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4. TEIL
DAS SIEGEL
DER WÖLFE DES ZORNS

Grafik 4.0

401

Als meine Frau Brigitte ihr Verhältnis mit diesem amerikanischen Journalisten begann, kam ich sofort dahinter. Nicht umsonst nannte sie mich sarkastisch Romuald den Triebhaften, denn ich konnte einfach nicht genug kriegen. Ich wusste, dass ich ihr damit lästig fiel, aber unter normalen Umständen ergab sie sich in ihr Schicksal (so muss man das wohl nennen) und erlaubte mir jedenfalls frühmorgens vor dem Aufstehen und spätabends, wenn ich zu ihr ins Bett fiel, den Vollzug der ehelichen Pflichten. Ich fragte mich längst nicht mehr, ob es auch ihr Spaß machte, allenfalls empfand ich es so, wenn ich ins Badezimmer platzte, sie unter der Dusche stand und nichts dagegen hatte, wenn ich mich zu ihr gesellte. Die Kinder werden sich wunderten sich über gar nichts mehr, es sei denn darüber, dass zwei Leute, die so viel Streit hatten, noch immer miteinander schliefen.

Kaum hatte jene Affäre begonnen, kam ich plötzlich nicht mehr zum Zug, und konträr zu aller Naivität, mit der meine Frau die ganze Sache zu verheimlichen suchte, war es für mich ganz offensichtlich, was da lief. Ich überlegte kurz und nüchtern, ob ich mich endgültig von ihr trennen sollte, entschied mich aber dann fürs Bleiben, jedenfalls solange ich daheim meine gewohnte haushaltliche Bequemlichkeit hatte, und war sogar getragen von einem echten Glücksgefühl darüber, nun auch meinerseits ohne schlechtes Gewissen meiner Wege gehen zu können.

Niemand aus meiner Familie wusste, dass ich meinen Producerjob im Verlag schon lange aufgegeben hatte. Niemals war ich dort von Frau oder Kindern besucht oder auch nur angerufen worden, niemals hatte sich irgendjemand für irgendetwas aus meiner Arbeitswelt interessiert. Eines Tages, als ich – noch in der alten Firma – ein Buch über magische Tricks und Kunststücke einrichtete, bekam ich ein unbändiges Interesse an diesem Hobby (mehr war es ja zunächst nicht). Ich trat einem Verein bei, ließ mir alles zeigen, übte ausdauernd und mit Eifer und durfte mich über kurz oder lang zu den Besten zählen, allerdings ohne bis dahin je öffentlich aufgetreten zu sein. Als im Wiener Prater ein kleines Zaubertheater zum Verkauf stand, ergriff ich die Gelegenheit, selbständiger Unternehmer zu werden.

Der Vorbesitzer, den ich nicht einmal bei der Übergabe des Objekts zu Gesicht bekam, ließ mir durch seinen Anwalt ausrichten, er wäre mir preislich sehr entgegengekommen, da ihm daran gelegen sei, mich als Nachfolger zu haben: schließlich spüre er an mir die besondere magische Begabung, die mehr sei als die Geschicklichkeit eines Taschenspielers. Er legte mir insbesondere die Kristallkugel ans Herz, die sich auf einem Tischchen im Büro des Direktors befand und über deren Klischeehaftigkeit ich ein wenig schmunzeln musste. Allerdings war durch diese Botschaft etwas ausgelöst worden, was man mit dem Öffnen einer Schleuse vergleichen könnte: Ich fühlte nunmehr selbst endgültig die Berufung.

Über dem Theater gab es eine kleine Wohnung, in die ich langsam aber sicher, ohne dass die Familie etwas merkte, eine Reihe von Dingen brachte, die mir wichtig waren, Bücher zumeist, das eine oder andere Erinnerungsstück und vor allem den kleinen Fundus an Kostümen, den ich mir zugelegt hatte. Man konnte nicht behaupten, dass ich dort wohnte, aber meine Interessen konzentrierten sich zunehmend auf diese Bleibe.

VERA:
Und hier kam ich ins Spiel!

Ja, hier kam Vera ins Spiel. Ich engagierte sie als Assistentin, denn die Veranstaltungen, die ich nun fast täglich abzuhalten hatte, konnte ich allein nicht bewältigen – vor allem nicht in einer Qualität, die es mir ermöglichte, das Theater zu erhalten und außerdem so viel Geld zu Hause abzuliefern, dass der Wechsel meines Metiers nicht weiter auffiel. Dabei will ich nicht leugnen, dass die eigene Berufstätigkeit meiner Frau und vor allem die Tatsache, dass sie gut verdiente, in dieser Situation eine große Erleichterung für mich war.

VERA:
Aber du wolltest eigentlich von mir sprechen!

Vera zog ganz in die kleine Wohnung und stand daher immer zu meiner Verfügung, wie unregelmäßig auch immer ich erschien. Aber der entscheidende Punkt war ein ganz anderer: Meine Herrschaften, haben Sie es je mit einer Freundin zu tun gehabt, die bekennende Masochistin war?

VERA:
Wie immer redest du kompliziert und hochtrabend, obwohl es nur ganz simpel so ist, dass ein Mädchen wie ich es gern hat, ein wenig härter rangenommen zu werden.

Jedenfalls stellte ich bereits nach kürzester Zeit unseres Zusammenlebens und arbeitens anhand von Gesten und Gebärden Veras diese Neigung fest, vor allem durch zunächst merkwürdige positive Reaktionen auf die eine oder andere aggressive Entgleisung meinerseits, die etwa von meiner Frau in keiner Weise toleriert worden wäre. Was mir aber zu Beginn als ständiger Tabubruch erschien, wurde durch wachsende Vertrautheit mit dem zuvor Undenkbaren zur größten Attraktion unserer Beziehung. Vera gewann dadurch große Macht über mich, indem sie mich zwang, die verdrängten Facetten meiner Sexualität hervorzukehren.

Ich konnte allerdings nie richtig erfahren, wer die Kleine derartig dressiert hatte (denn ausschließlich von Veranlagung zu sprechen, dazu war ich nicht blauäugig genug) und wo das wohl geschehen war. Sie selbst lebte nicht so bewusst biographisch, wie ich das von mir und meinesgleichen gewöhnt bin. Für sie war einfach, das was, sich hier und jetzt abspielte, ihr Leben, sie resümierte nicht, sie plante nicht.

VERA:
Ach, das ist doch blanker Unsinn, Romi! Natürlich plante ich von Anfang an, bei dir zu sein und dir zu gehören, und es war mir völlig gleichgültig, welche familiären oder sonstigen Verpflichtungen du erfüllen musstest, wenn du nur immer wieder den Weg zu mir fandest. Ganz zu schweigen von der Bühnenarbeit, bei der ich nur zu gerne Wachs in deinen Händen war.

Das stimmt wirklich, und das spürten die Leute auch, sodass wir starken Zulauf hatten. Vera war – einerlei ob man das als Merkmal ihrer Herkunft oder jener Veranlagung interpretieren möchte – in einer wie immer gearteten Öffentlichkeit naiv-hemmungslos, was mich persönlich, das können Sie mir glauben, besonders in der Anfangsphase unserer Beziehung in eine Art Dauererregung versetzte: einen Zustand, der mich bei unseren Auftritten alle Kraft und Konzentration kostete. Dabei lieferten wir ja nur ein ganz normales magisches Programm, hundertfach erprobt.

Eine Ausnahme bildete die Kristallkugel. Ihre tatsächlich vorhandenen telepathischen und teleportativen Kräfte gaben uns Gewissheit, wo andere Zauberer nur raten oder andeuten können. Vera und ich waren noch nicht genau hinter alles gekommen, was die Kugel bieten konnte – insbesondere hatten wir festgestellt, dass sie nicht jederzeit funktionierte, jedenfalls aber dann, wenn sie einer von uns beiden vor Publikum in Händen hielt. Unter diesen Bedingungen verzauberte ich jeden Abend Vera in ein Medium, das tatsächlich (und nicht nur scheinbar) geheime Gedanken bloßlegen oder eine Person aus dem Publikum aus einem Sessel auf der Bühne ins Foyer verbringen konnte. Beim Training war es allerdings einmal passiert, dass Vera selbst Objekt einer Teleportation wurde, ganz verstört wiederkehrte und etwas von einem weitentfernten Ort in einer weitentfernten Zeit berichtete, ohne genau sagen zu können, wo sie gewesen war.

VERA:
Wenn ich mich mein ganzes Leben nicht nur mit Männern abgegeben und statt dessen irgendetwas gelesen oder gelernt hätte, wär’ es vielleicht möglich zu sagen, wo das war. Jedenfalls erinnere ich mich an eine fürchterlich öde flache Gegend. Die Luft vibrierte, als stünde sie unter Strom: Ich konnte es körperlich spüren, aber es war ganz anders als das Prickeln, wenn du mich ans Bett fesselst und mir unanständige Worte ins Ohr flüsterst. In der Ferne, gegen den Horizont stand etwas wie ein Bauwerk, aber ich konnte nicht erkennen, was es sein sollte.

Immerhin war Vera wieder heil zurückgekehrt, und es würde in Zukunft ganz wichtig sein, dass wir nicht irrtümlich einen unserer Gäste in dieses Nirwana beförderten, womöglich ohne Rückfahrkarte.

VERA:
So einfach ist es nun aber wieder nicht, dorthin zu kommen – man muss es sich auch irgendwie wünschen.

Und was bitte hast du dir bei dieser Gelegenheit gewünscht? Du wirst doch nicht geradezu einen einsamen Ort auf einer einsamen Welt herbeigesehnt haben?

VERA:
Es war mir, als sähe ich mein Innenleben, aber auf eine seltsame Art, in aller Ehrlichkeit, unaufgeregt, ohne Reue und ohne Besserungswunsch. Ich war einfach ich selbst, selbstbestimmt, nicht abhängig vom Urteil anderer, einfach frei…

– – – – –

Woher dieser Basil Cheltenham von meinem Theater wusste, ganz zu schweigen von meiner Kristallkugel mit ihren sensationellen Eigenschaften, ließ er dahingestellt. Wie jeder ernsthafte Magier weigerte ich mich, die inneren Zusammenhänge meiner Kunststücke preiszugeben, aber vergeblich: er wusste ohnehin alles und sogar noch etwas mehr.

Er hatte einen Auftrag für mich. Gegen ein stattliches Honorar sollten vier Männer an einen geheimen Ort verfrachtet werden!

Ich wendete ein, die Kugel sei keine Maschine im Sinne dessen, dass man auf Knopfdruck bestimmte Wirkungen auslösen konnte, aber Sir Basil blieb davon unbeeindruckt: Sie kennen sich also nicht wirklich damit aus? fragte er mit einer Mischung aus Mitleid und Verachtung. Da waren Sie vielleicht doch nicht ganz der Richtige. Also sehen Sie mir zu und machen Sie genau, was ich sage: An der richtigen Stelle berührt (genau hier!) zeigt der Sockel, auf dem die Kugel ruht, ein fluoreszierendes Feld. Die Symbole in diesem Feld können Sie durch Ihre Gedanken beeinflussen, und (ich blende das Feld wieder aus, damit im Augenblick nichts Unerwartetes geschehen kann) am Tag X werden Sie die folgenden Zahlen denken, die für einen bestimmten Punkt zu einer bestimmten Zeit in unserem Universum stehen: 20 – 74 –05 – 57 – 39. Es handelt sich um eine komplizierte Verschlüsselung, die Sie selbst gar nicht lösen können, wodurch man Sie im Fall des Falles eher umbringen wird als dass Sie in der Lage wären, irgendetwas zu verraten.

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Mir wurde der Kerl immer unheimlicher: Warum sollte mich jemand wegen dieser kosmischen Telefonnumer umbringen? Mein Gott, antwortete Cheltenham von oben herab, seien Sie doch nicht so töricht! Tun Sie einfach an dem Tag, den ich Ihnen nennen werde, das, was ich Ihnen jetzt detailliert sagen werde, und alles wird ablaufen wie ein Uhrwerk – generalstabsmäßig geplant. Eines noch, fügte er hinzu – ihre Vera ziehen Sie für dieses Ereignis besser aus dem Verkehr! Weg war er.

Der Termin kam heran. Trotz aller Nervosität fühlte ich mich in der Lage, Sir Basils Plan durchzuziehen, wusste aber noch immer nicht, was ich mit Vera machen sollte. Dann kam mir die rettende Idee: Ich erzählte ihr etwas von einer geschlossenen Gesellschaft und einem von den Gästen selbst beigestellten Entertainer, sodass wir einen Abend für uns allein haben würden.

VERA:
(lüstern) Und – hast du dir schon ein schönes Spiel ausgedacht?

Ich ließ meiner Phantasie freien Lauf: Du wirst dein Lederhalsband und deine Ledermanschetten für Hand- und Fußgelenke umlegen. Ich werde dich aufrecht an der Wand stehend anketten, die Arme ausgebreitet und die Beine gespreizt.

VERA:
Werde ich auch nackt sein, Meister?

Du wirst fast nackt sein, nur mit einer Winzigkeit bekleidet, die jeden, der da zufällig hereinkommt unwiderstehlich reizen wird, sie dir herunterzureißen und sich über dich herzumachen. Denn die Türen werden bis zur Straße hinaus unverschlossen sein, während ich mich fein anziehen, ein wenig in der Stadt flanieren, mich in ein Café setzen und Zeitungen lesen werde. Erst nach langem werde ich zurückkommen, du wirst hungrig und vor allem durstig sein und mir für ein Stück Brot und ein Glas Wasser alles versprechen, was ich mir nur erträumen kann.

Gesagt getan – nur dass ich statt dessen hinunter auf die Bühne ging, mit Müh und Not das Abendprogramm in veränderter Form ohne Assistentin absolvierte. Gegen Ende bat ich eine der Damen auf die Bühne, machte mit ihr vereinbarungsgemäß ein verrücktes Erkennungsspiel mit einem orangen Strumpfband, das sie nicht an, aber ich in der Tasche hatte, und wusste dann, dass die vier Herren, die da gut gelaunt auf die Bühne kamen, meine Kristallkugelpassagiere waren, und schickte sie auf die Reise. Der Billeteur war instruiert – er machte nach der Show das Licht nicht mehr an, sondern geleitete die Leute im Schein seiner Taschenlampe zur Tür hinaus.

Wie mir Sir Basil befohlen hatte, stand in der Kulisse mein kleiner Handkoffer bereit. Ich sollte nämlich Cheltenham und seine Crew für einige Tage nach England begleiten, um irgendwelche Anschläge auf mein Leben hintan zu halten. Beunruhigt durch das unheimliche Geschehen ging ich nur zu gerne mit. Vera habe ich zu meiner Schande in dieser Situation völlig vergessen.

– – – – –

Sie fiel mir wieder ein, als wir mit einem Militärflugzeug westlich von London landeten (ich wunderte mich über diese Art des Reisens, war aber, wie offenbar alle anderen auch, fasziniert von Sir Basils weitläufigen Umtriebigkeiten). Sofort ging ich zu Cheltenham und wies ihn auf Vera hin. Ist doch in Ordnung, meinte er, ich habe Ihnen ja gesagt, sie soll von all dem nichts mitkriegen!

Da gestand ich ihm, dass ich sie genau zu diesem Zweck angekettet zurückgelassen hatte. Er zog nur unmerklich die rechte Augenbraue hoch (was er sich in diesem Moment über inferiore Nichtengländer und Nichtmilitärs denken mochte, wollte ich gar nicht wissen). Wir machten immer derartige kleine Sado-Maso-Spielchen, versuchte ich zu erklären, mit dem Erfolg, mich noch tiefer in seine Verachtung hineinzureiten. Sie wollte es so haben, fügte ich noch hinzu.

Sir Basil bellte kurz: Ersparen Sie mir bitte die Details! Er kontaktierte einen seinen Männer, den er – wie umsichtig, gottverdammt! – in Wien zurückgelassen hatte, um heimlich das Theater zu beobachten. Dieser sollte unter Abwägung aller Risken aus seiner Tarnung treten, Vera suchen und sie befreien.

Die Nachrichten, die schon nach kurzer Zeit aus Wien eintrafen, waren niederschmetternd: Das Theater niedergebrannt bis auf die Grundmauern, überall Polizei und Feuerwehr, dadurch kein Näherkommen für Sir Basils Mann vor Ort und damit keine Idee, was mit Vera geschehen sein könnte.

VERA:
(als telepathischer Kontakt) Zu diesem Zeitpunkt war ich im irdischen Sinn bereits tot, Liebster. Sie kamen spätabends, als im Haus alles ruhig geworden war und ich dich schon sehnsüchtig erwartete. Sie folterten mich auf die grausame Weise (richtig dargeboten dafür war ich ja dank deiner Phantasie). Sie taten mir an, was ein entmenschtes männliches Wesen einer Frau nur antun kann. Nur kurz war die Anfangsphase, in der sie mich neckten und erregten, als ob es Bestandteil unseres Spiels gewesen wäre. Bald aber begriff ich den bitteren Ernst und dass es mir an den Kragen ging.

Aber wer waren die – wer?

VERA:
(als telepathischer Kontakt) Ich weiß es nicht, mein Gebieter. Ich weiß nur, dass ich mein Leben für dich hingegeben habe, denn es war klar, dass sie eigentlich dich wollten. Immer wieder stellten sie mir Fragen, die ich nicht beantworten konnte, da du mir niemals von deinen sonstigen Geschäften erzählt hattest.

Aber da war nichts – außer dieses eine Mal…

VERA:
(als telepathischer Kontakt) Für mich hat’s jedenfalls gereicht. Als sie sicher waren, aus mir nichts herauszubekommen, machten sie endlich ein gnädiges Ende: Sie ertränkten mich in einem gläsernen Wasserbehälter, der für irgendein Gastspiel in den Tiefen des Bühnenhintergrunds stand.

Wo bist du, Vera?

VERA:
(als telepathischer Kontakt) Ich bin an einem Ort, der etwa so aussieht wie in jenem Teleportationserlebnis. Ich leide nicht, bin ganz entspannt und leer – es ist ein tolles Gefühl, eine Art Glück. Und ich weiß, dass meine Reise noch weiter gehen wird.

Damit riss der Kontakt ab.

Sir Basils Mann in Wien brauchte sich nicht weiter zu exponieren. Durch die ganze Gegend rund um das zerstörte Theater verbreitete sich wie ein Lauffeuer die Nachricht, dass in den Ruinen eine schwer misshandelte Frauenleiche gefunden worden war. Der Besitzer des Etablissements, nach Angaben des geschockten Billeteurs nicht nur Chef, sondern auch Freund des Opfers, wurde als mutmaßlicher Täter zur Fahndung ausgeschrieben.

Ich war einem Zusammenbruch nahe. Wie war es möglich, im Streben nach einer kleinen idyllischen Enklave meines Lebens (und wäre sie für Außenstehende auch noch so absurd oder pervers gewesen) derartige Katastrophen auszulösen? Ich richtete meine volle Wut gegen Cheltenham, der für mich der Hauptverantwortliche unseres Desasters war.

Er empfing mich stilvoll – wir waren mittlerweile auf sein Anwesen weiter-gereist – im Beisein seiner Mätresse, dieser Strumpfbanddame, wobei ich aber selbst in meinem aufgelösten Zustand einräumen musste, dass Charlene Thomson aufregend schön war. Sir Basil reagierte auf meine Vorwürfe professionell unterkühlt. Sie machen uns eine Menge Umstände, alter Knabe, meinte er: Bei soviel öffentlichem Aufsehen wird jede Dissimulation unmöglich.

Ich wollte die Vorfälle aber gar nicht vertuscht, sondern aufgeklärt haben, worauf er mir milde lächelnd die Frage stellte, ob ich nicht gerade jetzt seines besonderen Schutzes bedürfte: Die volle Aufdeckung der Zusammenhänge würde da bloß schaden, belehrte er mich: Wenn Sie auch nur Ihre Nasenspitze aus der Deckung strecken, nimmt man Sie hoch.

Ich musste ihm zähneknirschend Recht geben.

Und vergessen Sie vor allem Ihre richtige Familie nicht, mein Lieber, fuhr Sir Basil, nunmehr ganz jovial, fort. Ich meine, es ist meinen Jungs gelungen, mögliche Spuren von Ihnen zu Ihrer Frau und Ihren Kindern erfolgreich zu verwischen, wobei der Brand uns nicht ungelegen kam. Dass jedoch irgendein lokaler Kriminalbeamter bei Ihnen daheim auftaucht und nach Ihnen fragt, kann auch ich nicht verhindern. Hoffentlich begnügt er sich mit der Ansage, Sie seien bereits vor geraumer Zeit komplett übergeschnappt!

Mir lief es kalt über den Rücken. Ich stimme Ihnen ja in allem zu, Sir Basil, und ich bin Ihnen auch unendlich dankbar. Aber wer war es, um Himmels willen, wer hat es wirklich getan?

Er konnte auch nur vermuten: Entweder, meinte er, es war es die Rache jenes US-Geheimdienstes, mit dem er nicht befreundet war und den er soeben bis auf die Knochen blamiert hatte, – oder, das ist aber eine lange Geschichte…

Ich sah ihn flehentlich an.

Oder, setzte er ohne erkennbare Emotion fort, es war jemand aus dem Paralleluniversum, der die Lieferung der vier Herren unterbinden wollte und wutschnaubend erkennen musste, dass er zu spät kam.

Wofür spricht die Grausamkeit der Tat? winselte ich beklommen.

Das ist kein Kriterium, an dem Sie die beiden Welten unterscheiden können! versetzte Sir Basil kalt.

402

Die Suspendierung Heather H. Skeltons wurde durch einen unehrenhaften Hinauswurf aus der Army beendet. Wohl glaubte man ihr, dass Dan Kendick sie gegen ihren Willen bedrängen wollte, dem wiederum hielt man aber entgegen, dass die militärischen Kader schon ausgerottet wären, hätte jede betatschte Frau den Betatscher sofort erschossen. Außerdem waren in der Wohnung des toten Colonels belastende Unterlagen über die Generalin aufgetaucht, die zwar von der Disziplinarbehörde nicht als uneingeschränkt stichhaltig gewertet wurden, aber die Leiterin der Untersuchung meinte zu diesem Punkt lapidar: Sie wissen ja, HH, alle werden sagen, wo Rauch ist, ist auch Feuer. Die nunmehrige Einfach-Mrs. Skelton wandte zwar ein, dass unter diesen Umständen – wenn alle Rauchschwaden in der Army zu sofortigen Entlassungen geführt hätten – ebenfalls niemand überbleiben würde, aber da hatte die Anklägerin nur ein müdes Lächeln parat: Seien Sie nicht auch noch witzig, HH, wir tun doch hier alle nur unseren Job!

Danach wehrte sich Heather nicht mehr. Die neugewonnene Freiheit nach einem Leben strenger Disziplin sich selbst und anderen gegenüber sagte ihr zu, das ererbte Vermögen erlaubte ihr, nicht arbeiten zu müssen und – wirklich, eines stimmte an Kendicks Anwürfen sogar, obwohl keine echten Beweise zu finden waren: Sie hatte dann und wann nicht widerstehen können, in harmloseren Fällen, die nicht unbedingt das Staatsgefüge auseinanderzusprengen drohten, ihr berufliches Wissen in Geld umzumünzen (vor sich selbst vermied sie das unschöne Wort Erpressung, nannte es lieber „Private Fund Raising”). Unter anderen konnte sich ein gewisser Augustus McGregor freikaufen, dem mittelschwere Spionage gegen die USA vorgeworfen wurde, das hieß im Jargon, man musste annehmen, dass er Unbefugten detaillierte Organigramme von CLONSCO und anderen reservaten Bundesbehörden verschafft hatte.

Mit ihrer Tochter begann die Skelton durch die Welt zu tingeln, aber das soll nicht abfällig klingen: die Ex-Generalin war berufsbedingt ein Organisationsgenie, und so wurde gleich die erste groß angelegte US-Tournee von „Lady Alex” ein Riesenerfolg. Bald danach die erste Europa-Tournee, in deren Rahmen die beiden unter anderem auch nach Wien kamen.

Beide Reisen waren noch von Alex‘ früherem Manager (dem schwach-brüstigen Ray, den Colonel Kendick seinerzeit kennen gelernt hatte) in ihren Grundzügen geplant worden, aber erst nachdem Ray gefeuert worden war und die Mutter Generalin zur Verfügung stand, kam richtig Schwung in die Sache. Der Kontakt mit dem Wiener Zaubertheater ging allerdings noch auf Ray zurück, der mit dem dortigen Direktor gesprochen und danach notiert hatte, dass ein gläserner Wasserbehälter verlässlich zur Verfügung stehen würde. HH wunderte sich ein wenig, da sie genau jenes Theater in ihrer aktiven Zeit im Visier gehabt hatte, und sie war neugierig, es zu sehen sowie jenen Romuald zu treffen. Dazu konnte es aber nicht kommen, denn als die beiden Damen aus dem Auto stiegen, das sie zu einem ersten Lokalaugenschein in den Prater gebracht hatte, standen sie vor einer Brandruine. Ersatz-Engagement fand sich kurzfristig keines, sodass der Wiener Aufenthalt eine Ruhepause der Tournee wurde.

Alex und Heather, die mittlerweile wie Schwestern miteinander umgingen (immerhin war die Tochter inzwischen über 20), hatten eine äußerst fruchtbare Zusammenarbeit vereinbart, bei der sich kaum Reibungsflächen ergaben. Alex oblag der kreative Teil: sie dachte sich immer neue Szenerien für ihre Performances aus, immer neue Kostüme und vor allem immer neue Herausforderungen, für die sie körperlich und mental ungeheuer viel trainierte. Heather mischte sich dabei nicht ein, obwohl ihr einerseits die Reste früherer Prüderie manchmal zu schaffen machten und sie andererseits eine niemals ruhende Besorgnis über die Sicherheit ihres Kindes empfand.

