleiben würden.

Angeregt durch zum Teil öffentliche Diskussionen mit seinem Freund und zugleich grössten Kritiker Pjotr Ivanovich, der auf diesem quantitativen Niveau den gewünschten Effekt der Ausrottung von Vorurteilen bezweifelte, entwickelte Schreiner seinen Plan weiter und wurde dabei zunehmend radikaler. Am Ende stand sein Szenario 2.

Grafik 2.1

Er berechnete den aktuellen Bevölkerungsanteil der einzelnen Regionen und füllte den Soll-Stand jeder Region, den er wie bei Szenario 1 gemäß der globalen Dichte von 45 festgelegt hatte, entsprechend diesem Regionalspektrum auf. Das bedeutete natürlich gewaltige Wanderungsbewegungen. Fazit des weiterentwickelten Schreiner’schen Ansatzes war: nur 720 Millionen Menschen, bloß ein Achtel der gesamten Erdbevölkerung, durften weltweit in ihren angestammten Regionen verbleiben, während die überwältigend größere Zahl von mehr als fünf Milliarden umzusiedeln war.

Hier erlaubte sich Schreiner aus den mit Recht vermuteten organisatorischen Notwendigkeiten heraus auch die Formulierung einer geophysischen Vorstellung in Gestalt einer kompletten Neuanlage der Weltregionen. Es ging ihm um nicht weniger als die Umgestaltung der Festlandoberfläche der Erde in eine bizarre klima- und wetterfreie, naturlandschaftsfreie, wahrscheinlich sogar pflanzen- und tierfreie, das heißt in jeder Hinsicht transzendierte Außenhaut – allerdings muss man Schreiner in diesem Punkt mangels allzu detaillierter Angaben sehr frei interpretieren. Fest steht, dass dem Gelehrten eine Art Glas-Beton-Metall-Überzug des Weltfestlandes vorgeschwebt sein dürfte. Den Meeren hingegen wies er die Rolle der ausschließlichen Aufbringung der biologisch notwendigen Ressourcen wie Trinkwasser und Nahrungsmittel zu, was bedeutet, dass sie von Schreiners Vorhaben vordergründig unberührt, in der Konsequenz aber ebenfalls massiv betroffen sein würden.

DER GROSSE REGISSEUR:
Nicht dass ich von solchem Unfug irgendwie beindruckt wäre – aber was ist jetzt mit dem famosen Ivanovich?

Pjotr Ivanovich – wie sein Freund (und Mitbewerber um Gunst und Geld) beseelt von Weltverbesserungsideen – suchte das Heil ebenfalls nicht in psychotherapeutischen Ansätzen für das Menschengeschlecht, sondern in einer technischen Utopie. Während der Schreiner-Plan die Menschheit bloß durchzumischen und damit das Aufkommen von gefährlichen Rivalitäten und Kriegsanlässen zu verhindern trachtete, wollte Ivanovich große Teile der Weltbevölkerung überhaupt in Weltraumkolonien verfrachten und auf diese Weise hier unten eine Stabilisierung herbeiführen: die „uralte Auswanderungsidee” nannte er das, und bei sechs Milliarden Menschen sah er längst den Bedarf für derlei Aktivitäten. Die Argumentation war einfach: Je mehr menschliche Wesen auf der Erde leben, desto stärker untergraben sie ihr künftiges Überleben.

Immerhin räumte auch Ivanovich ein, dass die Tragfähigkeit eines Ökosystems relativer Natur sei, von diversen Faktoren abhängig. Er leugnete nicht, dass dieser Grenzwert bisher immer weiter hinausgeschoben worden war, von dem Moment an, als die Erde lediglich 100 Millionen steinzeitliche Jäger und Sammler zu ernähren hatte. Die massive Intensivierung der Boden- und Raumnutzung hat ein exponentielles Bevölkerungswachstum ermöglicht, und am Ende könnten sogar 30 Milliarden auf der Welt leben, allerdings mit der Konsequenz eines Zusammenbruchs jeglicher Lebensqualität.

So weit darf es nach Ivanovich nicht kommen: Auf zum Mars, als dem in jeder Beziehung nächstliegenden Ziel!

Die Terraformung des Mars ist – wenn man sich über die trivialen Bedenken des gesunden Menschenverstandes einmal hinweggesetzt hat (und seien wir uns ehrlich, was könnte einen Wissenschaftler weiter hinausheben über das Laienpublikum als diese kühne Tat?) – geradezu ein Kinderspiel. Man müsste den Planeten zunächst von rund – 60° C auf vielleicht + 5° aufheizen, und zwar durch die Produktion von größeren Mengen Treibhausgas, dann durch natürliche Sublimation von mars-eigenem gefrorenen CO2. Die verringerte Wärmeabstrahlung in den Weltraum sollte ein Übriges tun: ein hydrologischer Kreislauf beginnt. Zu diesem Zeitpunkt werden gentechnisch erzeugte Mikroben ausgesetzt, die als Grundlage für eine Biosphäre dienen. Diese wiederum produziert Sauerstoff.

Für all dies veranschlagte Ivanovich 50 Jahre. Weitere 25 Jahre, so sein Kalkül, und aus den Mikroben hätten sich Flechten und Moose entwickelt. Noch einmal 25 Jahre und wir fänden eine reichhaltige Pflanzenwelt vor. Alles in allem sollte es möglich sein, sich in rund einem Jahrhundert auf dem Mars gemütlich einzurichten.

DER GROSSE REGISSEUR:
(der lange Zeit geschwiegen hat ob dieser Ungeheuerlichkeiten) Oder in 1000 Jahren oder in einer Million Jahren oder gar nicht! Denn es lässt sich auch ohne Literaturstudium vermuten, dass es zu diesem Thema extrem andere Meinungen geben dürfte, und da spreche ich noch nicht einmal von jenem Komplex, der sich mit der grundsätzlich-ethischen Frage eines Eingriffs in fremde Welten beschäftigt.

Gerade darüber machte sich Ivanovich stets lustig: man könne auf dem Mars ruhig einige Mikroorganismen zerstören, wenn es um den Fortbestand der Menschheit geht. Aber abgesehen davon gab es selbstverständlich drei wesentliche und ernstzunehmende Stoßrichtungen der Kritik am Ivanovich-Projekt:

1. Man soll die Probleme der Erde hier unten lösen.
2. Insbesondere die für den Transport von hunderten Menschen erforderliche Logistik lässt diese Idee zutiefst unrealistisch und geradezu lächerlich erscheinen.
3. Wenn man dem Projekt schon nahetreten will, muss eine wesentlich realitätsnähere Zeitplanung aufgestellt werden. Nach den bewussten 100 Jahren ist voraussichtlich nicht mehr produziert worden als eine riesige Datenmenge.

Pjotr Ivanovich setzte sich jedenfalls über solche Argumente hinweg. Die Tätigkeit eines „Alien Planet Designers” – ein sehr einträglicher Beruf übrigens bei dem ständig von ihm selbst wachgehaltenen Interesse der US-Wissenschafts- und Medienindustrie – könne sofort beginnen, lange bevor auch nur ein einziger Mensch seinen Fuß auf den Mars gesetzt habe. Seine immer weiter verfeinerten Thesen untermauerte der Wissenschaftler mit einem Gleichungssystem, das ständig an Komplexität zunahm und schließlich einen extremen Detaillierungsgrad erreichte.

DER GROSSE REGISSEUR:
Ende der Debatte dadurch, dass niemand mehr ernsthaft in der Lage ist mitzudiskutieren? Ich begreife langsam, dass Ivanovich mit seiner Idee für den Rest seines Lebens ausgesorgt haben wollte.

Übrigens: Über kurz oder lang hatte er die zuständigen Stellen in Washington bereits derart genervt, dass sie um des lieben Friedens willen beim Präsidenten selbst für Ivanovich intervenierten, und der verlieh ihm tatsächlich den offiziellen Titel eines US APD (das kostete vordergründig nichts, eröffnete aber dem Ausgezeichneten weitere ungeahnte Geldschöpfungsmöglichkeiten).

DER GROSSE REGISSEUR:
Und damit…

AUS DEM HINTERGRUND DES SETS:
… und damit, liebe Freunde, tragen wir diese nette Geschichte möglichst schnell zu Grabe, weil – geschätzter Meister, verehrte Drehbuchautorin – ich nämlich nicht einen müden Cent für die Weiterverfolgung oder gar Verfilmung eines derartigen Wahnsinns locker machen werde!

Klappe! Licht aus!

Nein, Moment noch – bevor wir Ivanovich ausknipsen, noch ein letztes Zeichen seiner Genialität. Sollte es – so argumentierte er, wenn er wirklich einmal in die Enge getrieben wurde – mit dem Mars nichts werden, dann wenden wir uns einfach anderen Destinationen zu! Wissen Sie zum Beispiel, wie interessant der Jupitermond Titan ist? Oder was halten Sie von extra-solaren Planeten? Wir hätten da eine Liste von 75 Stück, die wir ein wenig kennen.

AUS DEM HINTERGRUND DES SETS:
Also, mir scheint jetzt ein abschließendes Statement eines nüchternen Geschäftsmannes vonnöten…

DER GROSSE REGISSEUR.
Hört hört!

AUS DEM HINTERGRUND DES SETS
… bevor hier alle in Versuchung kommen, sich an solchen Ideen zu berauschen. Erst wenn die Kosten der Terraformung eines Himmelskörpers kleiner sind als die Summe der auf seiner besiedelbaren Oberfläche erzielbaren Grundstückspreise, dann rechnet sich Ivanovichs Projekt!

Irgendwann werden ihn die Starlets nicht mehr interessieren, und dann wird er volks- und betriebswirtschaftliche Vorträge für Regisseure und andere ökonomische Laien halten.

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BRIGITTE:
Ich bin noch ganz befangen von deinen wüsten Geschichten! Wer in aller Welt hat euch das beigebracht? Denn selbst wenn es in euren Genen steckt, euch so aufzuführen, laufen doch die Vergewaltiger und Prügler nicht scharenweise herum.

Das Leben selbst hat uns das gelehrt, die schlimme Zeit, in der wir heranwuchsen. Soweit zum Milieu – über die Brutalität in den Genen hingegen kann und soll man sich gerade als Frau nicht beschweren, denn das weibliche Erbgut ruft ja genau nach diesen Typen, die (jedenfalls in der Steinzeit) Schutz und Versorgung bedeuteten, während sie heutzutage eher in selbstgefällige Schaumschlägereien verwickelt sind. Noch immer aber ist weitreichend das Verlangen wach, einen solchen zu besitzen. Ein Softie kann da unversehens zur Plage werden!

BRIGITTE:
Jetzt sag bloß, diese DDD hätte es bereut, euch ad acta gelegt zu haben.

Das gerade nicht, denke ich, aber definitiv bereut hat sie ihre Heirat mit einem Sozialversicherungsbeamten, der sich bei näherem Hinsehen als noch langweiliger entpuppte, als man von vornherein ohnehin angenommen hatte.

BRIGITTE:
Das wird sie dir wohl kaum eingestanden haben!

Ja und nein – als ich sie und ihren Mann einmal traf, strömte sie mit ihrem strahlendsten Lächeln auf mich zu (ließ ihn einfach stehen, als ob er gar nicht vorhanden wäre), küsste mich auf beide Wangen…

BRIGITTE:
Und?

Nichts und – naja schon, du weißt doch, wie geht’s wie steht’s und man könnte sich wieder einmal treffen (er stand die ganze Zeit dabei wie ein Ölgötze – da wächst natürlich so nebenbei das eigene Selbstbewusstsein ins Unermessliche). Wär möglich, kann leicht sein, sollte man wirklich einmal, fabulierte ich im Vollgefühl meiner Überheblichkeit. Im Nu war aber der ganze Spuk vorüber. Bevor sie mit ihrem Beiwägelchen dahin war, fragte sie mich noch schnell nach Romi.

BRIGITTE:
Bewundernswerte weibliche List. Dann war er also der andere der böse Raptor, und du warst der Retter, der tragische Held! Wozu hätte sie denn nach ihm gefragt, wenn sie dich trifft – – – was siehst du mich so sarkastisch an? Sollte ihr vielleicht aus dem Blickwinkel ihrer Zukunft die Tat des anderen besser gefallen haben, so unabgeschlossen sie auch gewesen war?

Wie auch immer: mit ihm (dem anderen) habe ich mich bald wieder versöhnt – was hatte eine kleine Prügelei unter Freunden schon zu bedeuten? So entstand an der unmittelbaren Schwelle zum Erwachsensein eine neue schöne Beziehung, in deren Rahmen wir in friedlichem Wettbewerb standen, zumindest was unsere Eroberungen betraf. Dieser Phase galt die nächste Sitzung mit meiner Therapeutin.

BRIGITTE:
Warum hast du ihr nicht zuvor die Geschichte erzählt von dir als Fünfzehnjährigem unter der Regentschaft von Marratu, der Göttin des Mondes, der Träume und des Unbewussten?

Ich muss ihr nicht alles erzählen, nicht zu allem Stellung nehmen. Tatsächlich rief sie Marratu an, aber ich sagte nichts, sie konnte bestenfalls diese Verweigerung notieren.

BRIGITTE:
Und wie sollte sie sie deuten?

Sie hat nichts gedeutet!

BRIGITTE:
Aber ganz für sich wird sie’s getan haben! Was könnte da wohl herausgekommen sein?

Nichts, außer dass mit dir erstmals kein Beziehungsdefekt da war – daran ist eben rein gar nichts zu diskutieren, nachträglich zu reparieren: das ist keine Hypothek, die ich durch mein Leben schleppe.

BRIGITTE:
Mit – wem war da kein Beziehungsdefekt?

Mit dir, das weißt du doch. Da ist nichts abzutragen, sondern im Gegenteil ein Schatz, ein geistig-körperlicher Ort, an den ich jederzeit zurückkehren kann, ohne mich zu sorgen, zu ängstigen oder zu grämen!

BRIGITTE:
Nun ist es also heraus: Danke schön! Aber bemerkenswert ist es schon, wie schwer euch Kerlen solche Bekenntnisse über die Lippen kommen.

– – – – –

Die „Tochter des Schlafs” ruft Anshar, den Luftgott und Vater aller Helden, die er mit seiner Schwester Kishar gezeugt hat, intonierte Berenice. Anshar war (mit Kishar im Hintergrund), das fühlte ich, der Regent meines Ichs im Alter von sechzehn.

Kurz und assoziativ! gebot die Walemira Talmai. Alles zu wissen glaubend! versetzte ich schnell. Wir beide, Romi und ich, wollten mittendrin die Oberschule verlassen, zu studieren beginnen, oder – da das nicht möglich war – uns kraft unserer natürlichen Intelligenz durchs Leben schlagen. Dementgegen wurden wir aber gezwungen, die restlichen Jahre doch noch abzusitzen, und konzentrierten uns darauf, Gedichte, Erzählungen und Romananfänge zu schreiben, bei denen der Titel den Inhalt meist weit überflügelte. Daneben reizten wir die Lehrer zur Weißglut, kassierten dafür schlechte Noten, aber ein Minimum an Wissen und dessen genialer Gebrauch verhinderten stets das Schlimmste. Das Wichtigste aber war: Cherchez la femme. Viel Geld blieb in Cafés, wo wir saßen und konsumierten und saßen und warteten – bis eine kam, die abzuschleppen es lohnte (das konnte zwei, drei Tage und dann und wann eine ganze Woche dauern, denn wir waren wählerisch). Die Entscheidung, wer von uns beiden jeweils die Initiative ergriff, fiel sehr spontan und auch immer einstimmig – der Zurückbleibende wusste, dass er ebenfalls drankommen würde, denn unsere unausgesprochene Regel besagte, alles zu teilen. Wenn sich einmal, selten genug, zwei interessante Exemplare gleichzeitig in unser Revier verirrten, gingen wir parallel vor, tauschten aber dann wieder im Abstand einiger Tage.

BRIGITTE:
Du brauchst gar nicht so zu triumphieren, denn trotz aller Schlauheit seid ihr damals durchschaut und demgemäss (wenn auch nicht ausnahmslos) manipuliert worden. Sowohl die von unserer Klasse als auch die um ein Jahr Jüngeren kamen euch nicht zufällig vor die Flinte. In geheimen Kränzchen wurden Nummern verteilt – wer gezogen wurde, präsentierte sich den Jägern als Beute. Ihr habt geglaubt, ihr hättet die Wahl! Statt dessen erschien jene junge Dame, die gerade Lust auf einen von euch verspürte! Und ob man nun Romi oder dich auf den Kriegspfad gehen sah, war gleichgültig, denn die Mädels wussten ja, dass ihr tauschen würdet!

Mittlerweile weiß ich das – schließlich ging ich zu den Sitzungen bei Berenice, um mich selbst zu finden, und das war nur in völliger Wahrheit möglich.

Zuletzt, als es füglich nichts mehr zu analysieren (wenn auch noch jede Menge zu reparieren) gab, legte die Walemira Talmai ihre Therapeutenrolle ab und nahm mich auf das Anwesen mit, das sie nach wie vor mit ihrer kleinen Gemeinschaft bewohnte. Sie sahen alle ganz zivilisiert aus, als Berenice sie mir vorstellte – keinerlei Exotik, wenn man von ihrer äußerst dunklen Haut und den auffallend frohen Farben ihrer westlichen Kleidung absah. Erstmals von Angesicht zu Angesicht traf ich dort den legendären Chicago, der sich darin gefiel, eine Art Majordomus darzustellen, obwohl er vermutlich in der Stammeshierarchie einen höheren, wenn nicht den höchsten Rang bekleidete. Jedenfalls – das konnte ich mir nach allem, was ich im Lauf der Zeit an Informationen zusammengetragen hatte…

BRIGITTE:
Noch einer, der irgendjemanden bespitzelt hat. An Beschäftigungsmangel habt ihr Männer wohl noch nie gelitten?

… jedenfalls konnte ich mir zusammenreimen, dass ihm etwa zur Zeit meines Besuches mangels konkreter Ziele für seine Aktivitäten bereits ziemlich langweilig gewesen sein muss. Wobei für Leute seines Schlages Langeweile allerdings etwas anderes bedeutet als für uns – wohl eine Art gesteigerter Muße, dazu angetan, um Kräfte zu sammeln, die spirituellen Potenziale wieder aufzuladen. Oberflächlich betrachtet, genauer gesagt im Vordergrund dieser rein geistigen Vorgänge, war nichts anderes zu beobachten, als dass er sich jedem kleinsten Detail mit größter Akribie widmete.

Bist du bereit, fragte mich Berenice, an unserem Ritual teilzunehmen, mit dem wir in bestimmten Abständen eine mentale Destruktion mit anschließender Wiedergeburt vornehmen? Du musst nichts anderes tun als dich betrachtend in die Szenerie zu versenken – das kann ich dir als Zugabe zu unseren Sitzungen noch bieten. Lass dir aber nicht einfallen, dich in irgendeiner Weise in den Prozess einzumischen, es sei denn, du hast das Gefühl (und dann ist es mit Sicherheit auch echt), dich zu deinem eigenen Segen beteiligen zu müssen: Dann lass dich nicht aufhalten!

Im sogenannten orientalischen Saal (hier hatte sich Lady Pru’s Verblichener architektonisch ausgetobt – nicht umsonst war er so lange für die britische Majestät östlich von Suez unterwegs gewesen) befand sich ein großes und tiefes Wasserbecken, bei dem Boden und Wände sowie die vom Rand hineinführende Treppe mit Mosaiksteinchen in den Regenbogenfarben, ausgelegt waren, durchsetzt mit goldglänzenden Steinen, die im Licht der Unterwasserscheinwerfer besonders hervortraten.

Zwei Männer aus der Gemeinschaft begannen mit ihren Schwirrhölzern einen atmosphärefüllenden surrenden, später heulenden und zuletzt brüllenden Klang zu erzeugen. In dieses geheimnisvoll anschwellende Rauschen hinein bewegte sich plötzlich ein Zug von drei Frauen und drei Männern, deren schwarzglänzende Körper über und über mit den rituellen weißen Strichzeichnungen übersät war: in ihrer Mitte Berenice, jetzt ganz Walemira Talmai, deren Aura den Klangraum der Instrumente auszufüllen schien. Am Beckenrand vor der Treppe hielt die Gruppe. Langsam und mit eingeübten Bewegungen nahmen die sechs Begleiter dem Objekt der Zeremonie die Kleidung ab, die nur aus einem dunkelblauen Tuch bestand, in das sie ganz eingehüllt gewesen war.

Sie war einfach da – kunstvoller noch bemalt als die übrigen, mit Erdfarben auch, aber dennoch am deutlichsten hervortretend das Weiß, offenbar ganz frisch aufgetragen, sodass sich das Licht des Raumes und des Teichs darin spiegelte.

Aus der Basis des Schwirrholz-Gewitters stieg, als man sich der Anwesenheit der geisterhaften Ahnen gewiss war, die Melodie eines Didjeridoos, in der die Fülle der fernen Heimat zum Ausdruck kam: Sprachkodierungen, Tierstimmen vielleicht. Die Walemira Talmai blickte jeden von uns – die übrigen Mitglieder ihres Stammes und ich hatten uns planlos verteilt – mit ihren durchdringenden Augen an, und in diesem Moment mochte jeder für sich in seiner Einbildung noch etwas Besonderes hören: ich bildete mir ein, den lautmalenden Hymnus „Far-Off Sand“ zu vernehmen, von jenem Pharoah Sanders, von dem unsere Freundin, die Drehbuchautorin, so schwärmt, dass sie sich alles von ihm gefallen ließe.

BRIGITTE:
Ja, so sind sie, die Frauen! – Außer dass du hier Vorurteile pflegst, hast du natürlich auch ein wenig Recht damit: das was du sagen willst, ist letztlich der schwache Punkt in der weiblichen Argumentation.

… und tritt umso klarer hervor, je näher man sich am Rande archaischer Vorgänge bewegt und begreifen muss, in welch urweltlicher Umgebung sich unser wahres Seelenleben abspielt. Hör nur, was weiter geschah: Durch meine Gliedmaßen ging ein Ruck, wie man ihn verspüren mag, wenn das innerste Selbst rasch und weit davongeht und den Körper mit sich ziehen möchte an einen anderen Ort und in eine andere Zeit.

Äußerlich verhielt ich mich aber ruhig, so wie es mir geboten worden war, und wartete gespannt. Eigentlich rührte sich niemand im Saal, auch jegliche Musik, tatsächliche oder vermeintliche, war verstummt. Nach einer unendlich scheinenden Pause – die, wie man mir später sagte, von Berenice benützt wurde, ihre außergewöhnlichen Gaben für eine Weile in die Obhut ihres Geistwesens zurückzugeben: nun war sie also wieder ganz Mensch – schritt die Koori-Magierin, mit erhobenem Haupt und mit großer Eleganz und Leichtigkeit, die man ihr rein äußerlich gar nicht zutrauen wollte, ins Wasser hinab. Jetzt lösten sich noch zwei weitere Gestalten aus der Gruppe (beide im Vollgefühl der Ausstrahlung ihrer Bemalung und der Attribute ihrer Männlichkeit) und folgten ihr. Das Raumlicht erlosch langsam, das Wasserlicht nahm ab.

Als die drei im etwa hüfthohen Wasser angelangt waren, geschah das für mich Unglaubliche und Unfassbare. Unter Anrufung von Tammuz, seines Zeichens Gott der Geburt, des Todes und der Auferstehung wurde Berenice von ihren Begleitern festgehalten und untergetaucht – sie selbst hatte sich ja unmittelbar zuvor der Möglichkeit begeben, sich zu wehren oder zu befreien, was ihr unter für sie normalen Umständen ein Leichtes gewesen wäre. Ruhig und majestätisch schimmerten ihre Umrisse aus dem Wasser herauf.

Nichts bewegte sich anfangs, nur die Instrumente erklangen wieder, ganz langsam anschwellend: die beunruhigenden Schwirrhölzer und das geheimnisvolle Didjeridoo. Dann, als vier oder fünf Minuten vergangen sein mochten (eine ungeheuer lange Zeit ohne Atem zu holen, wie jeder weiß), sah ich ein Beben, als ob alles zu sieden anfinge, und die beiden Männer bei der Walemira Talmai begannen zu zittern. Schließlich, während die Musik weiter an Intensität zunahm, wurden die beiden abgeschüttelt, und Berenice erhob sich keuchend und stöhnend wieder in eine aufrechte Haltung. Erst nach einiger Zeit, als sie sich anscheinend gar nicht beruhigen wollte, kapierte ich: was man hier sah, war nichts anderes als ein veritabler Orgasmus.

BRIGITTE:
… denn, wirst du gleich hinzufügen, wie jeder weiß, gibt es kein besseres sexuelles Stimulans als am Atmen behindert zu werden.

… womit du nicht die übelsten unserer gemeinsamen Erinnerungen ansprichst, denke ich!

BRIGITTE:
(misst ihn lächelnd mit einem zärtlichen Blick; sicher denkt sie in diesem Moment daran, was vor langer Zeit am Badestrand geschah)

Wieder ruhig geworden – auch die Instrumente waren verstummt –, erhob Berenice die Arme und empfing, wiedergeboren, von ihrem Geistwesen aufs Neue die Gaben, die ihr die Verbindung zum Außer- und Überirdischen sicherten. Dann verließ sie das Becken, der dunkelblaue Umhang wurde ihr wieder umgelegt, und die magischen Zeichen auf ihrem Körper verschwanden darunter. Die Versammlung löste sich auf.

Nachdem ich lange allein gestanden war – wohl die Zeit, die man mir zugemessen hatte, um zu Ende zu meditieren – kam von irgendwoher dieser Chicago: Die Walemira Talmai bittet dich in ihr Zimmer. Dort angekommen, setzte ich mich neben Berenice auf ihr Sofa. Sie nahm meine Hand …

BRIGITTE:
Wird das nicht langsam zuviel der Melodramatik?

… genau das dachte ich auch, aber was sie sagte, mit ihrer dunklen Stimme, die nicht für eine europäische Sprache geschaffen schien, war gar nicht verstiegen: Das alles ist zwar nicht ganz die Aufgabe eine Therapeutin, aber im Ernst – ich glaube, man kann dich als wiederhergestellt betrachten. Oder sollen wir die vorherige Prozedur auch an dir vornehmen?

BRIGITTE:
Da hättest du nicht übel Lust darauf gehabt, stimmt’s, mein Alter – stets bereit für das Unkonventionelle, immer unterwegs und durch nichts festzuhalten, wenn man deine Verrücktheiten nicht mit vollem Einsatz teilt.

Wie wäre es, wenn du jetzt gleich versuchtest, mich festzuhalten? Wenn ich an jenes Geschehen zurückdenke, wird mir heute noch ganz mulmig. Was wäre zum Beispiel gewesen, wenn Berenice kurz davor an einem zwischenzeitlichen Berührungspunkt zu einem Paralleluniversum eine Transversale geöffnet hätte (dass sie das konnte, bezeugt jedenfalls die Gräfin), und dieses Portal wäre dann aus Versehen offen geblieben, weil die Walemira Talmai in der Zeremonie ihre Gaben vorübergehend zurücklegte – womöglich aber nicht nur offen, sondern auch noch wider Erwarten stabil? Und wenn sich nun etwa das andere Universum als jenes der guten und bösen Geister entpuppt hätte (mit seiner Existenz zugleich die Erklärung für diesbezügliche Sagen und Märchen liefernd)? Nicht auszudenken: Plötzlich tritt die wunderschöne Fee Pari Banu aus ihrem Felsenpalast in unsere Welt und holt sich zum ersten Mal seit Shahrzads Zeiten einen irdischen Liebhaber, der dann wie damals nie wieder zurückdarf. Dafür aber liebt sie ihn, wie noch nie ein Sterblicher geliebt wurde.

BRIGITTE:
Das könnte dir so passen! Jetzt, da ich dich habe, überlasse ich dich keiner Fee! Komm gefälligst in meine Arme und vergiss sie, denn ich will dir alles sein, was du dir ausdenkst!

Eine zweite Chance? Die gibt’s selten im Leben!

BRIGITTE:
Denk pragmatisch, mein Freund: Nach zwanzig langweiligen Ehejahren mit einem anderen bist du die Offenbarung!

204

Die Loren und der Mastroianni waren feine Leute, selbstverständlich auch der jeweilige Regisseur – de Sica und andere –, ein Kopf, eine Hand, Nacktheit nur angedeutet, und vor allem stets gegenwärtig eine Prise Humor (dessen Fehlen das große Manko späterer Erotikfilme ausmacht). Was hätte diese Mannschaft aus dem Thema „Naked News“ machen können, das ein kanadischer Fernsehsender todernst und beinhart durchzieht: Bei den gescheiterten Nahostverhandlungen fällt der BH, bei den Überschwemmungen in China rollt die Moderatorin ihre Strümpfe nach unten, der amerikanische Präsident schließlich wird eines gänzlich hüllenlosen Kommentars gewürdigt!

BRIGITTES LEBENSMENSCH:
Jetzt plötzlich kritisch – das wundert mich, denn ganz zu Beginn war’s dir egal, als Lustobjekt oder dergleichen im Schloss von Ralph und Hardy zu sitzen!

Jetzt ist das Thema am Tisch, also beschäftigen wir uns damit. Mit der Tatsache vor allem, dass Frauen so etwas angeblich sachlich und nonchalant machen können…

BRIGITTES LEBENSMENSCH:
Was auch stimmt – stell dir bloß Männer statt dessen vor! Wenn wir die nachhaltige anatomische Ausstattung hätten, um uns dabei nicht lächerlich zu machen!

Verzichten wir auf Zynismus. Halten wir lieber fest, was Frauen angeblich alles bereitwillig akzeptieren: dass der echte Sexismus, dem sie hier unterliegen, Symbol der Ausdrucksfreiheit und damit ein exemplarisches Produkt unserer Zeit sein soll; dass die PR-ver¬antwortliche Person des Senders (immerhin selbst weiblich) sich hinstellt (selbstverständlich bekleidet!) und verkündet, dies sei eben ein Programm, das nichts zu verbergen habe, und im übrigen seien die Namen D, V, H und C ohnehin Pseudonyme, was die beste Garantie für die Privatsphäre der Damen darstelle (wegen der besonderen Art der Arbeit, vergisst sie nicht hinzuzufügen). Und dann legt sie noch ein Extra-Feigenblatt drauf: Ohnehin sei man auf der Suche nach männlichen Moderatoren.

BRIGITTES LEBENSMENSCH:
Na bitte!

Du kapierst aber auch gar nichts! Die männlichen Moderatoren wird es nie geben, denn selbst wenn sich welche melden, wird man sie vertrösten und vertrösten und vertrösten, denn es handelt sich eben nicht um ein lustiges Experiment, sondern um einen neuen Akt im Drama der Zuschaustellung des explizit Weiblichen vor einem männlichen Publikum, die sich durch alle Gesellschaftsschichten und Kulturen wie ein roter Faden zieht. Man kann dieses Phänomen sogar dort beobachten, wo nur mehr seine ganz perversen Randgebiete sichtbar werden, wenn radikale Moslems ihre Frauen bis zu den Haarspitzen verhüllen oder wenn mittellose Frauen in Lateinamerika sich in gewissen Shows von wildfremden Männern in intimster Weise betatschen lassen.

BRIGITTES LEBENSMENSCH:
So wie du das erzählst, setzt mir der Verstand aus und auch ich habe nur noch diesen „männlichen Blick“ oder bei deinem letzten Beispiel diese „männliche Hand“.

Deine männlichen Hände würde ich jetzt gerne spüren, denn ich erzähle dir von meinen Schlüsselerlebnissen lieber, wenn ich in deinen Armen liege. Damit spare ich gleichzeitig die Therapiestunden.

BRIGITTES LEBENSMENSCH:
Dann mal los!

– – – – –

Normalerweise ist es ja unsinnig, alte Beziehungen aufzuwärmen. Jede Frau, die diesen dummen Einfall hat, wird feststellen, dass aus ihrem Jugendschwarm (nach dessen Abgang sie wochenlang dahinsiechte) ein biederer Kommunalpolitiker mit latent rechtsextremen Gedankengängen geworden ist; dass derjenige, mit dem sie hochfliegende künstlerische Träume gen Himmel steigen ließ, an einem PC öde Umsatzlisten auswertet…

BRIGITTES LEBENSMENSCH:
… dass aber der, mit dem du aus dem konservativen Mief in Elternhaus und Schule nach Hamburg ausgerissen bist, noch immer ganz unfrisiert dahinlebt, aber das ist eben nicht einer, den man sich als Ehemann vorstellen könnte.

Abgesehen davon, dass wir vom damaligen Job heute nicht mehr leben könnten. Was seinerzeit eine hochbezahlte Sensation war, ein junges Pärchen in echter Umarmung auf der Bühne des exklusiven „Flaubert“-Clubs, würde heute niemanden mehr faszinieren, abgesehen davon, dass wir nicht mehr die sind, die wir waren.

BRIGITTES LEBENSMENSCH:
Nur zwei alternde Geschlechtsakrobaten – au! (bekommt einen nicht ganz ernst gemeinten Schlag auf den Kopf).

Bevor du noch fragst – damals hat’s mich nicht empört, ich sah nur dich, und auch die Provokation, die ich jeden Tag beging: ich stellte mir vor, meine Eltern würden im Publikum sitzen, meine prüde Schwester, meine zickigen Schulkolleginnen (obwohl sie alle nicht einmal wussten, wo ich war).

BRIGITTES LEBENSMENSCH:
Nicht zu vergessen das viele Geld!

Das auch – aber sag, wie war das mit Indien? Warst du wirklich dort, wie die von B. behauptet hat?

BRIGITTES LEBENSMENSCH:
Als du mich in Hamburg mitten im Engagement verlassen hattest, um ins bürgerliche Leben zurückzukehren, bin ich mit dem Rest des Geldes abgehauen, möglichst weit weg. In einer Hafenstadt ist das besonders einfach: Du suchst dir ein Schiff und im nächsten Moment bist du wie vom Erdboden verschluckt.

Verlassen wollte ich dich nicht – ich wurde zurückgeholt! Zwar hatte mein Vater hinsichtlich meines Verschwindens resigniert (für ihn war ohnehin noch ein anderes – braves – Kind da), doch meine Mutter verstand es in ihrer resoluten Art, mich schließlich ausfindig zu machen. Ob sie die ganze Geschichte voll und ganz herausgefunden hatte und, begleitet von einem Detektiv, womöglich sogar in einer unserer letzten Vorstellungen gesessen war, weiß ich bis heute nicht. Jedenfalls hatte ich nicht die leiseste Chance einer Gegenwehr.

BRIGITTES LEBENSMENSCH:
Du warst immerhin neunzehn!

Da kanntest du Muttern schlecht. Als geborene Norddeutsche fühlte sie sich in Hamburg wie ein Fisch im Wasser. Dass sie persönlich überhaupt nicht prüde war, sondern für sich durchaus beanspruchte, was sie bei ihren Töchtern vermeiden wollte, erwies sich von Vorteil. Indem sie etwas heraushängen ließ, was man fast in die Nähe der Nymphomanie rücken konnte (und was von meinem Vater in keiner Weise je befriedigt worden war), machten alle Männer, die sie vor Ort benötigte, um mich loszueisen, alles was sie wollte: der Hauptwachtmeister der Polizei, das Würstchen vom Sozialamt und nicht zu vergessen der Besitzer des „Flaubert“.