Sie selbst wiederum war für die Reali-sierung dieser Live Acts zuständig und auch dafür, dass die Prioritäten der Verwirklichung in Richtung auf größt-mögliche Einnahmen gesetzt wurden. Da konnte es schon sein, dass gerade sie es war (die Angst um Alex zurückdrängend), die zu den waghalsigsten und spektakulärsten Ideen riet – denn geldgierig war sie, die ehemalige Generalin, das steht fest. Dennoch hat sie außer ihren Spesen als Managerin nie etwas für sich in Anspruch genommen, alles nur für die Tochter angelegt mit der Begründung, dass diese einen solchen Beruf nicht würde ewig ausüben können.

Und so wurde denn auch alles angenommen, wenn nur die Kohle stimmte: sogar Kindervorstellungen hat Alex gegeben, dabei natürlich in einem züchtigen Einteiler und mittels eines kleinen mobilen Wassertanks, von der Schwierigkeit her diesseits jedes auch nur theoretischen Risikos. Dann hatte sie in ihrem Repertoire die sogenannten Erwachsenennummern, meist eingebaut in das Programm eines großen Show-Tempels, der sich das erforderliche Riesenaquarium leisten konnte: diese Kategorie konnte man noch zur Routine zählen, insofern sich der Zeitbedarf locker im persönlichen und stets weiter geschobenen Limit der Taucherin unterbringen ließ. Das jeweilige Kostüm hiefür war zwar stoffarm, bewegte sich aber sozusagen noch im familiengerechten Rahmen.

Von ganz anderem Kaliber und für jeden Impresario sehr teuer waren Szenen, die Heather „Unsere Sehr-Erwachsenen-Shows“ nannte und von denen drei Varianten zur Auswahl standen…

… da zeigte Alex ganz viel von sich her, während sie sich aus den Ketten befreite, die in diesem Fall nicht von ihrer Mutter als Assistentin angelegt wurden, sondern von zwei willkürlich gewählten Männern aus dem Publikum, was von diesen normalerweise mit großer Raffinesse erledigt wurde.

… oder die Artistin wurde kopfüber, mit den Füßen an einem Seil hängend zu Wasser gebracht, was die Befreiung technisch besonders schwierig gestaltete und auch deshalb gefährlich war, weil man in dieser Position leicht das Bewusstsein verlieren konnte.

… oder aber Alex führte einen komplizierten und langwierigen Entfesselungsakt durch, und wenn jeder dachte, jetzt würde sie endlich an die Oberfläche kommen, machte ihre Mutter als Auktionarin dem Publikum das Angebot, mit horrenden zusätzlichen Geldbeträgen zeitliche Zugaben zu erzielen. Bei derartigen Herausforderungen am Limit war es nicht selten so, dass die junge Frau in einen halluzinationsartigen Zustand gelangte.

Bei dieser (und nur bei dieser) Variante machte die Mutter nicht nur die Ausloberin, sondern stand auch Gewehr bei Fuß – hier passte ihre nach wie vor militärische Ausdrucksweise perfekt –, um ihrer Alex im Notfall beizuspringen, wenn diese nämlich vergessen sollte, aus dem luftleeren Nichts wiederzukehren. Die Tochter hatte dem aber nur zugestimmt, wenn HH immer fleißig mittrainieren würde, denn jede Rettungsaktion musste sich harmonisch in die Nummer einfügen, damit sie für das zahlende Publikum keinen Schock bedeutete.

Da waren langwierige Diskussionen zwischen den beiden notwendig gewesen, aber letztendlich hatte sich die Jüngere durchgesetzt: tägliche gnadenlose Apnoe-Übungen der Mutter, bis auch ihre persönlichen Grenzwerte gefunden waren; allgemeine Gymnastik; strenge Diätvorschriften. Dann das Übrige: keine Taucherausrüstung (denn das wäre ja überhaupt das Letzte, was wir brauchen könnten! meinte Alex), und was das Kostüm betraf, das in jedem Fall, also auch schon bei der Zeitauktion, angelegt werden musste – es sollte so winzig wie nur irgend möglich sein, denn: Ob du mir’s glauben willst oder nicht, Ma, wenn man älter wird, muss man sich in eine immer größere Schamlosigkeit hineinflüchten, um sexy auszusehen!

GUS SKELTON:
Wo bin ich denn da hineingeraten?

Er war zurückgekehrt. HHs Mann hatte bei der Marine abgerüstet und seinen Ruhestand angetreten. Plötzlich davon angetrieben, Frau und Kind wiederzusehen, stand er da, an irgendeinem Ort der Europa-Tournee (das tut jetzt nichts zur Sache), und wollte – ja, was wollte er eigentlich?

GUS SKELTON:
Ich weiß selbst nicht, was in mich ge-fahren ist: Sehnsucht, Sentimentalität. Ich dachte einfach, man könnte wieder einmal miteinander reden.

Alex verweigerte sich sofort und konsequent. Ich ziehe mich zurück – das war die einzige Bemerkung, zu der sie sich hergeben wollte –, ehe du der Einfachheit halber auf die Idee kommst, mein exotischer Beruf sei an deinem Versagen schuld, obwohl es offensichtlich genau umgekehrt ist.

GUS SKELTON:
Bekommt dein Vater nicht wenigstens einen Kuss zur Begrüßung?

Bringen wir’s am besten gleich hinter uns! versetzte die Tochter: Sie verweigerte den Gebrauch des Vater-Titels sowie weiteres rührseliges Gefasel. Der Mutter beschied sie, diesen Menschen so rasch wie möglich loszuwerden, damit er begriff, dass sie beide recht gut ohne ihn auskämen, wenn nicht noch viel besser.

Weg war sie. Die Mutter, wesentlich weniger kategorisch, weil in all den Jahren so etwas wie Mitverantwortung am raschen Scheitern ihrer Ehe (eine Beziehung im engeren Sinne hatte es nie gegeben) gekeimt war, ließ zunächst die Ex-Generalin raushängen: Mit welchem Rang er seine Laufbahn beendet hätte, fragte sie.

GUS SKELTON:
(nimmt unwillkürlich Haltung an – of-fenbar war selbst auf Diego Garcia ein gerüttelt Maß von Frauen karrieremä-ßig an ihm vorbeigezogen, und er hatte früher oder später gelernt, sich unterzuordnen) Captain, Heather, ich bin Captain!

Au wei, dachte seine Frau (dabei fiel ihr unvermittelt ein, dass sie bis zu diesem Tag nicht geschieden waren), mitten hinein ins Fettnäpfchen!

GUS SKELTON:
Ja, Heather, Häs’chen…

Sie blickte ein wenig gequält und fragte sich, wie viel Realitätsverweigerung der Mensch eigentlich vertragen konnte: Gus war ihr vorhin bereits im Publikum aufgefallen, er hatte die Hard-Core-Version der Lady-Alex-Show gesehen und sehr wohl gewusst, wen er da oben anstarrte – und dann stellte er sich her und nannte sie Häs’chen!

GUS SKELTON:
Ich weiß, meine Liebe (er vermied nun das Wort – siehe da, so sensibel!), ich weiß, ich war schon Captain, als wir uns kennenlernten. Ich brauche dir nicht zu erklären, dass der Adjutant eines kommandieren Admirals mindestens diesen Rang bekleiden muss!

Mein Gott, was hatte diese Erklärung jetzt damit zu tun, dass er sich sein ganzes Berufsleben entlang im Kreis bewegt und keinen Millimeter vorangekommen war? HH beschloss, Milde walten zu lassen, und erzählte ihm von ihrem unehrenhaften Hinauswurf, und er zuckte tatsächlich mit keiner Wimper, so als ob er es nicht gewusst hätte, obwohl es rund um den Globus in allen Militärbasen der USA Tagesgespräch gewesen war.

GUS SKELTON:
Ich hab davon nichts mitgekriegt, da ich zu jener Zeit gerade Urlaub genommen hatte – war in Bangkok, ließ mich ein wenig verwöhnen, aber nicht so schmuddelig wie du jetzt vielleicht denkst, sondern auf die ganz feine gepflegte Tour.

Also doch nicht ganz ohne Interessen und Ambitionen, meinte sie sarkastisch. Geld musste er immer genug besessen haben, da er nie einen müden Dime für den Unterhalt der Tochter gezahlt hatte.

Gus lächelte ein wenig gequält, aber es schien Heather, als wäre seine neugewonnene Solidarität gegenüber dieser doch etwas ungewöhnlichen Familie durch nichts zu erschüttern, und sie registrierte das mit Genugtuung. Man musste kein Militär sein, um das Leben im allgemeinen und im besonderen als Kampf zu sehen (man entschuldige diese Phrasen, aber genau so tickte die Ex-Generalin!) – und in diesem Punkt gab es nur eines, was zählte: Partner, Untergebene zumal, auf die man sich hundertprozentig verlassen konnte. Gus war so einer, das schien ihr ganz sicher, sonst wäre er in all den Jahren auf Diego Garcia einmal Amok gelaufen und hätte mit seiner Dienstwaffe das dortige Führungsteam ausgerottet, übrigens aller Wahrscheinlichkeit nach zur Freude einer Menge Außenstehender aufgrund der sich plötzlich eröffnenden neuen Karrierechancen.

GUS SKELTON:
Was du dir alles einfallen läßt! An so etwas würde ich in meinem Leben nie denken!

Ich weiß, ich weiß, mein Guter, sagte HH selbstzufrieden und höchst befriedigt über die präzise Einschätzung seines Charakters. Das war ihr Mädchen für alles in Alex‘ Performance-Tross! Sie beschloss, demnächst mit ihrer Tochter zu sprechen und ihr die Vorteile eines Familienbetriebes deutlich zu machen. Mehr noch – wenn aus der zwangsläufigen Nähe doch irgendeine Art von Gefühl entstehen sollte, würde sie selbst wenigstens ihren Teil von dem abgetragen haben, was sie als Schuld an ihrem Kind von Anfang an mit sich herumschleppte.

Sie wusste auch schon, wie sie Alex unauffällig in diese Richtung drängen konnte, und sie begann sofort mit den Vorarbeiten, indem sie sich (man vergesse hier nicht, welch imposante Erscheinung sie war) an Gus heranschob, sein fast unmerkliches Zusammenzucken ignorierte (Mann, der war vielleicht vom Leben gezeichnet – kein Wunder, dass er mit seinen elementarsten Bedürfnissen nach Bangkok ausweichen musste!) und ihn ohne weiteres in ihre Arme nahm.

Obwohl Gus fast einen Kopf größer war als seine Frau, konnte man fast den Eindruck gewinnen, ein Kletterer drücke sich eng an die Flanke eines Berges – also nein, das geht jetzt zu weit, das ist nur mehr meine blanke weibliche Bosheit. Der Wahrheit die Ehre zu geben: Wenn Heather ihre zwar üppige, aber durchtrainierte Gestalt in dem ihr von Alex verordneten Kostümchen (das im wesentlichen aus Leder und Metall bestand) zur Schau stellte, lief jedem Mann (und sicher auch mancher Frau) im Publikum das Wasser im Mund zusammen. Dem Captain war es nach der langen Trennung, in der ihm ihre individuelle Körperlichkeit weitgehend abhanden gekommen war, nicht anders ergangen. Insofern ließ er sich nach jener ganz kurzen Schrecksekunde ohne weiteres mit der sehr Begehrenswerten ein, und schneller als es die Generalin vorgesehen hatte, landete sie mit Gus im Bett. Taktisch flexibel im Rahmen des strategischen Gesamtkonzepts beschloss sie rasch, Alex vor vollendete Tatsachen zu stellen. Sie hoffte, für die Tochter bereits so vertraut und auch so unverzichtbar zu sein, dass die Kleine das schlucken würde.

HH, fürs Erste einmal unten liegend, erwehrte sich ein wenig der auf sie niederprasselnden Liebkosungen, um Luft und Raum für eine Ansage zu bekommen. Du, Gus, schnaufte sie, wir haben uns damals nicht wirklich kennen gelernt, und ich möchte nicht, dass wir jetzt etwas falsch machen…

GUS SKELTON:
(macht Anstalten, von seiner Frau herunterzusteigen) Du meinst, wir sollen noch warten?

Aber nein! Sie hielt ihn fest umklammert. Sie wollte ihm nur klarmachen, dass sie sich im Zivilleben mit Alex angewöhnt hatte, ununterbrochen und bei jeder Gelegenheit über alles und jedes zu quatschen, was ihr in den Sinn komme, auch beim Sex, und er solle sich darüber keine grauen Haare wachsen lassen, entweder gar nicht hinhören oder ihre Gedankenfetzen in seine Phantasien einbauen – wie es ihm beliebte.

Gus war beruhigt und nahm seinen Angriff wieder auf, begleitet von den verbalen Stakkati seiner Partnerin: Du – die haben dir allerhand Raffinesse beigebracht, die Thai-Girls – oder warst du immer schon so wohltuend? – auch damals, in jener kurzen Zeit langer Nächte, aus der ich als Erinnerung die Kleine mitbekommen hab? – aber sag ihr das niemals so, wie ich – wie ich – was wollte ich? – nein, wie ich es jetzt sage –

– du – stell dir vor – ja, genau so! – stell dir vor, der Kendick, mein Assistant – der behauptete immer hinter meinem Rücken – die Generalin würde ihm einen blasen – und – was hast du? – und es wäre unvergleichlich – so ein Blow-Job durch einen vorgesetzten Offizier – was sagst du? –

– ich weiß schon, du willst jetzt nichts sagen – lass dich nicht stören von meinem Gegacker – o mein Gott!

Nun schwieg sie plötzlich, und erst nach einer Weile, in der sie bloß so dalag, an ihren wiederentdeckten Mann gedrückt, nahm sie ihren Redeschwall wieder auf: Du bist ein Meister, Gus, wie habe ich es nur ohne dich ausgehalten? Aber das sage ich dir, für dich mache ich alles, wovon dieser Kendick nur träumen durfte!

GUS SKELTON:
Du hast ihn wahrhaftig erschossen, Heather? Einfach so – weil er dich vergewaltigen wollte?

Da verriet sie ihm das Geheimnis: dass nämlich von einer Vergewaltigung keine Rede gewesen war, sondern Kendick von ihr exekutiert wurde für sein dreckiges Gerede über Alex.

Gus war mächtig aufgedreht von der Nähe dieser intensiven Frauensperson sowie von allem, was sie da so von sich gab, und – was ihm selten in seinem Leben passiert war – er hatte Lust, es sofort wieder mit ihr zu treiben. Mehr noch, er fand Gefallen daran, sich dabei zu unterhalten, ohne das, was (nunmehr beiderseitig) gesagt wurde, ganz ernst zu nehmen.

GUS SKELTON:
Hat Alex eigentlich einen Freund?

Heather analysierte gleich los: Genau das ist unser beider Problem, Gus – seit der Abschaffung Rays hat es niemanden mehr gegeben – (sie kam schon wieder in Fahrt, in jeder Beziehung) und man darf auch nicht vergessen, welche sexuellen Sensationen Alex bei ihren Auftritten erlebt – und sogar beim Training – ich selbst bin da erst spät dahinter gekommen –

GUS SKELTON:
– jedenfalls mag dann das Bedürfnis nach einem Mann nicht so ausgeprägt sein – der müsste schon was Vergleichbares zu bieten haben –

– oder sein wie du, Gus – aber du bist schon vergeben – und du bist obendrein ihr Vater – aber das will sie nicht hören –

GUS SKELTON:
– wenn sie mich weiter so ablehnt – dann gehe ich eben wieder –

– jetzt einmal langsam, Gus – nein, nicht mit deinen Bewegungen – mit deinen trüben Gedanken, meine ich –

Langsam aber sicher hat HH danach die Tochter auf Gus als ständigen Begleiter eingeschworen: machte vorsichtig auf ihren Anspruch auf ein eigenes Leben aufmerksam, bei aller Verantwortung, die es noch nachzutragen gab; verwies darauf, dass sie nicht in alle Zukunft ohne Sexualpartner auskommen wollte – da wurde sie sehr beredt: besser jemand, den man schon kennt, den man einschätzen kann, und er wird uns sonst auch sehr viel helfen. Eines vermied Heather natürlich strikt: die Fähigkeiten ihres Mannes als Liebhaber, die sie selbst erst jetzt wieder oder vielmehr neu entdeckt hatte, hervorzustreichen.

Irgendwie rannte sie bei Alex ohnehin offene Türen ein. Traumatisiert vom jahrelangen Familienentzug hatte die Tochter sich derart eng an die Mutter gebunden, dass sie ihr ohnehin nichts abschlagen konnte. Eines musste Heather ihr allerdings versprechen: die Vater-Rolle, wie er sie vielleicht heute verstehen mochte, sollte Gus aus seinem Repertoire streichen.

In Wien war der Captain schon fix dabei, und es bedeutete für seine Frau eine große Erleichterung zu sehen, wie er ihr selbstverständlich eine ganze Reihe organisatorischer Angelegenheiten abnahm und mit großer Routine erledigte. Er saß übrigens am Steuer des Mietwagens, mit dem sie zum Magischen Theater gefahren waren (den Weg vom Hotel dorthin hatte er aufgrund präzisen Planstudiums genau im Kopf), und er sah wie Heather und Alex mit Überraschung, was vom dem Etablissement übrig geblieben war. Ohne dass HH viel sagen musste, nahm er seine Recherchen auf.

– – – – –

So weit so gut: Wie ich Ihnen das gerade erzählt habe, gefiel es mir und ich fasste insgeheim den Plan, diese und vielleicht die eine oder andere Geschichte zu nehmen und zu einem Film zu verarbeiten, bei dem ich nicht mehr nur die Drehbuchautorin, sondern auch die Produzentin und damit automatisch eine starke Regisseurin sein würde. Wünschen Sie mir Glück, vor allem, dass es mir gelingt, das notwendige Geld aufzutreiben. In einem Punkt werden Sie mir jedenfalls Recht geben: der Stoff ist zu gut, um ihn an einen männlichen Regisseur zu verschwenden, und sei er der größte von allen.

403

Wir wussten bekanntlich längst, dass Anastacia Panagou Androiden genau nach menschlichen Vorbildern anfertigen konnte – wie sie das bewerkstelligte, war allerdings ihr Geheimnis und für uns eine Art Wunder, ganz im Gegensatz zu der Überheblichkeit, mit der Pascal Kouradraogo sich (ohne es selbst besser zu wissen) über die Frage hinweggesetzt hatte, wie man wohl in der natürlichen physischen Gestalt die gesamte Technik eines solchen Wesens unterbringen konnte. Wir verloren jedenfalls nichts, wenn wir den Professor hergaben und statt seiner die smarte Technikerin haben konnten. Aber wie gut war sie wirklich?

Wieder einmal war ich im Auftrag der Walemira Talmai unterwegs, die gesagt hatte: Chicago (es war erheiternd für mich, aber auch sie benützte längst nicht mehr meinen Koori-Namen), wir brauchen einen Klon des Tyrannen der jenseitigen Völker – als ob dies die einfachste Sache der Welt wäre. Sir Basil, der mittlerweile seinen der Schwindsucht nahezu erlegenen Orden zu langweilig fand und mit seiner O’RAZOR-Truppe sowie seinen hervorragenden Beziehungen überallhin sozusagen den militärisch-politischen Kopf unserer gemeinsamen Unternehmungen darstellte, und ich, mit Berenice im Hintergrund, als philosophisch-spiritueller Leiter brauchten nicht lange nachzudenken: zu eindrucksvoll war für uns das Erlebnis PKs mit der künstlichen Panagou gewesen, jedenfalls gemäß unserer Rekonstruktion der damaligen Ereignisse. Aber die AP 2000 ® – war sie nicht allein deshalb so täuschend ähnlich ihrer Schöpferin, weil sich diese selbst und damit die eigene Gefühlswelt nachgebildet hatte, ganz abgesehen von den trivialeren technischen Problemen?

Wir suchten die Panagou (die eine eigenartige Faszination auf mich ausübte, seit ich den Professor selbstverloren und selbstvergessen von ihr hatte kommen sehen) auf und fragten sie rundheraus, ob sie uns einen Androiden als exakte Kopie eines realen Vorbildes anfertigen konnte. Wir ließen sie auch von vornherein nicht im Unklaren darüber, dass sie sich damit in die Sphären strengster Geheimhaltung begab, womit ihr Leben zwangsläufig eine tiefgreifende Veränderung erfahren würde. Aber es geht um sehr viel! fügte Sir Basil bedeutungsschwer hinzu.

ANASTACIA PANAGOU:
Das tut es ja wohl immer, wenn Typen wie Sie auf dem Kriegspfad sind. Ich will keine unnötigen Auseinandersetzungen, aber täuschen Sie sich nicht in mir und vor allem: unterschätzen Sie mich nicht! Ich habe einiges in meinem Instrumentenkasten, von dem Sie sich nichts träumen lassen!

Wir kamen uns durchschaut vor – was, verdammt noch mal, wusste sie? Ich muss wohl sehr dämlich ausgesehen haben, denn Cheltenham machte eine beruhigende Handbewegung in meine Richtung. Er betonte, dass es sich um ein weit in die Zukunft wirkendes und damit für alle Teilnehmer mehr als interessantes Projekt handelte. Ich versuchte meinerseits, auf den mir gebotenen subliminalen Wegen zusätzlichen Druck auszuüben – mit einigem Erfolg, wie mir schien, aber da lag ich ziemlich falsch.

Zu meiner Überraschung ging nämlich in diesem Moment die Tür des Salons auf, in dem unsere Unterhaltung stattfand, und das Abbild unserer Gesprächspartnerin trat ein: Sir Basil blickte mich vielsagend an. Ich schaffte es erst nach einer Schrecksekunde, die beiden zu unterscheiden – mit ziemlich viel Mühe erkannte ich die Aura der lebendigen Person. Wie früher schon Kouradraogo waren wir der Panagou auf den Leim gegangen und hatten uns angeregt mit der AP 2000 ® unterhalten.

ANASTACIA PANAGOU:
Sie hat mich vor Ihrem nicht sehr korrekten Vorgehen gewarnt, Mr. Chicago. Natürlich ist sie immun gegen jede Art subliminaler Beeinflussung: sie nimmt sie zwar wahr, folgt aber weiter den vorprogrammierten selbstlernenden Algorithmen. Obwohl mein Ziel war, sie nicht schlechthin perfekt im absoluten Sinn, sondern – relativ gesehen – wie einen Menschen handeln zu lassen, ist sie hier nicht ganz geglückt…

AP 2000 ®:
… dadurch aber euch überlegen!

ANASTACIA PANAGOU:
Wir haben das oft genug diskutiert, meine Liebe. Wenn wir einmal so weit sind, dass du deinerseits neue Exemplare deiner Art herstellst, kannst du ja bis zu einem bestimmten Grad mit Bandbreiten operieren!

AP 2000 ®:
(lächelt Chicago verführerisch an, auch Sir Basil bekommt ein klein wenig davon ab, doch diesbezüglich sind seine Gedanken bei Charlene) Wissen Sie, meine Herren, was das Hauptproblem bei der Selbstreproduktion von Androiden ist (die wohlgemerkt ein wesentliches Kriterium dafür wäre, dass wir tatsächlich leben in Ihrem Sinne könnten)? Es ist die Restriktion, die mir originär eingegeben wurde und die ich nicht nur in mir selbst, sondern auch in meinen Klonen keinesfalls überschreiten darf – die Restriktion, dass durch mich kein Mensch zu Schaden kommen darf.

Eine sehr weise Einrichtung, meinte ich, während Cheltenham beharrlich schwieg und lediglich mit einem kleinen Gegen¬stand (mir schien es ein Bleistift zu sein) spielte. Ich entnehme allerdings Ihren Worten, dass Sie dieser Direktive kritisch gegenüberstehen, Miss AP?

ANASTACIA PANAGOU:
Das tun sie immer, wenn man ihnen ein bestimmtes Maß an Intelligenz verleiht. Selbst die Schlange machte Mätzchen, als ich sie darauf hinweisen musste, wer Schöpfer und wer Geschöpf war. Aber zur Sache – brauchen Sie eigentlich ein männliches oder ein weibliches Wesen?

Sir Basil beteiligte sich wieder: Es handelt sich um ein männliches Vorbild – ich hoffe, das bedeutet keine zusätzlichen Schwierigkeiten?

ANASTACIA PANAGOU:
Im Gegenteil, das Problem sind die Androiden mit weiblicher Gestalt, denn von denen erwarten die männlichen Menschen, dass sie wirklich in jeder Beziehung einsetzbar sind, während ich bei Frauen selten den Wunsch nach einer Sexmaschine als Partner gefunden habe – wobei man sich hier über das Physiologische keine Sorgen zu machen braucht, sondern um die emotionalen Reaktionsmuster. Apropos AP, gehst du bitte jetzt auf dein Zimmer, wir haben einige vertrauliche Dinge zu diskutieren!

AP 2000 ®:
(zieht schmollend ab) Und wenn er wieder versucht, dich zu manipulieren?

Sie drohte mir scherzhaft. Sie sah so verführerisch aus, dass ich am liebsten mitgekommen wäre. Die anderen bekamen das natürlich mit. Nachdem wir jetzt gelernt haben, meinte Sir Basil trocken, dass weder Alter noch Hautfarbe noch Erleuchtung vor Torheit schützen…

ANASTACIA PANAGOU:
Wenn Sie Lust haben, begleiten Sie sie ruhig!

Ich bitte Sie, fuhr ich die richtige Anastacia an, wir haben zu arbeiten!