BRIGITTES LEBENSMENSCH:
Fehlt noch, dass sie mit ihm ins Bett ging!

Darauf kannst du wetten, wenn man bedenkt, wie problemlos er mich aus dem Vertrag entließ. Überfressen von den makellosen Kunstfiguren seiner Stripperinnen und Artistinnen, ergriff er die Chance, mit dieser drallen und naturbelassenen Endvierzigerin so etwas wie einen dampfenden Inzest zu erleben.

BRIGITTES LEBENSMENSCH:
Das reimst du dir zusammen ohne die Spur eines Beweises!

Eine erwachsene Frau, die einer anderen erwachsenen Frau (auch wenn es sich um die eigene Mutter handelt) auf die Sprünge kommt, braucht keinen Beweis. Aber ich wollte dir nicht ihre Geschichte erzählen, die nahtlos und ohne Reue zurückführte in den ehelichen Haushalt, sondern meine eigenen Erlebnisse.

Als Nächstes wurde ich nämlich für drei Monate zu Bekannten der Familie nach Spanien abgeschoben – um mich wieder einzuklinken, wie man nicht vergaß hinzuzufügen (meine Schwester hättest du erleben sollte, wie sie geradezu überbordete vor moralischer Entrüstung, allein wegen der Erwähnung des Wortes Hamburg, ohne zu wissen, was wir dort getrieben hatten).

BRIGITTES LEBENSMENSCH:
Und – hast du sie vor deiner Abreise in eurem gemeinsamen Doppelbett ein wenig unsittlich berührt, um sie an deinen neugewonnenen Erfahrungen mitnaschen zu lassen?

Nein, denn das wäre gar nicht so einfach gewesen bei all dem Zeug, das die zum Schlafen anhatte. Aber ich hab‘ ihr am letzten Abend vor meiner Abreise die ganze Wahrheit erzählt, in der Hoffnung, dass sie danach den Mega-Familienskandal auslösen würde. Doch weit gefehlt, allenfalls hat sie’s ganz entrüstet ihrem Verlobten getratscht und ihm damit zu zwei großen roten Ohren verholfen.

BRIGITTES LEBENSMENSCH:
Ich kenne den Herrn nicht, aber das sollte das Einzige gewesen sein, was ihm bei der Geschichte physiologisch passiert ist?

Egal – jedenfalls holten mich meine Gastgeber, der Gynäkologe Dr. Julio Sanchez-Barzon und seine Gemahlin, am Flughafen von Sevilla ab und brachten mich in ihre luxuriöse Wohnung am Paseo del Cristóbal Colón, wunderschön gelegen am Nordufer des Guadalquivir zwischen der Plaza de Toros Maestranza und dem gleichnamigen Theater.

Für mich war es keine Fahrt ins Ungewisse, war ich doch im Alter von 14 zusammen mit meiner Schwester bereits einmal dort gewesen. Mein Vater hatte Señor Sanchez auf einem Ärztekongress kennengelernt und war auf das Angebot, seine Töchter einen Sommer lang Spanisch lernen zu lassen, gerne eingegangen. Damals schienen wir beide, blass und flachbrüstig, unter der Reizschwelle des Doktors gewesen zu sein. Das hatte sich nunmehr schlagartig geändert – der gute Mann verschlang mich bereits im Auto regelrecht mit seinen Blicken, was mir gleich zum Einstand meines Aufenthalts eine böse Miene der Señora eintrug.

BRIGITTES LEBENSMENSCH:
(sichtlich animiert und die Umarmung intensivierend) Jeder von beiden konnte auf seine Weise erkennen, dass dieser voll erblühte Körper gut durchtrainiert war (dafür zu sorgen, bildete, wie du dich erinnerst, einen nicht unwesentlichen Vertragspunkt mit dem „Flaubert), wenngleich sie dies vielleicht stärker auf sportliche Betätigung zurückführen mochten, als es tatsächlich der Fall war.

Ich bekam das alte Gästezimmer wieder, das ich schon mit meiner Schwester bewohnt hatte, ein wenig unbequem in seiner Schwülstigkeit, aber sonst ganz in Ordnung. Das Unterwasserlicht der geschlossenen Jalousien bei strahlendem Sonnenschein draußen während der Siesta war jedenfalls noch immer da – an das hatte ich in der Nüchternheit meines Elternhauses, die im Vergleich zu der andalusischen Bleibe nicht nur hausgemacht, sondern auch klimatisch bedingt war, oft zurückdenken müssen. Man konnte während der frühen Nachmittagsstunden, in denen niemand, der es sich leisten konnte, irgendeiner Beschäftigung nachging, so herrlich träumen, und ob du’s glaubst oder nicht, zwei Mädchen im damaligen Alter von uns Schwestern (anders als später ein Herz und eine Seele) können ganz handfeste Träume haben, zumal eine Erfüllung oder Verwirklichung derselben nicht gerade um die Ecke lauert.

Julio Sanchez ließ es sich, nachdem ich mich eingerichtet hatte, nicht nehmen, persönlich nach meinem Wohlbefinden zu sehen. Verfolgt vom Misstrauen der Gemahlin inspizierte er mein Zimmer, öffnete auch hier und dort eine Kastentür (ob ich denn die richtige Garderobe für ein standesgemäßes Auftreten mitgebracht hätte? – denn anders als vor sechs Jahren plane man, mich zu gesellschaftlichen Anlässen mitzunehmen!). Wie um einen frühen Versuchsballon zu starten, perlustrierte er – nicht ohne sich noch einmal nach der Tür umgesehen zu haben – auch die Laden jener Kommode, in der er zurecht meine Unterwäsche vermutete. Respekt, meinte er, indem er das eine oder andere Stück heraushob und dann liebevoll wieder zurücklegte: Wissen Sie Señorita Brígida, es ist mehr ein professionelles Interesse. Schließlich beginnt die Gesundheit aus dem Blickwinkel meiner Sparte mit den richtigen Dessous, und ich sehe, dass sie sich unserer Sommerhitze entsprechend richtig eingedeckt haben.

Ich erklärte ihm, woher das Zeug stammte (aus Hamburg) und dass ich es an meiner Mutter vorbei hatte ins Gepäck schmuggeln müssen.

Er lächelte verschwörerisch. Wieder mit dem obligaten Blick zur Tür fragte er leise: Sie waren in Hamburg – eine brutale, aber auch faszinierende Stadt. Ich habe sie, wie könnte es anders sein, wegen eines Kongresses besucht und sie, aus der Sicht eines Südländers betrachtet, ein wenig – sagen wir – ungeschliffen gefunden.

Der Club „Flaubert“ hätte Ihnen gefallen, Don Julio. Und ich erzählte ihm unverblümt, was ich dort gemacht hatte. Schließlich sollen Sie wissen, meinte ich beiläufig, warum ich wirklich hier bin. Ihr wunderschöner Haushalt ist für mich als eine Art Umerziehungslager auserkoren worden.

Er lächelte gepflegt. Nach einem abermaligen Blick zur Tür, von wo man nun die Schritte der Señora hören konnte, sagte er, fast im Flüsterton: In der Sache an sich unterscheiden wir uns hier nicht wirklich von anderen Männern, allerdings führen wir eine feinere Klinge als die im hohen Norden. Als seine Frau eintrat, stellte er sich zeremoniell neben sie und hieß mich nochmals herzlich willkommen. Wir werden sicher noch genug Zeit haben, uns ausführlich über die verschiedensten Themen zu unterhalten, meinte er, und, zur Dame des Hauses gewandt: Weißt du, tesoro mio, die Señorita Brígida könnte – mit Verlaub – ein wenig Spanisch-Training gebrauchen.

BRIGITTES LEBENSMENSCH:
Und was wird die Matrone lakonisch geantwortet haben? Dazu ist sie ja wohl hier! Ich höre sie direkt, wie sie das sagt.

Stimmt genau – aber sie war keine Matrone, sie war eine attraktive Frau, etwa so alt wie ich jetzt, und wie ich hatte sie zwei Kinder geboren, wie es eben so kommt.

BRIGITTES LEBENSMENSCH:
Damit soll wohl entschuldigt werden, was vermutlich weiter passiert ist – damit, dass die Frau des Don Julio ohnehin die gleichen Chancen und die gleichen Waffen hatte wie du. Ach, ich liebe dich, du kleines Biest, das du noch immer zu sein scheinst!

– – – – –

Danke für die angenehme Pause und das Gefühl, dass die Gegenwart ihre Reize hat gegenüber jeglicher Vergangenheit!

BRIGITTES LEBENSMENSCH:
Es war mir wirklich ein Vergnügen und weiß Gott keine Last, da du mich ja mit deinen subtilen erotischen Geschichten mehr erregst als dies eine Show im „Flaubert“ je geschafft hätte, mit Ausnahme unserer eigenen Nummer natürlich, denn bei der zählte eine gewisse Grunderregung zur notwendigen technischen Voraussetzung, ohne die das Publikum uns todsicher ausgepfiffen hätte.

Diese Grunderregung stellte ich auch bei Señor Sanchez-Barzon fest, und sie wuchs von Tag zu Tag. Kaum konnte er sich bei den gemeinsamen Mahlzeiten vor Doña Margharita und den beiden Jungs (auch sie sabberten voll pubertären Begehrens vor sich hin) beherrschen. Die Hausfrau war unzweifelhaft eine Dame und es schien ihr einerseits langsam zu grauen vor soviel Brunft. Andererseits beruhigte es sie ganz offensichtlich, nicht die Zielscheibe dieser geballten Aggression zu sein. Sie verhielt sich mir gegenüber, nachdem sie sich irgendwann zum erlösenden „Gottes Wille geschehe!” durchgerungen hatte, sehr korrekt, mehr noch, fast freundschaftlich. Hinsichtlich der jungen Brut bat sie mich (und diesen Wunsch erfüllte ich ihr nur zu gern), mein Schlüsselloch und das des Badezimmers abzudecken, denn sie sei es leid, die beiden öffentlich ihren Hosenlatz bearbeiten zu sehen. Was ihren Gemahl betraf, hatte sie (vermutlich aufgrund langer Erfahrung mit ihm) kein Rezept parat und schien es mir zu überlassen, das Tempo des prospektiv Unvermeidlichen zu bestimmen.

Doña Margharita und ich waren viel unterwegs, da Don Julio uns infolge seiner intensiven Praxis- und Spitalstätigkeit (wo er trotz seines Appetits auf mich sicher nichts anbrennen ließ) sehr viel uns selbst überließ. Wenn wir ausgingen, bat sie mich, den Gepflogenheiten ihrer Klasse für meine Altersstufe entsprechend Weiß zu tragen, während sie eher gedeckte Kleiderfarben wählte. Was sie sicher nicht beabsichtigt hatte, war die Signalwirkung, die ich auf diese Art zusammen mit meinem blonden Haar auf die entgegenkommenden Männer ausübte, wenn wir die Avenida de la Constitución entlang schlenderten. Mir schien, als ob einige von denen uns sogar mehrmals an einem solchen späten Nachmittag entgegenkamen, indem sie offenbar rasch den Komplex der Kathedrale und der berühmten Giralda umrundeten, um uns wieder zu begegnen.

Übrigens, die Giralda – ich sag‘ das nicht, um eine Stadtführung zu simulieren, sondern weil dieses Bauwerk in meiner Geschichte noch eine Rolle spielen wird – ist ein fast 100 Meter hoher Turm, der vom Almohaden Abu Jakub Jusuf etwas niedriger als Minarett errichtet und im 16. Jahrhundert vom Architekten Hernán Ruiz aufgestockt sowie im Stil der Renaissance umgestaltet wurde.

BRIGITTES LEBENSMENSCH:
Fehlt noch, dass du mir jetzt die Öffnungszeiten und den Eintrittspreis für die Besichtigung nennst.

Ich glaube, es war Montag bis Samstag ganztätig und am Sonntag nur nachmittags geöffnet. Den Eintrittspreis weiß ich nicht, den hat die Señora bezahlt.

BRIGITTES LEBENSMENSCH:
Spann mich nicht länger auf die Folter, du weißt genau, dass mich nur interessiert wie es mit dem famosen Don Julio weiterging.

Das Seltsame war, dass ich ihn mit der gleichen sarkastischen Distanziertheit betrachtete, die du soeben zum Ausdruck gebracht hast, aber er hatte zweifellos Stil, und ich war einfach sehr sehr neugierig.

Als er überreif war, lud er mich ein, ihn in der Klinik zu besuchen, das schien ihm unverfänglicher als die Privatpraxis. Stolzgeschwellt führte er mich durch die Räume, das Personal schwirrte um uns herum (jawohl, Dr. Sanchez, können Sie hier unterzeichnen, Dr. Sanchez, was meinen Sie, Dr. Sanchez), bis wir uns dann schließlich in sein Büro zurückzogen und, nachdem Kaffee serviert worden war, nicht mehr gestört werden wollten, wobei Don Julio mich nicht fragte, ob das auch meine Intention war.

Ich könnte Ihnen eine exquisite gynäkologische Untersuchung anbieten, Señorita Brígida, bemerkte er nach dem Kaffee und einigem mühsamen Smalltalk. Hier gleich nebenan gibt es meinen persönlichen Ordinationsraum, sehen Sie sich ruhig einmal um. Als ich das Nebenzimmer betrat, sah ich die übliche Einrichtung, den alles beherrschenden Gynäkologenstuhl, noch beeindruckender aber die über die ganze Raumbreite reichende Glasfront, durch die man weite Teile der Stadt betrachten konnte. Wie viele Damen mochte der galante Doktor in diesem Luftschloss schon eingekocht haben?

In diesem Moment wollte ich es wissen. Ich trat hinter den dafür vorgesehenen Paravent und zog mich komplett aus – das Kribbeln eines langsamen Strips unter seinen Blicken schien mir in dieser Umgebung unangebracht. Schockartig trat ich daher wieder vor und legte mich wie zur Untersuchung zurecht. Ob Sie Jungfrau sind, Conchita, brauche ich nicht nachzusehen, sagte er lächelnd, während er seinen weißen Mantel und seine Hose öffnete (er entkleidete sich nicht).

Langsam beschleunigend bereitete er mir eine Symphonie, deren Oberschwingungen in unterschiedlichster Weise die Fähigkeiten und Erfahrungen griechischer, gotischer und maurischer Ahnen einschlossen. Wenn ich den Kopf nach links drehte, erkannte ich durch die Riesenglasscheibe im Dunst die Umrisse von La Giralda.

Grafik 2.2

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Professor Pascal Kouradraogo, korrespondierendes Mitglied der Universität von Ouagadougou, an der er seinen ersten Lehrauftrag hatte, bevor er in die Forschungslaboratorien des US-Verteidi¬gungsministeriums berufen wurde (die Russen, die ihn auch haben wollten, konnten sich ihn nach 1990 nicht mehr leisten) – warum eigentlich wurden seine Forschungen so wichtig und relevant für die nationale Sicherheit einer Großmacht angesehen?

DER STABSCHEF:
Lassen Sie mich das erklären, mein Freund (bezeichnet Chicago mittlerweile so, denn er könnte sich seine derzeitige Position als kommissarischer Verwalter des O’B’O oder dessen, was davon übrig ist, gar nicht anders vorstellen als mit diesem sehr angenehmen Kontrahenten). PK war mir ein Begriff seit meiner Zeit als britischer Verbindungsoffizier zur NATO – Task Force on the Review of Unconventional Psychologic and Parapsychologic Scares, kurz TROUPPS genannt – übrigens eine Top-Secret-Sache, also behalten Sie das für sich, wenn Sie nicht riskieren wollen, von einem Spezialkommando des AOS umgenietet zu werden.

AOS?

DER STABSCHEF:
American Overseas Service! Klingt harmlos, kann aber tödlich sein, denn die guten Yanks sind wie verrückt nach dieser Sondereinheit, die sie, wie übrigens den ganzen transatlantischen Verein, als ihre ureigene Spielwiese ansehen. Und noch eins: Die sind nicht bewusst böse (wie unser guter alter Orden), sondern einfach so wie sind: naiv-brutal, ohne Skrupel, denn sie glauben Gott auf ihrer Seite.

Jetzt haben wir allerdings den Professor ein wenig aus den Augen verloren!

DER STABSCHEF:
Ja richtig, den Professor, der so schwarz ist wie Sie.

Sie vergleichen mich hoffentlich nicht mit einem dahergelaufenen Afrikaner – mich, den vornehmen Koori, dessen Abstammung sich über tausende Jahre, die gleichzeitig wie eine Sekunde sind, bis hin zu den geisterhaften Ahnen verfolgen lässt!

DER STABSCHEF:
Nun, dann verzeihen Sie, mein Lieber, da muss ich wahrscheinlich noch froh sein, dass Sie überhaupt mit mir sprechen. Zum Glück bin ich immerhin Baronet (und Sie kennen sich in unserer Gesellschaft mittlerweile gut genug aus um zu wissen, dass dies ein gerade noch erblicher Adelstitel ist). Aber jetzt wirklich zu dem Professor, der, im Gegensatz zu der von Ihnen inkriminierten niederen Abkunft intellektuell eine Menge auf dem Kasten hatte. Um seine Bedeutung für das US-Militär zu ermessen, muss man sich wohl oder übel in der Ideenwelt dieser Leute zurechtfinden: hatte doch für sie die territoriale Hoheit seit jeher die höchste Priorität vor allem anderen, wie etwa dem Leben der ihnen anvertrauten Soldaten, dem Hab und Gut und auch der blanken Existenz der eigenen Zivilbevölkerung.

Also im Klartext: solange das Sternenbanner weht, und sei es über einem Leichen- und Ruinenfeld, ist es recht?

DER STABSCHEF:
So ungefähr! Und an dieser Stelle wird natürlich künstliche Intelligenz ein Thema – genau das Fachgebiet unseres Professors. Seine Ausgangstheorie lautete: Die Möglichkeit einer anders gearteten als der unseren Intelligenz ist prinzipiell vorhanden, also jedenfalls nicht mit jenem missionarischen Eifer auszuschließen, der fast religiös anmutende Exklusivitätsansprüche des Menschen zu sehen glaubt. Die physische Basis von Intelligenz muss auch nicht Kohlenwasserstoff sein, kann ohne weiteres aus einem oder mehreren anderen Elementen bestehen oder sogar überhaupt eine technische Struktur sein, entsprechend der Erkenntnis, die wir wohl im Zeitalter von Supercomputern akzeptieren müssen – dass sich nämlich theoretisch auch ein Elektronengehirn seiner selbst bewusst werden kann, erst recht dann, wenn man sich in der weiteren Entwicklung eine Kombination aus elektronischen und neuronalen Elementen vorstellt.

Mit anderen Worten: PK dachte an eine künstliche Beschleunigung der Evolution sowie deren Steuerung in eine bestimmte Richtung.

DER STABSCHEF:
… mit dem Ziel, wie er es nannte, Advanced Artificial Intelligence zu entwerfen, etwas vom Menschen Hervorgebrachtes, aber auch dazu Geeignetes, den Menschen als solchen abzulösen. Manche sehen auf Basis dieser Technologie selbstregenerierende Androiden-Horden in die fernsten Winkel des Alls vordringen oder dergleichen mehr.

Wobei man sich viel Mühe ersparen würde, wollte man zu eben diesem Zweck die geistigen Gaben der Walemira Talmai einsetzen! Aber ich weiß, außerwissenschaftliche Erkenntnisse sind in der Mainstream-Wissenschaft nicht zugelassen, selbst in ihren Randgebieten, wo die Trennschärfe ohnehin schon zu wünschen übrig lässt. Abgesehen davon kann man froh sein, wenn Institutionen à la TROUPPS keine Ahnung von unserer Magierin haben!

DER STABSCHEF:
Ich hab‘ nichts verraten! Somit ist denen nichts anderes übrig geblieben, als den komplizierten Weg zu gehen – langwierige, aber zugleich auch lukrative Aufträge für Kouradraogo, ferner die Möglichkeit für ihn, zahllose Subkontrahenten zu beschäftigen, was ihm ein zusätzliches Provisionseinkommen sowie vor allem eine erkleckliche Machtposition eintrug. Da gab es nicht wenige Leute im Nationalen Sicherheitsrat oder beim Vereinigten Generalstab der USA, deren rassistische Gefühle überkochten und von den obersten Vorgesetzten nur mühsam unterdrückt und ausbalanciert werden konnten. Soweit dies Ordensmitglieder betraf, fiel diese Aufgabe mir zu, aber auch weit höherrangige Offiziere wie etwa die Joint Chiefs of Staff hatten – ob sie nun persönlich wollten oder nicht – alle Hände voll zu tun, um die Ablehnungsfront gegen den Professor herunterzuspielen.

Wollte man also zu Sein und Möglichkeit dieser Advanced Artificial Intelligence vordringen, musste man weite Wege gehen, kreuz und quer durch eine „Theory of mind“. Man musste sich einmal auseinandersetzen mit der ersten Ebene mentaler Vorgänge, dem „Pre-mind“ (wie ihn alle Säugetiere aufweisen) – einer Art Bilderstrom, der sich in dieser Vorstufe von Bewusstsein genau mit der Geschwindigkeit der Umgebung bewegt.

DER STABSCHEF:
Sie klingen fast, als seien sie dabei gewesen!?

Das gerade nicht, aber man hat unsererseits versucht, sich auf dem Laufenden zu halten, was dieses uns sehr berührende Fachgebiet betrifft. Der Gruppe um Berenice und mich, die in jeder Beziehung einer bedrohten Minderheit angehört, steht es wohl an, auf der Hut zu sein.

DER STABSCHEF:
Was haben sie also noch herausgefunden? Mir war es offen gestanden zu langweilig, auch diesen Papierkram neben allem anderen noch zu lesen.

Man musste sich sodann durch die zweite Ebene ackern, den „Mind“, der allein den großen Primaten vorbehalten bleibt. Hier finden wir die Fähigkeit, Werkzeuge zu bauen, sich selbst im Spiegel zu erkennen, einsichtige Problemlösungen zu finden, und last but not least erste Ausprägungen von Politik wie etwa das Vortäuschen falscher Tatsachen.

DER STABSCHEF:
Mit einem Wort: Der Affe weiß, was ein anderer sieht!

Präzise – und damit wird die dritte Ebene klar, die es zu durchforschen gilt: der „Meta-mind“. Der Mensch allein weiß, dass andere wissen, dass er weiß! Repräsentationen werden als solche wahrgenommen. Man kann nachdenken über die eigene Geistestätigkeit und über die anderer. Ein individuelles Bild der Welt entsteht, das es ermöglicht, aus dem Strom des äußeren Geschehens herauszutreten: aber nicht nur, um einfach Vergangenheitsrekonstruktion oder Zukunftsplanung zu betreiben, sondern vor allem um in der Lage zu sein, die eigenen spontanen Impulse zu überstimmen. Der Mensch – der Nicht-wollen-Müsser oder besser gesagt der Nicht-müssen-Könner!

DER STABSCHEF:
Im Prinzip also perfekt geeignet, Sieger zu sein – wäre da nicht diese lästige, biologisch bedingte Störanfälligkeit, um nicht zu sagen strukturelle Morbidität.

Sie meinen, Kouradraogo habe sich demzufolge aufgemacht, diese Schwäche auszumerzen, indem er die Evolution in Richtung Cyborg weitertrieb?

DER STABSCHEF:
Nicht direkt, denn er sah sich primär als Denker und nicht als Macher – und er würde das Wort Cyborg niemals in den Mund nehmen, um nicht mit mehr oder weniger obskuren Science-Fiction-Schreiber und deren Gestalten in einen Topf geworfen zu werden. Sein Ansatz war immer nur jener der Advanced Artificial Intelligence. Die Behauptung, dass diese in Gestalt eines Cyborgs, also eines Hybriden aus Organismus und Maschine, auftreten müsse, hätte der Professor als technologischen Determinismus abqualifiziert. PK lehnte nämlich jegliche präzise Konzeption ab, wenn sie unnötigerweise die Spekulation auf die Zukunft einengte.

Also doch keine Androiden-Horden, die – vom Homo sapiens geschaffen – spätestens nach dessen Aussterben seinen Platz übernehmen und durch das Universum düsen?

DER STABSCHEF:
Von denen hat der Professor nie gesprochen. Niemals wollte er sich so weit festlegen, dass seine Auftraggeber die Projektphase für beendet erklärten und unter Einschaltung anderer Wissenschaftler (die dann an seiner Stelle das große Geld machen würden) zur Realisierung schritten. Der militärische Komplex der amerikanischen Wirtschaft unterstützte Kouradraogo in diesem labilen Gleichgewicht, zumal er keine unmittelbare Notwendigkeit sah, die Profitmöglichkeiten dieses Forschungsgebietes zu aktivieren, ohne sich jedoch die grundsätzliche Option darauf verbauen zu wollen. Schließlich wird ein Ersatz der – im PK’schen Sinne – konventionellen Rüstung erst dann notwendig, wenn die politische Macht des Menschen sein Ende als biologische Gattung überleben soll.

Wenn also der Popanz seinen Schöpfer überdauert, genau wie dieser seinen eigenen überirdischen Erzeuger abgelöst hat: das was Sie in Ihrer Kultur Gott nennen und wir unsere Geisterahnen.

DER STABSCHEF:
Da sehe ich übrigens wenig Unterschied für die, denen das geheime Wissen gegeben ist! Auch die jüdische Wurzel unserer christlichen Tradition besitzt ein unterirdisches Pendant, das von göttlichen Mächten – beschrieben als kosmische Intelligenzen oder Energien – zeugt. Sollte mich wundern, wenn jemand wie Sie, mein Freund, nichts von der Kabbala wüsste oder vom Dualismus, den Paulus im Hebräerbrief 4/12 der menschlichen Persönlichkeit zuschreibt: die Psyche den materiellen Elementen zugewandt, das Pneuma den spirituellen; oder vom Astralleib der alten Ägypter, der den physischen Körper modelliert; oder von ähnlichen Konzepten bei den griechischen Klassikern, den alten Indern…

Immer das eigene Selbst als Spiegelbild eines Wesens aus anderen Sphären! Und Sie argumentieren nun, seit die Aufklärung diesen Zusammenhang durchtrennt hat, schafft sich diese gespiegelte Kreatur zwanghaft – da sie ja per se eines Widerparts bedarf – ihre eigene Reflexion.

DER STABSCHEF:
Das wird’s wohl sein! Das Pentagon ist groß – selbst wenn es diese Zusammenhänge wahrscheinlich gar nicht bis ins Letzte durchschaut – und Kouradraogo war (jedenfalls für einige Zeit) sein Prophet!

Ich weiß dennoch nicht recht, wo Sie persönlich in der ganzen Thematik stehen. Eigentlich haben Sie nur erzählt und sich dabei in keiner Weise festgelegt.

DER STABSCHEF:
War auch nicht ganz einfach, Stellung zu beziehen, alter Knabe, mit Rücksicht auf die NATO, auf die Playboys in der zweiten Reihe des Stabes der US Army mit ihrem TROUPPS-Spielzeug und nicht zuletzt auf den Orden, der zwar ganz passiv geworden war, aber dennoch nicht in irgendwelche fremden Machenschaften hineingezogen werden durfte. Am Ende habe ich jenseits all dieser komplizierten institutionellen Überlegungen eine sehr persönliche Entscheidung getroffen. Ich erteilte O’RAZOR den Befehl, PK präventiv zu beseitigen.

Vielleicht bildete er damit eine Ausnahme vom Prinzip, dass um die Opfer von O’RAZOR nicht getrauert werde brauche. Um den Professor war nämlich echt schade, wie man jederzeit aus seinen Tagebüchern ablesen kann.

DER STABSCHEF:
(in höchstem Maß verwundert) Wo haben Sie die her?

Nun, mein Lieber, auch wir haben unsere Quellen, und – bei aller Sympathie, die wir einander mittlerweile entgegenbringen – wir kommen fallweise zu anderen Schlussfolgerungen als Sie.

Diese Geschichte zum Beispiel: PK machte einige Tage Urlaub in einem heißen Land, in dem er einen Vortrag gehalten hatte. Sein Arzt hatte ihm geraten, wenigstens für kurze Zeit Einfaches zu tun und Belastungen zu meiden. So wanderte er in seinem heimatlichen weißen Burnus, den er überall in seinem Gepäck mitführte, durch Wälder aus Ölbäumen, setzte sich dann wohl auch neben einen solchen uralten Stamm, aß Brot und Zwiebel, trank Wein dazu und schlief schließlich ein.

Als er erwachte, nahm er ein metallisches Zischen wahr und erblickte neben sich eine kleine Schlange, die halb aufgerichtet den Kopf hin- und herpendeln ließ, während sie ihn beobachtete. Bei dem Gedanken, wie lange sie schon seinen Schlaf bewacht haben mochte, rieselte es ihm kalt den Rücken runter.

Keine Sorge, Professor Kouradraogo, sagte plötzlich das Reptil, ich bin keine richtige Schlange, obwohl meine Konstrukteurin, Anastacia Panagou, in mir prinzipiell auch die Fähigkeit zu töten angelegt hat, aber im Moment steht mir mehr der Sinn danach, mich zu unterhalten.

Schnell von Begriff war er schon, unser Professor: Dann sind Sie eine virtuelle Schlange!

DER STABSCHEF:
Nur keine Ovationen jetzt – Schlangen hatte er wohl in seinem afrikanischen Heimatland genug gesehen, und den virtuellen Charakter eines Objekts zu erkennen, gehörte schließlich zu seinem ureigensten Beruf!

Der Professor fragte weiter: Gehe ich richtig in der Annahme, dass Sie ein volltauglicher Roboter sind, ohne jede Online-Verbindung zu einer Steuerungseinheit? Darauf die Schlange: Da muten Sie meiner Konstrukteurin einige Genialität zu. Glauben Sie wirklich, dass es möglich ist, die Energiequelle, die Motorik und die Rechnerkapazität für den Betrieb einer virtuellen Persönlichkeit wie ich es bin in einem physischen Erscheinungsbild von vielleicht 180 cm3 unterzubringen?

Darauf unser Mann, völlig wachgerüttelt, ganz Spitzenexperte seiner Branche, mit einer abfälligen Handbewegung, die das Problem minimieren sollte: Das ist doch ganz sekundär – eine untergeordnete technische Frage, die im übrigen bei Mensch und Tier erfolgreich gelöst wurde.

Aber wie bei Tier und Mensch, wendete die Schlange ein, sehen Sie auch bei einer künstlichen Entität nur das was sie sehen wollen. Anders ausgedrückt: wie dumm darf ein Roboter sein, ohne dass ihnen seine Inferiorität auffällt? Angenommen ich hätte nichts anderes eingebaut als einen Bewegungssensor, ein Richtmikrofon, eine Spracherkennungssoftware und eine Datenbank. Ich würde Ihnen – wie eben jetzt – mein Gesicht zudrehen und gespeicherte Phrasen dreschen, die meine Logik als passend auf eines ihrer Stichwörter befunden hat. Angenommen weiter, ein Gesprächspartner wie Sie mit einer an der Grenze meiner Leistungsfähigkeit stehenden Kompetenz brächte mich in Verlegenheit: wäre es da nicht ebenso ergreifend wie über meine wahre Situation hinwegtäuschend, wenn ich mit Hilfe eines MER (Model for Emotional Response) ein vorgefertigtes Gefühl zeigen könnte?

DER STABSCHEF:
Zum Beispiel dass es der armen kleinen Schlange langweilig wird, mit dem berühmten Professor hochfliegende Gespräche zu führen.

Tatsächlich schreibt PK an dieser Stelle seines Tagebuchs, dass die Schlange sich verabschiedet habe (nicht ohne der Hoffnung Ausdruck verliehen zu haben, ihn eines Tages wiederzusehen) und dass auch er sich danach zum Gehen wandte und in sein Hotel zurückkehrte. Dort angekommen hatte er ein merkwürdiges Erlebnis: Täuschte er sich oder sah er das Reptil von vorhin die große Treppe im Foyer hochwieseln? Aber da war er schon wieder von Neugierigen umringt, die ihn ablenkten mit ihren Fragen zu seiner Tätigkeit für die US-Militärmaschinerie (über die er nichts sagen durfte) und zur künstlichen Intelligenz (über die er gerade heute nichts sagen wollte). Was ihm nämlich durch den Kopf ging, ausgelöst durch sein seltsames Erlebnis, war die plötzliche Erkenntnis, wie sehr er sich vom früheren Konzept der Expertensysteme entfernt hatte, also von jenem kopfbetonten Verständnis Künstlicher Intelligenz zur Zeit seiner Studienjahre. Die aktuelle Interpretation seines Gegenstandes drehte sich nun schon lange um autonome Agenten, seien es Software-Agenten in Datenbanken oder Roboter. Intelligenz, und das betraf die künstliche ebenso wie die natürliche Form, hatte für ihn eine maßgebliche soziale Komponente erworben – als Fähigkeit eines Systems zur Interaktion mit der Umwelt.

Nach rund einer Stunde kehrte er aus seinem Zimmer zurück, jeder Zoll ein gepflegter schwarzer Gentleman (für diesen Tag hatte er genug von der empfohlenen Einfachheit!). Er verließ das Hotel, um in einem der besten Restaurants der Stadt zu dinieren. Mit Missvergnügen stellte er fest, dass dort kein Tisch frei war, aber über Vermittlung des Kellners bat er eine alleinsitzende Dame, ob er sich zu ihr gesellen dürfte, und stellte sich gebührend vor. Auch sie nannte ihm ihren Namen: Anastacia Panagou.

Etwa zu dieser Zeit erschütterte eine Explosion das Hotel. Wie sich später herausstellte, verwüstete sie die Suite des Professors.

DER STABSCHEF:
Das war erste Versuch. So etwas Stümperhaftes hatte es bei O’RAZOR noch nie zuvor gegeben.

Er selbst sollte an diesem Abend allerdings noch lange nichts von diesem Vorfall erfahren, wie man seinen Tagebuchaufzeichnungen entnehmen kann.

206

Es mag am Zeitalter des Wassermanns liegen, dass da und dort nicht nur der Friede eine Chance hat, sondern auch die verstiegenste Spekulation. Darin besteht schließlich die Tücke dieses himmlischen Hauses, dass es – vordergründig jedenfalls – recht attraktiv aussieht, bei näherem Hinsehen aber einen durchaus hässlichen, manchmal sogar etwas erbärmlichen Eindruck macht.

GRÄFIN VON B.:
Immerhin ist es da – nach rund zwei Jahrtausenden im Zeichen der Fische (und was war das für eine Zeit!) ist die Welt im Rahmen ihres mehr als 25.000 Jahre umfassenden Superzyklus tatsächlich in die Wassermann-Ära eingetreten, und vieler Menschen Hoffnungen knüpfen sich daran, vor allem jener, die mit den traditionellen Gedankengebäuden und Verhaltensmustern nichts anzufangen wissen.

Das Ziel?

GRÄFIN VON B.:
Das Ziel jener Andersgearteten besteht schlicht darin, das bisherige System, das sie als grobe Vergewaltigung ihrer ureigensten Bedürfnisse verstehen, zu kippen.

Der Weg?