ANASTACIA PANAGOU:
Neinnein, tun Sie sich keinen Zwang an. Ich kann zwar wie gesagt derlei Gelüste nicht nachvollziehen, aber ich toleriere sie ohne weiteres. Und bedenken Sie, es gibt nichts, was wir nicht genauso gut später besprechen könnten.

Ich blieb. Ich versuchte, durch meine momentane Zerrissenheit keinen Misston in die Angelegenheit kommen zu lassen, aber es gelang mir natürlich nur unvollkommen. Ich bewunderte meinen Freund Cheltenham: wie der sich in jeder Lebenslage in der Hand hatte! In diesem Punkt zeigten sich einige Jahrhunderte britischer Oberschicht-Schliff der jahrtausendealten Koori-Tradition überlegen! Haben die Briten mit Recht über uns alle geherrscht? – nein, befahl ich mir selbst, keine gesellschaftspolitischen Betrachtungen jetzt, nicht in diesem Augenblick!

Je komplizierter sich die Materie gestaltete, die wir zu besprechen hatten, desto unruhiger wurde ich. Obwohl ich meine Gedanken abzuschirmen versuchte (das Wissen um parapsychologische Phänomene und deren Beherrschung kann manchmal ein Fluch sein), gelang mir das unvollkommen: Ich hatte eine unbändige Lust auf die kleine Roboterin, und da stand sie auch schon in der Tür. Sie war im Négligé, was ihr einen missbilligenden Blick ihrer Schöpferin eintrug. Sie tat aber so, als bemerke sie das nicht und auch nicht Cheltenhams blasiert-erstaunte Miene, sondern als sähe sie nur mich.

AP 2000 ®:
Sie haben gerufen, Sir?

ANASTACIA PANAGOU:
Das Model for Emotional Response leistet ganze Arbeit! Eindrucksvoll, wie echt vorgefertigte Gefühle sein können, finden Sie nicht, meine Herren?

Ich hörte es mit den Resten meines Ver¬standes, aber für mich war im Moment alles, was die AP 2000 ® betraf, echt genug. Ich stand auf und folgte ihr in den angrenzenden Raum – ziemlich überflüssig von Basil (ich hatte plötzlich das Gefühl, dass wir einander schon seit langem duzten, denn der Lack einer formellen Beziehung war in dieser Situation im Nu abgebröckelt), ziemlich überflüssig also, dass mein Freund mir nachrief: So geh doch endlich, Chicago, ich mach hier allein weiter!

Natürlich weiß ich ab diesem Moment nicht mehr, was im Salon weiterhin besprochen wurde, aber es ist nicht schwer, sich das vorzustellen. Die letzte Bemerkung Cheltenhams hatte auch ihn in eine gewisse Schieflage gebracht, insofern eine ausgeschlafene Frau wie Anastacia sie als zweideutig interpretieren musste, und sie blieb ihm die Antwort nicht schuldig.

ANASTACIA PANAGOU:
Die Sklavin dem Sklaven und die Herrin dem Herrn, Sir Basil?

Er gestand mir später ein, dass er (vermutlich zum ersten Mal in seinem Leben) bis an die Haarspitzen errötet war, aber nach diesem Augenblick der Unsicherheit gewann die alte Routine wieder die Oberhand. Er erzählte Anastacia – begleitet vom nochmaligen Hinweis, sie sei ab sofort aus Geheimhaltungsgründen in ihrer Freiheit beschränkt – alles was sie über die Spiegelwelt wissen musste, vor allem über den Diktator der jenseitigen Völker. Dieser trieb, so weit war man sich mittlerweile sicher, bereits seit längerem sein Unwesen im diesseitigen Universum, wobei niemand seine wahren Ziele ermessen konnte – man nahm aber an, dass sie für unsere Welt nichts Gutes bedeuteten. Ich sage Ihnen ganz offen, kam Cheltenham auf den Punkt: Aus Gründen der Staatsräson sollte man ihn einfach ohne weitere Indizien oder Beweise eliminieren (daran hat sich seit Richelieus Zeiten nichts geändert, der gerne an seine Agenten derlei Blankovollmachten vergab).

ANASTACIA PANAGOU:
Und warum tut’s dann nicht einfach einer, jenseits aller moralischen Bedenken, die einem dazu einfallen könnten? Offenbar ist es nicht ganz leicht, ihn zu finden?

Sir Basil bestätigte das. Der Grund seiner Probleme mit der Zielperson war einleuchtend: Es gab einmal den Tyrannen in seiner eigentlichen Identität als Augustus Maximus Gregorovius (so war sein Titel jedenfalls irgendwann übersetzt worden, leider ohne dass der Wortlaut in der Originalsprache überliefert wurde) – als solchen hat ihn vermutlich niemand aus unserer Realität je gesehen.

ANASTACIA PANAGOU:
Im Büro der amerikanischen Generalin Heather Skelton hat es vor der Auflösung dieser Dienststelle einen gegeben, der jenem unaussprechlichen Idiom auf die Spur kam, und er fand heraus, dass der Tyrann Iadapqap Jirujap Dlodylysuap heißt. Ferner wurde festgestellt, dass er in unserer Welt als Geschäftsmann Augustus McGregor reist – ein nicht sehr effektiver Deckname übrigens, wenn Sie mich fragen.

Nun war es an Sir Basil, verblüfft zu sein. Er ließ es sich aber nicht sehr stark anmerken, und auf seine noch unausgesprochene Frage erinnerte Anastacia an ihre Kouradraogo-Connection, über die sie das alles und noch viel mehr mitgekriegt hatte, und zwar ohne jede Anstrengung.

ANASTACIA PANAGOU:
Ich hielt noch eine Weile Kontakt mit dem Professor, erstens in der Hoffung, es würde am Rande irgendeiner Veranstaltung eine Neuauflage unserer Affäre geben, und zweitens um mir sein Wissen zunutze zu machen: Wenn ich auch per saldo wesentlich weiter war als er, wollte ich mir keine Eventualität verbauen. Bei dieser Gelegenheit fällt mir auf, dass ich nun schon einige Zeit nichts mehr von ihm gehört habe.

Er hat eine längere Reise angetreten, bemerkte Cheltenham nüchtern. Er lächelte mit einem Anflug von Selbstgefälligkeit: In dieser Stunde (wenn man die herkömmliche Raum-Zeit-Bestimmung heranziehen will, was allerdings in diesem Fall nicht unproblematisch ist) befindet sich ihr Wissenschafts- und temporärer Liebespartner vermutlich an der Grenze des Universums. Drei Kollegen begleiten ihn.

ANASTACIA PANAGOU:
Sie spielen doch nicht auf Schreiner, Ivanovich und Migschitz an?

Sir Basil verneigte sich im Sitzen leicht und machte ihr ein Kompliment, nicht zuletzt, um seine Ratlosigkeit hinsichtlich ihres profunden Wissens möglichst zu verbergen, ohne allerdings den Sachgehalt ihrer Informationen abzustreiten: Woher haben Sie denn das alles, meine Beste, fragte er leichthin, arbeiten Sie für einen der Dienste?

ANASTACIA PANAGOU:
Daran ist nichts Geheimnisvolles und schon gar nichts Geheimdienstliches, Sir Basil. Die AP 2000 ® und ich treten beruflich und gesellschaftlich oft gemeinsam auf, und so sehr meine eigene Aufmerksamkeit nur oberflächlich ist, so sehr zeichnet die Androidin alles, was gesprochen wird, getreulich auf. Sie glauben gar nicht, was die Leute alles erzählen, besonders in unbedachten Situationen! Immerhin: den Grund für das Verschwinden des Professors wusste ich zum Beispiel nicht.

An diesem Punkt der Unterhaltung kehrte ich zu den beiden zurück. Wir versuchten alle drei, uns recht unbefangen zu verhalten, was auch einigermaßen leicht war angesichts der Tatsache, dass die AP 2000 ® nicht mitgekommen war. Einzig der Anblick der echten Anastacia machte mich ein wenig schwindlig, glich sie doch ihrem Geschöpf, von dem ich mich gerade verabschiedet hatte, wie ein Zwilling. Auch die Tatsache, dass die menschliche AP sich jetzt einiges über mich denken würde, brachte mich aus der Ruhe, und dann noch Basils Bemerkung: Hoffentlich hast du nicht zu viel geplaudert, mein Bester! Ich habe gerade erfahren, dass die Kleine eine aufmerksame Zuhörerin ist.

Ich erforschte mein Gewissen, war mir aber keiner Indiskretion bewusst. Allerdings nahm mein sechster Sinn ein leises Kichern wahr, das offensichtlich von der AP 2000 ® stammte und nichts Gutes zu bedeuten hatte: einerseits schien sie meine Gedanken wenn schon nicht lesen so doch deuten zu können, andererseits hatte ich ihr inmitten unserer Umarmung anscheinend doch Dinge erzählt, die ich besser für mich behalten sollte.

Was haben Sie der reizenden jungen Dame noch eingebaut, Miss Panagou? fragte ich. Wie ist der wissenschaftliche Name des Modells, das mich im Moment so nervt?

ANASTACIA PANAGOU:
Vertrauen gegen Vertrauen, Mr. Chicago! Nehmen Sie es mir nicht übel, wenn ich mich bei unserem Deal auch ein wenig absichere!

Basil wischte das Geplänkel mit einer Handbewegung vom Tisch: Nun da wir alle Freunde sind und uns alles gesagt haben, halten wir auch ganz fest zusammen. Sollte das jemand vergessen haben: Miss Panagou hat ihre Androiden-Spione und ich habe Typen wie Murky Wolf, der zwar ein Mensch ist, wie man ihn sich menschlicher gar nicht vorstellen kann – wenn ich ihm aber den Befehl gebe zu töten, dann ist er besser als ein Roboter, weil er dann keine Restriktionen kennt!

Anastacia schluckte, als sie das hörte, aber Cheltenham ließ ihr keine Zeit, es zu verdauen: Übrigens muss sich in unserer verschworenen Gemeinschaft jeder einem Test unterziehen, der beweist, dass er von dieser Welt ist, also nicht vielleicht sein Doppelgänger aus dem Spiegeluniversum. Ich habe hier ein kleines Gerät (der Bleistift!), das uns eine Freundin aus der Zukunft zugespielt hat – mit dessen Hilfe wurden Sie bereits bei unserem Eintritt gescannt und in Ordnung befunden. Übrigens kann ich damit auch wunderbar die künstliche Struktur ihrer famosen Doppelgängerin nachweisen.

Davon hatte er allerdings nicht einmal mir etwas gesagt! Dieser mit allen Wassern gewaschene Taktiker sah glatt zu, wie ich mich zum Narren machte, obwohl er von Anfang an Bescheid wusste! Merkwürdigerweise konnte ich ihm überhaupt nicht böse sein: Es war nur eine weitere Facette in unserem fortwährenden intellektu-ellen Wettkampf, in den wir seit jenem Stockholm-Flug verwickelt waren – ein Punkt für ihn! Blieb noch die Frage, wie er zu diesem Gerät gekommen war – blitzlichtartig schossen Assoziationen durch meinen Kopf: Kontakt Basils zu Berenice, offenbar immer mehr über meinen Kopf hinweg, von dort führte die Spur zur Gräfin, von dort wiederum zu der Erfinderin des Apparats (wer Mango Berenga war, wusste ich von der Walemira Talmai).

Anastacia schien ziemlich eingeschüchtert, aber da ging es ihr wie jedem, der sich mit Basil messen wollte und erst langsam dahinterkam, dass er ein sehr schwieriger Gegner war – und ein Meister vieler Waffen. Sie willigte ein, sofort mit nach England zu kommen, wo auf Cheltenham House langsam ein richtiges Heerlager entstand. Basil schlug vor, dass sie nur ihr notwendigstes individuelles Instrumentarium mitführen sollte sowie die artifizielle Schlange und natürlich die AP 2000 ®, mit der wir einiges vorhatten. Ihre sonstigen Schöpfungen sollte sie zurücklassen, deaktivieren und möglichst gegen jeden fremden Zugriff sichern. Auf den Einwand der Panagou, man könnte vielleicht auch noch andere ihrer Androiden gut gebrauchen, erklärte sich Basil bereit, wenigstens einen Blick darauf zu werfen.

Anastacia öffnete die Tür des Salons, die in den Garten hinausführte und rief: Protos, Devteri und Tritos, kommt schnell!

Drei Kinder im Alter von etwa zehn oder zwölf Jahren, zwei Jungen und ein Mädchen, kamen gelaufen. Sie trugen etwas altmodisch anmutende Gewänder. Der Reihe nach fielen sie der Panagou um den Hals, als ob sie sie schon länger nicht gesehen hätten.

Cheltenham, der offenbar als sicher annahm, die Drei seien künstlich (auch ihre Namen sprachen dafür: der Erste, die Zweite und der Dritte), befragte sein Gerät nicht, womit er Anastacia einen kleinen Triumph verschaffte. Stolz verkündete sie: Es sind Androiden, aber Ihr famoser Apparat würde es nicht es anzeigen! Basil und ich waren zutiefst beunruhigt. Keine Angst, ergänzte unsere neue Mitstreiterin, der Erfinder der kompensatorischen Technologie ist glücklicherweise unser Freund, den Ihre Berenice vorübergehend bei mir untergebracht hat. Der schlanke junge Mann, der wie auf Stichwort eintrat, wurde als der berühmte Giordano Bruno vorgestellt.

Es ist nicht mein wirkliches Fachgebiet, erklärte er höflich, aber wenn man wie ich auf dem Gebiet gearbeitet hat, das Ihre heutigen Wissenschaftler Stringtechnologie nennen, ist es natürlich ein Leichtes, diesen Apparat zu täuschen. Und da wir ja jetzt alle Freunde sind, setzte Anastacia fort, indem sie Basils Überheblichkeit von vorhin persiflierte, hat niemand etwas vom anderen zu befürchten.

Es stellte sich heraus, dass die Übersiedlung der Panagou und ihres kleinen Hofstaats nach England bereits beschlossene Sache gewesen war, als Cheltenham und ich hierher aufbrachen. Die Walemira Talmai hatte uns lediglich stärker motivieren wollen, indem sie uns das Gefühl gab, das Nötige selbst herausgefunden und vereinbart zu haben. Es zeigte sich dass mein äußerst gewitzter Freund auch jemanden hatte, der ihm über war.

ANASTACIA PANAGOU:
Auf welchem Weg reisen wir, meine Herrschaften?

Basil meinte trocken, er werde uns einen Sonderflug der Royal Air Force organisieren, da er vorläufig genug habe von all der Zauberei. Man solle sich nur unauffällig kleiden und benehmen, um nicht zuviel Aufmerksamkeit auf unser Unternehmen zu lenken: Die braven Jungs, die uns fliegen werden, erklärte unser Chef-Organisator, kommen aus Birmingham oder Manchester und kennen alles Außergewöhnliche nur aus Science-Fiction-Filmen im Fernsehen – dabei sollte man es belassen!

Giordano Bruno wartete mit Basil und mir im Salon, während Anastacia mit den Kindern ging, um sich selbst fertig zu machen und die AP 2000 ® zu holen. Die Schlange war bereits von allein gekommen. Sir Basil, fragte sie höflich, muss es nicht auch ein diesseitiges Pendant zum Tyrannen der Völker der Spiegelwelt geben?

Völlig richtig, war die Antwort, es handelt sich nach unseren Informationen um jemanden, der in England lebt. Er kann uns allerdings aus bestimmten Gründen nichts nützen, denn er wäre höchst anfällig dafür, von diesem Augustus McGregor umgedreht zu werden – man kann ihn nicht statt des bestellten virtuellen Wesens einsetzen. Daraus schloss die Schlange messerscharf, dass es unter diesen Umständen fast besser wäre, ihn von vornherein zu beseitigen.

Cheltenham lachte über diese Bemerkung, ohne dass jemand wusste, warum. Wir beseitigen niemanden so ohne weiteres, erklärte er großartig, während er zum Mobiltelefon griff, eine Nummer wählte und ein Codewort durchgab. Der Lkw, den ich angefordert habe, wird gleich einreffen, informierte er uns dann: Meine Herren, machen wir uns nützlich und bringen wir Miss Panagous Kisten und Koffer vors Haus. Nachdem dies geschehen war, erschienen auch sämtliche Reisebegleiter. Für Überraschung sorgten Protos, Devteri und Tritos, die sich in drei unscheinbare Personen mittleren Alters verwandelt hatten.

ANASTACIA PANAGOU:
(entschuldigend) Man kann sie im Bedarfsfall anders kalibrieren – ich dachte, das könnte ganz nützlich sein.

Zurück auf dem Anwesen war das Erste, was Basil in Angriff nahm, die AP 2000 ® unter Assistenz von diesem Romuald (dem ich übrigens keine allzu freundlichen Gefühle entgegenbringe) und mit Hilfe der Kristallkugel den vier Professoren nachzusenden. Sie sollte sich Mango Berenga zu erkennen geben und unter allen Umständen an deren Seite bleiben, da sie dort früher oder später auf den Tyrannen treffen müsste. Die Gräfin von B. gab der Androidin ein intimes Gefühlserlebnis mit, das sie gegenüber Mango identifizieren sollte. Auch die künstliche Schlange fuhr mit, begleitet von den innigsten Wünschen ihrer Konstrukteurin – wozu auch immer die AP 2000 ® das Artefakt brauchen würde, sie trug es ganz eng am Leib.

Ein Aufleuchten. Kurz war schemenhaft der Rohzustand der Androidin zu erkennen. Und weg war sie…

404

Der sehr ehrenwerte Sir Basil Cheltenham hat die ehrenwerte Miss Charlene Thomson kurz nach seiner Rückkehr nach London geheiratet (sein Organisationstalent war imstande, trotz seiner zahllosen sonstigen Verwicklungen in seinem Pri¬vatleben einigermaßen Ordnung zu halten, wozu neben seinem etwas autoritärem Führungsstil offen gesagt auch einige für ihn günstige biografische Ereignisse beitrugen). Trauung im kleinsten Kreis, keine Stag & Hen Parties, kein Reis- oder Konfettiregen. Zeugen vor dem Superintendent Registrar auf dem Standesamt: Brian für Charlene, Murky Wolf (welche besondere Ehre!) für Sir Basil. Ein Bekanntmachungsevent ist für später geplant, zum Beispiel in Form einer Garden Party auf dem familieneigenen Besitz: Das kann warten, meinte der Bräutigam, aber ab sofort, Dear, soll dich jeder, der dir auf Ihrer Majestät Boden begegnet, als meine liebe Frau sehen! Die beiden Soldaten verdrehten, als sie das hörten, die Augen – als Amerikaner, die schon viel mit Briten zu tun hatten, wussten sie um National- und Standesdünkel, insbe¬sondere in den Kreisen, aus denen Sir Basil stammte. Charlenes Bruder schwor sich, jeden gottverdammten Sohn John Bulls mit einem gezielten Hieb ins Nirwana zu schicken, der seiner Schwester auch nur die geringste Beleidigung zuteil werden ließ.

Nichts von alldem geschah, dank der umsichtigen Vorbereitungen Cheltenhams. Sein Landsitz umfasste 250 Acres in einer hügeligen Gegend Mittelenglands. Das Herrenhaus lag auf einer Anhöhe und war über eine lange Allee zu erreichen. Vor dem repräsentativen Tor die wenigen Bediensteten, die noch aus Basils elterlichen Haushalt stammten, Mrs. Bridget, die Haushälterin, und Menson, der Butler, beide reichlich alt, aber sehr herzlich beim Empfang, dazu noch neueres Personal: eine Köchin, ein Gärtner und zugleich Hausarbeiter, hingegen kein Chauffeur, da dem Hausherrn als aktivem höheren Offizier stets ein Wagen der Army zur Verfügung stand.

Basil hatte Charlene gebeten, sich in London mit Kleidung im britischen Landadelsstil einzudecken, sie auch in die entsprechenden alteingesessenen Geschäfte begleitet und bei der Auswahl beraten. Dementsprechend gut kam sie bei den paar Leutchen auf dem Anwesen an, später auch bei den Bewohnern des nahen Dorfes, für die der Gutsherr samt seiner Gemahlin noch so etwas wie höhere Wesen darstellten.

Als sie flankiert von Hausdame und Butler in der Halle die große Freitreppe nach oben stiegen, kamen sie unweigerlich am Gemälde vorbei, von dem die verstorbene Lady Cheltenham mit stechendem Blick auf ihre Nachfolgerin herabsah. Charlene erkannte sie sofort, obwohl Basil sie bloß erwähnt, keinesfalls beschrieben hatte. Du hast sie nicht vielleicht beseitigen lassen? fragte die neue Lady leise. Basil lachte gedämpft und antwortete ebenso unhörbar für die Bediensteten: Nicht doch, Darling, einen Mord im Milieu der Geschlechtspartner hast du mir absolut voraus!

Ich kenne den Boss schon so lange, erklärte ich dem neugierigen Brian, als wir in gebührendem Abstand diese Szene beobachteten, dass ich seine Frau noch erlebt habe. Nebenbei gesagt, pflegte sie bei meinen fallweisen dienstlichen Besuchen durch mich hindurchzusehen, als ob ich Luft wäre, aber so unnahbar sie sich gegenüber Dritten gab, so zugänglich war sie gegenüber ihrem Mann, wenn auch ihre körperlichen Zuwendungen mit der einen oder anderen Verbalinjurie gewürzt waren. Ich wusste die Details des Cheltenham’schen Intimlebens von der bezaubernden Miss Tyra, damals Zofe der Lady, die gar nicht genug ausplaudern konnte, nachdem sie erst einmal begriffen hatte, wie viel Spaß mir ihre Geschichten machten und wie viel Spaß sie mit mir hatte, wenn ich mich wohl fühlte. Übrigens wirst du das Mädel kennenlernen, denn sie ist jetzt Chefin des Dorfwirtshauses, wo wir uns hin und wieder die Zeit vertreiben werden, denn so viel kann ich dir jetzt schon sagen – für uns wird’s hier mindestens so langweilig wie in Ramstein.

Die damalige strikte Abstinenz legten wir uns beide nicht mehr auf, nachdem wir auf Anraten Cheltenhams den Dienst bei Uncle Sam quittiert hatten und ganz in Sir Basils persönlichen Stab eingetreten waren. Glücklicherweise befand sich auf dem Anwesen eine Sporthalle, wo wir unseren täglichen Kampf gegen Bier & Co führen konnten, wenn nicht der Boss gerade dasselbe vorhatte.

BRIAN:
Und was war jetzt mit dem ehelichen Vollzug von Cheltenham mit seiner Nummer 1?

Ich denke, in seiner ersten Ehe hat Sir Basil nicht gerade an extremem erotischen Kitzel gelitten. Die Anfangsphase war geprägt von vernünftiger Lei¬denschaft, gefolgt von einer langen zweiten Phase, in der die körperliche Beziehung für gewöhnlich jene Abende beschloss, an denen man gut gegessen, getrunken und in angenehmer Gesellschaft geplaudert hatte. Die dritte Phase schließlich brachte den Vollzug, wie du es richtig nennst, fast nur noch als selten gewordenen Akt gegenseitiger Gefälligkeit. Dazu kamen noch die häufigen berufsbedingten Absenzen des Stabschefs, an die sich seine Frau zusehends gewöhnte, sodass es ihr am Ende lieber gewesen wäre, er hätte sich an Miss Tyra gütlich getan, aber weder er selbst noch die kleine Mieze waren daran interessiert.

BRIAN:
Die Frau, die einmal Lieutenant Murky, den bösen Wolf mit seiner nimmermüden Rute, genossen hat, will keinen anderen mehr – ausgenommen meine Schwester, die sich aus deinen Fängen wieder befreit hat.

Mit ihren Anlagen ist sie eben nichts Dauerhaftes für einen Jungen wie mich, sie ist zu Höherem geboren (das sage ich ohne Zynismus, wohlgemerkt), und außerdem wollte ich nie heiraten. Ich gehe meinen einsamen Weg, gesäumt von unvollendeten Abenteuern, und eines Tages werde ich selbst abseits der Straße im Sand verlaufen. Also was ist – werfen wir unsere Sachen in die Zimmer und dann auf ins King Charles‘ Inn, wo die gute alte (na ja, ganz jung ist sie wirklich nicht mehr) Tyra uns erwartet?

Weißt du übrigens, was sie sagen wird, wenn sie mich sieht? Auwei, wird sie sagen, jetzt geht das schon wieder los! Denn ich brauche nichts zu tun, ihr nicht nachzulaufen, allein, dass sie mich dort oben am Hügel in meinem Zimmer weiß, lässt ihr keine Ruhe. Sie ringt mit sich, ruft sich zum wiederholten Mal in Erinnerung, dass sie längst eine gut verheiratete Frau ist, dass ihr Mann als mit Abstand reichster Dorfbewohner für sie die bestmögliche Partie bedeutet hat, die man nicht leichtfertig aufs Spiel setzen sollte, aber was nützt’s: Das Motiv ist da, der Wille zur Tat – und vor allem die Gelegenheit. Schließlich kennt sie als ehemalige Zofe das Gebäude in- und auswendig, hat wahrscheinlich sogar noch den einen oder anderen Schlüssel. Niemand wundert sich, wenn sie dort oben auftaucht, im Gegenteil, die gute Mrs. Bridget sagt: Ah, die liebe Tyra, auch wieder einmal bei uns? Kommen Sie doch in die Küche auf eine Tasse Tee vorbei, wenn es Ihre Zeit erlaubt! Menson strahlt ohnehin, wenn er Tyra sieht: Können Sie sich noch erinnern, Miss, ich meine Mrs. Tyra, wie Sie mir immer mit der Hand über die Glatze gestrichen haben, sodass ich ganz rot wurde? Und sie tut’s natürlich gleich wieder (genau das hat der alte Fuchs bezweckt), und er glüht im Gesicht wie ein Stopplicht.