GRÄFIN VON B.:
Selbst wenn Sie als großer Regisseur das lächerlich finden und mir grobe, will sagen unsensible Fragen stellen – Sie werden es erleben, wie einfach jede starr gewordene Struktur unter den Angriffen ganzheitlichen und vernetzten Denkens zu zerstören ist. Täuschen Sie sich nicht: Jenes Geflecht einzelner Menschen existiert schon, um denjenigen, die heute am hohen Ross sitzen, schmerzhaft bewusst zu machen, dass ihre Zeit abgelaufen ist!

Verzeihen Sie, aber das Ganze klingt für mich ziemlich faschistoid, große Oper aus der Mottenkiste des alten Mussolini.

GRÄFIN VON B.:
Sie ziehen unser Gespräch ins Lächerliche!

Das mach ich immer so, ich reiße meine Witze, aber in Wahrheit graut mir.

GRÄFIN VON B.:
Selbst bis zu Ihnen, der Sie weit außerhalb des Campus stehen, sollten bestimmte Namen gedrungen sein: Schreiner – Ivanovich – Kouradraogo – und nicht zu vergessen: Migschitz!

Muss man den auch kennen, um „in” zu sein?

GRÄFIN VON B.:
Was für ein Mann! Liefert ein ums andere Mal eine gut recherchierte, gut durchkombinierte und noch dazu brillant formulierte wissenschaftliche Arbeit ab, vielleicht nicht so spektakulär wie andere, mit Sicherheit unter der Reizschwelle der Medien. Aber man muss sich in sein Werk vertiefen: Beispielsweise in seinen Versuch, Licht ins Dunkel der zentralen wirtschaftlichen Aktivität zu bringen, die da lautet: aus Input wird Output, aus den Produktionsfaktoren wird das Gut, die Leistung – aber wie? Nehmen wir einmal an, wir haben da eine menschliche Sozietät – okay? Und die ist in der Lage, eine bestimmte Güter- und Leistungsmenge zu produzieren – okay? Und damit wollen wir die Nachfrage determinieren, denn – so Migschitz – wann, wo und in welcher Intensität und Zusammensetzung der Bedarf entsteht, sollte sich an den Gegebenheiten der Unternehmen orientieren. Schließlich, und das ist die zentrale These, ist es wesentlich einfacher (und damit auch ökonomischer), die Verbraucher von Gütern und Leistungen zu beeinflussen als in den Betrieben die bestehenden Anlagen allzu häufig anpassen zu müssen. Folgt man Migschitz, kann die Nutzungsdauer des investierten Kapitals nicht nur genau geplant, sondern auch verlängert werden.

Hab nie gedacht, dass Sie so etwas interessiert.

GRÄFIN VON B.:
Heutzutage ist es wohl keine Schande für eine adelige Dame, sich auf diesem Gebiet Kenntnisse zu erwerben, zumal mein Vater mich darauf vorbereiten wollte, die Verwaltung der Familienbesitztümer zu übernehmen, da er selbst sich ausschließlich seinen sonstigen Interessen widmen wollte…

… und da gab es einige, wie wir wissen, zum Beispiel ein ganz intensives an seiner Tochter, insofern sie nicht Wirtschaftsfachfrau war…

GRÄFIN VON B.:
(souverän) … aber wir wissen auch, dass das nicht hierhergehört!

Ich hätte Sie mehr für den esoterischen Typ gehalten: ihre Beziehung zu diesem Traumtänzer, die Nähe zu einer Initiierten des Koori-Volkes, und selbst heute: das Zeitalter des Wassermanns, New Age, die – wie gesagt, zutiefst faschistoiden – Träume von einem neuen Menschen auf einer neuen Erde, das angebliche Netzwerk Schreiner-Ivanovich-Kouradraogo-und, je nun, Migschitz, die daran arbeiten, diese Träume zu verwirklichen…

GRÄFIN VON B.:
Aber das sind Wissenschaftler, mein Herr, der Sie sich ausschließlich mit dem flüchtigen Schein der Kunst zufriedengeben, Wissenschaftler, die präzise an ihren Plänen arbeiten und ebenso präzise an deren Umsetzung gehen werden!

Da sie jetzt schon sehr viel Geld verdienen, sollte ihr Bedürfnis, diesen angenehmen Schwebezustand zwischen Theorie und Praxis zu verlassen, begrenzt sein – aber natürlich, für Leute wie Sie, die quasi an ihren Lippen hängen, müssen diese Burschen natürlich die Spannung aufrechterhalten.

Aber jetzt einmal sachlich: Bedeutet nicht das Migschitz’sche Theorem, dass die Nicht-Ökonomie der Ökonomie untergeordnet werden soll? Dass also unser Leben Bestandteil der Wirtschaft sein soll anstatt umgekehrt?

Grafik 2.3

GRÄFIN VON B.:
Migschitz‘ strukturalistisches Modell versucht ja zunächst eigentlich nur, den technologischen Wandel und die dazugehörigen Investitionen in einer differenzierteren Sicht zu zeigen als dies ein Standard-Modell mit einer einfachen Produktionsfunktion könnte. Migschitz öffnet die Black-Box und man sieht plötzlich komplexe Zusammenhänge zwischen der vorhandenen Infrastruktur einerseits und dem technologischen Hintergrund bzw. den politischen Rahmenbedingungen andererseits.

Das mögen andere auch schon erkannt haben, mehr noch, genau das, was Sie Migschitz-Modell nennen, wurde, Sie wissen von wo, abgekupfert!

GRÄFIN VON B.:
Bestenfalls gibt es Ähnlichkeiten. Entscheidend sind die Unterschiede in der Interpretation, das heißt im Erklärungswert der Modelle. Migschitz sieht implizit die Gegebenheiten des Inputs als Ausgangspunkt und leitet von da Wirkungslinien zur Infrastruktur, zum technologischen Status sowie zum politischen Status ab.

Was ich die ganze Zeit sage – das ist ein Modell des Totalitarismus, ein Modell, das Sie in jeder Diktatur finden werden und, wenn auch in abgeschwächter Form, bei nicht sehr ausgeprägten Demokratien, die in ihrer Realverfasssung deutliche Elemente von Ständestaat, Korporativismus oder dergleichen aufweisen! Wenn Migschitz und Konsorten Repräsentanten des Wassermann-Zeitalters sein sollen, dann habe ich wohl etwas verschlafen. Ich kannte nämlich die allerersten und echten Propheten der neuen Ära, und die sahen anders aus. Was mag nur geworden sein aus: Nektar, Jeronimo, Message, Epsylon, Wyoming und all den anderen? Wie mir selbst ist ihnen wahrscheinlich das damals (1968) schlimmste Vorstellbare passiert – sie sind alt geworden.

GRÄFIN VON B.:
(abfällig) Musiker! Ich spreche von ernstzunehmenden Denkern diesseits und jenseits der Metaphysik!

What about future? war eine dieser Balladen, zu jener Zeit nichts anderes als ein prickelnder Schauer, heute traurige Realität. Und wenn ich das andere Stück höre, Journey to the centre of the eye, muss ich mich heute noch anschnallen, wenn Sie verstehen, was ich meine. Kurz gesagt, ich sehe das, was den echten Vordenkern einer wirklich neuen (nämlich im Gegensatz zu vielen Jahrhunderten davor wahrhaft toleranten) Zeit passiert ist, sehr präzise vor mir: Sie konnten Ziele und Ressourcen nie harmonisieren.

Sind die Ziele weitgesteckt, fehlen die Ressourcen, sind die Ressourcen reichlich vorhanden, haben wir längst die Ziele verraten. Ihr Migschitz passt hier übrigens wunderbar herein: er will uns mit Ressourcen geradezu überschütten, aber ohne jede Rücksicht auf unsere höchstpersönlichen Ziele.

GRÄFIN VON B.:
Apropos – den Stabschef, der mit Zielen ebenso verschwenderisch umgeht wie mit Ressourcen, könnten Sie gelegentlich auf die vier Gelehrten hinweisen, Herr Regisseur. Vielleicht hat er ja eine Idee, wie er sie in seine Pläne einbauen kann.

Daher wehte also der Wind. Ich gab durch nichts zu erkennen, dass ich voll und ganz verstand. Es ging der Gräfin mitnichten um die Forschungsinhalte der vier Gentlemen, sondern einzig und allein darauf, die Aufmerksamkeit des Stabschefs auf das Quartett zu richten.

Ich würde es immerhin tun und begann schon, über eine interessante Story zu phantasieren, während die von B. weitersprach.

GRÄFIN VON B.:
Fügen Sie zu Ihrem Lebensweg eine dritte Dimension hinzu, die der Zufriedenheit. Sie sehen, dass diese sich völlig unabhängig von den beiden anderen entwickelt.

207

Trotz massiver Desinformationsbemühungen der US-Geheimdienste rund um den Tod des Senators wäre Charlene doch noch in die breite Öffentlichkeit geraten, diesmal nicht als Mediatorin ihres Chefs, sondern selbst als Objekt. Ich war daran natürlich nicht unbeteiligt: Mein Name ist Leo Di Marconi, journalistischer Freelancer und Story-Lieferant der größten Nachrichtenmedien der Welt.

Auf mein seinerzeitiges Interview mit Hawborne hatte ich mich natürlich erstklassig vorbereitet, und das heißt bei mir nicht direkt recherchieren, sondern mit einer Menge Geld aus einer Menge Leute die schmutzigsten Geschichten herauszupressen, die sie kennen. Mir war klar gewesen, dass der Senator sich auf zähes Leugnen zurückziehen würde, und richtige Beweise für irgendwelche Unkorrektheiten oder Verbindungen zu dubiosen Organisationen hatte ich natürlich nicht. Aber wenn jemand zur Hand ist, der dir gegen Bares den Papierkorbinhalt der Zielfigur abliefert, dann kannst du ganz gut mir dem Überraschungseffekt punkten.

Mehr als sonst schien mir in diesem Fall die Umgebung meines Opfers für Auskünfte bereit, und dabei war auch Charlenes Name gefallen – nicht wegen ihrer offiziellen Funktion als PR-Beraterin, sondern in einem eindeutig zweideutigen Zusammenhang. Ich besuchte sie kurzerhand in ihrem Apartment, und ich sage euch, Freunde, die Bude konnte sich sehen lassen.

CHARLENE:
Der berühmte Leo Di Marconi! Was führt dich in meine bescheidene Hütte? Suchst du eine Story?

Worauf du einen lassen kannst, Chuck! Wir von der Branche pflegen einen lockeren Umgang, aber ich war der Einzige, der sie Chuck nennen durfte, nebenbei auch mit Sicherheit einer der wenigen aus der Szene, der sie nicht gebumst hatte, was in unserem Fall weniger an ihr lag als an mir: Ich gefiel mir auf dem Gebiet persönlicher Beziehungen mit Berufskolleginnen eher ein wenig spröde, um nicht irgendwo zu tief hineingezogen und damit selbst zum berichtenswerten Gegen¬stand zu werden. Außerdem hatte mir schon mein allererster Chefredakteur eingeschärft, Berufliches nicht mit Privatem zu mischen und dass ich mir bei einigem Erfolg meiner Geschichten in bestimmten Grenzen jede Frau würde leisten können, die ich begehrte. Ich bin fast sicher, dass mich manche Leute bei den Sendern und in den Redaktionen für schwul hielten, aber das machte mir nichts aus, im Gegenteil, im Land der Political Correctness hat man als Angehöriger einer delikaten Minderheit durchaus Vorteile.

CHARLENE:
Vielleicht wieder einmal eine Enthüllung aus der Schwulenszene?

Als ob sie meine Gedanken lesen könnte, das hinterhältige Biest. Ich traue ihr diesbezüglich ohnehin nicht über den Weg. Irgendwelche besonderen Fähigkeiten muss sie haben, sonst hätte sie sich als Landpomeranze aus White Rock, Minnesota, nicht zu solcher Gewandtheit entwickeln und bisher alle Schwierigkeiten in einer für sie vorteilhaften Weise meistern können.

Nein, diesmal geht die Story über dich! Bist du eine Hexe, Chuck?

CHARLENE:
Klar bin ich das. Schon in frühester Jugend, als meine Brüste noch ganz klein waren, habe ich die Jungs von White Rock, Minnesota reihenweise verhext, und die laufen bis zum heutigen Tag blöde lallend die Dorfstraße auf und ab!

Teufel auch, die hat ein Mundwerk, und außerdem durchschaut sie mich ja wirklich! Ich musste mit blitzartigen Schachzügen arbeiten.

Man sagt, du könntest eine Karriere als Model oder als Actress machen? Manche Leute meinen, du hättest das beste Paar Beine, das sie je gesehen haben.

CHARLENE:
Wer so was von sich gibt, meint vielleicht, dass einem Mädchen aus White Rock die nötige Pretenziosität fehlt. Aber in unserem Heimatkaff fällt man nicht auf mit langen Beinen, denn die haben dort alle. Etwas anderes ist es mit dem guten Geschmack in Bekleidungsfragen, aber da scheinst du auch deine Probleme zu haben, so schmuddelig, wie du immer aussiehst – übrigens ein untrügliches Zeichen dafür, dass du doch nicht schwul bist.

Dafür mache ich dir jetzt ein echtes Kompliment, Darling: Du hast die schönsten Augen, die ich je bei einer Frau gesehen habe.

CHARLENE:
Wirklich, ich habe den echten und unverwechselbaren Sex-Appeal.

Wer ist Lieutenant Wolf, Chuck?

Sie leugnete nicht einmal, ihn zu kennen, schien aber bereits jetzt zu kapieren, worauf ich hinauswollte.

CHARLENE:
Spielen wir hier nicht Versteck, Leo! Wir beide wissen, dass du einen Zipfel der verwegensten Story in Händen hältst, die dir in deinem Leben je untergekommen ist. Wir wissen weiter, dass ich als Schlüsselfigur die ganze Decke für dich hochheben kann. Wir wissen außerdem, dass du mit diesem Knüller den Pulitzer-Preis kriegen und steinreich werden könntest. Wir wissen auch, dass du im Zuge dessen so reich gar nicht sein wirst, um verhindern zu können, dass dich eine von unseren Reptilienorganisationen umlegt und an einem einsamen Strand Kubas verscharrt, ganz zu schweigen von viel verrückteren Vereinen, die imstande wären, noch ganz andere Dinge mit dir anzustellen.

Mann, die geht ran, dachte ich, vielleicht sollte man sie doch einmal ins Bett kriegen. Wieder schien sie meine Gedanken zu erraten, aber vielleicht übertreibe ich jetzt, und es entsprach ganz einfach den im politischen Washington als Frau gewonnenen Erfahrungen, zu wissen, was einer wie ich dachte.

CHARLENE:
Daher frage ich dich: Was ist deiner Meinung nach meine Rolle in diesem Spiel? Im Klartext: Was springt für mich dabei raus? Und erzähl mir jetzt nicht, dass du mir als Belohnung deinen kostbaren Schwanz zeigen wirst!

Ich hab dem Senator, der – wie ich soeben begreife – ein wesentlich kleineres Kaliber war als du, so halb und halb das Geständnis entlockt, dass er Mitglied einer internationalen Geheimorganisation war…

CHARLENE:
Wieviel?

Ich stellte einen Scheck über eine Million Dollar auf die Kasse von American Networks aus, und Charlene ließ sich am Telefon vom Chief Financial Officer der Senderkette die Gültigkeit bestätigen. Fünf Minuten später kam per E-Mail die Bankgarantie über diesen namhaften Betrag, zu verstehen als Akonto auf 50 Prozent der künftigen Erträge der Story.

CHARLENE:
Und jetzt hör zu!

Nach einigen Sätzen klemmte ich mich hinter Charlenes Notebook und klopfte die erste Schlagzeile hinein – alles steht und fällt mit der Überschrift, meist das einzige, was man bei uns in Amerika liest.

Charlene erzählte und ich schrieb. Ich dachte wie immer optisch, sah bereits den Aufmacher vor mir.

MISTERY-MONGER ALMOST PRESIDENT
America’s Non-Fiction Apocalypse
By Leo Di Marconi

God bless you, fellow citizens, if you get to know what I have to tell you thanks to the wits of a charming as well as intelligent lady who found her way to the media…

Charlene erzählte und ich schrieb. Als sie aufstand, um uns zwei Drinks zu machen, schrieb ich weiter. Als sie aufstand, um aufs Klo zu gehen, schrieb ich weiter. Als sie zum Telefon ging, schrieb ich weiter. Ich schrieb noch, als sie nicht wiederkam, und stoppte erst, als ein sehr feiner Binkel vor mir stand und mich anlächelte, flankiert von zwei gut durchtrainierten Jungs, die nicht lächelten. Der feine Binkel deutete auf das Notebook, worauf es einer seiner Begleiter nahm und zu Boden warf. Das wird nicht genügen, sagte sein Boss mit offensichtlich britischem Akzent, nehmen Sie es lieber mit! Hätten Sie vielleicht eine Tragtasche? fragte der zweite Begleiter höhnisch.

Ich blieb betont sachlich (ich bin recht cool in brenzligen Situationen und kann mit Irren ganz gut umgehen): Da müssen Sie Charlene fragen, ich bin hier nicht zu Hause.

Und wozu bist du dann hier, knurrte der zweite Begleiter, um sie herumzukriegen?

Nicht polemisieren! meinte der Engländer, und zu mir gewandt: Unsere liebe Charlene wird jetzt gerade ihre Million kassieren und sich auf den Weg an einen sicheren Ort machen. Genau das würde ich Ihnen auch empfehlen, wenn ich nur annehmen könnte, dass die Geschichte damit für Sie vergessen ist, aber ich fürchte leider, Sie werden nicht lockerlassen und bei nächster Gelegenheit neuerlich versuchen, diesen Artikel zu schreiben und zu veröffentlichen, obwohl Sie noch gar nicht viel wissen.