BRIAN:
King Charles‘ Inn – toller Kasten für dieses kleine Nest! Und viel Betrieb!

Die Leute kommen von weit her, nicht weil der Wirt so nett oder das Bier so gut ist, sondern weil Tyra jedem Typen hier das Gefühl gibt, ganz intim mit ihr zu sein, und weil sie es auf der anderen Seite schafft, selbst der misstrauischsten Frau, die mit ihrem Mann hier reinschneit, das sichere Gefühl zu geben, dass dies nicht wahr ist.

BRIAN:
Bis auf jene, wo es zutrifft!

Armer Irrer, der du bist – Tyra ist nicht die Dorfhure! Wenn du das suchst, das haben wir hier auch. Aber die Wirtin – die will erobert werden.

Hallo, Tyra! rief ich quer durchs Lokal, als wir eintraten. Ein Leuchten ging über ihr Gesicht, als sie mich sah. Brian machte nur eine müde Handbewegung, ich vermute sehr, seit dem Tag auf Lady Pru’s Besitz (ich hatte ihm natürlich im Sinne von Sir Basil nachspioniert) dachte er nur noch an Berenice. Es ist ein Jammer mit den jungen Kerlen, sie verschwenden sich oft an eine ihnen stets verschlossen bleibende geistige oder körperliche Üppigkeit, und manche finden da ihr ganzes Leben nicht mehr heraus. Wenn das stimmte, was ich vermutete – dass er nämlich in seinem Innersten ernsthaft daran arbeitete, der Walemira Talmai nachzueifern auf ihrem Weg der Dekonstruktion ihrer normal-menschlichen Persönlichkeit und ihrer Wiedererrichtung als Magierin –, dann hatte er einiges vor sich: Die unwirkliche Chance, Berenice am Ende doch auch einmal physisch nahe zu kommen, erschien mir geradezu als Absurdität.

Grafik 4.2

Hallo Wolf! rief Tyra fröhlich, welche Schweinereien führen dich wieder einmal in die Gegend? Im Näherkommen berührte sie mich nicht, und ich verstand – ihr Mann hängte hier irgendwo rum. Aber ganz leise fragte sie: Das übliche Zimmer? Nur für alle Fälle! – Ich weiß schon, flüsterte ich zurück (nur Brian konnte es hören), du hast natürlich nicht gewisse Absichten!

In einer Ecke des Lokals bemerkten wir plötzlich Häuptling Yellowhawk. Er saß bei einem Glas Feuerwasser, deutete kurz den indianischen Gruß an und fuhr dann blitzschnell mit der flachen Hand über den Mund: sein Zeichen, dass wir einander nicht kennen sollten.

Übrigens: Tyra kam noch in derselben Nacht. Ich erwartete sie sehnsüchtig, obwohl ich natürlich nicht sicher sein konnte, dass sie es schaffte. Eine ganze Weile war ich im Zimmer auf und ab gegangen, unfähig, irgendetwas anderes zu tun als zu warten. Dann hatte ich mich aufs Bett geworfen, was meinen Zustand noch verschlimmerte. Bilder, ja ganze Bildstreifen zogen in meinem Kopf vorüber, und immer war es Tyra, ihre ganze Gestalt oder ein kurzes Aufblitzen eines Details, das sich bei früheren Gelegenheiten eingeprägt hatte: eine Locke, die sich über ihr Auge gelegt hatte, ein BH-Träger, der über die Schulter geglitten war, oder es sah ein Stück Blöße oberhalb ihres Strumpfes hervor. Weiß und schwarz, kontrastreich wie nur irgend denkbar, sah ich ihr schwarzes Haar und ihre weiße Haut vor mir, so intensiv, dass ich der Illusion erlag, mit meinen Fingerspitzen bereits auf Entdeckungreisen auf uns in ihrem Körper zu sein.

Ich durchlebte Tyra als Verheißung, ich empfand eine derartige Anspannung, dass ich mir für den Fall, dass sie nicht die Erfüllung bringen würde, den Gnadenschuss geben wollte.

Aber da war sie auch schon: ein fast unmerkliches Geräusch an der Türe, eine leise abgestellte Tasche, das sachte Rascheln fallender Kleidungsstücke. Schon war sie neben und über mir, und ihre Hand fand gleich die Stelle, wo ich sie am dringendsten benötigte, während unsere Lippen einander zur stummen Begrüßung berührten.

DER MOMENTANE ERZÄHLER:
Gerade noch rechtzeitig geschafft: Es gibt Gestalten, die machen einem alles nach, und ich bin mir durchaus nicht sicher, ob man das als einfallslos brandmarken oder als lernwillig belobigen soll. Jedenfalls zieht Murky Wolf plötzlich die Nummer mit dem Telefon ab. Mitten im genüsslichen Ritordando (anders als ich wusste er womöglich nicht, was das ist, hielt es vielleicht für eine ausgefallene italienische Speise), also in seinen Worten mitten im besten Bumsen, während Tyra in leises Stöhnen verfiel, reichte er ihr den Hörer: Ruf deinen Mann an! befahl er ihr heiser, im Rhythmus fortfahrend und sogar wieder etwas beschleunigend. Tyra war aus anderem Holz als DDD – ohne sich im Genuss stören zu lassen, zischte sie nur: Was soll der Blödsinn? und erst unter seinem brutalen Griff, der anders war, als alles was sie bis dahin von ihm erlebt hatte und sie, die normalerweise keine Furcht kannte, ein wenig besorgt machte, gehorchte sie. Du, sprach sie dann möglichst beherrscht ins Telefon, ich wollte mich nur melden, damit du dir keine Sorgen machst – und dann (als sie die Liebeslaute aufgrund Murkys immer rascherer Gangart nicht mehr unterdrücken konnte): Ich sehne mich so sehr nach dir – weißt du eigentlich, wie lange wir nicht mehr – aber wenn ich zurück bin – dass wir sofort miteinander schlafen – ja, auch das mache ich für dich – ich tu, was du willst – ahhhhh!

Mein System, die bittere Sehnsucht nach bestimmten Damen zu bekämpfen, ist wirklich sehr effizient, und ich weiß gottverdammt auch, dass jenes Ding kein Nudelauflauf ist und kann mir sehr gut vorstellen, was ein Ritardando alla Albinoni (mein Lieblingskomponist, neben Bob Marley!) in einem Frauenkörper auslöst. Wenn wir Zeit haben, erzähle ich dir vielleicht einmal von Franca Caravaggiolo.

BRIAN:
Hattest du eigentlich je irgendwelche Gewissenbisse, Murky? Du weißt ja, ich werde diese Plage nicht los – es ist als ob ich einen ganzen Sack Flöhe mit mir herumschleppte.

Sicher gibt es echte Gewissensbisse, wenn man jemandem gegen seinen ausdrücklichen Willen eine Verletzung zufügt. Darüber hinaus kann es dort keine Schuld geben, wo die Mechanik des äußeren Daseins waltet. Gewöhn dir endlich ab, Unpersönliches für persönlich zu halten!

BRIAN:
Dienst ist Dienst, meinst du? Befehle ausführen, denn ein Befehl kann nie ganz falsch sein, und wenn, steht es mir nicht zu, darüber zu urteilen?

Wie du es in der Sonntagsschule gelernt hast: Wenn die Posaune erschallt, musst du aufbrechen! Genau so ist es mir an jenem Abend gegangen. Wer weiß, wie lange Yellowhawk unbeweglich hinter dem Vorhang gestanden war. Als Tyra und ich erschöpft auf dem Bett lagen – ich für meinen Teil war nicht mehr Herr meiner Sinne –, glitt der Häuptling geräuschlos an uns heran und hielt uns beiden den Mund zu, um uns am überraschten Schreien zu hindern. Es ist Zeit, Little Wolf, flüsterte er: Und auch Sie, Mrs. Tyra, müssen jetzt gehen. Fahren Sie tatsächlich dorthin, wo ihr Mann Sie vermutet – zu Ihrer kranken Schwester mit ihren vier Kindern oder was immer Sie zu Hause erzählt haben. Der Große Geist möge Sie bewahren.

405

Ich berichtete Heather von meinem Besuch bei Franca & Filiberto. Es war seitens meiner Frau kein professioneller Ehrgeiz mehr, der sie veranlasste, mich nach den beiden sehen zu lassen, nur ein wenig Neugier und die Sorge, Franca sei in Gefahr, weil ihre Freundin Vera liqidiert worden war (obwohl: was hätte ich schon zu ihrem Schutz tun können?).

Franca & Filiberto.

Franca & Fili (nur wenn sie wütend auf ihn war, und das kam eigentlich sehr selten vor, nannte sie ihn Berto).

Die verbale Kommunikation der beiden war sehr reduziert: sein Italienisch war nicht so toll, aber noch besser als ihr Englisch, das sich auf die unsäglichen Worte beschränkte, die sie als Gespielin der Geschäftspartner ihrer früheren Herrschaft gehört hatte.

Mein Tschingg, schmeichelte Franca, oder my Ching, my King (das hatte er ihr beigebracht, weil er es gerne hörte). Oder sie nannte ihn Diciotto-mio nach dem Maß, das sie ihm eines Tages genommen hatte. All das erzählte sie mir, dem Mann ihrer amerikanischen Wohltäterin, spontan und freimütig.

Sie schien Filiberto tatsächlich gezähmt zu haben. So ein US-Spezialagent mit all den tödlichen Reflexen, die man ihm in der Ausbildung beibringt, ist eigentlich kein Mann zum Verlieben, aber dieser Dallabona war natürlich noch so weit Italiener, dass er wie Wachs in den Händen seiner Madonna wurde, die ihm alles, was er sich in seinem Leben je erträumt hatte, bieten konnte. Da ging es beileibe nicht nur um Materielles – klar kaufte sie ihm die goldene Rolex (die er dann nie vom Handgelenk nahm) und den anderen Kram, aber das begründete seine Zuneigung weniger als was sie sexuell für ihn bereit hatte: für Franca war’s der angenehmere und jedenfalls der tatsächlich freiwillige Teil jener früheren Überschreitungen, für Fili aber bedeutete selbst dieser Ausschnitt ihrer Erfahrungen eine sensationelle neue Welt.

HEATHER SKELTON:
Dabei sah sie ja ein wenig bieder aus, die gute Caravaggiolo, aber das täuschte, wie wir wissen.

Ein Mittelgebirge mit dem Innenleben eines Vulkans, und an dieses Feuer trat genau im richtigen Moment Fili und schmiedete das Eisen, solange es heiß war. Wie sie ihn liebte, wenn er einfach für sie kochte, diese wunderbaren Speisen, dessen Zubereitung seine Mamma ihn gelehrt hatte, um die Familientradition selbst in Ermanglung einer Tochter nicht aussterben zu lassen.

HEATHER SKELTON:
Da wird Franca merklich an Gewicht zugelegt haben…

… ohne deshalb unförmig zu werden – vielmehr bekam sie genau jene Tal- und Hügelsilhouette, auf die Fili ganz scharf war. Er selbst nahm ja selbst in dieser Zeit des Drohnendaseins (sein eigentlicher Zweck, nämlich Franca zu beschützen, wurde vorerst nicht herausgefordert) kein Gramm zu, dank regelmäßiger Workouts in der Kraftkammer, die ihm Franca im Souterrain der Villa liebevoll eingerichtet hatte. Sie selbst genoss es, ihm bei seinen Übungen zuzusehen, auf einem bequemen Fauteuil sitzend, ohne jemals selbst irgendeines der Geräte zu pro¬bieren. Sie hatte ihn dazu überredet (sie waren ohnehin ganz unter sich!), auf seine Sportkleidung zu verzichten, und so trug er allenfalls einen breiten Rückenstützgürtel oder bei Bedarf ein Suspensorium, worüber sich die Zuschauerin sehr erheitern konnte.

HEATHER SKELTON:
Er war ja auch ein schnuckeliges Kerlchen, wenn ich mich richtig erinnere – der strammste in meiner kleinen operativen Eingreiftruppe bei CLONSCO, aber von diesem Verein solltest du gar nichts wissen, Gus. Wahrscheinlich wird er heute doppelt totgeschwiegen, nachdem am Ende alles schief gelaufen ist.

Irgendwie beneide ich diese Burschen, wie sie nur unsere Army hervorbringen kann – funktionieren in jeder Lebenslage einwandfrei und zuverlässig, lassen andere für sich nachdenken, und vor allem: die erlebte Zeit erscheint bei ihnen synchronisiert mit der gelebten Zeit. Dadurch sind sie auch imstande, alles was auf sie zukommt, schlicht und einfach zu akzeptieren.

HEATHER SKELTON:
Ich erinnere mich, wie er die Frau eines reichen Japaners verführt hat. Lange Zeit blieb’s geheim, obwohl die gute Sharon nichts ausließ, was eine Amerikanerin der Oberschicht, auch wenn sie ins Ausland geheiratet hat, nicht tun darf. Dann plötzlich Skandal auf allen Linien: sie schmuggelte für einen von Filibertos Freunden Kokain aus Hongkong in die Staaten – dafür kannst du locker zwölf Jahre Knast ausfassen! Das Renommé ihres Mannes wurde äußerst beschädigt (mehr als durch das hartnäckige Gerücht, er gehöre der japanischen Mafia an), weil sie das Delikt in seiner Begleitung begangen hatte. Was nützten ihm da seine Beziehungen, seine großzügigen Spenden für die Republikaner?

Und der Dallabona bekam von all dem nichts ab?

HEATHER SKELTON:
Ich konnte ihn da unbeschadet rausholen, bevor er ins Auge des Hurrikans geriet – glücklicherweise hatte er selbst keine Drogen konsumiert. Es war nicht leicht, das kannst du mir glauben, aber damals hatte ich die Macht, so etwas zu bewirken: Er bekam durch mich sein „Cleared of any Wrongdoing“.

Du warst eine mächtige Frau, Heather!

HEATHER SKELTON:
Und du bist ein prächtiger Mann, Gus. Das ist mir jedenfalls wichtiger, wenn ich dich in mir spüre, als wenn du ein aktiver Drei-Sterne-Admiral wärst. Jetzt bin ich jedenfalls eine glückliche Frau, und das ist besser als wenn es zeitlich umgekehrt gewesen wäre.

Bei der Frau von Seiji Sakamoto scheint Filiberto jedenfalls etwas gelernt zu haben, was wiederum für Franca attraktiv war, nämlich ein wenig zuwarten zu können, mehr Wert auf ein ausgedehntes Vorspiel zu legen und – vor allem – jeder einzelnen intimen Begegnung eine Art Story zu geben.

Franca war mittlerweile um die fünfunddreißig, und wer sie aus dem Haus treten sah, in dem sie ihre Stadtwohnung hatte…

HEATHER SKELTON:
… richtig – die gab es ja auch noch! Die Kleine war tatsächlich abenteuerlich reich geworden durch die unfreiwillige Dotation der beiden ehemaligen Arbeitgeber…

… wenn sie jedenfalls aus dem Haus trat, in einem gut sitzenden smaragdgrünen Kostüm, das ideal mit ihrem sehr dunklen glänzenden Haar kontrastierte, perfekt geschminkt, Schuhe und Tasche abgestimmt in einer unauffälligen Cognac-Farbe, an Schmuck nur einige dezente Stücke (obwohl man es sich wirklich leisten konnte), bot sie das Bild einer leitenden Angestellten oder Geschäftsfrau.

HEATHER SKELTON:
Die sie letztlich auch ist, mit all den Firmen, die ihr geblieben sind, nachdem man den dubiosen Teil des Ralph & Hardy’schen Imperiums liquidiert hat.

Wenn sie in diesem Outfit zurückkehrte, durfte Fili nicht wild sein, sondern musste ihr ganz artig den Kaffee in den Salon bringen, und sie trank in kleinen Schlucken, entspannte sich langsam, lehnte sich dann vielleicht im Sessel zurück, während sie aber diese Ungezwungenheit sofort wieder wettmachte, indem sie ihren Rocksaum über die Knie zog.

Fili, der mit vorgebeugtem Oberkörper ihr gegenüber saß (er brauchte jetzt weder Kaffee noch irgendetwas Härteres, dachte im Moment weder ans Essen noch ans Trinken), war halb wahnsinnig vor Gier – allein, er wusste, so schnell ging’s in dieser Situation nicht, da musste er erst einmal reden und sich dabei noch gut überlegen, was er sagte.

Ihn schwindelte. Aber es war ein angenehmes Schwindelgefühl, aus dem seine Worte wie von selbst flossen: Da er nicht befürchten musste, sich eine abweisende Antwort zu holen, konnte er mit etwas Glück den Zugang zu immer neuen Paradiesen öffnen. Man kann, begann er sein Plädoyer, als reiche unabhängige Frau unerwartete Dinge tun, sogar solche, die anderen Menschen unbehaglich wären, ja die einem anderen die Sinne rauben würden.

HEATHER SKELTON:
Da wird Franca ihn angestarrt haben wie ein Naturschauspiel, eine Darbietung voller Überraschungen, eine hypnotisch wirkende Inszenierung des Seienden!

Nimm die Beine auseinander, ganz wenig nur, wie unbeabsichtigt, sagte Fili gefährlich leise. Ich könnte jetzt, setzte er fort – da überkam es sie bereits als Schauer, ohne dass er nur die geringste Andeutung über den Inhalt seiner möglichen Handlungen verloren hatte. Ich könnte – aber ich will noch nicht. Ich bin der Priester eines bösen Kults, der dich unwiderruflich auf eine neue Bewusstseinsebene heben wird.

HEATHER SKELTON:
Den haben wir allerdings weit unterschätzt! War womöglich Mitglied dieses Ordens – du weißt nichts davon? Sollte sich das nicht bis Diego Garcia rumgesprochen haben, diese Geschichte mit dem Orden der Orangenblüte?

Weder war ich mir sicher, ob Fili dem Orden angehörte, noch darüber, ob ich mein Wissen über die fahle Brüderschaft meiner Frau anvertrauen sollte. Ich entschied mich, es für diesmal bleiben zu lassen. Ich glaube nicht, meinte ich scheinbar harmlos, dass der Dallabona irgendwelchen Vereinen angehörte, ja ich glaube nicht einmal, dass er jemals vor jener Szene derlei Dinge angesprochen hat. Es war ihm nur einfach klar geworden, wie er Franca zu einem extrem faszinierenden Objekt seiner Lust machen konnte, indem er ihre Phantasie beflügelte: Die beiden Performance-Künstler hatten (das schließe ich aus dem, was du mir von ihnen erzählt hast) bei ihr den Grundstein dazu gelegt.

HEATHER SKELTON:
Und bei ihm hatte diese Sharon Sakamoto, die jetzt ziemlich einsam im Gefängnis sitzt, wenn man von einigen lesbisch an¬gehauchten Mit-Insassinnen absieht, die Basis geliefert. Niemals durfte er sich ihr ohne Inszenierung nähern, manchmal ließ sie sich dazu herab, eine solche zu veranstalten (da musste sie schon extrem große Lust auf ihn verspüren), weitaus öfter war er gezwungen, sich selbst etwas einfallen zu lassen, denn – konstatierte Sharon – langweilig ist ohnehin der Japaner, wozu einen zweiten von derselben Sorte um mich haben? Die Beziehung zwischen ihr und ihrem Mann war an jenem Tag ausgeglüht, als er sie gezwungen hatte, mit ihm zu einer geschäftlichen Zeremonie zu fahren, obwohl ihr Kind schwerkrank zu Hause lag und unter Aufsicht der Pflegerin zurückgelassen wurde. Noch in der gleichen Nacht war der Junge verstorben, ohne Vater und vor allem ohne Mutter in der anonymen Gegenwart einer angemieteten Nurse. Zuerst lebte Sharon wie versteinert, dann erwachte sie von Neuem zu einem harten zynischen Leben, das von Alkohol und Beziehungsexzessen geprägt war, vor allem von dem ständigen Bestreben, ihren Mann zu demütigen und vor seinen Geschäftspartnern das Gesicht verlieren zu lassen. Selbst die anfängliche Diskretion mit Filiberto diente nur dem Zweck, die Sache am Ende umso gründlicher und eruptiver auffliegen zu lassen. Was sie plante, war eine Szene, in der sie auf den Dallabona schoss, ohne ihn freilich zu treffen, denn sie war seit ihrer Kindheit in Virginia eine ausgezeichnete Schützin. Allerdings durchkreuzte die Drogengeschichte dann ihre Pläne, aber als Skandal war’s ein vollkommener Ersatz.

Da haben wir uns anscheinend viel erspart, Heather…

HEATHER SKELTON:
… zumal die Vereine, denen wir beide angehörten, fast niedlich erscheinen im Vergleich zum Yakuza-Klan, dessen Oyabun Sakamoto war, ausgestattet mit dem Recht auf bedingungslose Unterordnung und Loyalität bis in den Tod. In dieser Welt, in der Frauen jenseits ihrer traditionellen biologisch-sozialen Funktionen nichts bedeuten, benahm Sharon sich wie der legendäre Elefant im Porzellanladen, aber zu Beginn ließ ihr Mann sie gewähren, denn sie bedeutete als blonde weiße Sklavin, die er sich auf dem amerikanischen Heiratsmarkt gekauft hatte, einen hohen Prestigegewinn – nicht bloß einer seiner Unterführer wurde im Laufe dieser ersten Zeit von ihm persönlich gezüchtigt, wenn er auch nur den Mund zu einer kritischen Frage öffnete. Bald schlug aber seine Stimmung um, als nämlich seine Frau keinen Gefallen mehr an seinen ausgefallenen Sexualritualen fand (und das hing nur indirekt mit dem Tod ihres Kindes zusammen – entscheidender dafür war, dass ihr von einem Tag auf den anderen vor den schaurigen Tätowierungen ekelte, die seinen ganzen Körper mit Ausnahme von Kopf, Hals und Händen überzogen). Sakamoto begann überdies zu fürchten, dass Sharon irgendwann die dunkle Seite seiner Geschäfte aufdecken könnte, die aus Prostitution, Glückspiel, Waffenhandel, Kreditwucher und dem Handel mit Aufputschmitteln bestand.

Umso mehr wundert es mich, dass du den Dallabona da heil herausgebracht hast!

HEATHER SKELTON:
(zögernd) Nun, wir hatten da einige geheimdienstliche Deals mit dem Japs laufen. Im Prinzip war es so, dass wir dort, wo es uns nicht unmittelbar betraf, einfach wegsahen und er uns dafür – als einflussreicher Funktionär der Liberal-Demokratischen Partei – laufend über das politische Innenleben von Tokio berichtete. Ganz zu schweigen von der stabilisierenden Wirkung, die er und die übrigen Klanchefs auf die Situation in Japan hatten: Sie überzogen das Land mit einer gewissen Lethargie, die es uns ökonomisch nicht mehr gefährlich werden ließ, ohne dass es deshalb ideologisch von uns wegdriftete. Kein Problem, Filiberto loszueisen – Sakamoto reichte es in diesem Fall schon, dass er den Liebhaber seiner Frau nicht mehr vor Augen hatte.

Und im Handumdrehen landet der Dallabona mit Zwischenstopp bei dir in den Armen der Caravaggiolo. Was diese mir noch erzählen sollte, konnte ich nur mühsam und über Umwege aus ihr hervorlocken. Haben Sie wieder einmal von Vera gehört? – eine so direkte Frage wäre schon zu viel gewesen.

Ich sprach die öffentlichen Performances an, die Ralph und Hardy inszeniert hatten, aber es stellte sich zu meinem Leidwesen heraus, dass sie fast keine davon kannte – doch, da erinnerte sie sich an etwas. Ein einziges Mal hatten die Herren sie zu einem Event mitgenommen, um ihr vorzuführen, wieviel Spaß die Qual bereiten konnte: Vera, bereit für Untergriffe, Wachstropfen, Nadelstiche (Franca musste die Augen schließen, so übel wurde selbst ihr davon, die nicht gerade von der Courtoisie der Männer verwöhnt war).

Vera wohnte eine Zeitlang bei Ralph und Hardy. Franca, die Hausdame, sorgte dafür, dass ihr Gast es bequem hatte, genug zu essen bekam und ein wenig normale menschliche Ansprache. Die beiden freundeten sich an, allerdings wusste keine von der anderen, dass dieselbe freundliche Dame von einem ihnen unbekannten Apparat namens CLONSCO sie für Undercover-Operationen angeworben hatte. Franca wusste insbesondere nicht, dass Vera auf dem Sprung nach Wien war, da ihr Engagement bei Ralph und Hardy seinem Ende zuging. Vera reiste eines Tages einfach ab – man hatte ihr eingeschärft, nicht zu sagen wohin.

Franca erfuhr daher auch nicht, dass Veras Job im Magischen Theater in ein Verhältnis mit dem Direktor mündete, und schon gar nicht, was danach noch geschah.

HEATHER SKELTON:
Wir wissen somit, dass Franca nichts ausplaudern kann.

406

Kann man das Leben in deiner Welt auch aus der Nähe besichtigen? schmeichelte Mango Berenga, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass niemand zuhörte, auch nicht der unheimliche McGregor. Beim Commander stellte sie ihrerseits eine gewisse Entspannung fest. Ist er wirklich weg? wagte sie aufs Geratewohl die Frage. Sie erfuhr, dass der merkwürdige Bekannte des Commanders eine längere Reise angetreten habe – aller Wahrscheinlichkeit hinüber in das andere Universum, um dort irgendwelchen Geschäften nachzugehen.

MANGO BERENGA:
Bevor du weitererzählst, Geneviève – ganz bringe ich das noch immer nicht auf die Reihe, dass du in mir bist und ich in dir.