Darauf sagte der zweite Begleiter: Wir könnten ihm einen Deal vorschlagen, Sir. Sie erzählen ihm alles, damit seine Neugier befriedigt ist, und er geht hier nicht lebend raus. Der erste Begleiter machte noch eins drauf: Wozu die Zeit verplempern, legen wir ihn doch gleich um, er ist ohnehin nur so ein Scheißliberaler!

Das machte mich richtig fertig! Über mich, den berühmten Leo Di Marconi, vor dem Politiker und Sportskanonen und so weiter erzitterten, redeten die, als ob ich gar nicht da wäre! Und außerdem – ich war in meinem Leben noch nie liberal. Seit fünf Generationen sind wir gut republikanisch.

DER STABSCHEF:
Ich habe eine Idee. Zunächst dürfen wir uns Ihnen offiziell vorstellen: Mein Name ist Sir Basil Cheltenham von einer Spezialeinheit der Royal Armed Forces und dies sind Lieutenant Murky Wolf und Master Sergeant Brian Thomson von der US Army. Was mich betrifft, habe ich die Hinrichtung des Senators angeordnet…

Ungläubiges Staunen bei seinen Begleitern darüber, dass er es aussprach, aber das war noch gar nichts gegen den Kick, den ich hatte. So genau wollte ich es gar nicht wissen, stammelte ich.

DER STABSCHEF:
Charlene hat die Exekution vorgenommen, und der Lieutenant und der Sergeant hier haben ihr mit Rat und Tat zur Seite gestanden, um den Vorgang für das Opfer so angenehm wie möglich zu machen. Ich verpflichte Sie jetzt offiziell zum Geheimnisträger ersten Grades. Das Staatsinteresse der USA ebenso wie jenes des Vereinigten Königreiches und unserer NATO-Partner erfordert von Ihnen strengstes Stillschweigen. Eine Veröffentlichung dieser Angelegenheit kann von jetzt an in 50 Jahren erfolgen. Habe ich mich klar ausgedrückt?

Jawohl, Mr. Cheltenham, Sir!

Dieser Murky Wolf stieß mich unsanft in die Rippen: Es heißt „Sir Basil” – also nochmals von vorn!

Jawohl, Sir Basil!

DER STABSCHEF:
Und Ihnen sind die Konsequenzen einer Missachtung dieser meiner Anordnungen klar, Marconi?

Glasklar, Sir Basil!

Aber der Lieutenant wollte es wieder genauer wissen: Sag lieber, was dich erwartet, wenn du Scheiße baust, du Halbaffe!

Dann bin ich ein toter Mann, bevor ich auch nur „paff!? sagen kann!

Das reichte ihnen und sie verschwanden. Das demolierte Notebook nahmen sie mit, und ich denke, sie haben es in den Potomac geworfen. Ich machte mich ebenfalls davon und beschloss, mich in Zukunft mehr den Klatsch- und Society-Geschichten zu widmen. Meine bisherigen Auftraggeber verlor ich allerdings zum größten Teil. Nur einige wenige waren an der geänderten Thematik interessiert, und ich wusste, ich würde mich von nun an einschränken müssen, zumal ich auch die Million aus meiner eigenen Tasche zu bezahlen hatte. Als der Finanzboss von American Networks mir den Empfang quittierte, meinte er: Was Sie jetzt machen wollen in allen Ehren – hoffentlich haben Sie eine gute Leber, mit all den Parties und so!

Mich beschlich das Gefühl, Charlene Thomson könnte mich mit Hilfe ihres Bruders Brian und seiner zwei Spießgesellen reingelegt haben. Vielleicht waren sie nur ein Kleeblatt besonders originell vorgehender Ganoven? Man hätte das nachprüfen können, aber wer will schon checken, ob eine Morddrohung ernst gemeint ist?

Wenn ich mit dem cleveren Mädel wenigstens einmal gebumst hätte, einmal für eine Million Bucks!

208

Professor Pascal Kouradraogo, korrespondierendes Mitglied der Universität von Ouagadougou etc. etc. – er konnte Anastacia Panagou nur deshalb kennenlernen, weil das erste Attentat auf ihn fehlgeschlagen war.

CHICAGO:
Gemäß seinen Tagebuchaufzeichnungen aßen die beiden gepflegt zu Abend, plauderten angeregt, wobei allerdings der Professor kein Wort darüber verlor, dass er ihren Namen bereits von der Schlange gehört hatte. Anastacia Panagou hingegen fragte ihn unbefangen über sein Fachgebiet aus, als ob sie ganz neu auf diesem Terrain wäre und es ihr nichts bedeutete als ein interessantes Konversationsthema. PK erzählte von seiner Kindheit im Dorf, wo er, wie es traditionell üblich war, mit den Köpfen seiner Vorfahren gelebt hatte: deren Geistern würden damit Ersatzkörper angeboten, um ihre Gunst zu gewinnen. Vielleicht ist der Gedanke abwegig, meinte er kokett, aber es mag schon sein, dass ich auf diese Weise das erste Mal einen Anhaltspunkt für meine spätere Passion fand: virtuelle Lebewesen zu schaffen. – Was meinen Sie zu dieser Theorie, Sir Basil?

Ach, ich weiß nicht, er war irgendwie schon ein verschrobener Bursche. Übrigens kann ich ab diesem Punkt der Entwicklung mit zusätzlichen Informationen aushelfen. Wir hatten nämlich den Professor aufgespürt, nachdem wir zur Kenntnis nehmen mussten, dass unser Knallfrosch in seiner Abwesenheit hochgegangen war. Das empfindliche Richtmikrofon war in einem Wagen vor dem Restaurant auf PK und seine Tischdame gerichtet.

CHICAGO:
Sie hatten leider nichts zum Gedankenlesen vor Ort, sodass wir nichts beweisen können, aber ich habe das unbestimmte Gefühl, hier hätte sich unsere scheinbar Naive beinahe verplappert. Durch ihre Erinnerung wehten nämlich vergleichbare Anklänge an die Kindheit, wenn auch weit weg von der Geburtsstätte des Professors. Sie hatte in heißen Nächten, wenn sie nicht schlafen konnte, ihre Mutter beobachtet, wie diese – vom Gesellschaftssystem ihres Landes durch den frühen Tod ihres Mannes zum jahrzehntelangen enthaltsamen Witwendasein verdammt – sich mit den verschiedensten Gegenständen selbst befriedigte. Wenn das Mädchen dann diese Fetische bei Tageslicht betrachtete, konnte sie sich bestimmter Gefühle der Zuneigung nicht erwehren und verspürte den Drang, ihnen mehr Funktionen einzugeben als nur diese eine.

Unsere Zielperson ahnte naturgemäß von all dem nichts. Überdies konnte ihn, wenn er einmal in Fahrt war, ohnehin nichts mehr stoppen. Auf wissenschaftlicher Ebene, berichtete er, zeige ich immer nur die von mir entwickelten körperlosen Agents vor, das halte ich für wesentlich achtbarer als mit schachspielenden, nach einem Fußball tretenden oder Limonade servierenden Roboterfiguren aufzutreten. Zu Hause allerdings habe ich mir längst ein Computerprogramm verkörperlicht. Anders als Sie vielleicht vermuten, meine liebe Anastacia, habe ich mir allerdings keine künstliche Frau gebaut, sondern einen „Weißen Mann”.

Und was kann dieser merkwürdige Hausbewohner? fragte unsere Freundin pflichtgemäß.

Nun, ich lasse ihn diverse Rollen spielen, zum Beispiel kann er ins Zimmer kommen und schreien: Du dreckiger Nigger, was glaubst du eigentlich, wer du bist, dir anzumaßen, einen Weißen herumzukommandieren? Und mit großem Vergnügen schalte ich ihn mitten im Wortschwall ab. Oder er stellt sich neben mich und salbt unter vielen Verbeugungen: Lieber, verehrter Herr Professor, darf ich Ihnen vielleicht die Zeitung bringen, oder eine Tasse Tee, oder soll ich Ihnen einen Hocker heranschieben, damit Sie die Beine hoch lagern können? Und ich lasse ihn das alles und dreißig weitere Arbeiten machen, aber wehe er vertut sich bei einer davon, da befehle ich ihm, bei Regen auf die Terrasse zu treten, wo er Angst bekommt, rostig zu werden.

CHICAGO:
Mein Gott, wie menschlich das alles ist, rief unsere Anastacia, aber der kindische Professor bemerkte gar nicht, dass sie ihn verhöhnte. Sie wusste, dass er offensichtlich in die Schlussgerade seiner Inszenierung einlief, die dahin mündete, sie ins Bett zu bekommen. Dazu versuchte er, neben seiner gepflegten sportlichen Erscheinung und seinem ungeheuren Wissen auch ein gerüttelt Maß an Originalität in die Waagschale zu werfen. Sie sah es allerdings mit einer gewissen akademischen Distanziertheit, und um keinen Fehler im urtümlichen Verhaltenskodex der Geschlechter zu machen, merkte sie ab sofort besonders gut auf. Sein Beinwinkel betrug mittlerweile, wie sie sehen konnte, gut 90 Grad. Würde sie jetzt kein Zustimmungssignal setzen, konnte sie sicher sein, ihn auf den selbstmitleidigen Rückzug zu schicken.

Zur Freude des Professors hob sie die Arme hinter den Kopf und lehnte sich weit zurück, und das reichte ihm als Appell zum Handeln. Zu Ihnen oder zu mir? fragte er galant. Sie lud ihn – mit großem Vergnügen! – in ihr Haus am Stadtrand ein, nicht zuletzt schiene ihr dieses einen angenehmeren Rahmen für den gerade erst beginnenden Abend abzugeben als ein Hotelzimmer. PK stimmte ihr – ebenfalls mit großem Vergnügen! – zu.

Wir brachten vor dem neuen Beobachtungsort sicherheitshalber einen zweiten Wagen in Stellung. Zwar war nicht daran zu denken, den bewussten Versuch heute zu wiederholen, aber ich hatte bis auf weiteres lückenlose Überwachung angeordnet.

CHICAGO:
Für das, was während der Fahrt zu Anastacias Bleibe besprochen wurde, sind wir auf das Tagebuch des Professors angewiesen…

… können aber auch auf das zurückgreifen, was der Taxifahrer (selbstverständlich unser Mann) gehört hat!

CHICAGO:
Sie überlassen nichts dem Zufall!

Worin wir uns sehr ähnlich sind – und dennoch geschehen viele Dinge, die wir nicht steuern können.

CHICAGO:
PK förderte jetzt ungehemmt weiteres eingebunkertes Wissensgut zutage, und er übertrieb neuerlich ein wenig, obwohl die präsumptive Sexualpartnerin ohnehin bereits begriffen hatte, was für eine große Nummer er war und welche Ehre er ihr heute antat.

Dennoch war ja vom akademischen Standpunkt betrachtet nicht uninteressant, was er von sich gab. Zum Beispiel, dass er sich bei der Initialisierung seiner Schützlinge, wie er die Wesen mit künstlicher Intelligenz nannte, mit einem Phänomen konfrontiert sah, das er als „Downfall-of-Icarus-Syndrome“ bezeichnet hatte.

CHICAGO:
Gute alte Tradition abendländischer Wissenschaftler: Du weißt zwar nichts, verleihst der Sache aber fürs Erste einen wohlklingenden Terminus technicus!

Das Syndrom trat auf als Schock der KI-Einheit, wenn sie sozusagen begriff, noch lange nicht so weit zu sein wie im allerersten Bewusstwerdungsvorgang vermutet.

CHICAGO:
Der fußballspielende Roboter, der dribbeln möchte, aber nicht einmal imstande ist zu erkennen, wo eigentlich der Ball ist…

Man bedenke nur, welche Anforderungen beim großen Vorbild Mensch bestehen, und wie diese frühzeitig erlernt und später nachhaltig erfüllt werden müssen. Und da sprechen wir gar nicht von den simplen technischen Grundlagen der Intelligenz wie dem Erkennen von Objekten oder dem Beherrschen des Vokabulars, dem Identifizieren von Ähnlichkeit und Verschiedenheit oder der Ergänzung von Unvollständigem. Wir sprechen von viel komplexeren Strukturen, die uns aber dennoch derart selbstverständlich sind, dass es in unserer Gattung bei jedem Exemplar vorausgesetzt wird…

CHICAGO:
… sogar bei jenen, die der Stabschef des Ordens der Orangenblüte, der zugleich Kommandant des anheimelnden O’RAZOR-Vereins und wer weiß von wieviel anderen todbringenden Institutionen sonst ist, als entbehrlich ansieht und liquidieren lässt. Selbst ein Roboter an Ihrer Stelle würde manches dieser Probleme menschlicher lösen!

Sie übertreiben wie immer ein wenig, alter Freund, auch wenn Sie genau wissen, dass um fast jedes dieser Subjekte kein Bedauern verströmt werden muss. Ich höre direkt, wie Sie mir Recht geben – wenn ich nicht dabei bin und Sie mit Ihrer wahren Meinung nicht hinter dem Berg halten müssen. Anders als ein Roboter bin ich nicht ausschließlich in der Lage, Aufgaben korrekt zu lösen, sondern ich kann sie lösen, wie ein Mensch das tut, und das ist viel wichtiger.

Bisher kann ein Roboter nur sprungfix reagieren, sein Verhalten verläuft daher treppenförmig und mit eiserner Konsequenz. Der natürliche Organismus bewegt sich reaktionsmäßig in Bandbreiten: einerseits kann er die Stärke seiner Antwort auf die Umwelt von Fall zu Fall regulieren (in extremis sich sogar verweigern), andererseits kann er – wiederum von Fall zu Fall – frei entscheiden, an welchem Punkt der zur Verfügung stehenden Reaktionszeit (oder womöglich gar nicht) diese Antwort erfolgen soll. Das wird noch eine Weile dauern, bis Computer derart komplex arbeiten können.

Grafik 2.4

CHICAGO:
Mit diesem Problem schlug sich also unser Professor Kouradraogo in seinen letzten Lebenstagen (bevor Sie menschlich wie ein Mensch entschieden, ihn beseitigen zu lassen) herum. Er erzählte der Panagou ausführlich darüber – selbst dann noch, als sie ihm bei sich zuhause Kaffee machte. Ihr Lächeln gefror zusehends, und jemand, der ein wenig selbstkritischer veranlagt gewesen wäre als unser schwarzer Fachmann für Künstliche Intelligenz, hätte darin auch einen Hauch von Sarkasmus erkennen müssen.

Dennoch ging alles dann sehr schnell. Meine Leute am Abhörgerät bekamen rote Ohren, als Anastacia in abrupter Form die Frage aufwarf, ob man denn ausschließlich zum Fachsimpeln hergekommen sei. Dass er inflexibel war, ist das Letzte, was man dem guten Professor vorwerfen kann. Im Nu stieg er aus seinem Gegenstand komplett aus und verwandelte sich in einen Mann wie du und ich, der ein Mädchen abgeschleppt hat und sich nun über seine Beute hermachen wollte.

Nun ja, nicht ganz. Er tat dies jedenfalls auf sehr elegante Weise, ohne es am nötigen emotionalen und motorischen Beiwerk fehlen zu lassen. Sie ließ alles sehr willig mit sich geschehen – aber was war das, sollte er sich in ihr getäuscht haben? Ihm stand keineswegs der Sinn nach Koitus um jeden Preis, sondern nach einem echten Gefühlsabenteuer, und das schien sie ihm nur bedingt geben zu können oder zu wollen.

CHICAGO:
Dass er hier differenzierte, weist ihn als Mann von hohem wissenschaftlichen Ethos aus!

Lassen Sie die dummen Witze – um ein Haar wäre alles schiefgegangen: einzig der Anastacia Panagou eigene außergewöhnliche körperliche Schönheit ließ PKs Werkzeug scharf bleiben und selbst gegen einen spürbaren mechanischen Widerstand in sie eindringen. Nach dieser Klippe ging alles wieder wie am Schnürchen, das Liebesgeflüster und -gestöhne der Kleinen war erstklassig. Der Professor verausgabte sich mit Freuden ganz, nur knapp vor dem Höhepunkt (aber das tat der Sache keinen Abbruch mehr) wunderte er sich, wieso er nirgendwo im Haus die Spuren einer Roboterbastelecke oder gar ein Maschinenwesen wie die Schlange gesehen hatte – sie wird wohl eine kleine Werkstatt besitzen, dachte er noch, bevor er in eine selige Berauschtheit abglitt.

Als er wieder bei Sinnen war, sah er Anastacia halbnackt neben dem großen Wandspiegel stehen, naiv grinsend. Dennoch war, was rechts von ihr stand, nicht ihr Spiegelbild, sondern sie selbst noch einmal, mit ernsten Gesichtszügen und dunklen Augen, die ihn, der erschöpft und im Naturzustand auf dem Bett lag, interessiert musterten, nicht achtend der eigenen Blöße: Wie hat Ihnen der Verkehr mit meiner AP 2000 ® gefallen, Professor?

CHICAGO:
Er war weder willens noch in der Lage zu antworten – Schauer widersprüchlichster Emotionen durchliefen ihn und kollidierten in ihm schmerzhaft. All diese – detaillierten – – physiologischen – Reaktionen – stammelte er, – wie ist – das möglich? Noch dazu in einer relativ kleinen Erscheinungsform! trompetete die echte Panagou. Aber (und das haben Sie sich jetzt verdient, PK) das ist doch eine ganz sekundäre Problematik, längst gelöst bei Tier und Mensch!

Brav antwortete der Professor, um das Déjà-vu zu vollenden: Aber wie bei Mensch und Tier sah ich nur das was ich sehen wollte. Anders ausgedrückt: wie dumm darf ein verliebter Wissenschaftler sein, ohne dass es auffällt?

AP (die Echte) wusste seine Selbstironie zu schätzen. Sie lachte herzlich, während sie ihr Strickjäckchen ablegte – das gleiche, das auch die deaktivierte AP 2000 ® anhatte –, und schon war sie neben ihm. Unser Professor war nicht mehr der Jüngste…

CHICAGO:
… und er sollte auch nicht mehr viel älter werden, wenn es nach Ihnen ging…

… und es war für ihn nicht ganz einfach, gleich wieder aktiv zu werden. Aber einerseits tat Anastacia wirklich alles dazu, um ihn neuerlich zu erregen und andererseits konnte er (wie er sich insgeheim intensiv suggerierte) diese einzigartige Chance von Doppelgleisigkeit nicht einfach vorbeigehen lassen. Gerade wegen dieses Kicks war er offenbar sehr gut drauf.

CHICAGO:
Hier ist es wohl anzeigt, auf PKs Tagebuch zurückzugreifen. Daraus geht hervor, dass er es nicht nur schöner fand als mit der AP 2000 ® (was erklärlich scheint), sondern als eines der schönsten einschlägigen Erlebnisse überhaupt, die er seit langem gehabt hatte. Mit einem entsprechenden Kompliment, das er weit besser formulierte als ich (weiß Gott, das konnte er!), hielt er nicht hinter dem Berg, worauf Anastacia (die Echte) stolz und selbstbewusst antwortete: Eine echte Griechin ist eben weit besser als eine künstliche, und manche behaupten, auch besser als die Frauen anderer Nationen und Rassen. Der Professor bestätigte ihr – in dem abgehobenen Zustand, in dem er sich befand – auch dies: Seine jugendlichen Erfahrungen damals noch in der Heimat mit Frauen seiner Hautfarbe wiesen, zumindest in seiner Erinnerung, eine kataraktartige, eruptive, aber auch unverbindlich-spielerische Besonderheit auf, deren spezifischen Reiz er gar nicht leugnen mochte. Älter geworden, wusste er die Ernsthaftigkeit zu schätzen, die ihm diese Griechin beim Geschlechtsverkehr anzubieten hatte, deutlich langsamer, verhaltener, aber mit großem Tiefgang.

Danach fachsimpelten sie wieder, vielmehr erstmals direkt, denn ihre frühere Kommunikation war ja indirekt, über die AP 2000 ® abgelaufen.

Meine Leute im Abhörwagen begannen sich zu Tode zu langweilen. Obwohl es streng verboten war, irgendeinen Einsatz zu interpretieren oder sogar zu kommentieren, fasste einer den Mut, mich anzurufen: Sollen wir ihn erledigen, wenn er von der doppelten Mieze herunterkommt?

Erst machte ich ihn nach allen Regeln der Kunst zur Sau (Das Denken überlassen Sie gefälligst den Pferden, die haben größere Köpfe! usw.), dann gab ich den Befehl, den Professor ziehen zu lassen, weiter unter lückenloser Beobachtung. Der Bursche im getarnten Auto hatte noch immer nicht genug: Aber Sir Basil (das „Chef” hatte ich ihnen wenigstens schon abgewöhnt), da wird er die Bescherung sehen, die unsere Bombe angerichtet hat. Erinnern Sie mich nicht auch noch daran, Sie Flasche! bellte ich, machen Sie einfach, was ich sage!

Ich hatte die vage Idee, PK könnte das Ganze als Warnung auffassen und seine Aktivitäten soweit verändern, dass sich unsere Wege nicht mehr kreuzen mussten.

209

Eines war der Gräfin von B. klar (Geneviève Bernadette Margot Véronique Suzanne war übrigens ihre volle adelige Vornamensammlung, die man uns bisher vorenthalten hat), eines war also der vielnamigen hochgestellten Dame klar: Sie war weit weg, sehr weit weg, sogar ungeheuer und unfassbar weit weg. Etwas anderes ahnte sie nur – dass sie hier einfach und ohne jedes adelige Brimborium Mango Berenga hieß. Und ein dritter Aspekt ging ihr durch den Kopf, der ließ sie derart schwindlig werden, dass sie ihn zu verdrängen suchte – aber eigentlich bestand nur wenig Zweifel: Sie war schon einmal hier gewesen und (verstärkt drehte sich die Spirale in ihrem Gehirn) höchstwahrscheinlich sogar mehrmals.

Sie kannte den wissenschaftlichen Arbeitsplatz, an dem sie saß, genau, wenn er auch über das hinausging, was dort, wo sie herkam, als Standard galt. Das Layout der Bildschirme und Displays war ihr vertraut, hatte sie diese doch, das fühlte sie deutlich, selbst nach ihrem Geschmack eingerichtet. Auch der Commander der Station, der plötzlich hinter sie trat, war ihr nicht fremd, zu oft schien ihr Blick schon auf seinem militärisch kurz geschnittenen Haar geruht haben. Einzig die Tatsache, dass heute graue Strähnen darin zu sehen waren, an die sie sich nicht erinnerte, gab ihr das Gefühl verstrichener Zeit und minderte gleichzeitig ein wenig den Verdacht, sie könnte es womöglich mit einem Androiden zu tun haben. Einerlei ob er Mensch oder Maschine war, wurde sie bei seinem Herantreten von starken Gefühlen erfasst, die ihr signalisierten, mit ihm habe es irgendwo in der Vergangenheit von Mango Berenga ein sehr intimes Verhältnis gegeben.

Die Schwierigkeit, diese vage Erinnerung festzuhalten, verstärkte ihre Erkenntnis, dass höchstwahrscheinlich jemand mit Drogen oder anderen Methoden an ihrer Biografie herumgebastelt haben musste. Damit dies bei nächster Gelegenheit nicht wieder geschähe, suchte Mango nach Möglichkeiten, eine solche Attacke (wahrscheinlich mit dem Bioneutralisator Memodel oder mit dem Erinnerungsspurlöscher MTA, vielleicht aber auch mit einem manipulierbaren Implantat) zu verhindern. Die Chancen dafür standen allerdings schlecht, das war ihr klar. Dennoch wollte sie auf der Hut sein.

COMMANDER:
Haben Sie etwas entdeckt?

Das könnte wohl sein, aber warum es ihm sagen, wenn er vermutlich ohnehin schon so viel wusste, was sie selbst nur ahnte. Dem Computer, dessen Suche sie kurz, bevor der Commander den Raum betrat, gestoppt hatte, befahl sie „weiter!?, und schon huschten wieder die Grafiken vorbei: jede musste sie nur einen Sekundenbruchteil lang betrachten – schließlich wusste sie, wonach sie suchte. Sie selbst hatte ja, das fiel ihr jetzt urplötzlich wieder ein, diese Art der Visualisierung genetischer Strukturen entwickelt, mit der man fast mühelos, jedenfalls unter Vermeidung öder Zahlenkolonnen die Struktur der vorhandenen Aminosäuren und deren Beziehungen zueinander erkennen konnte, quasi auf einen Blick. Daneben hatte Mango in die Analyse noch einen akustischen Code einprogrammiert, der darin bestand, ein längeres Musikstück darzubringen, solange bei der Abfolge der Bilder keine Abnormität festzustellen war.

Aufgrund eines akustischen Signals – einer rasch wieder vorbeigehenden Dissonanz, die man natürlich nicht wahrhaben konnte, wenn man mit terranischer Musik nicht vertraut war – hatte sie eine Störung bei einem der Bilder registriert, und ein kurzes Innehalten hatte ihr diese auch optisch bestätigt: die betreffende Grafik war bereits markiert und das Programm lief weiter.

Grafik 2.5

Unmittelbar danach verhalf ihr die Musik zu einem weiteren Mosaikstein ihrer merkwürdigen Existenz. Sie war nämlich plötzlich ganz sicher, jederzeit am Faden der Melodie (es handelte sich um die Filmmusik zu „Mishima” von Philip Glass) wieder in ihr Dasein als Gräfin von B. verschwinden zu können.

Wenn das zutraf, konnte sie dem Commander ihre Beobachtung mitteilen, ohne sich allzu sehr in Gefahr zu bringen (das Misstrauen ihm gegenüber verharrte in ihr, trotz dieser angenehmen, aber ganz vereinzelten und vagen Erinnerungen). Sie fuhr die Bildfolge zurück bis an ihr Markierungszeichen und deutete auf die betreffende Grafik. Dieser Organismus ist nicht menschlich! stellte sie fest. Sehen Sie hier die Grundstruktur jeder biologischen Substanz (es handelt sich also nicht um ein artifizielles Wesen), darin eingelagert jedoch die starren wabenförmigen Muster, die sich wesentlich von den umliegenden – von Menschen stammenden – Imagines unterscheiden! Können Sie feststellen, wer es ist?

COMMANDER:
(braucht nicht nachzudenken – der winzige alphanumerische Code sagt ihm genug) Das bin ich!

Mango Berenga war schockiert: Und was sind Sie? Immerhin ist die Ähnlichkeit Ihrer DNS zu unserer so groß, dass Sie vermutlich mit einer Menschenfrau ein Kind zeugen könnten!

COMMANDER:
Das habe ich mir schon immer gedacht, wenn wir miteinander geschlafen haben – wiewohl Sie immer meinten, ein Kind wäre nichts für Sie.

Sie fragte ihn, ob es eigentlich immer so förmlich zugegangen sei, wenn sie miteinander im Bett waren?

COMMANDER:
Natürlich nicht, aber wenn ich das zugebe, muss ich auch gestehen, dass du nicht das erste Mal hier bist. Das alles ist eine lange Geschichte, die damit beginnt, dass du uns geeignet schienst, für unsere Ziele zu arbeiten. Persönlich aber wollte ich wissen, ob du mit deinen intellektuellen und technischen Möglichkeiten imstande wärst, herauszufinden, ob und in welchem Sinn ich anders sei. Heute scheint der Moment der Wahrheit gekommen zu sein.

Mango verstand ihn nicht wirklich. Sie hatte ohnehin nur klären können, dass es einen Unterschied zwischen seiner und ihrer DNS gab – die Bedeutung dieser Entdeckung blieb weitgehend dunkel.

COMMANDER:
Nicht für mich, meine Liebe. Ich und meinesgleichen sind Eindringlinge in diesem Universum, aber wir kommen nicht aus einem beliebigen anderen Universum, sondern aus einer Spiegelwelt eurer Realität – dort sind sozusagen alle materiellen Grundlagen dieselben wie hier, nur insofern jedes Individuum Raum für freie Entscheidungen hat, können die Dinge in jener anderen Realität anders laufen. Mein Doppelgänger hier könnte dich zum Beispiel verabscheuen, während ich dir zugeneigt bin, du hingegen könntest mein diesseitiges Pendant lieben und mich hassen.

Der Schock wurde größer: Das alles bedeutete selbst für eine an der Komplexität eines meta-dialektischen Zeitalters geschulten Wissenschaftlerin wie Mango Probleme, und zwar immense Probleme, die allerdings erst auftraten, wenn einzelne Exemplare der anderen Realität durch die wie immer geartete Membran hin und her wechselten. Dies geschah aber offenbar bereits, sogar sehr häufig, wie es schien, womit sehr konkrete und praktische Konsequenzen verbunden waren. Und außerdem sagte ihr schon der allererste Versuch einer hastigen und oberflächlichen Deutung des Phänomens, dass es darin zu allem ein Gegenüber gab, dass beispielsweise die Menschen herüben für jene drüben die „Anderen” waren, die frech und dreist aus der Reihe der Weltordnung tanzten. Dennoch drängte sich Mangos akademische Neugier in den Vordergrund – wie sich das wohl anfühlte, wenn man diese Grenze der beiden Spiegeluniversen überquerte?

COMMANDER:
Merkwürdig genug – wesentlich merkwürdiger als auf meinen telepathischen Ruf hin vom viele Lichtjahre entfernten Planeten Erde im Sol-System hierherzukommen! Wenn man diese Erfahrung mit einer positiven Einstellung macht so wie etwa ich (im Gegensatz zu den meisten meiner Realitätsgenossen) ist diese Dualität weniger beunruhigend als vielmehr skurril, oder sollte ich sagen surrealistisch? Ja, das bringt es am ehesten: Der Konnex zwischen den beiden Weltenräumen, dargestellt auf einem Bild eures Salvador Dalí, der für mich zu einem Schlüssel des Verstehens wurde. Künstler sind eben imstande, das Unsagbare auszudrücken.

Mango Berenga hatte an dieser Stelle eine Frage (tief in ihrem Innersten gedachte sie bei unbefriedigender Antwort so rasch wie möglich auf dem Mishima-Thema in ihre Existenz als Gräfin von B. zurückzukehren), eigentlich zwei Fragen, die eine hatte sich eben erst ergeben, und die zog sie vor: Was macht dann euer Dalí da drüben – malt er auch?

COMMANDER:
Das wäre gewiss ungewöhnlich, denn normalerweise nimmt der Konterpart in der anderen Welt aufgrund seiner Entscheidungsfreiheit eine andere Entwicklung, abgesehen davon, dass er natürlich ganz anders heißt. Wegen meines Interesses am hiesigen Dalí habe ich mir einmal die Mühe gemacht, nach dem von drüben zu forschen, was nicht einfach war, denn er ist völlig unbekannt – und er ist kein Kunstschaffender…

Sie unterbrach ihn abrupt, das Interesse an irgendeinem Dalí war mit einem Mal verloren: Und du selbst – du gehst also wahrscheinlich ziemlich regelmäßig hin und her, daher wirst du dein Pendant in dieser Realität kennen. Wer ist es und was macht er?

COMMANDER:
Er leitete diese Station und ist derzeit in sicherem Gewahrsam, damit er nicht unsere Pläne durchkreuzen kann!

Mango Berenga verspürte keine Lust, die Station oder das Universum zu retten. Unmerklich gab sie dem Computer den Befehl, in seiner Analyse fortzufahren, was gleichzeitig auch das Glass’sche Mishima-Thema wieder in Gang setzte. Schon entzog sich ihr Geist langsam dieser merkwürdigen Situation, begann ihren Körper nachzuziehen, da warf sie dem falschen Commander noch eine letzte Frage zu: Und mit wem habe ich nun wirklich geschlafen, mit ihm oder mit – – – das Du-Wort wollte ihr nicht mehr über die Lippen kommen.

Der Mann (nennen wir ihn trotz seines anders aussehenden DNS-Imagos einmal so) versetzte der Konsole mit dem eingebauten Lautsprecher einen gezielten Hieb. Die Musik verstummte.

COMMANDER:
Ich beantworte dir jede Frage, wenn du nur hier bleibst. Ich bin es, nach dem du fragst – ihn hast du nie kennen gelernt.

210

Ich suchte Charlene Thomson in ihrem Versteck auf. Die schöne Wohnung in Washington, an die Lieutenant Wolf so gerne zurückdachte, hatte sie mit meiner Hilfe verkauft, all die schönen Dinge waren, soweit man sie mitnehmen konnte, von uns diskret abtransportiert worden.

Charlenes nunmehriges Zuhause lag mitten im Wald: der gute Murky (wie zum Teufel kommen übrigens Eltern auf die Idee, ihrem Kind einen solchen Namen zu geben?), der es außer mir als einziger kannte, denn wir hatten den Umzug ganz allein besorgt, wurde wie schon einmal von seiner Phantasie mitgerissen – Red Riding Hood, Sie wissen schon: ein sehr assoziatives Märchen für jemanden, der Wolf heißt. An dieser Stelle bat ich ihn, sich auszublenden.

Als wir danach in trauter Zweisamkeit beisammen saßen und nach getaner Schwerarbeit mit all den Möbeln und Kisten ein Glas tranken – diesen scheußlichen amerikanischen Bourbon mit seinem Karamel-Aroma –, fragte ich Charlene ernsthaft, ob sie keine Angst hätte, hier allein zu wohnen, aber sie meinte leichtherzig: Das einzige, was wir noch nicht hatten, ist ein Mordanschlag auf mich, und dafür stehen die Chancen mitten in Washington DC besser als hier im Umland.

CHARLENE:
Jetzt haben Sie aber fast verraten, wo wir hier sind, Sir Basil!

Noch nicht ganz, denn rund um den Distrikt gibt es Fairfax County, Montgomery oder Prince George’s, um nur einige zu nennen. Aber warum nennen Sie mich nicht einfach Basil? Muss ich als Engländer Sie an die nette amerikanische Sitte erinnern, gleich die Vornamen zu benützen (das heißt, solange Sie nicht „Base” sagen)?

CHARLENE:
Aber ich nenne ja die ganze Zeit Ihren Vornamen, nur dass ich „Sir” hinzufüge – wie jede Amerikanerin bin ich fasziniert von eurem britischen Adelszeug. Es ist bald das Einzige, was wir hier nicht haben.

Außer vielleicht Klasse, Stil und eine gepflegte Sprache! Das dachte ich nur und schluckte es runter, denn bald wird es das daheim auch nicht mehr geben, vor allem die bewusste Sprache kannst du suchen. Laut sagte ich: Sie werden’s schon noch schaffen, Charlene, dass irgendein Lord anbeißt, aber Vorsicht, bei den meisten sind der Titel und das sanierungsbedürftige Schloss das einzige Kapital!

Aber nun zum Grund meines Besuchs: Ich brauche Sie als Tarnung bei einer heiklen Mission. Ich denke, niemand wird einen etwas reiferen Engländer mit seiner jungen amerikanischen Frau eines Treffens mit gefährlichen Leuten verdächtigen. Man wird sich eher über den Kultur-Clash und den Altersunterschied in dieser Ehe unterhalten, wenn wir irgendwo tanken oder in einer Raststation einen Kaffee zu trinken.

CHARLENE:
Sie sollten diese Differenz in den Geburtsjahren nicht so hochspielen – Basil. Viel mehr als zehn Jahre sind es in Wahrheit nicht, obwohl es nach mehr aussieht: Ihre Erfahrung und die Macht, die Sie repräsentieren, lässt Sie natürlich älter erscheinen, aber rein physisch bedeutet das gar nichts.