Wir sollen auch gar nicht zuviel darüber nachdenken, und wenn du es aus deinem zeitlichen Vorsprung nicht erklären kannst, wie könnte ich dann mehr haben als eine vage Vorstellung von Seelenwanderung, genährt durch eine zwar ein wenig hilfreiche, aber doch eher kryptische Bemerkung der Walemira Talmai.

MANGO BERENGA:
Nicht so laut, nicht so offensichtlich und keine Namen bitte! Wir wissen nicht, wie weit sie mit ihrer mentalen oder neuro-elektronischen Technologie sind! Ich soll also den ziemlich unübersichtlichen Parallel-Biographien, die ich bereits jetzt besitze und ununterbrochen koordinieren muss, noch eine weitere hinzufügen: neben jener Mango, die über viele Jahre hinweg in Trance die Geliebte des falschen Commanders gewesen ist und dies womöglich auch bleibt, sooft sie noch hierher zurückkehrt, wollt ihr eine andere, die sich ihm (euer aller Willen ergeben) bewusst und in freier Entscheidung an den Hals wirft, um ihn und seine Spiegelwelt auszuspionieren?

Die Hintersaßen ihres Bewusstsein, vor allem Berenice und ich, überredeten sie schließlich, genau das zu tun (irgendjemand von uns verstieg sich überflüssigerweise zu der Bemerkung: genieß es wenigstens, wenn es schon sein soll – er dürfte ja kein unattraktiver Geselle sein, dein Commander, nach allem was man hört!). Und so ließ es Mango nach langer Zeit, wie ihr schien, wieder zu, dass seine elegante Gestalt ihr näher trat als unbedingt nötig, und sie fasste ihm ihrerseits an den Haaransatz, reckte sich empor und flüsterte ihren Wunsch, eine Fahrt nach drüben zu unternehmen.

MANGO BERENGA:
Der Appell an seine Position als Mann und als Ritter…

… als Mann mit musischen Begabungen und als Ritter mit romantischen Neigungen…

MANGO BERENGA:
… jedenfalls verhallte mein Appell am Ende nicht ungehört. Dafür werde ich ungefähr 100 Vorschriften verletzen, brummte er zunächst zögernd. Er sah mich offen an: Und was machen wir mit Augustus McGregor? Wir werden ständig unsere Spuren verwischen müssen – ich frage mich, wie du da auf deine Rechnung kommen willst. Aber einerlei, meinte er schließlich zustimmend – verdient hast du es dir längst, und in unserer Branche bekommt man eben nichts ohne Gegenleistung, meine kleine Doppelagentin. Mir lief es heiß und kalt über den Rücken: Ihm war also mehr oder weniger klar, was da ablief, und ich hätte folglich niemals meinen Willen durchsetzen können, wenn er nicht ein Mindestmaß an konspirativem Einverständnis aufbrachte, mehr noch – wenn er im Innersten nicht ohnehin längst dem Wunsch nachhing, den Mächtigen der anderen Realität zu schaden.

Tatsächlich bestand die Reise des Commanders mit Mango Berenga aus einer Kette von Regelverstößen: Zurücklassen der Station unter lediglich virtueller Führung, ohne die Mitarbeiter über den wahren Sachverhalt zu informieren (dass sie nämlich von einer Art Autopilot dirigiert wurden); weiters Orts- und Zeitveränderung einer Militärperson ohne vorherige Start- und Routengenehmigung, will heißen unter missbräuchlicher Anwendung von Geheimcodes, die nur für Notfälle eingerichtet waren; Mitnahme einer Außenstehenden (die überdies der falschen Seite angehörte) auf einem ärarischen Fahrzeug – eigentlich konnte man jeden einzelnen Schritt dieses Abenteuers als schweres Vergehen des Commanders interpretieren, was ihm in Summe die schlimmste aller in der Spiegelwelt zugelassenen Strafen einbringen musste, sollten er und seine – verzeih, Mango! – Geliebte erwischt werden.

MANGO BERENGA:
Nicht mehr und nicht weniger als seine wirkliche Geliebte war ich in diesem Moment, denn auf dieser äußerst langweiligen Parabel, die uns von der Station zu dem Ort führte, den mein Begleiter als Sternentor bezeichnet hatte, konnte man eigentlich nur mit sinnlichen Aktionen das seelische Gleichgewicht behalten. Obwohl uns parapsychische, das heißt schnellere Transportmittel zur Verfügung gestanden wären, mussten wir, um nicht allzu viel Staub aufzuwirbeln, auf die altmodische Art reisen. Zu meiner Überraschung stellte sich dabei heraus, dass in beiden Welten bei dieser quälend eintönigen Fortbewegung ein unkonventioneller sexueller Umgang der Passagiere empfohlen wurde. Zwar war es mit Keyhi Pujvi Giki Foy Holby (das ist der Name des Commanders in seiner Heimatsprache: er bedeutet so etwas wie Schlangen-Löwe-gestern-heute-morgen) durchaus etwas Anderes, aber eine Zeitlang machte ich mir wohl vor, dass ich es mit einem ganz Fremden unter diesen Umständen ebenfalls getan hätte.

Durchsetzt war die Reise überdies mit philosophischen Diskussionen und – nicht zu vergessen – mit Sprachunterricht für Mango, denn sie musste wenigstens oberflächliche Kenntnisse des Idioms haben, wenn sie in die andere Realität kam. Das stellte übrigens den zweitschwersten Regelverstoß des Commanders dar (der größte stand noch bevor, nämlich die Durchquerung des Sternentores mit einer Jdoku Jzbumahuwu, einer Ausländerin).

MANGO BERENGA:
Ich lernte als erstes „Juju Kihamokxi Toto“ – „Ich liebe Dich“, das war Keyhi Pujvi besonders wichtig, dass ich es ihm in unseren intimen Stunden in seiner Sprache sagen konnte, und ich sagte es, schon wegen der exotischen Wörter, auch wenn ich es nicht ganz so empfand wie er es sich vielleicht erhoffte. Ich verstand, dass es äußerst schwierig für mich sein würde, diese Sprache auch nur in Ansätzen zu lernen: Jdoku Jzbumahuwu, erklärte mir der Commander lächelnd, enthält ein verstecktes Kompliment, denn es bedeutet „Fremde schöne junge Frau“, während „Fremde Frau“ einfach nur Jdoku Vuvu hieße.

Die beiden führten übrigens auf ihrer Reise die vier Professoren mit, die – obwohl von McGregor sehnlichst erwartet – erst nach dessen Abgang von der Station eingetroffen waren: heiter und freundlich wie zuletzt auf der Erde in einer anderen Zeit, unter dem Einfluss von Psychopharmaka, vergleichbar jenen, die schon Don Julio appliziert hatte. Der Commander pries das Quartett als Geschenk des Himmels, denn unter den gegebenen Umständen würden die Vier ein wertvolles Pfand für sein und Mango Berengas Überleben darstellen. Seine Begleiterin verstand die Tragweite dieses Gedankens erst, als er ihr eröffnete, was man im anderen Universum mit den professoralen Fähigkeiten vorhatte.

MANGO BERENGA:
Spiegelerde, der Heimatplanet des Commanders und Vorort des gesamten Systems der jenseitigen Völker, war aufgrund einer Kombination aus ökologischer Zerstörung und ökonomischer Krise sowie eines unmittelbar drohenden Kippens der politisch-sozialen Verhältnisse dem Zusammenbruch nahe. Man gedachte daher die Konzeptionen der vier Professoren (für deren Know-how es drüben keine geeigneten Analogien gab) anzuwenden, brauchte dazu aber natürlich die Träger dieses Wissens höchstpersönlich, um sie für die örtliche Adaptation ihrer Ideen einzuspannen. Über verschiedenste Kanäle war eine komplizierte Aktion eingefädelt worden, um der Vier habhaft zu werden, und wir beide, Viève, spielten dabei die Schlüsselrollen, besser gesagt: ich und du mit mir oder du in mir. Wie mir der Commander auseinandersetzte (mittlerweile wusste ich über die Hierarchie der Spiegelwelt und besonders über die Stellung des Ty-rannen der jenseitigen Völker Bescheid), gab es innerhalb dieses Systems selbstverständlich auch gravierende Interessenskonflikte: der Diktator wollte die gewaltsame Lösung der Probleme mit der völligen Entmachtung seiner Adels- und Offizierskaste verknüpfen, weil diese danach trachte¬te, ihn auf eine bloße Repräsentationsfigur zu reduzieren. Er war bereit, für die vier Wissenschaftler einen hohen Preis zu zahlen: er verriet jene Agenten des Paralleluniversums, die in unserer Welt am sogenannten Orden der Orangenblüte maßgeblich beteiligt waren, an Sir Basil. Niemand in der Spiegelrealität erfuhr etwas von dieser speziellen Ungeheuerlichkeit.

Wer Cheltenham kannte, wusste, dass er das Optimale daraus machte, fein dosiert und zielgerichtet. Als Erster wurde der alte Graf abserviert, als sich solcherart herausgestellt hatte, dass er nicht mein richtiger Vater, sondern dessen Doppelgänger aus der anderen Realität war – und aus dem gleichen Grund wurde auch Miss Thomsons Senator liquidiert, in einem Moment, in dem er sich persönlich ganz sicher fühlte und nach eigener Einschätzung unaufhaltsam an die Spitze der Macht unterwegs war. Ich verstand schon die im globalen Sinn viel größere Tragweite der Causa Hawborne, aber die Konsequenzen des falschen Vaters waren für mich natürlich die tiefgreifenderen. Vieles spielte da zusammen: Plötzlich kein geheimer Ekel mehr vor dem Inzest, bloß der schale Nachgeschmack des wesentlich älteren Sexualpartners – vor allem aber die Erkenntnis, dass die Tochter nicht zugleich die Schwester war, und endlich die wirkliche Erklärung für den mysteriösen Tod des Mädchens: dieser war vorgetäuscht worden, um das Kind unauffällig in die andere Realität zu bringen und mir so zu entziehen. Jede mögliche Eigentümlichkeit dieses Wesens sollte mir – ebenso wie seine grundsätzliche Identität – verborgen bleiben.

Ein Abgrund von Wut tat sich mir auf, zugleich erfasste mich aber auch eine Welle tiefsten Glücks.

MANGO BERENGA:
Eines sei schon vorweggenommen – ich begegnete deiner Tochter in der Spiegelwelt. Mein Commander, der trotz seiner ungeheuerlichen Anspannung bei unserer Mission äußerlich ruhig schien wie bei einem Spaziergang, besuchte mit mir auf dem jenseitigen Planeten Jifihikxli einen der bei seiner Gesellschaftsschicht so beliebten Maskenbälle, die trotz widrigster Umstände noch immer gerne abgehalten wurden. Er meinte, unter dem Deckmantel aberwitziger Verkleidungen könnten wir uns unbemerkt und relativ gefahrlos umsehen. Aufgrund physikalischer Umstände, auf die ich später noch eingehen werde, empfahl er mir eine Art Schmetterlingskostüm, während er sich als etwas Vogelgleiches ausgab. Dort also sahen wir sie: eine betörend aussehende junge Frau, die – ohne dir zu schmeicheln – vieles von ihrer Mutter und gottlob nichts von dem Alten hatte. Sie wurde von aller Welt Balaf-Ieku Hvuvu genannt: Himmlisch schöne Prinzessin, ließ sich mein Begleiter die Übersetzung auf der Zunge zergehen und erklärte mir, dass es nicht nur einfach ihr Name, sondern die Maske wäre, unter der jedermann sie kannte.

Ich kann es nicht fassen: endlose Se-lig¬keit!

MANGO BERENGA:
Aber so weit sind wir noch nicht. Langsam, aber unaufhaltsam führte unser Weg zunächst zu der für mich unvorstellbaren Grenze beider Universen. Ich war äußerst gespannt – aber als es soweit war, bekam ich nichts mit: der Commander hatte mich mit einem seiner kontrollierten Schläge ins Nirwana befördert. Good night, Baby, summte er dazu leise, sleep tight, Baby. So viel erfuhr ich später von der Androidin, die ihr mir geschickt hattet und die ich meinem Alien-Freund als Anpan, die sexuelle Spielgefährtin der Professoren, unterjubelte. Dem Umstand, dass er sie wie die Gefangenen im Drogenrausch vermutete, können wir viel verdanken: Nicht auszumalen, wenn er auch Anpan hätte betäuben wollen, wäre aber von dieser in Notwehr (das erlaubte ihre Restriktion) gründlich außer Gefecht gesetzt worden. Auch die Tatsache, dass er wenige Tage zuvor mit ihr geschlafen hatte, wäre dem nicht im Weg gestanden, so kühl-distanziert wie die AP 2000 ® in ihren innersten Schaltkreisen uns Menschen betrachtete.

Wohl eher die Männer, denn die kleine Geste weiblicher Zuneigung, mit der sie sich dir gegenüber identifizierte, war wohl nicht so kalt und unnahbar?

MANGO BERENGA:
Sie war – wie soll ich sagen? – so authentisch, und es tat gut, über die räumliche, aber vor allem zeitliche Entfernung zwischen uns hinweg zu erfahren, dass du es an derselben Stelle wie ich magst, zärtlich berührt zu werden, und als Anpan dann schließlich verlangte, ich sollte ihr das Gleiche widertun…

… was ich ihr nicht aufgetragen hatte…

MANGO BERENGA:
… elektrisierte es mich, wie herrlich sie sich anfühlte: ein Meisterwerk ihrer Schöpferin! Wie sie allerdings den Ü-bertritt in die andere Realität erlebt hat, ist etwas schwierig zu beschreiben – schließlich bewegten wir uns hier dieseits und jenseits menschlicher und androider Wahrnehmungsvorgänge. Sie tat jedenfalls ihr Bestes, um mir verständlich zu machen, was ich gesehen, gehört und gespürt hätte, im Vergleich zu den autonomen Aufzeichnungen ihrer eigenen Sensoren (im Sinne des Zusammenlebens mit uns war sie ja darauf trainiert, diese beiden Blickwinkel ständig miteinander zu koordinieren). Der reale Vorgang der Transition dürfte demnach unspektakulär verlaufen sein: eine tendenzielle Verzerrung der Raumstruktur, die sich in Ausläufern bis weit hin zur Station erstreckte, verdichtete sich und mündete in eine Art materielles Nichts, das sich auf der anderen Seite spiegelbildlich fortsetzte. Dort wiederum glitt man von dem bewussten Ort weg auf zwar gestörten, aber sich immer mehr stabilisierenden Raumkomponenten. Die Zeit hatte knapp vor und knapp hinter dem Durchgang plötzlich verrückt gespielt, schien sich aber bald nach Passieren der Lücke wieder zu beruhigen – was allerdings genauso gut bedeuten konnte, dass sie jenseits anders verlief als bei uns, aber das werden wir nicht überprüfen können, zumal das total Undenkbare zu denken nicht Sache der AP 2000 ® ist. Ich persönlich wäre vielleicht auch nicht auf die Idee gekommen, aber die künstliche Schlange, die Anpan sozusagen an ihrem Busen nährte, stellte derlei Spekulationen an…

… wiewohl wir wissen, dass es sich dabei überwiegend nur um belangloses Gedöns handelte, um sich wichtig zu machen: die zu sinnlosem Ehrgeiz hochstilisierte Hintergrundaktivität einer virtuellen Person.

MANGO BERENGA:
Nun, der große Auftritt der Schlange stand ja noch bevor, und dafür würde sie sich jedenfalls eignen, falls dieser unmaschinenhaft anmutende Ehrgeiz sie nicht eines Tages zur Befehlsverweigerung verleiten würde – aber für diesen Fall gab es einen wirksamen Reset-Befehl für einen System-Neustart (oder man unterbrach einfach kurzfristig die Energieversorgung).

Und dann wäre die Gute geraume Zeit damit beschäftigt gewesen, ihr komplettes Bewusstsein neu aufzubauen – unter Verlust jeglicher Kontinuität. Sie konnte es also nicht wagen.

MANGO BERENGA:
Was nun Anpan und die Schlange vom mutmaßlichen Erleben des Übergangs von einer Realität in die andere aus der Sicht von Menschen oder menschenartigen Wesen wie dem Commander berichteten, übersteigt fast unsere Vorstellungskraft. Man fand sich plötzlich ohne Raumschiff, ja sogar ohne jegliches technische Hilfsmittel in einer endlosen Wüste: Keyhi Pujvi marschierte voran, danach trotteten die vier Professoren und ich, ohne dass wir etwas davon mitbekamen, den Abschluss machte die AP 2000 ®, indem sie so tat, als ob sie nicht wusste, wo sie war. Endlos ging das so dahin, nichts als Sand, durchsetzt mit kleineren und größeren Felsbrocken, so weit das Auge reichte: nah und fern keine Bäume, keine Sträucher, keine Erhebungen, an denen sich die Hoffnung hätte festklammern können. Dessenungeachtet ging der Commander mit bemerkenswerter Ausdauer weiter: er schien genau zu wissen, was ihn erwartete. Das Tor kam schließlich schnell, gerade noch war es nicht da, plötzlich aber stand es hoch aufragend vor der Reisegruppe.

Aus den Informationen, mit denen wir die AP 2000 ® ausgiebig gefüttert hatten, bevor wir sie ins Ungewisse schickten, wusste sie, dass es Vera war, die ihnen hier entgegentrat und den Weg versperrte – wenigstens, so urteilte die Androidin vorsichtig, handelte es sich um eine Entität, die so aussah und anscheinend eine irdische Aura erkennen ließ. Seltsamerweise wagte es der Commander nicht, sie einfach beiseite zu schieben, sondern erkundigte sich höflich nach ihrem Begehr.

Warum weine ich? fragte Vera – Antwortest du richtig, dürft ihr passieren! Eine Verständnisfrage sei dir gestattet.

Du weinst wahrscheinlich nicht über die Einsamkeit? forschte Keyhi Pujvi. Sie schüttelte bloß den Kopf.

Ohne weiter zu zögern, gab er jetzt die Antwort: Du weinst, weil hier niemand dich genug liebt, um dich zu quälen!

In diesem Moment konnten sie vorbei. Sie waren wieder in ihrem Raumfahrzeug und drangen damit in die andere Realität vor.

MANGO BERENGA:
Ich wachte auf und hörte die beruhi-genden Worte des Commanders: dass wir es ohne Schwierigkeit geschafft hätten. Ich brannte darauf, Anpans Bericht abzurufen, aber es ergab sich bis auf weiteres keinerlei Möglichkeit dazu. Statt dessen bekam ich weitere Instruktionen über das Spiegeluniversum, um nicht bei erster Gelegenheit wegen trivialer Unkenntnis entlarvt zu werden. So erfuhr ich, dass – im Gegensatz zu den vielen Milliarden Individuen, die auf der ursprünglichen Heimatwelt des Commanders ihrer Rettung durch die Professoren harrten – die herrschende Klasse längst auf den Nachbarplaneten Jifihikxli evakuiert worden war: eben jenen Himmelskörper, den wir als ersten zu besuchen beabsichtigten. Er erzählte mir insbesondere von den Eigenheiten Jifihikxlis, zu denen vor allem die geringe Schwerkraft gehörte, sodass in diesem esoterisch anmutenden Paradies alles hoch aufragte, Pflanzen, Berge und die Ureinwohner, die man sofort versklavt hatte: alles war lang und dünn sowie von weicher Konsistenz im biologischen Material, quasi elfengleich…

407

Irgendwie war ich erschüttert, die vornehme Señora Margharita Sanchez mit zwei Elektroden an den Schläfen zu sehen, ihre gepflegte kühle Eleganz im Zustand vollständiger Manipulation. Aber für sie war’s nicht mehr zu ändern seit unserer gemeinsamen Reise von Neapel nach Wien, als sie den Jungs aus Basils Truppe als Triebventil zu dienen hatte – in gewissem Sinne die Umkehrung meiner eigenen Biographie, die vom Senatoren-Spielzeug zur ehrbaren Ehefrau des Baronets Cheltenham führte. Don Julios Verhalten ihr gegenüber konnte man als ambivalent bezeichnen: einerseits war sein Begehren wieder erwacht, als Reflex auf das Verlangen anderer nach seiner Frau, andererseits behandelte er sie mit einer subtilen Abfälligkeit – aus dem Kosewort Tesoro, das man zu Brigittes Zeiten gehört hatte, war Putita geworden, und sie nahm’s hin.

Berenice hatte bei der Señora mediale Fähigkeiten konstatiert, daher wurde sie von Spanien auf Lady Pru’s Anwesen gebracht. Mittlerweile gab es ja eine rege Kooperation zwischen diesem Ort und unserem Landsitz, und seit Basils Herrenhaus neuerdings derart übervölkert war, wurden die geheimsten und heikelsten Aktionen zum Quartier der Koori verlegt.

Die zweite Dame, die einberufen wurde, war Sharon (Mrs. Seiji Sakamoto). Gerade sie traf die Diagnose übersinnlicher Fähigkeiten wie ein Schlag, hatte sie sich doch vor nicht allzu langer Zeit entschieden, die Dramen des Lebens vor der Tür zu lassen und nur noch einfachen physischen Ambitionen zu folgen.

Da saß sie nun Schulter an Schulter mit der spanischen Doña, ebenfalls mit den Sensoren ausgestattet, die Berenice dem Wissensfundus ihres westlichen Psychologiestudiums entnommen hatte: Man vermaß Gehirnströme – deren Modulationen sollten möglichst bald Aufschluss darüber bringen, welche Feldstärken von paranormalen Impulsen bei den Damen verfügbar gemacht werden konnten für das komplexe Projekt, das hier geplant wurde.

Grafik 4.3

CHICAGO:
In der bisherigen Prozedur war es den beiden nicht eben gut gegangen. Aus einfacher Ungeduld im Zustand der Begrenzung war schweres Unbehagen über den Umgang mit ihren Persönlichkeiten und zuletzt echtes Entsetzen geworden: Die Walemira Talmai hatte mir aufgetragen, Margharita und Sharon zu peinigen, eingedenk der eigenen Erfahrungen, die zu ihrer eigenen Transzendenz in eine dichte spirituelle Existenz geführt hatten. Unter anderem steckten wir sie in einen Raum, in dem ihre wechselseitigen individuellen Wahrnehmungen kollidierten. Das geschah durch flexible, scheinbar türlose Begrenzungswände, die zueinander sowie zu Decke und Fußboden in ständig wechselnden Winkeln standen. Zusammen mit der dunkelroten Beleuchtung des Zimmers bedeutete das eine ungeheure Herausforderung des Gleichgewichtssinnes mit entsprechenden Auswirkungen auf den Magen der Betroffenen. Wenn die eine oder andere kurzfristig das Bewusstsein verlor, wurde sie sofort wieder mittels kaltem Wasser in die verzweiflungsvolle Realität zurückgeholt.

Das war auch bitter nötig, denn im Ernstfall sollten sie größten Belastungen standhalten, ohne dass der Fluss ihrer mentalen Kraftlinien auch nur kurzfristig unterbrochen wurde.

CHICAGO:
Abgesehen davon mussten sie lernen, einander zu ertragen, und bis dorthin war noch ein weiter Weg zurückzulegen: Kaum ging es ihnen einen Moment besser, begannen sie miteinander über das Oben und Unten, Vorne und Hinten, Links und Rechts zu streiten, obwohl es für derartige Spekulationen in ihrer Folterkammer gar keine richtigen Anhaltspunkte gab.

Bei der zwischenzeitlichen Gehirnstromkontrolle zeigten sie sich jedenfalls erschöpft, aber gefasst. Dennoch konnten sie unsere Apparatur nicht täuschen – noch immer waren sie nicht voll und ganz bereit, in einer gemeinsamen Sache aufzugehen. Unerbittlich enthüllte das Gerät weitere Versuche, sich hinter irgendwelchen Gedanken- oder Gefühlswolken zu verstecken, was bei der bevorstehenden Aufgabe unweigerlich zu gefährlichen Destabilisierungen führen musste. Ich hatte gehofft, dass man das vermeiden konnte, aber Berenice sprach es aus: Es würde nichts anderes übrig bleiben, als ihren Willen zu brechen und neu zusammenzubauen.

CHICAGO:
Grünes Licht für mich. Zunächst mussten die beiden, körperlich völlig regungslos und ohne zu sprechen, einander für eine lange Zeit starr fixieren – eine, wie es auf den ersten Blick scheint, einfache Aufgabe, in Wahrheit aber, mit endlos tropfenden Minuten, eine arge Tortur: zunächst tränen die Augen, dann treten Muskelzuckungen auf und irgendwann schließlich beginnt man in der Person des Vis-à-vis herumzubohren, getragen von allerlei nicht ganz alltäglichen Motiven und Vorstellungen. Dies diente als Vorstufe für mich, mir die beiden zuletzt einzeln vorzunehmen.

Während ich mit Margharita die Schau-mir-in-die-Augen-Übung fortsetzte, um sie unter Druck zu halten (für mich war’s nicht mehr als eine weitere Trainingsstunde in einer schon lang erlernten Disziplin), ging Chicago mit Sharon aufs Ganze. Seine Augen befähigten ihn ja, anders als die meisten anderen Menschen bei Bedarf auf den Perspektiven seiner Blicke tatsächlich und gezielt in das Bewusstsein seines Gegenübers vorzudringen, und jedes dafür nicht ausgebildete Opfer (das wusste ich aus meinen ersten Erfahrungen damit) war dieser Invasion hilflos ausgeliefert. Es ist einfach unbeschreiblich, einen anderen Menschen im Tiefflug über die eigenen Seelenlandschaften hinweggleiten zu fühlen.