???

CHARLENE:
Ich meine – na ja, es ist zu blöd, aber in Ihrer Gegenwart bin ich manchmal so verlegen wie ein Schulmädchen, obwohl es dafür keinen Grund gibt, und ich bin doch sehr emanzipiert und habe mich weiß der Himmel nie gescheut, einem Kerl, der mich interessierte, einen deutlichen Wink zu geben.

Vielleicht liegt’s daran, dass ich kein Kerl bin, sondern ein britischer Baronet? Aber zu Ihrer unausgesprochenen Frage, Charlene – ich legte den Arm um Sie und goss ihr noch ein wenig Bourbon nach (der verfolgt mich, wenn ich in den USA bin): Nicht dass Sie glauben, ich wäre aus Holz…

CHARLENE:
… und Sie sind mehr als fit, Sir, wie ich schon oft Gelegenheit hatte zu beobachten…

… und Sie sollen auch nicht glauben, Ihre umwerfende Schönheit würde mich unberührt lassen!

Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Wir konzentrieren uns auf diese Mission, und dann nehme ich mir eine Weile Zeit, die wir gemütlich hier in Ihrem Rotkäppchen-Schloss verbringen. Dann werden wir ja sehen, wie es mit uns weitergeht.

Ich sah sie fröhlich lächeln – diese Aussicht sagte ihr zu. Eine Bitte habe ich aber, meine Liebe, fügte ich hinzu, ich möchte in dieser Zeit nicht irgendwelchen anderen Kerlen hier begegnen, vor allem nicht Lieutenant Wolf in seiner Eigenschaft als einer ihrer ehemaligen Liebhaber.

CHARLENE:
Das wissen Sie also auch, Sir Basil!

Es braucht Ihnen nicht leid zu tun, denn ich bin nicht eifersüchtig auf die Vergangenheit, dazu habe ich gar kein Recht. Ich will ihr nur nicht über den Weg laufen.

———-

Unsere Reisevorbereitungen als amerikanisch-britisches Ehepaar waren dann rasch abgeschlossen. Mit Charlenes Wagen fuhren wir auf einen einsamen Parkplatz am Rande Alexandrias südlich von Washington. Dort hatte ich den Lincoln Continental abgestellt, mit dem wir in der Folge unterwegs waren: ein altes, gut erhaltenes Auto, auch wenn es nicht aus einer der Renommierwerkstätten des Königreichs stammte, schien mir ein weiterer geeigneter Bestandteil meiner Tarnung als spleeniger Engländer. Vom Ort des Autowechsels bis nach Accomac, unserem Ziel waren es 185 Meilen, wofür wir etwa vier Stunden brauchen würden. Von der Cameron Street fuhren wir über den Jefferson Davis Highway zur US1, weiter auf der I-95, danach auf der US50 – aber vielleicht will das gar niemand so genau wissen. Von Virginia waren wir inzwischen nach Maryland gewechselt, und in Salisbury MD legten wir eine kurze Pause ein. Wir befanden uns jetzt auf der langgezogenen Halbinsel, von der die Chesapeake Bay gegen den Atlantik abgeschlossen wird. Südlich von Salisbury überschritten wir wieder die Staatsgrenze nach Virginia und erreichten Accomac am späten Nachmittag.

Jetzt müssen wir nur noch das Edge Hill Cemetery finden. Siehst du mal auf die Karte, Charlene (wir hatten begonnen, uns zu duzen). Ich möchte nicht anhalten und fragen müssen.

CHARLENE:
Du musst nur gleich nach der Ortseinfahrt links abbiegen, das heißt in südöstlicher Richtung.

Tatsächlich war es ganz einfach, eine Tafel wies auf den Friedhof hin, auf dem Accomacs größter Sohn seine letzte Ruhe gefunden hat. Vor dessen Grabmal sollten wir jemanden treffen. Das Monument für George Tankard Garrison (14.1.1835 – 14.11.1889) war nicht zu übersehen. Ich wusste noch mehr als die Geburts- und Sterbedaten des großen Mannes: Graduiert von der rechtswissenschaftlichen Fakultät der University of Virginia in Charlottesville 1857, Anwaltspraxis in Accomac, zum Richter des 8th Virginia Circuit gewählt 1870 und anschließend Richter im 17th Circuit. Am Höhepunkt seiner politischen Karriere war Garrison demokratischer Abgeordneter im 47. Kongress der USA.

Ich tat so, als erzählte ich das alles Charlene, sprach aber dabei so laut, dass man es weithin am Friedhof hören musste. Abschließend sagte ich ebenso vernehmlich: Etwas habe ich jetzt vergessen!

Der Mann, der aus dem Schatten des Grabmals trat, verzog keine Miene, als er seine Frage stellte: Wann und wo hat er beim Militär gedient? Und ich antwortete rasch und präzise: Im Bürgerkrieg in der Konföderierten Armee! – Rang? – Private!

Sir Basil – es ist mir als Häuptling des Hualapai-Stammes eine Ehre, Sie kennenzulernen. Er grüßte auf indianische Weise, indem er mit drei Fingern seiner rechten Hand einen Halbkreis über Himmel und Erde zog. Ich antwortete auf gleiche Art und stellte dann Charlene als meine Frau vor. Ihr wurde nur ein knappes Nicken zuteil, das sie ebenso knapp erwiderte.

CHARLENE:
Setzen wir uns doch ins Auto, meine Herren. Ich werde fahren und sie können sich im Fond des Wagens in Ruhe unterhalten!

Ich hatte Charlene gebeten, sich unsere Route für die Rückfahrt gut einzuprägen, jedenfalls bis zu der Stelle in der Nähe von Washington, wo wir zum streng geheimen Luftwaffenstützpunkt HB-7 abzweigen mussten. Dort wartete ein kleiner Transport-Jet vom Typ BAE 125 der Royal Air Force auf uns, den wir ohne weitere Formalitäten bestiegen (man muss nur überall seine Freunde haben!). Die Kabine war für ein Militärflugzeug gemütlich ausgestattet, und es fand sich sogar eine Koje für Charlene, wo sie kurz nach dem Start einschlief. Als wir abhoben, war es nahezu Mitternacht.

Häuptling Sherman Yellowhawk und ich setzten unsere Unterhaltung fort, die eigentlich aus Instruktionen meinerseits bestand, durchsetzt mit Fragen nach seinem Volk, soweit ich die Fakten nicht ohnehin wusste.

Die Hualapai (oder Walapai, das heißt „Volk der Hohen Föhre?) bewohnten seit ihrer Frühzeit das Gebiet am Grand Canyon, das heute noch ihr rund 4000 km2 großes Reservat bildet. Es war kein Land, wie Yellowhawk zynisch bemerkte, das damals, 1883, als eine Executive Order dieses Siedlungsgebiet begründete, interessant genug gewesen wäre, um es uns wegzunehmen. Bevor der weiße Mann gekommen war, hatte sein Volk fünf Lebenszonen nützen können, die von einer Wüsten- bis zu einer Gebirgsumwelt reichten. Im Gegensatz zu anderen Stämmen, die sich mit Wanderungen in ein und derselben Zone begnügen mussten, lebten die Hualapai im Frühling und im Sommer im Canyon, um dort Garten- und Ackerbau zu betreiben und dabei die extrem lange Wachstumsperiode zu nutzen, im Herbst und im Winter hingegen bezogen sie ihr Quartier auf dem Hochplateau, um Wildfrüchte und Kräuter zu ernten – gejagt wurde das ganze Jahr.

YELLOWHAWK:
Heutzutage ist das Leben profan ge-worden, weit weg von jeder Romantik. Wir haben Häuser, asphaltierte Straßen, ein modernes Wasser- und Abwassersystem, und man kämpft in einer Bevölkerung von vielleicht 1700 Personen gegen Alkohol- und Drogenmissbrauch wie überall sonst auch. Selbst die Auseinandersetzungen mit der US Army wirken heute schon wie ein Mythos, geschweige denn die Schöpfungsgeschichte, die sich rund um den „Geisterberg“ Wikahme rankt. Aber es gibt noch welche, die insgeheim die alten Fähigkeiten trainieren, seien sie nun physisch oder spirituell…

Was ich von Yellowhawk, dem ersten und besten Krieger seines Stammes (obwohl er, wie eben von ihm selbst erwähnt, diese Eigenschaft gegenüber der weißen amerikanischen Administration nicht hervorkehrte, sondern die gute Rothaut spielte, deren Lebensinhalt im Reservat das jährliche Veranstalten des Festivals „Route 66 Days? zu sein schien) – was ich also von ihm wollte, war eine sehr schwierige Aufgabe.

CHARLENE:
(wieder erwacht) Du erzählst besser von Anfang an, Basil, wie du die Idee hattest, durch die Ockham Society, den zivilen Arm von O’RAZOR, ein Symposion veranstalten zu lassen. Nach detaillierten Terminabsprachen wurden vier Referenten nominiert:
• Prof. Fritz Schreiner
• Prof. Pjotr Ivanovich
• Prof. Pascal Kouradraogo
• Prof Larry Migschitz

Die bekannte Medienexpertin Charlene Thomson wurde den Herren als Mode-ratorin der Veranstaltung genannt und ihnen von dieser auch ein sehr vorteilhaftes Foto beigelegt, sodass trotz mancher angeblich nach wie vor bestehenden Terminschwierigkeiten die Zusagen in kürzester Zeit bei uns eingelangt waren. Keiner der Professoren, die einzelne Vorträge halten sowie an einer abschließenden Podiumsdiskussion teilnehmen sollten, konnte ahnen, dass nichts davon real war. Weder hatte jemand einen Saal gebucht, noch hatte man irgendwelche Prospekte versandt, um einem interessierten Fachpublikum die Teilnahme schmackhaft zu machen. Allein die vier Suiten im Royal Grenadiers Hotel in London waren reserviert.

CHARLENE:
So ist O’RAZOR, konstruktiv und effizient – anders als der dümmliche Orangenblütenorden, der mir langsam ziemlich auf die Nerven fällt –, und nun werden die publicitygeilen Wissenschaftler bald anreisen, gierig außerdem nach dem Kontakt mit Leo Di Marconi, der von uns als Exklusivberichterstatter des Events nominiert ist und von dem sich die Herren ein ungeheures Medienecho versprechen.

YELLOWHAWK:
(der sich nach Art seines Volkes sehr lange zurückgehalten hat) Was ist eigentlich der Titel des Symposions?

Ach ja, nun, da haben wir lange herumgefeilt, das war viel anspruchsvoller als eine Annonce für die „Sun“ zu formulieren. Aber es ist fix und gedruckt (wenn auch in sehr sehr kleiner Auflage):

Die ehrenwerte Ockham Society
erlaubt sich, zu einem
Symposion
Globale Mega-Entwürfe
Konzepte für eine neue
Welt-Totalität
Einzuladen

YELLOWHAWK:
Wenn sich diese Leute das wirklich anmaßen, sollte der Geist des Canyons ihren Verstand in alle Windrichtungen zerstreuen!

Um etwas in dieser Art möchte ich Sie bitten, Yellowhawk. Sie sollen für mich diese vier Männer aus dem Hotel entführen, ohne das jemand auch nur das Geringste merkt, sodass wir sie dann endgültig verschwinden lassen können. Sie kriegen von mir nicht viel Unterstützung, denn je weniger davon wissen, desto besser. Ich werde Sie in London mit Brian Thomson, dem Bruder unserer charmanten Begleiterin, und Murky Wolf bekanntmachen…

YELLOWHAWK:
Dieser Wolf – Little Wolf, ist er nicht der Sohn eines Häuptlings aus dem Mohave-Volk?

Das weiß ich nicht, jedenfalls stammt er aus der Bronx, aber wenn man ihn kennt, kann man sich gut vorstellen, dass er ein Native American ist. Aber jetzt zu unserem eigentlichen Job! – Charlene!

CHARLENE:
(breitet Pläne und andere Papiere vor den beiden aus) Vor allen Dingen ist hier die Rückansicht des Hotels, von der Themse aus gesehen. Bei Nacht ist es hier äußerst dunkel. Sie befinden sich hier auf einer eher schmalen Uferstraße, an der hinter einer etwa 2,5 m hohen Mauer ein kleiner Garten liegt, der zu unserem Zielobjekt gehört. Die Zimmer der vier Gelehrten liegen im zweiten Stock, und zwar hier – hier – hier – und hier.

Wir parken mit unserem Lieferwagen. Sie, Yellowhawk, schwingen sich über die Mauer und klettern zum ersten der vier Fenster hoch und befestigen dort ein Seil, Wolf begleitet Sie, bleibt aber auf der Mauerkrone, fixiert auch dort das Seil und spannt es. Nun dringen Sie in das Zimmer ein: # 1 (Schreiner) wird auf dem Sofa oder am Schreibtisch eingeschlafen sein (bei ihm und den drei anderen werde ich früher am Abend bei einem gemeinsamen Dinner dafür sorgen, dass sie ordentlich Alkohol zu sich nehmen).

YELLOWHAWK:
Und wenn sie das nicht tun?

Zu diesem Zweck haben Sie sicherheitshalber ein Blasrohr mit Betäubungspfeilen dabei – lautlos wie nur Sie es können und unmerklich für die Zielpersonen gehen Sie in Schussposition, und zack! Notfalls gebe ich Ihnen Wolf mit, und Brian bezieht die Mauerkrone.

YELLOWHAWK:
Oder wir machen’s gleich so. Auf diese Art können wir # 1 bis # 4 im Nu zusammenschnüren und abseilen – so hatten Sie sich ja wohl den Abtransport gedacht, Sir Basil?

Ich sehe, wir verstehen uns. Wird es klappen? Das stolze bekräftigende Nicken des Häuptlings war wie ein Schwur.

Bleibt nur noch zu berichten, dass alles wie am Schnürchen ablief. 48 Stunden später lagen # 1 bis # 4 auf einer Fregatte der Royal Navy zur Verschiffung bereit.

Denkwürdig das Dinner am Abend davor: allen voran walzte Charlene die Vier unter Einsatz ihres strahlendsten Lächelns sowie eines äußerst tiefen Dekolletés und eines äußerst kurzen Minirocks nieder, ich selbst salbte sie ein mit Komplimenten, die jedem Kirchenfürsten die Schamröte ins Gesicht getrieben hätte (aber unsere Freunde schluckten das runter, ohne mit der Wimper zu zucken). Die bedeutendste Aufgabe kam aber dem Starjournalisten Di Marconi zu: als einziger von uns nicht eingeweiht, erging er sich in Tiraden von wegen der Ehre, auf einen Schlag vier derart bedeutende Köpfe interviewen zu dürfen, ließ sie durch einen mitgebrachten Fotografen in allen Stellungen ablichten und entlockte ihnen ungeheure Prahlereien über ihre wissenschaftlichen Erfolge und vor allem über ihre künftigen Pläne. Sie tranken stark (Yellowhawk konnte sein Blasrohr steckenlassen). Selbst der an sich sehr zurückhaltende Migschitz und der an sich eher vornehme Kouradraogo (von Schreiner und Ivanovich brauchen wir in diesem Zusammenhang gar nicht zu reden) übertrieben maßlos, und einer versuchte den anderen noch zu übertreffen. Am Ende erschienen sie wirklich als exorbitant gefährlich für die Welt. Leo Di Marconi würde nicht verfehlen, diesen seinen Eindruck den Medienkonsumenten zu vermitteln.

Am nächsten Tag war er wegen des Verschwindens der Objekte seiner Berichterstattung total von den Socken. Der Tenor seiner an die neue Situation angepassten Berichterstattung traf genau unsere Intentionen: Ausgehend von den Unsäglichkeiten, die er am Vorabend gehört hatte, ließ er seiner persönlichen Meinung freien Lauf – den Opfern sei sozusagen Recht geschehen, denn es sei folgerichtig, dass jemand aus dem Verkehr gezogen würde, wenn er ein so extremes Bedrohungspotential aufwies.

Die Aktion verlief perfekt und hinterließ keinerlei Spuren. Di Marconi interviewte den Etagenkellner, der laut Polizei # 1 als Letzter gesehen hatte: nein, der Herr Professor sei an diesem Abend nicht mehr ausgegangen (wäre auch dazu nicht mehr in der Lage gewesen, fügte der Mann vertraulich hinzu). Die Dame, die als Letzte im Zimmer von # 2 gewesen war, berichtete Ähnliches (was immer sie dort mitten in der Nacht gesucht hatte, so der Hotelangestellte hinter vorgehaltener Hand, Ivanovich konnte es ihr keinesfalls bieten). Bei # 3 und # 4 war es noch einfacher: der Kellner hatte Kouradraogo ein Aspirin und Migschitz eine Flasche Whiskey vorbeigebracht – bei den beiden sei er selbst der Letzte gewesen, der sie gesehen hätte).

Bei jedem der Vier fanden wir übrigens in seiner Jackentasche ein dünnes Dokument, offensichtlich kodifiziert für eine handverlesene Zahl von Personen, mit Sicherheit so streng geheim, dass sie es niemals aus den Augen lassen durften. Es trug den Titel „Joint Vision 2025, approved by the Chief US Armed Forces Liaison Officer to the National Security Council”. Darin gab es die eine oder andere bemerkenswerte Textstelle. Ich zitiere: Überzeugend im Frieden! Entschlossen im Krieg! Hervorragend in jedem Konflikt! Effektivität heißt volle Integration: intellektuell – operational – organisatorisch – dogmatisch – technisch! Erste Priorität hat immer die Innovation!

CHARLENE:
Welche Rolle da wohl wem zugedacht war? Jedenfalls zwitschert mir ein Vöglein im Pentagon, dass General H. H. Skelton verzweifelt nach den vier fehlenden Exemplaren des Strategiepapiers fahnden lässt.