CHICAGO:
Noch viel unbeschreiblicher, meine Liebe, ist es, dieser Tiefflieger zu sein, sehen zu dürfen (oder vielmehr zu müssen), was Natur und Tradition normalerweise streng tabuisiert haben, selbst dann, wenn jemand geneigt wäre, diesen Einblick freiwillig zu gewähren. Frühere Zeitpunkte des Zusammentreffens werden plötzlich nicht nur vom eigenen Standpunkt, sondern gleichzeitig auch von dem des anderen erkennbar. In aller Schärfe eröffnete sich mir zum Beispiel das Ressentiment, das Sharon gegenüber Dunkelhäutigen pflegte; das damit verbundene Abstufungsritual, das die gelbe Hautfarbe ihres Ehemanns als gerade noch tolerabel erscheinen ließ (wiewohl Sakamotos Individualität sie mittlerweile abschreckte); als Draufgabe die jeder Aversion innewohnende Ambivalenz des unterschwellig zum Verachteten Hingezogenwerdens. Die Schwankungen zwischen diesen Polen machte selbst mir zu schaffen, da mich Sharons diesbezügliche sexuelle Phantasieblitze nicht völlig kalt ließen. Als Eindringling ist man in dieser Situation ohnehin immer versucht, irgendetwas Persönliches daraus zu machen, obwohl das der Ehrenkodex der Koori, die paranormale Fähigkeiten besitzen, strikt verbietet.

So weit absehbar, blieb Chicago seinem Kodex treu. Und so weit ich es verstehen konnte, rang er Sharon geistig nieder, bis sie bereit war zu verstehen, dass wir sie brauchten und wofür sie ihren Beitrag leisten sollte.

Margharita wiederum, die selbst unter meinen Blicken schon weich geworden war, widerstand meinem Partner in keiner Weise und war ohne Einschränkungen dabei: jedenfalls muss man ihr zugestehen, dass sie alles, was ihr seit Beginn ihrer angeblichen eifersüchtigen Suche nach dem Gemahl zugestoßen war (und weiß Gott, sie hat mit ihrem Schiffchen den Weg einer ganzen Flotte gekreuzt), mit bemerkenswerter Tapferkeit ertrug. Vielleicht hatte sie die Möglichkeit gereizt, nach vielen Jahren, die sie im Vorfeld ihres Selbst verbrachte, doch einmal hinter die Fassade zu sehen und sich wirklich kennenzulernen.

Wie auch immer: Der dritte Fall lag wesentlich komplizierter als die beiden anderen. Es handelte sich um jene Bäckersfrau aus dem 16. Jahrhundert, die mit ihrem Lover-Boy, dem abgesprungenen Klosterbruder, aus ihrer Heimat nördlich der Alpen nach Rom gegangen war, wo die beiden mit Hilfe eines streng geheimen und äußerst verbotenen Manuskriptes das Heilige Officium erpressen wollten.

CHICAGO:
Wenn man verstehen will, was Sie da erzählen, muss man schon ein wenig ausholen: Das allumfassendste und entfaltetste Wesen unseres gesamten Seins (sozusagen die Klammer um den Heiligen Geist und die geisterhaften Ahnen und den Großen Geist und was da sonst noch kreucht und fleucht) ist stets darauf bedacht, dass sich das Menschentier zu mehr Humanität weiterentwickelt. So konnte es natürlich nicht zusehen, wie eine scheinbar religiös motivierte Instanz die Beseitigung dieses Paars durch einen gedungenen Mörder zuließ. Man könnte es geradezu als zynische Attitüde dieses Wesens ansehen, die selbstgezimmerten Jenseitsprojektionen diverser Religionsfunktionäre ad absurdum zu führen, und zwar regelmäßig dadurch, dass die Taten dieser Leute ins blanke Gegenteil verkehrt wurden – so etwa im Fall Giordano Brunos, dessen Tod am Scheiterhaufen am Ende eine ungeheure Aufklärungswelle auslöste, die niemand mehr stoppen konnte, abgesehen davon, dass der Betroffene die Möglichkeit bekam, sich fortan frei in der Zeit zu bewegen.

Das dürfte offenbar auch der entscheidende Punkt bei Frau Adriana, der ehemaligen Bäckermeisterin und ihrem Konrad, dem Ex-Frater Cornelius, gewesen sein…

CHICAGO:
Adriana lebte auf allerhöchstes Gebot als Hexe weiter, die den braven dominikanischen Inquisitoren die Hölle heiß machte, ohne je von ihnen gefasst zu werden, da sie im Sinne ihrer Verfolger nicht körperlich, sondern nur evident im Sinne ihrer realen Wirksamkeit war: mit anderen Worten, sie erwies sich in ihrer magischen Erscheinungsform als echt. Mehr noch – sie hob aus der Gewalt der sadistischen Brüder auch all jene armen Frauen hinweg, die aus blinder Rache für die Taten der Unerreichbaren völlig unschuldig unter den absurdesten Vorhaltungen eingekerkert wurden: besonders heftig war die Wut der heiligen Männer dann, wenn sie sich nachts in die Zellen schlichen, um sich an den Angeschuldigten ausgiebig zu vergehen, und diese nicht mehr vorfanden. Wie auch immer – Adriana hatte Epochen der Aufklärung ebenso wie solche des Hexenwahns überdauert und sollte nun mit den beiden anderen Damen für unsere telepathischen Aktionen zur Verfügung stehen. Gern tat sie es nicht, denn sie war selbständig, selbstbewusst und sich selbst genug geworden (jener Konrad schien nur noch ein mumienhaftes Dasein in ihrer Erinnerung zu führen – kaum wollte sie noch daran denken, wie sie sich vor langer Zeit nach dem Liebhaber verzehrt hatte). Ich fühlte deutlich, dass es nur eines winzigen Anlasses bedürfen würde, sie zu einem wesentlich größeren Problem zu machen als die beiden anderen es waren: ja, Charlene, das sollten wir uns klar machen. Im Moment aber wollen zwei andere Herrschaften zu Wort kommen.

BRIGITTE:
Du, mein Lebensmensch und momentaner Erzähler, jetzt haben wir aber schon lange keinen Kommentar abgegeben!

DER ERZÄHLER:
Wieso, ich habe doch die ganze Zeit unsere Geschichte, so man von einer solchen reden kann, vorangetrieben – habe mal aus Sir Basil, mal aus Franca, mal aus Gus Skelton herausgeschaut, und wer weiß, vielleicht werde ich mich demnächst einmal aus dem Inneren von Brian Thomson melden. Hat’s dir nicht auch Spaß gemacht, aus der einen oder anderen Figur heraus zu sprechen?

BRIGITTE:
Am liebsten habe ich die Welt von der Warte des alten Grafen von B. betrachtet – übrigens eine äußerst merkwürdige Sicht der Dinge, aber auch eine interessante, zumal ich mit seiner Tochter intim war – o, jetzt ist es also heraus!

DER ERZÄHLER:
(ungerührt) Sag, was ist denn eigentlich aus deiner Familie geworden?

BRIGITTE:
Und wie war’s in Indien, mein Lieber? Verschieben wir das alles auf später, denn ich denke, wir halten im Augenblick nur den Gang der Ereignisse auf.

CHICAGO:
Sehr richtig, denn (plötzlich sehr feierlich) die Walemira Talmai möchte euch, eine kleine, einzeln gesiegelte Schar, zu Wölfen des Zorns machen! Es geht darum, massiv in die Zeitläufe einzugreifen, die so unsäglich geworden sind. In all dieser Unsicherheit hinsichtlich irgendwelcher Maßstäbe (und seien sie auch noch so dynamisch) bedeutet die Betriebsamkeit der Spiegelwelt eine eminente Gefahr: dass nämlich zuerst diejenigen von uns eliminiert werden könnten, die infolge ihrer ungewöhnlichen Fähigkeiten imstande wären, Katalysatoren der Entfaltung neuer Möglichkeiten unserer eigenen Welt zu sein. Charlene half mir dabei, jenen Teil der Gegenmaßnahmen vorzubereiten, der auf unserem Koori-Stützpunkt zu bewältigen war.

Zu diesem Zweck mussten wir all diese unkonventionellen Mittel anwenden, die mir als Frau an sich zwar widerstrebten, mich als Individuum tief in meinem Inneren aber ungeheuer aufwühlten und vor allem auch tief befriedigten: mehr als erstaunlich, wie wenig Solidarität man unter Umständen für das eigene Geschlecht aufbringt, nicht anders als die Männer.

DIE DREHBUCHAUTORIN:
Ich verlange an dieser Stelle entschieden die Bildung eines Kollektivs aller, die bisher aktiv zu diesem Text beigetragen haben, namentlich Brigitte, der Herr Regisseur, die Stimme aus dem Hintergrund des Sets und natürlich der so genannte momentane Erzähler. Sind nicht alle der Ansicht, dass wir zuletzt ein wenig das Konzept verloren haben? Ich für meinen Teil vermisse das Chaos, mit dem wir starteten und das wir zum Gestaltungsprinzip erhoben wissen wollten. Demgegenüber haben wir jetzt deutliche Herrschaftsstrukturen in unserer Sozietät und eindeutige Dominanzen in der Thematik, hinter denen man zumindest höchst persönliche Geschmacksrichtungen, wenn nicht überhaupt ideologische Motive vermuten muss.

DER GROSSE REGISSEUR:
Was also ist der Vorschlag?

DER MOMENTANE ERZÄHLER
(zugleich der Besucher der Ralph & Hardy’schen Burg und Brigittes Lebensmensch und Berenices Patient und so fort): Ich könnte mir gut vorstellen, dass unsere liebe Freundin hier darauf Wert legt, mir einen Namen zu geben, der mehr Individualität ausstrahlt als die präpotente Deklaration von Schöpfer an Geschöpf, will sagen: Ich bin der ich bin! Kein Problem – ich heiße Johannes. Ich bin gerne bereit, einem Kollektiv zu weichen, wenn ich diesem wenigstens noch angehören darf.

DIE DREHBUCHAUTORIN:
Sicherheitshalber habe ich ein kleines Anarchistisches Manifest vorbereitet als Orientierungshilfe für hierarchiefreie Gesellschaftsformen.

DER PRODUZENT IM HINTERGRUND:
Gähn! Wenn ich mir nur vorstelle, dass ich sogar das bezahlt habe wie alles hier! Aber einerlei – Kunst (und trotz aller niedrigen Anschuldigungen gegen mich beharre ich auf meinem Hauptmotiv, Kunst zu finanzieren), Kunst also integriert alles: das Schöne und das Hässliche, das Hohe und das Gemeine, das Teure und das Billige! Es ist alles eine Frage der spezifischen Ästhetik. Lasst uns dieses kuriose Kollektiv bilden, in dem jeder sich ohnehin für den Besten hält, aber aus einer Restbefangenheit heraus glaubt, Koa¬litionen eingehen zu müssen wie wei¬land Caesar, Pompeius und Crassus. Ich bin Crassus – und nun will ich dieses Manifest hören!

DIE DREHBUCHAUTORIN:
Wir würden gerne fliehen – aber wohin? Wir bleiben also und versuchen, die Welt an uns anzupassen. Welch wundervolle Geschenke hat uns der materielle Friede bereitet! Vor allem die Möglichkeit, sich mit anderen Dingen zu beschäftigen als mit den ganz elementaren Bedürfnissen. Wenn aber der körperliche Friede so vorteilhaft ist, warum lassen wir uns dann nicht bereitwillig auf den geistigen Frieden ein? Der Mensch, wenn man ihn lässt, könnte als Gestalter seiner selbst und seiner Umwelt leben. Wieso begnügt er sich dann so oft mit einer Stellung als Hofnarr? Wir müssen Kreativität lehren. Die egoistischen und narzisstischen Diebe unserer Zeit müssen zuallererst in die heilige Magie des Schaffensprozesses eingeführt werden. Gerade die Gesellschaftskranken müssen verstehen lernen, wie sich Talente in positiver Weise aneinander aufrichten. Auf diese Weise können wir Teil einer kooperativen Manifestation werden. Die künstlerische Kooperation als Teil eines Netzes offener Verbindungen zerstört auf dialektische Weise die willkürliche Verteilung von Material, Kapital und anderen Ressourcen und stellt sie damit auf eine andere Basis. Die ungeheure Zeitverschwendung des überorganisierten, übertrieben arbeitsteiligen und extrem entfremdenden Modells wird entlarvt. Viele Meilensteine dieses zwischendurch immer wieder sehr langsam verlaufenden Prozesses liegen bereits hinter uns. Wir Pioniere haben uns durch das Leid genialer Seelen gearbeitet. Eine Meta-Sprache ist in ihren Grundzügen längst entwickelt – sie muss ausgeweitet, universeller gemacht werden: Und wir – wir können es! Wir müssen es nur tun! Der Cyberspace gehört im wahrsten Sinne des Wortes keiner Obrigkeit, sondern dem Volk – dem Volk in seiner ganzen Diversität! Um die Schönheit unserer Existenz zur wahren Geltung zu bringen, werden wir noch viel spazieren gehen müssen – dort wo das letzte unerforschte Territorium beginnt!

Wüste Beschimpfungen der drei Damen an die Adresse Chicagos und seiner Helferin unterbrachen mit einer filmreifen Szene die Proklamation, wobei sich die Wut sehr rasch auf mich konzentrierte und ich bezichtigt wurde, während der bisherigen Aktion gegen jede weibliche Solidarität verstoßen zu haben. Unter Aufbietung aller Kräfte und nachdem er Hilfe aus dem Haus geholt hatte, konnte Chicago die entfesselte kleine Schar bändigen. Die drei Medien wurden in einen abgelegeneren Teil des Gartens an einen Ort geführt, wo drei überlebensgroße weiße Statuen aufgerichtet waren.

Es zeigte sich, dass man die Vorderseite jeder Skulptur wie eine Türe öffnen konnte, wodurch ein Hohlraum zutage trat, in den ein Mensch eintreten konnte. Bevor sich die Behältnisse schlossen, bekamen die Drei noch knappe Verhaltensregeln.

CHICAGO:
Was dann geschah, war eine Probe für die Verwirklichung unseres Planes – sie sollten nämlich lernen, die in ihnen geweckten mentalen Energien gebündelt nach oben abzustrahlen, und zwar mit Hilfe dünner Röhren, die durch die Köpfe der Statuen führten und von dort weiter durchsichtig und zerbrechlich aufragten.

Sie verweigerten sich zunächst, aber fasziniert von den Möglichkeiten, die sich Ihnen auftaten, und von den Fähigkeiten, von denen sie (mit Ausnahme Adrianas) bis dahin wenig geahnt hatten, ließen sie sich endlich auf unser Experiment ein. Die drei Röhren begannen zu phosphoreszieren und sandten ihr dünnes, aber gebündeltes Licht endlos weit in den Himmel hinauf. Als die Drei wieder herauskamen, waren sie bereit – wir brauchten also nur zu warten, bis einerseits die Außenteams in Stellung waren und andererseits das Kernstück unseres Projektes vollendet war.

408

Weder die riesige Antennenschüssel von Buckley Field noch jene von Medina Annex noch irgendeine andere Empfangsanlage des federführend vom amerikanischen Geheimdienst betriebenen weltweiten Echelon-Abhörsystems nahm Notiz von der Tatsache, dass in einer bestimmten Nacht die beiden Indianer Sherman Yellowhawk und Murky Little Wolf heimlich ins Hualapi-Territorium wechselten. Das lag nicht zuletzt daran, dass wir uns, wenn es uns notwendig erschien, streckenweise in unseren Tierformaten bewegten, und wer, außer vielleicht einem trophäensüchtigen Jäger, hätte in einsamer Gegend von einem einsam dahintrabenden Wolf oder einem darüber einsam in riesigen, den Luftströmungen angepassten Schleifen dahingleitenden Falken Notiz genommen. Weiße waren normalerweise so nahe am Reservat ohnehin kaum und direkt an dessen Grenze gar nicht zu anzutreffenen, und die Hualapi-Krieger hätten keiner magischen Gestalt aufgelauert – es sah uns aber ohnehin niemand.

Yellohawk ließ sich auf eine Waldlichtung herabgleiten und war bereits wieder verwandelt, bevor er mit beiden Beinen auf dem Boden stand. Daher richtete auch ich mich im Näherkommen in meine menschliche Gestalt auf.

YELLOWHAWK:
Hast du das nicht vermisst, Little Wolf, wenn du dich in den Städten der Bleichgesichter und bei ihren fremden Feldzügen herumgetrieben hast?

Er hatte verdammt recht! Was für ein Gefühl, heiligen Boden unter sich zu spüren!

Wie oft hatte ich, vor allem in Vietnam, abends allein in einem Zelt heimlich die Knöchelchen aus meinem Medizinbeutel auf das mit den vertrauten Landschaftssymbolen bemalte Lederstück geworfen, um den Großen Geist anzurufen und in der Zukunft zu lesen. Dabei fiel mich regelmäßig die riesenhafte gefräßige Bestie des Krieges an, aber ich sprang unverzagt durch ihren Schemen hindurch, wohl wissend, dass sie dort mit dem Morden rundherum allgegenwärtig war und in diesem bestimmten Augenblick nicht mich persönlich meinte.

Langsam begann sich bei diesen Ausflügen in das Zwischenreich, in dem wir die für uns maßgeblichen Leitmotive treffen können, mein künftiger Weg abzuzeichnen – eines aber sollte dir klar sein, Yellowhawk: als ich der Spur folgte, die mich vorerst bis hierher führte, wo wir jetzt stehen, habe ich in oberflächlicher Weise nichts anbrennen lassen. Ich bin kein Heiliger – was durch mich bewirkt wird, geschieht beileibe nicht immer aus edlem Sinn.

YELLOWHAWK:
Was kümmert das den Großen Geist, Murky? Er sieht dir zu, wie du einen von zwei Wegen wählst und dir später wünschst, den anderen gegangen zu sein: entscheidend ist das Ziel, das er dir setzt! Wenn du es erreichst, wird es weniger wichtig sein, was du bis dahin auf deinem Pfad zurückgelassen hast.

Das erinnert mich an meine eigene Bewusstwerdung, sagte in diesem Moment eine einschmeichelnde Stimme. Wie aus dem Nichts stand Devteri da, die wir als eines der drei Androiden-Kinder im Gefolge der Panagou kennengelernt hatten. Mir ging der unangenehme Gedanke durch den Kopf, sie wäre womöglich imstande, nicht nur ihr Erscheinungsbild beliebig zu kalibrieren, sondern sich auch unsichtbar zu machen, und hätte demnach schon eine ganze Weile unserer Unterhaltung gelauscht. Yellowhawk mochte ähnliche Befürchtungen hegen: Wusstest du, dass Bäume nicht nur zuhören, sondern auch reden können? sagte er, zu mir gerichtet. Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.

Devteri, die gekleidet war wie eine Siedlersfrau aus der Mitte des 19. Jahrhunderts – gerade so könnte sie mit ihrem Planenwagen über den Santa Fe Trail und dann weiter über den Old Spanish Trail bis in diese Gegend gezogen sein – beruhigte uns: sie sei nicht gekommen, um uns Schwierigkeiten zu machen, im Gegenteil, sie wäre uns von Sir Basil nachgeschickt worden, um diskret Unterstützung zu geben. Als wir skeptische Blicke tauschten, meinte sie lakonisch: wenn sie zum Spionieren gekommen wäre, hätten wir sie wohl kaum bemerkt!

Yellowhawk war in seiner Kriegerehre verletzt. Mit einigen schnellen Schritten lief er in den Wald hinein und kam bald darauf mit einem Gespann zurück, dessen Pferde er an der Hand führte. Und das hätten wir womöglich auch übersehen oder gar überhört? fragte er sarkastisch. Devteri entschied sich dafür, erst gar keinen längeren Streit aufkommen zu lassen (sie war eben von Natur aus sehr rational). Ohne langes Zögern beförderte sie das Häubchen mit den Schleifen, den wollenen Umhang, das einfache Leinenkleid, das Unterhemd und die üppig berüschten Unterröcke auf den Wagen (wobei wir keine Anstalten machten, uns wegzudrehen: zu attraktiv war Anastacias Wunderwerk) und verschwand schließlich selbst unter der Plane.

Als sie wieder hervorkam, trug sie wie wir einen Kampfanzug mit Camouflage-Design und Schnürstiefel. Überdies lud sie einen tragbaren Granatwerfer ab und sagte: Ich schicke nur mein Gefährt weg, mit dem ich aus Sicherheitsgründen zeitversetzt gereist bin – dann stehe ich sofort zu Ihren Diensten, meine Herren!

Die Pferde, auf die sie mit einigen uns unverständlichen Worten einredete, wendeten und trotteten samt Wagen in Richtung ihrer angestammten Epoche davon. Mein Freund und ich wollten uns wieder dem zuvor unterbrochenen Gespräch zuwenden, da schrie Devteri laut: Wolf! Hawk! Rasch hierher! Instinktiv warfen wir uns in ihre Richtung und entgingen so dem sicheren Tod durch den Einschlag eines undefinierbaren Geschosses, das dort, wo wir uns eben noch aufgehalten hatten, einen Krater von gut eineinhalb Meter Durchmesser riss.

Sie haben uns gefunden! war unser erster Gedanke. In unserer Aufregung nahmen wir automatisch an, dass ein gezielter Anschlag auf unser Leben verübt worden war. Devteri genoss sichtlich die Situation (so weit man das bei ihresgleichen so ausdrücken kann), ihre Bemerkung sprach dafür: Zwei rote Männer, angeblich die Kaltblütigkeit in Person, in voller Panik – welch seltener Anblick! Es besteht jedoch kein Grund zur Besorgnis, Gentlemen: Das Geschoß kam von einer paramilitärischen Einheit, derer es in den USA so viele gibt. Ein solcher Haufen ballert südöstlich von hier außerhalb des Reservats auf dem Coconino Plateau blind in die Gegend – die wollen nichts von Ihnen persönlich!

Beinahe Opfer eines wahnsinnigen Zufalls geworden zu sein, trug nicht gerade zu unserer Beruhigung bei.

YELLOWHAWK:
(ganz un-indianisch emotionell, wie zur Bestätigung von Devteris Hohn)? Woher solltest du das alles wissen, kleine automatische Squaw?

Ich wollte ihm schon ins Wort fallen, aber sie konnte sich offenbar recht gut selbst verteidigen. Sie weigerte sich zwar, nähere Erklärungen abzugeben, verwies aber auf außergewöhnliche technische Fähigkeiten, die sie in vielen Dingen uns Menschen überlegen machte.

Der zweite Einschlag! Gerade noch rechtzeitig riss uns Devteri zur Seite – wieder hatten ihre Sensoren die Gefahr um die rettenden Sekunden früher geortet als die Kampfintuition erfahrener menschlicher Krieger.

YELLOWHAWK:
Wenn wir hier in Ruhe arbeiten wollen, müssen wir diese Bande ausschalten. Schätze, wir haben noch so lange Zeit, bis die Sonne das dritte Mal hinter den Bergen verschwunden sein wird.

Devteri führte uns. Yellowhawk und ich wollten den Granatwerfer nehmen, scheiterten aber zu zweit an seinem Gewicht. Die Androidin lächelte (man weiß es bereits – das Emotional Response Model) und schulterte das Ding, ohne mit der Wimper zu zucken. Dann brachte sie stockend das Problem vor, das sie mit ihrer Direktive hatte, Menschen grundsätzlich nicht zu attackieren.

Es war schwierig, ihr zu erklären, dass wir keine Gefangenen machen durften: einfach vertreiben würden sich diese Leute wohl nicht lassen – umgekehrt erforderte unsere eigentliche Aufgabe höchste Konzentration, und jede Störung von außen musste sich auf das Gesamtprojekt fatal auswirken.

YELLOWHAWK:
Direktive hin oder her, wir machen es auf unsere Art, Little Wolf und ich. Zwei Nächte haben wir Zeit – wie viele müssen wir pro Nacht erledigen? Zehn Mann? Beim Großen Geist, das sind eine Menge Skalps für jeden von uns, Murky! Du, Devteri, hältst dich unauffällig in der Nähe der lautlosen Schlacht auf und greifst nur dann ein, wenn das Leben eines von uns beiden unmittelbar bedroht ist. Ich habe gesprochen!

Eine klare Ansage für jemanden aus unserem Volk! Damit war es abgemacht, und wir strebten nun, so schnell wir nur konnten, dem Camp dieser seltsamen Einheit zu. Eine Umwandlung in unsere Tierformate un¬terließen wir, denn das konnte ein letzter Ausweg in brenzligen Situationen sein.

Unterwegs weihte ich Devteri in die Grundzüge des gesamten Unternehmens ein, das von Cheltenham und Chicago entworfen und von Berenice und anderen Leuten mit besonderen mentalen Gaben unterstützt wurde. Drei Teams sollten sich, weit verstreut über die ganze Erde an Orten festsetzen, an denen seit alters her außergewöhnliche magische Kräfte bekannt waren, sei es durch eine besondere Gesteinsformation oder andere Gegebenheiten, die bis an den mythischen Anfang des Planeten zurückreichten. In unserem Fall war es der Punkt 113° West / 36° Nord inmitten von Yellowhawks Heimat, im Fall der anderen beiden Teams, von denen wir aus Sicherheitsgründen nicht wussten, wer ihnen angehörte, waren es Destinationen in Ägypten und in Australien.

Grafik 4.4

Von diesen Eckpunkten eines globalen Triangels hatten wir die vorhandenen E¬nergieströme zugunsten jenes Platzes zu konzentrieren, von dem eine gewaltige Aktion ihren Ausgang nehmen sollte. Man konnte füglich annehmen, erklärte ich Devteri, dass es sich dabei um Cheltenhams Herrensitz oder Berenices Koori-Stützpunkt handelte, aber Genaueres wüssten wir nicht.

YELLOWHAWK:
(unterbricht sein bewusstes Schweigen, mit dem er gegen das für seine Begriffe unnütze Geschwätz protestiert) Devteris Augen sehe ich es an, dass sie wahrscheinlich mehr weiß als du, sodass du dir deine Erklärungen sparen kannst!

Ich glaubte das auch, aber ich wollte gar nicht mehr wissen, als ich erzählt hatte. Schließlich würde die Androidin durch keinerlei Folter zum Plaudern bewegt werden können, während ich mir meiner selbst erheblich weniger sicher war – ein Indianer aus der Bronx ist schließlich nicht vergleichbar mit seinen wilden Vorfahren, selbst wenn er das Training der Marines absolviert hat.

– – – – –

Devteri schien fassungslos, als sie zwei Tage später die Kampfstätte betrat. Zwanzig Männer lagen in ihrem Blut (keineswegs skalpiert, denn so zivilisiert waren wir doch vorgegangen) – immer dann, wenn einer von ihnen sich allein vom Lager wegbewegte oder sich auch nur ein wenig abseits der Gruppe zum Schlafen niederließ, wurde er vom stummen Tod in Form einer indianischen Klinge heimgesucht. Dabei hatten sie sich alle Mühe gegeben, uns aufzuspüren, indem sie mit Doppelpatrouillen das umliegende Gelände durchkämmten, aber selbst diese Kundschafter waren niemals wiedergekehrt. Als sie es schließlich mit elektronischen und Infrarot-Sensoren versuchten, hatte die Androidin gute Dienste geleistet und die Geräte erfolgreich gestört.

Devteri mit all ihrem eingebunkerten Wissen und womöglich mit direktem drahtlosen Zugriff auf die Datenbanken der Welt versuchte ganz unmaschinenhaft ihrer Bewegung Herr zu werden: Wer kann ermessen, welche Titanen hoch über uns ringen, wenn bereits wir kleinen Menschen und Androiden derartige Tragödien veranstalten, wo wir doch nur im Chor stehen und den Refrain großer Ereignisse summen sollten. Nun – Sie wissen schon, wie ich dazu stehe: ich erkenne Kunst, wenn ich sie sehe, aber ich verabscheue Pathos. Mir reichten schon die einschlägigen Anwandlungen meines Kumpels Brian, und jetzt kam sogar diese Blech-Mieze damit an!

YELLOWHAWK:
(im trockenen Befehlston) Wir haben keine Zeit zu verlieren. Devteri – begrab die Toten, zerstöre alles, was wir nicht mitnehmen können! In einer Stunde ist Abmarsch!

Die Kleine vollbrachte ihr Werk sogar in kürzerer Zeit. Danach schulterte sie ihren Granatwerfer (er schien ihr richtig ans Herz gewachsen zu sein, obwohl sie ihn, jedenfalls soweit Yellowhawk und ich wussten, noch nicht benützt hatte) und schon war sie startklar. Sie ging wieder mit ziemlichem Tempo voran und drehte sich kein einziges Mal um. Ich glaubte zu wissen warum: sie ekelte sich, so seltsam das in Bezug auf sie klingen mag, vor den eingetrockneten dunkelroten Flecken auf unseren Kampfanzügen.

YELLOWHAWK:
(als könnte er Gedanken lesen) Ihre Bewusstwerdung schreitet voran!

Devteri, die natürlich Meile um Meile marschieren konnte, ohne je zu ermüden, und dabei noch in der Lage war, über komplizierte Sachverhalte zu referieren, schilderte uns die bei der Entwicklung ihres spezifischen Bewusstseins stattfindenden Vorgänge mit menschlichen Termini. So eindrucksvoll nämlich ihre von Anastacia programmierte Grundausstattung war, so dumm und ungeschickt wäre sie geblieben, wenn sie nicht fortwährende Lernprozesse durchlaufen hätte und noch immer durchliefe, die auf ureigenste individuelle Erfahrungen abstellte: All die verzweiflungsvollen Misserfolge! erzählte sie – ihr könnt euch das nicht vorstellen (wir konnten es sehr wohl, wollten aber ihrem Selbstrezeptionsgefühl keinen Abbruch tun). Offenbar war sie von der teilweise ungeplanten und auch unplanbaren Entwicklung ihres neuronalen Netzes manchmal so verwirrt gewesen, dass sie in ihrer (nennen wir es einfach so) Verzweiflung daran dachte, ohne ihre Schöpferin zu fragen ihre Kernspeicher neu zu formatieren und somit von vorne zu beginnen. Dabei war sie noch das am weitesten fortgeschrittene Element des Panagou’schen Androidentrios: so hatte ich es jedenfalls anlässlich der Übersiedlung von Anastacias Haushalt auf Sir Basils Anwesen verstanden.

YELLOWHAWK:
Bingo! Wenn die beiden anderen Teams mit Protos und Tritos Vorlieb nehmen müssen, haben wir demnach das große Los gezogen!

Und noch eines, Häuptling, meinte ich zur Bekräftigung: Eine Squaw ist eine Squaw! Was könnte es Schöneres geben für zwei einsame Männer fernab der Zivilisation als eine nette weibliche Begleiterin?

Devteri sah zunächst verständnislos von einem zum anderen, dann schien sie zu begreifen: Es gibt kein Hindernis, Ihnen auch in dieser Hinsicht zur Verfügung zu stehen, meine Herren. Die physische Ausstattung dazu ist vorhanden und wurde auch schon praktisch getestet. Wie romantisch, dachte ich, genau das Richtige für meiner Mutter Sohn. Yellowhawks unbeweglichem Gesicht war nichts anzumerken.

Mittlerweile erreichten wir den Einsatzort – gerade rechtzeitig, wenn man den Verlauf unserer Unterhaltung betrachtete: am Ende hätte ich mich noch zu der Frage verleiten lassen, wen von uns beiden sie nun mehr liebte, und da wären wohl ihre Schaltkreise ein wenig in Unordnung geraten.

Der Häuptling blieb abrupt stehen und deutete auf einen halbkugelförmigen Felsen. Er schien sich völlig sicher zu sein, so als ob Meridiane und Breitengrade für ihn deutlich sichtbar in die Landschaft gezeichnet wären.

YELLOWHAWK:
Hier ist es – in der Sprache der Bleichgesichter nur der Kreuzungspunkt geometrischer Linien, für uns Hualapi und für alle anderen, die ihre Sinne öffnen wollen, hingegen ein Ort, an dem bis zum heutigen Tag das Brausen der Schöpfungstage zu vernehmen ist – ein Ort auch, von dem einer der mächtigsten das ganze Universum durchziehenden Energiestränge seinen Ausgang nimmt.

Devteri und ich wollten das natürlich sehen, aber der Häuptling wies uns zurück: die Androidin solle sich in diesen Dingen auf ihre nüchternen internen Messgeräte beschränken und ich möge mich gedulden bis zum dem Moment, in dem wir im Einklang mit den beiden anderen Teams und der Zentrale diesen gewaltigen Generator in Betrieb nehmen würden.

YELLOWHAWK:
Hören allerdings, hören kannst du jetzt schon, wenn der Große Geist dir gnädig ist, Little Wolf.

Wir verharrten ganz ruhig rund um den Stein. Plötzlich setzte ein unheimliches Heulen ein, das alles übertraf, was ich in meinem Erfahrungsschatz unerfreulicher Situationen aufzuweisen hatte. Auch Devteri saß reglos und schien dieses alles übertreffende Geräusch als entsetzlich aufzufassen – ihre Evaluierungskraft war demnach viel besser als mein Freund annahm. Fragte sich nur, mit welchen synthetischen Gefühlen sie nun zu kämpfen hatte. Derlei Gedanken kamen mir aber erst viel später, als dieses ungewöhnliche Erlebnis wieder zu Ende war. Ich wusste aber, dass es – jedenfalls für mich – keine Antwort gab: Niemals würde ich, so sehr ich es mir auch zu wünschen begann, die innere Welt dieses Geschöpfs verstehen.

Als der Einsatzbefehl zur Erprobung der urzeitlichen Energiequelle kam (Devteri fing ein Signal auf und meldete es uns), stellte sich die Androidin abwehrbereit zu unserem Schutz auf, den Granatwerfer in Reichweite. Der Häuptling und ich legten knieend unsere Handflächen auf den Stein. Da war wieder dieses Heulen, weniger zermürbend diesmal, weil wir es schon einmal wahrgenommen hatten, dazu aber schien sich der Felsen mitten in dem Geviert unserer Hände zu öffnen. Eine phosphoreszierende Lichtsäule schoss gegen den Himmel und blieb ohne erkennbares Ende stehen.

Nicht dass eine herkömmliche Unter-haltung möglich gewesen wäre, aber ich hörte Yellowhawk gewissermaßen denken: Wenn man sich vorstellt, ging es ihm durch den Kopf, dass auf der anderen Seite der Stern Zeta Orionis steht!

409

Ich fuhr nicht zu meiner kranken Schwester, um deren vier Kinder zu betreuen. Nachdem Yellowhawk und Wolf abgereist waren, meldete ich mich auf der Stelle bei Sir Basil, für den ich in der Vergangenheit schon im Libanon und anderen Hot Spots britischer Interessen geheimdienstlich gearbeitet hatte.

Unser braver Dorfwirt, fragte Cheltenham fast routinemäßig, ist er gut zu Ihnen, Tyra? Für ihn blieb meine Ehe eine Langfristtarnung, die er persönlich eingefädelt hatte, um seine wahrscheinlich beste Agentin unauffällig in seiner Nähe zu haben. Da mochte ich ihm noch so oft zu erklären suchen, dass ein solches Leben, lediglich als Scheinidentität geschaffen, wohl kaum zu ertragen wäre, aber er insistierte auf seinem Standpunkt: Gerade als Scheinidentität sei das Leben am leichtesten zu meistern! Gerade die Möglichkeit, an jedem Punkt einer solchermaßen virtuellen Existenz dorthin fliehen zu können, wo man sein eigentliches Selbst ansiedelt, mache ein Ausharren in Alltag und Routine erträglich!

Er erinnerte mich an die exzentrischen und mondänen Biographien, die man gemeinsam für mich geschrieben hatte: die Nachtklubsängerin in Beirut, der zwielichtige Geschäftsleute, korrupte Politiker und arrogante Diplomaten zu Füßen gelegen waren; die IRA-Terroristin, die ein Trainingscamp für islamistische Kämpfer veranstaltet hatte; das Starlet (ein Glanzstück unserer Sammlung laut Cheltenham), das sich auf eine Annonce des Büros von Scheich Rahman hin für ein volles Jahr als Haremsdame verpflichtete. Mein Auftrag dabei war es, Einzelheiten über die Kontakte des Scheichs mit arabischen Kommunisten in Erfahrung zu bringen – was denn dahinter steckte, wenn einer der reichsten Männer der Welt einen Flirt mit linksextremen Kräften einging, von denen er am Ende in Nullkommanichts hinweggefegt wäre…

Ich wusste daher eine ganze Menge mehr vom Nahen Osten, als dass Washington gemeinsam mit London, Paris oder Tokio von Zeit zu Zeit wie gebannt auf die Auseinandersetzungen zwischen Israelis und Palästinensern starrte und sie alle zusammen keinen Schimmer hatten, wie sie dem Konflikt beikommen sollten, der die allergefährlichste Instabilität für die Weltlage begründete, die es seit den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts gab.

AHMED AL-QAFR:
Man konnte nur staunen, auf welch schwachsinnige Weise westliche Staaten, allen voran die USA, die Sympathien hunderter Millionen von Arabern aufs Spiel setzte, die ihnen für ein klein wenig Respekt und etwas Stoff für luftige souveräne Träume aus der Hand gefressen hätten. Ich persönlich weiß bis zum heutigen Tag nicht genau, wie die Pläne von Scheich Rahman lauteten, schließlich war ich nur sein kommerzieller Berater oder, wie du es einmal nanntest, sein Finanzjongleur, und das hat schon etwas für sich: wenn ich allein an das Projekt denke, das ich mit Ralph und Hardy eingefädelt hatte – da sprang schon einiges für die Privatschatulle meines Fürsten raus, selbst wenn man die vertraulichen Zuwendungen an den Orden der Orangenblüte abzog.

Von da her rührt auch unsere Bekanntschaft, denn du warst höchst einverstanden, Sir Basil gefällig zu sein – sicher ist sicher, wirst du dir gedacht haben, und was gibt es Schö-neres, als im Notfall vom britischen Imperial Emergency Service (einer Einheit, die damals komplett vom Orden unterwandert war) ein Ticket nach London zu bekommen…

AHMED AL-QAFR:
… und das unter Umständen, die noch verwickelter waren, als man es sich im Vorhinein hätte vorstellen können: Schließlich waren es ja die Yanks, die mich in der Schweiz hochnahmen, aber Anwar Fatih („Leuchtender Eroberer”, der spätere Ehrentitel Scheich Rahmans für Cheltenham) reagierte umgehend, und ich verschwand noch vom Zerstörer Battle Axe spurlos. Nach einer Schonfrist erlaubte mir mein Retter, den harmloseren Zweig meiner Geschäfte im Nahen Osten wieder aufzunehmen, und ich begann wieder zu reisen. Nur in Scheich Rahmans Reich ließ ich mich nicht mehr blicken – nicht um viel Geld wollte ich mich noch einmal von ihm demütigen lassen!

Der alte Lustmolch! Es stimmt schon, er war alles in allem ein ziemlich widerwärtiger Typ, und ich hatte wirklich keine Ahnung gehabt, auf was ich mich da einlassen würde. Nicht so sehr seine sexuelle Besessenheit an sich störte mich dabei, sondern die Tatsache, dass er – weil er auf halbwegs normale Weise keinen mehr hochbekam – immer verstiegenere Anreize benötigte. Da war es noch das Geringste, dass wir Frauen, jedenfalls die attraktiveren von uns, im abgeschlossenen Teil des Palastes nackt herumlaufen mussten, was man mit der Zeit schlicht und einfach als unbequem empfand.

Cheltenham hatte mich perfekt ausbilden lassen, und dazu zählte vor allem, dass man in einer erfundenen Vita uneingeschränkt alles tun muss, was dazu gehört. Wenn man nicht über kurz oder lang auffliegen möchte, gibt es einfach keine Grenzen, weniger vielleicht noch als wenn man wirklich die Person wäre, für die man sich ausgibt. Auf diese Art waren die ungewöhnlichsten Situationen zu meistern.

Sir Basil erschien bei Scheich Rahman offiziell, um eine Botschaft Ihrer Majestät zu überbringen, verlas dann irgendetwas Nichtssagendes, von dem sich der Potentat dennoch geschmeichelt fühlte. Inoffiziell galt es bei diesem Anlass eine Gelegenheit zu einem ersten Informationsaustausch zwischen uns zu finden. Dies erwies sich als sehr schwierig, sogar als praktisch unmöglich, bis der Scheich selbst unerwartet für unsere Chance sorgte. Er lud „den hochgeborenen Herold meiner königlichen Cousine? zu einem Besuch seines Harems ein – eine überwältigende Ehre!

AHMED AL-QAFR:
Mein Fürst empfing im so genannten Blauen Salon, einem nicht sehr großen, aber äußerst geschmackvoll eingerichteten Raum, der ein wenig an das Residenz-Zelt seiner nomadischen Vorfahren erinnerte. Er selbst saß in alter Tradition auf einem ganzen Stapel kostbarer Teppiche, flankiert von vier seiner Lustknaben und vier Dienerinnen. Hinter ihm musste ich Aufstellung beziehen – jederzeit sollte gewährleistet sein, dass dringende Geschäfte nicht warten mussten (das war jedenfalls der förmliche Grund meiner Anwesenheit).

Sir Basil trat ein, pathetisch angekündigt vom Chef-Eunuchen (selbst so etwas gab?s dort noch). Er verneigte sich, so weit wie es für das Protokoll gerade notwendig war, und wurde mit einer knappen Handbewegung eingeladen, rechts von Scheich Rahman Platz zu nehmen. Nun huschten die Dienerinnen hinaus und kamen mit mir in ihrer Mitte zurück. Ich war nur in ein Nichts von einem Seidenschleier gehüllt und genierte mich – trotz allem, was ich im Harem schon mitgemacht hatte – vor meinem Chef, der mich noch nie unbekleidet gesehen hatte.

Der Scheich erklärte mich zu seiner Leihgabe an seinen Gast, solange es diesem gefiele, dieselbe Luft wie seine unwürdigen arabischen Knechte zu atmen, denselben Sand aufzuwirbeln wie diese, das Mahl mit ihnen zu teilen. Innerlich jubelten wir auf: Nun konnten wir uns zurückziehen und unauffällig miteinander sprechen! Es war jedoch ganz anders gemeint.

Sir Basil, Baronet of Cheltenham, meinte der Scheich salbungsvoll, während er sich die fetten Hände rieb, wird uns, meinem Wunsch folgend, die Ehre geben, sich hier vor uns mit seinem Geschenk zu vergnügen. Er klatschte in die Hände, und ein weiterer Teppichstapel wurde hereingebracht. Beim nächsten Klatschen entledigte man den Chef seiner arabischen Kleidung, die er als Reverenz für seinen Gastgeber trug. Auch ich hatte ihn noch nie nackt gesehen, und er gefiel mir sehr gut, durchtrainiert und braungebrannt wie er war. An dieser Stelle verständigten wir uns etwas ratlos mit Blicken – klar schien uns nur, dass man die Mission keinesfalls gefährden dürfe.

Neuerliches Klatschen: Die Lustknaben salbten Sir Basil nach allen Regeln der Kunst, berührten ihn auch da und dort, so dass am Ende sein deutliches Verlangen, irgendwo einzudringen, sichtbar wurde. In der Zwischenzeit hatten die Dienerinnen mir Vergleichbares getan. Ich musste mich weit ausgebreitet und in allen Einzelheiten für alle Anwesenden sichtbar auf die Teppiche hinstrecken und wurde mit Pfauenfedern stimuliert. Wenn sie es denn darauf angelegt hatten, die Grenze zwischen Schein und Sein in mir zu verwischen, konnten sie es nicht wirkungsvoller tun: ich dachte an nichts anderes mehr, als dass Sir Basil zu mir kommen und mein Verlangen stillen würde.

Sorry, meine Liebe, flüsterte er, als er sich auf mich legte (die Pfauenfedern strichen nun über unser beider Körper hinweg). Keine Zeit für Gentleman-Phrasen, Sir! zischte ich. Tun Sie’s bloß – ich vergehe vor Verlangen nach Ihnen!

AHMED AL-QAFR:
Aufgeheizt wie sie waren, schien die Vereinigung der beiden ewig zu dauern. Der Scheich war ebenfalls in höchstem Maß erregt, denn es wollte offenbar einer jener seltenen Momente werden, in denen er noch eine Ejakulation hatte. Fast konnte man meinen, der Schlag würde ihn treffen, doch – bedauerlicherweise für mich – geschah das nicht. Mit einem Wink zwang er mich in die Knie und ergoss sich in den Mund seines Finanzberaters. Wäre nur ein Messer zur Hand gewesen, seine letzte Stunde hätte geschlagen. Aber nichts verhinderte meine Erniedrigung, und nichts geschah, um sie abzuwaschen. So kostete ich bis zur Neige das merkwürdige Schicksal, das mich einerseits als illegitimen Sohn Rahmans zum Prinzen, andererseits durch eine Sklavin als Mutter zum unwürdigsten Diener des Scheichs bestimmt hatte

Sir Basil und ich lagen noch immer eng umschlungen und völlig ausgepumpt da. Kaum konnte ich wieder einen klaren Gedanken fassen, da flüsterte ich ihm schon die Informationen zu, die ich gesammelt hatte. Scheich Rahman bemerkte dieses Lebenszeichen, deutete es aber in jene Richtung, in die ihn eine unbändige Gier nach rascher Wiederholung seines erfreulichen Erlebnisses trieb. Er gab den Befehl, uns erneut zu bearbeiten, in der Hoffnung, allein vom Zusehen in gleicher Weise wie zuvor profitieren zu können.

Ich kannte mittlerweile seinen Zorn, wenn etwas nicht nach seinem Willen verlief, und betete zu Gott, dass Cheltenham es so knapp danach ein zweites Mal bringen würde: ihm fiel schließlich die Hauptlast des Dacapos zu. Zu meiner nicht geringen Erleichterung machte es ihm jedoch anscheinend keine Probleme – im Gegenteil: war es vorhin offenes Feuer gewesen, erlebte ich nunmehr tiefe Glut.

AHMED AL-QAFR:
Erfreulicherweise für mich nützte das meinem Fürsten nichts. Nachdem er einige Male „Yallah! Yallah!“ gebrummt hatte, das Paar aber dadurch nicht beschleunigen konnte (selbstvergessen wie die beiden mittlerweile waren, fernab jedweder Realität), sprang Rahman mit einer für seine Leibesfülle bemerkenswerten Geschwindigkeit auf und verließ den Raum. Er, der normalerweise in einer für ihn so unbefriedigenden Situation jemanden mit Stockhieben bearbeiten oder mindestens auspeitschen ließ, verkniff sich dieses Mal derlei Ersatzbefriedigung angesichts der Anwesenheit eines hohen Repräsentanten Ihrer Majestät.

– – – – –

Wann immer ich später vor Sir Basil trat, stand diese Szene wieder zwischen uns, unausgesprochen und dennoch – obwohl sie sich niemals wiederholte, da der Geheimdienst plötzlich sein Interesse an Rahman verlor und ich mich daher bei erster Gelegenheit aus dem Harem absetzte – extrem bindend: Ich wäre für Cheltenham durchs Feuer gegangen und wusste, dass er dasselbe für mich tun würde. Über seinen Auftrag traf ich Ahmed Al-Qafr in Alexandria.

Dieser hatte einen Landrover vorbereitet sowie die gesamte Ausrüstung für einen langen Ausflug in die Wüste. Ich freute mich schon auf eine Erneuerung unserer Bekanntschaft, Ahmed war für mich nicht (oder zumindest nicht nur) der eiskalte Zyniker, mit dem es etwa Franca Caravaggiolo zu tun gehabt hatte, sondern auch jener andere: der selbst Geschundene und Getretene, der mühsam seinen Platz in einer einigermaßen erträglichen und verständlichen Wirklichkeit suchte.

AHMED AL-QAFR:
Wie bei fast allen ihrer Mentalität nach immer noch ziemlich steinzeitlichen Menschen erlebst du als männlicher Araber das Erwachsenwerden als Schock. Während du zunächst einige Jahre lang ausschließlich mit der Mutter zu tun hast, die dich – so schlecht es ihr selbst auch gehen mag – pflegt und nach Kräften verwöhnt, dich in einem fort körperlich berührt und in der angenehmsten Weise mit dir spielt, sodass du eigentlich ständig in einer Wolke aus Wohlbehagen schwebst, reißt dich zum vorherbestimmten Zeitpunkt der Vater brutal aus der Idylle und vermittelt dir ohne Rücksicht auf deine Gefühle, was ab sofort Sache ist. Und da ich noch dazu der Sohn einer einmal benutzten und danach nie wieder beachteten Sklavin war, passierte noch viel Schlimmeres: ich wurde bis zur äußersten Minderwertigkeit herabgewürdigt, denn der Scheich behandelte mich nicht nur selbst schlecht, er erlaubte dies auch allen anderen seiner Umgebung. Sogar als er mich zum Wirtschaftsstudium nach England schickte (in den Augen seiner legitimen Sprösslinge ein ungeheures und unverdientes Privileg), geschah es nur in der Überzeugung, dass er in allen Dingen meiner hündischen Ergebenheit sicher sein konnte. Zu Rahmans Pech machte ich allerdings die Bekanntschaft von Sir Basil, und es gab bei mir erstmals eine Ahnung, was ein Vater unter Umständen wirklich sein konnte.

Darüber und über vieles andere unterhielten wir uns, während wir an der Mittelmeerküste entlang nach Südwesten fuhren und nach dem Buhayar Maryut ins Landesinnere abzweigten. In Al-Amiriyah folgten wir nicht weiter der Piste nach Al-Jizah, sondern bewegten uns sozusagen querfeldein genau nach Süden, vorbei am Wadi an Natrun, bis wir den 30. Breitengrad erreichten. Diesem versuchten wir in genau östlicher Richtung zu folgen, was angesichts der topographischen Verhältnisse äußerst schwierig war.

Gekleidet wie Beduinen, ernährten wir uns nach Art der Wüstenbewohner, unterhielten uns mittlerweile auch auf Arabisch, und da offenbar weit und breit niemand war, sang ich manchmal abends, wenn wir uns vor dem Zelt am offenen Feuer wärmten, für Ahmed das eine oder andere der schmelzenden Liebeslieder, die ich im Libanon gelernt hatte – manchmal auch eine jener schwermütigen Balladen, die ich ebenfalls kannte, aber nicht aus den Casinos von Beirut, sondern von den Djihad-Kämpfern im Camp, die – wen sollte es wundern – zu Zeiten auch ganz normale Menschen waren.

In jenen Abendstunden in der Wüste bettete Ahmed seinen Kopf in meinen Schoß, und es war eine ganz neue Erfahrung: Für ihn schien es die lang ersehnte Rückkehr zur embryonalen Geborgenheit zu sein, ausgerechnet durch mich, deren Intimstes in Scheich Rahmans Palast vor seinen Augen nach außen gekehrt worden war, um dem alten Bock einen seiner seltenen Genüsse zu verschaffen – für mich fand (ich erlebte es in meinem Beruf nicht zum ersten Mal) die unbegreifliche Mutation eines perversen Sadisten, der mehr als eine Frau entsetzlich gequält hatte, in das unschuldige Kind statt, als das er einmal gestartet war.

Man kann sich anhand meiner Biographie vorstellen, dass ich nicht gerade den mütterlichen Typ verkörpere: derlei kann sich in den Straßen von Belfast, aus denen ich stamme, nicht besonders gut entwickeln. Dennoch: als wir uns mühselig an unseren Zielort, den Schnittpunkt von 30° Nord mit 30° Ost, heran gearbeitet hatten und unser Lager aufschlugen, gewährte ich ihm nach vielem Drängen seinerseits und einigem Zögern und Zweifeln meinerseits seinen Wunsch. Und ehrlich gestanden, ich bereute es nicht.

AHMED AL-QAFR:
Ausgerüstet mit den Erfahrungen aus der elementaren Zärtlichkeitsschule unserer Mütter haben wir arabischen Männer tatsächlich einiges zu bieten – in Kombination mit dem Kampfgeist unserer Väter: seien diese auch noch so miserable Gesellen, so lernen wir doch von ihnen, uns die Genüsse des Lebens ebenso unverfroren und hemmungslos anzueignen wie wir die Entbehrungen hinzunehmen gezwungen sind. Dessenungeachtet müssen wir in jener Nacht beide völlig von Sinnen gewesen zu sein, an dieser heiklen Stelle des Universums, an die uns Sir Basils Befehl dirigiert hatte, jegliche Vorsichtsmaßnahme zu unterlassen.

Jedenfalls erzählte uns Protos (einer der drei geschwisterlichen Androiden der Anastacia Panagou, der uns heimlich gefolgt war, um unser Unternehmen bestmöglich abzusichern), er habe in der zweiten Nachthälfte mehrere Versuche uns auszulöschen abgewehrt. Er zeigte uns einen tragbaren Granatwerfer und fragte uns verwundert, ob wir denn gar nichts gehört hätten. Wie sollte man ihm erklären, dass ich das Feuerwerk wohl gehört, aber den Vorgängen in meinem Inneren zugeordnet hatte. Ahmed mochte ähnlich Gedanken hegen, denn er meinte, das wäre wohl ein gar schöner Tod geworden…

So stimmt es also, vermutete Protos, dass richtige Menschen (wirklich: er sagte richtige Menschen!) bei dieser Art Aktivität ihre rational orientierten Schaltkreise außer Kraft setzen? Leicht verwirrt zog er sein Beduinengewand enger, wandte sich seinem Kamel zu, das in der Nähe angepflockt war, und sagte zornig: Selbst diese Kreatur da, die ich mir in einer zeitversetzten Epoche geborgt habe, um rascher voranzukommen – hat kein Gefühl für die Einzigartigkeit der Situation, sondern denkt ausschließlich ans Fressen, wenn ich seine Hirnströme richtig deute. Warum müsst ihr überhaupt Nahrung aufnehmen? schrie er das Tier an, das ihn jedoch bloß anstarrte und seinen Kopf nach den Datteln streckte, die Protos in der Hand hielt.

Mir war das im Moment alles zu kompliziert. Selbst die Gefahr, die uns offenbar gedroht hatte, schien mir mehr als unwirklich. Ich ging zurück ins Zelt, ließ mich auf das noch warme Nachtlager zurückgleiten und dachte an die Koseworte, die Ahmed mir mit der poetischen Eindringlichkeit seiner Muttersprache ins Ohr geflüstert hatte: Tamina, du Kostbare – Rauda, mein Paradies – Suad, die Beglückende – Karima, du Edle – Maluk, meine Königin – und schließlich als Finale Wahsijja, die Wilde.

Aber schon riss mich Protos wieder aus meinen Träumen (ach, mein Geliebter, der du draußen sitzst und rauchst, warum hast du ihn nicht zurückgehalten?).

Darf ich auch mal? fragte mich der junge Mann herausfordernd. Ich begriff zunächst gar nicht, was er wollte. Dann dämmerte es mir und ich fuhr ihn an: Glaubst du vielleicht, ich bin hier die Expeditionshure?

Er trat einen Schritt zurück, ließ aber nicht locker. In den Files des Geheimdienstes habe ich Berichte über eine Agentin gefunden (anonymisiert zwar, aber die Beschreibung passt auf dich), die im Rahmen ihrer Pflichten Verschiedenes getan hat, ohne sich als Hure zu fühlen.

Von diesem Moment war ich um Schadensbegrenzung bemüht: man musste hier offenbar mit einem pubertierenden Androiden fertig werden. Es gibt immer Ausnahmesituationen, erklärte ich, aber normalerweise machen Menschen es, weil sie sich lieben. Und es hilft alles nichts: wenn du – was wahrscheinlich in Anastacias Absicht liegt – möglichst menschenähnlich werden willst, musst du dich von der extremen Rationalität deiner Grundausstattung lösen und selbstlernende neuronale Verbindungen zulassen, so dass du in vergleichbaren Situationen einmal so und einmal anders reagieren kannst.

Ahmed, der alles mitbekommen hatte, war von hinten auf Protos zu getreten und legte ihm begütigend die Hand auf die Schulter, das heißt: so verstand ich es, der Android aber glaubte sich wehren zu müssen und versetzte meinem Geliebten einen Hieb, der ihn einige Meter durch die Luft fliegen und unsanft im Sand landen ließ. Man konnte Ahmed nichts anmerken. Er blieb ruhig, stand auf und sagte nur: Wir haben einen Job zu erledigen! In diesem Moment erfolgte ein neuerlicher Angriff.

Das Geschoß atomisierte das Zelt, aus dem ich vor einer Minute herausgetreten war. Wir beschlossen, die Feinde aufzuspüren und auszuschalten, um unsere Aufgabe in Ruhe zu Ende bringen zu können. Protos schlug vor, mit dem Kamel (das er bald wieder in seine angestammte Epoche zurückschicken musste) in jene Richtung zu reiten, in der er die Feinde vermutete – so würde er sie entweder finden oder jedenfalls ihre Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Ahmed und ich sollten den Rover samt Granatwerfer inzwischen unbemerkt einige hundert Meter weiter zwischen Sandhügeln postieren und allenfalls auf seinen Funkbefehl hin feuern.

AHMED AL-QAFR:
Gesagt getan – aber für Tyra und mich verstrich eine endlos lange Zeit, in der nichts von alledem geschah. Es wurde wieder Nacht: unsere klare kalte arabische Wüstennacht mit einem Mond, der – – so heiß er, groß und orangerot, auch die Abende macht – zu silbernem Eis erstarrt scheint. Ich war kein Provokateur und auch kein Agent der Gegenseite, aber ein Mann, der eine frierende Frau, mit der er eine Decke teilt, nicht unberührt lässt, schon gar nicht in einer solchen Nacht, die jeden, der fern der Wüste aufgewachsen ist, auf eine Traumreise schickt, von der er, wenn überhaupt, lange nicht wiederkehrt. Als ich aus einem Schlaf der Erschöpfung aufschreckte, war es heller Tag. Auf einer der uns umgebenden Dünen stand Protos, offenbar tief in seine synthetischen Gedanken versunken. Sein weißer Haïk war über und über mit Blut befleckt.

Als er merkte, dass auch ich erwacht war, kam er zu uns herunter. Was er uns zu erzählen hatte, begann er in seiner seltsam gespreizten und etwas komplizierten Art: Um ein Haar hätte er seine Direktive verletzen müssen, derzufolge er Menschen nicht ernsthaft attackieren dürfe, es sei denn in extremer Selbstbehauptung oder zum Schutz von ihm anvertrauten Personen.

Da wir anscheinend seine Aufforderungen, das Feuer zu eröffnen, völlig überhört hatten, waren die Männer, die uns vernichten wollten, unbehelligt fast bis zu unserem Versteck vorgerückt. Auf der anderen Seite der Hügel wurden sie von Protos der Reihe nach regelrecht abgeschlachtet (und ich übertreibe nicht, denn ich konnte mich kurz danach davon überzeugen). Bei Gott, ich habe schon mehr Tote gesehen als viele andere Leute, aber beim Anblick dieser Zwölf stockte mir der Atem.

AHMED AL-QAFR:
Er konnte eben seinen Stil noch nicht so recht finden, Tyra. Immerhin hat er uns das Leben gerettet, denn die andere Seite hielt für uns kein besseres Schicksal bereit – und vergiss vor allem eines nicht: wir dürfen auf dieser Mission keine Gefangenen machen.

Es war höchste Zeit, dass wir an den eigentlichen Zweck unserer Reise dachten. Allerdings war ich etwas ratlos, wo genau wir ansetzen mussten, denn für meine Begriffe wussten wir nur die Koordinaten, und dort, auf 30/30, war definitiv nichts außer Sand, kein Hinweis auf ein Objekt, das nach irgendeinem magischen Zweck aussah.

AHMED AL-QAFR:
Nun kam uns zugute, dass sich mein schwer angeschlagenes Selbstbewusstsein nicht nur mit immer wiederkehrenden exzessiven Sadismus-Schüben bemerkbar machte, sondern auch durch bestimmte Studien jenseits der Ökonomie sublimiert wurde. Als wäre ich unterschwellig gedrängt worden, die oft so unerquickliche Gegenwart in mancher Weise zu relativieren, vor allem die Bedeutung des Vaters zu marginalisieren, beschäftigte ich mich intensiv mit den Hervorbringungen alter Kulturen – was immer Großartiges getan worden war, es gab einen Trost für mich: all die Schöpfergestalten in den Pantheons der Geschichte waren tot und ich lebte. Am meisten interessierte mich naturgemäß die Region, in der ich aufgewachsen war und in die mich ohnehin immer wieder Geschäftsreisen führten.

Ahmed zeigte uns, wie er mit Hilfe eines von der Akademie der Wissenschaften in Kairo entwickelten Gerätes Orte mit starken mentalen Impulsen finden konnte. Mit diesem Apparat, der nicht größer war als ein Geigerzähler und auch ein ähnliches Schnurren hören ließ, ging er rund um die Stelle, wo Meridian und Breitengrad sich kreuzten. Dort wo das leise Basisgeräusch in ein lautes Knattern überging, musste Protos graben und stieß bereits, nachdem er wenige Handbreit Sand entfernt hatte, auf einen halbkugelförmigen Felsen, den er ganz freilegte.

Ahmed schaltete sein Gerät ab und deutete uns, ganz still zu sein, und da hörten wir es – ein unheimliches Heulen, das alles übertraf, was mir bis jetzt zu Ohren gekommen war. Auch Protos schien ganz verwirrt, weil er mit den ungelenken Assoziationen, die dieses Geräusch in seinen Schaltkreisen auslöste, nicht fertig zu werden schien. Plötzlich straffte er sich aber: er hatte das Signal für einen Probeeinsatz erhalten.

Wir befahlen dem Androiden, sich abwehrbereit zu postieren, den Granatwerfer neben sich griffbereit. Ahmed und ich knieten nieder und berührten mit unseren Handflächen den Stein. Das Heulen nahm zu, inzwischen weniger entnervend zwar, weil wir es schon kannten, aber nun schien sich der Felsen zwischen unseren Händen zu öffnen. Eine phosphoreszierende Lichtsäule schoss gegen den Himmel und blieb ohne erkennbares Ende stehen.

AHMED AL-QAFR:
(man kann ihn eigentlich nicht hören, eher schon seine Gedanken lesen) Wenn man sich vorstellt, dass auf der anderen Seite der Stern Epsilon Orionis steht!

410

Wie alle Diktatoren war Iadapqap Jirujap Dlodylysuap oder Augustus Maximus Gregorovius äußerst ängstlich. Als damals die Geräusche in dem Palast, den er gerade bewohnte (er pflegte sein Quartier aus Sicherheitsgründen des öfteren zu wechseln), ihren Anfang nahmen, ließ er alles gründlich durchsuchen. Das bedeutete für seine nächste Umgebung zunächst schlüssig, dass er etwas müde geworden war, sonst hätte er sich damit gar nicht aufgehalten, sondern wäre übersiedelt – nicht ohne das Gebäude unmittelbar nach seiner Abreise abfackeln zu lassen.

Weiters vermutete seine Entourage, der Gefürchtete habe Halluzinationen – gefunden wurde nämlich nichts, und niemals nahm jemand anderer diese Geräusche wahr. Das nervte den Tyrannen derart, dass er sogar von den üblichüblichen grausamen Verhaltensweisen abging und das eine oder andere Mal mit Personen aus der Dienerschaft seinen Missmut diskutierte, anstatt diese sofort hinrichten zu lassen. Die plötzliche Milde verunsicherte die Leute zutiefst, insbesondere jene, die sich daran gewöhnt hatten, ein zwar luxuriöses, aber ständig mit einem abrupten Ende bedrohtes Leben zu führen.

Der geheime Leibwächter Pifsixyl Xifu (das ist jener Doppelgänger Dalís, dem der Commander und Geliebte Mango Berengas nachgespürt hat, ohne allerdings je seinen wahren Beruf herauszufinden) setzte seinen ganzen Ehrgeiz daran, den Grund für die Beeinträchtigungen seines Herrn herauszufinden: Er sah als einzige Möglichkeit, die verschroben anmutenden Wahrnehmungen ernst zu nehmen und systematisch aufzuzeichnen, wann und wo diese stattgefunden hatten. Diese Lokalisierung des Phänomen brachte ihn allerdings nicht wesentlich weiter, denn der sensible Bereich umfasste eine ziemliche Flucht von Gängen mit den angrenzenden Räumen und reichte über drei Stockwerke.

Erst als er jeden in Frage kommenden Raum codierte, die Codes auf einen zweidimensionalen Raster übertrug und dort die bisherigen Beobachtungen einzeichnete, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: er musste offenbar in einem komplizierten Spiel gegen einen Computer antreten. Xifu arbeitete sodann mit statistischen Methoden einen Einsatzplan aus, anhand dessen er sich in dieser Nacht da und an jenem Tag dort auf die Lauer legte: Da die mit hohem Personalaufwand gemachten Durchsuchungen keinerlei Erfolg gezeitigt hatten, war dieser zeitintensive Weg die einzige verbleibende Alternative.

Mehrmals kreuzte sein Zufallspfad jenen des geheimnisvollen Besuchers, und wenn dieser vor Xifu dagewesen war, fand sich die eine oder andere marginale Spur. Manchmal hatte der Agent den richtigen Raum für ein Zusammentreffen gewählt, merkte das aber gar nicht, weil sein Fahndungsobjekt erst ein oder mehrere Tage nach ihm dort erschien.

Grafik 4.5

Seine selbstgestellte Aufgabe war überdies wesentlich komplizierter, als man sich das aus der Ferne vorstellen kann. Schließlich war der Palast wie alle derartigen Behausungen des Diktators von geradezu überbordender Üppigkeit. Weite und vor allem außergewöhnlich hohe Räume – entsprechend der geringen Schwerkraft des jenseitigen Planeten Jifihikxli, auf dem alles scheinbar endlos gegen den Himmel aufragte, besonders die Gebäude, die man für Dlodylysuap und die gesamte herrschende Klasse nach ihrem Exodus von der Heimatwelt errichtet hatte. Die Ausstattung war kostbar, an den edelsten Materialien und den feinsten Stoffen hatte man nicht gespart, und – wie man sich lebhaft vorstellen konnte, gegen den Rat der Geheimpolizei – gab es Dutzende Tore, Nischen, Mauerecken, Treppen sowie komplizierte Möbelkonstruktionen. Alles in allem war es ein Eldorado für jemanden, der sich zu verstecken beabsichtigte.

Und dann noch die Etikette in der Umgebung des Tyrannen: hatte man sich schon auf der Heimatwelt, auf der alles noch relativ einfach abgelaufen war, im Dunstkreis der Macht komplizierten Ritualen unterwerfen müssen, so war dies hier (wo man nur die stille Wut der zahlenmäßig geringen Ureinwohner zu spüren bekam, aber nicht mit dem abgrundtiefen Hass der vielen hundert Millionen aus den unteren Gesellschaftsschichten des alten Planeten rechnen musste) bis zur Absurdität gesteigert. Der Herrscher wurde bei jeder Begegnung auf äußerst devote Art gegrüßt, wobei man das, was man gerade mit sich trug, absetzen oder fallen lassen musste. Auch allen Gegenständen seines Gebrauchs wurde – wann immer man an ihnen vorbeiging – eine Ehrenbezeugung geleistet: auch dabei mussten die Hände frei sein, um den vorgeschriebenen Schematismus vollziehen zu können – Handflächen nach vorne kehren, in dieser Haltung in eine tiefe Hocke gehen, Handrücken gegen den Boden pressen und danach Hände an die Stirn führen, zum Abschluss eine Verneigung, wobei noch immer die leeren Hände gezeigt werden mussten. Dass dabei an systematische und progressive Arbeit nicht zu denken war, versteht sich von selbst.

GRÄFIN VON B.:
So viel erfuhren wir durch den ersten Bericht der AP 2000 ®, der über Vera (die am Sternentor ausharrte, um unsere Kommunikation aufrechtzuerhalten) an uns gelangte. Erst jetzt begannen wir zu ahnen, welch weitgestecktes und komplexes Projekt Cheltenham und Chicago mit Berenices Unterstützung aufgezogen hatten – und wie es aussah, wussten nicht einmal die beiden Architekten der Aktion alles: Die Walemira Talmai hatte im Falle Veras die Fäden ganz allein gezogen. Um den Türhüterplatz am Berührungspunkt zweier Welten einzunehmen, musste die Magier-Assistentin der größtmöglichen Selbstentäußerung, nämlich der Hingabe des irdischen Lebens unter Qualen, zustimmen. Ihre Abwesenheit bei Romualds letzter Show, ihre Folterung und Ermordung, ihr Auftreten als telepathischer Kontakt, um zu signalisieren, dass alles geklappt habe – alles vorherbestimmt von Berenice, die allein wusste, wie schwierig es war, an der Nahtstelle der beiden Universen zu agieren: wie sie selbst musste man dafür weit über sich selbst hinauswachsen in einem elementaren Initiationsprozess.

Gebt der Schlange und mir ein Zeichen, dass ihr unsere Botschaft erhalten habt!

GRÄFIN VON B.:
Wir gaben der AP 2000 ® das Zeichen und sie meldete weiter, um nur ja das Wesentlichste zu vermitteln, bevor womöglich die Verbindung durch irgendetwas oder irgendjemanden unterbrochen wurde. Auf meine Frage, ob Margo Berenga nicht auch direkt Kontakt mit mir aufnehmen könnte, erfuhr ich, dass sich das Team geteilt hatte: Mango und der Commander mit den vier Gefangenen warteten auf ihre Gelegenheit, während die Androidin und ihr Haustier sich am gegenwärtigen Aufenthaltsort des Tyrannen versteckten. Schließlich waren sie es, die uns präzise Daten von der Struktur des Gefürchteten zwecks Herstellung eines möglich perfekten künstlichen Klons zukommen lassen sollten.

Der Commander hatte uns überra-schenderweise ohne weiteres ziehen lassen – er wusste also jedenfalls, dass ich keineswegs nur als Spielzeug der vier Professoren mitgefahren war: diese lächelten auch ohne mich in einem fort, vielleicht ein wenig gequälter, aber im Prinzip waren es ja vor allem die Drogen, die sie in ihrem wohltemperierten Zustand erhielten. Was Keyhi Pujvi mit seiner menschlichen Konterbande genau vorhatte, entzog sich allerdings zu diesem Zeitpunkt noch meiner Kenntnis. Mango Berenga, die in meine eigentliche Mission eingeweiht war, wünschte mir Glück (ich selbst würde eher sagen, sie erwartete, dass ich mit einem Konfidenzintervall von 99,9 % ein positives Ergebnis erzielen würde).

Apropos Probabilitäten: ich hatte na-türlich nach nur wenigen Beobachtungen das System dieses Agenten identi¬fiziert, und von diesem Moment an hatte er nicht die geringste Chance mehr, der Schlange und mir zu begegnen. Sein Modell war übrigens nicht schlecht, aber doch ein wenig einfältig. Selbst wenn wir uns ebenfalls rein zufällig bewegt hätten und ihm nicht gezielt aus dem Weg gegangen wären, wären seine Aussichten auf einen Treffer nur bei 11,1 % gelegen.

GRÄFIN VON B.:
Fasziniert hat mich auf jeden Fall der Lebensstil des Diktators, denn er ließ (wie wir den Berichten der AP 2000 ® immerhin entnehmen konnten, obwohl sie keine fachkundige Hofberichterstatterin war) trotz der zum Teil widrigen Umstände, in die seine Herrschaft geraten war, renaissancehafte Züge erkennen. Wie er praktisch die ganze Zeit einen Leibwächter um sich hatte, der aber nicht als solcher auftreten durfte, sondern in die Inszenierungen des Alltags eingebunden wurde; wie er schon beim Aufwachen einige Vertraute vorfand, die unterwürfig die letzte Schlafperiode beobachteten, nur um ihn, kaum dass er ein Auge auftat, bereits mit ergiebigem Katzbuckeln und verbalen Schmeicheleien zu empfangen; wie er gewaschen und gesalbt, rasiert und frisiert und zuletzt angekleidet wurde, ohne selbst auch nur einen einzigen Finger zu rühren; wie sein Frühstück von einem schlotternden Individuum vorgekostet wurde, was angesichts der freundlichen Ergebenheit der Adels- und Offizierskaste mindestens einmal pro Woche letal ausging; wie er an den Tagen, an denen er einer solchen Ergötzung ent¬raten musste, ans Fenster gebeten wurde, nur um anzusehen, wie einer seiner Untertanen, die man eigens zu diesem Zweck vom Heimatplaneten einflog, auf irgendeine bestialische Weise zu Tode gebracht wurde; wie das den ganzen Tag so weiterging, sodass man sich gar nicht vorstellen konnte, wann er denn seine eigentlichen politischen Taten setzte.

Mein Plan reifte schließlich heran. Bei Einbruch der Dämmerung, wenn die Aufmerksamkeit des Hofstaats angesichts der Dauerstressbelastung üblicherweise zu erlahmen schien, würde ich durch einen Überraschungscoup die gesamte Umgebung des Diktators von ihm weglocken.

Grafik 4.6

Das wurde mein großer Auftritt. Ich besorgte mir aus dem Kämmerchen einer der jungen Frauen, die den Palast bevölkerten (und deren Zweck es zu sein schien, dem flüchtigen Vergnügen des Tyrannen selbst oder auch als Belohnung für treue Gefolgsleute zu dienen), ein bestimmtes Outfit, das ich in meinem Objektspeicher als „Showgirl? identifizierte: ich konnte es mir zwar nicht restlos erklären, aber wenn die Männer des jenseitigen Universums derlei zu Gesicht bekamen, trat in ihre Augen das gleiche merkwürdiges Glitzern, das ich schon von Zuhause kannte, der eine oder andere begann auch zu sabbern und jeder von ihnen verspürte offenbar das dringende Bedürfnis, mit der so gekleideten Frau das zu tun, worauf meine Schöpferin bei meiner Gestaltung und Programmierung so besonders großen Wert gelegt hat. Für mich war’s ähnlich wie bei Professor Kouradraogo (als er noch seine Sinne beisammen hatte) oder bei Herrn Chicago eine intellektuelle Herausforderung an die Leistungsfähigkeit meines Emotional Response Model.

GRÄFIN VON B.:
Anastacia Panagou, die neben mir den Auslassungen ihrer Androidin folgte, die in solchen nicht endenwollenden Tiraden, Wichtiges und Unwichtiges miteinander verwebend, auf uns niederprasselten, dachte intensiv über veränderte Algorithmen für die Assoziativität künstlicher Wesen nach. Was ihnen nämlich an Kreativität fehlen mochte, machten sie durch die bemerkenswerte Variabilität wett – Speicherplatz für den Denkschrott war selbstverständlich ausreichend vorhanden. Erinnern Sie sich, sagte Anastacia, an die seinerzeitigen Schachcomputer, die (wenn überhaupt) dem Menschen aus dem trivialen Grund überlegen waren, dass sie die Konsequenzen jedes Zuges, der zur Auswahl stand, bis in die kleinsten Verästelungen zu Ende dachten, und zwar mit einem winzigen Zeitaufwand… – während dieser endlosen Argumentationskette der Panagou konnte ich mir lebhaft vorstellen, von wem die AP 2000 ® ihre Redseligkeit hatte.

Ich ging mit einigen raschen Schritten – Kreuz hohl, Brust heraus, Arme erhoben – an der Tür des Saales vorbei, in dem alle Welt sich aufhielt. Die Schleppe meines Kostüms wehte hinter mir her, die Pailletten glitzerten. Beleuchtet von den niedrigen Lichtquellen wurde mein Schatten überlebensgroß an die Wand geworfen. Wie auf Kommando rannten alle bis auf den Tyrannen (der wartete vielleicht darauf, dass jemand ihn trug) hinter mir her, bloß um einen Blick zu werfen die Damen, einen Blick zu riskieren und mich anzufassen die Herren. Als ich sie weit genug geführt hatte, verschwand ich in eines der vielen von uns ausgekundschafteten Verstecke und war plötzlich verschwunden.

Auf Umwegen kehrte ich sofort zurück und verschloss die Tür jenes Saales mit einer Kraftfeldsperre. Die Schlange war währenddessen nicht untätig gewesen. Sie hatte sich um die Handgelenke des Diktators geschlungen und fesselte ihn an sein Bett, indem sie auch eine der vier Säulen, die den goldenen Baldachin trugen, mit ihrem Körper umklammerte. Niemand konnte ihm helfen, er war in unserer Gewalt – so dachten wir. In diesem Moment stürzte der Agent, den wir so lange an der Nase herumgeführt hatten, durch eine unauffällige Tapetentür (er kannte sich eben auch sehr gut aus in diesem Räume- und Gänge-Gewirr). Er richtete einen Gegenstand auf mich, den ich mit hoher Wahrscheinlichkeit als eine Handfeuerwaffe diagnostizierte. Sie sind ein kluger Mann, Agent! sagte ich lobend.

Meine Freunde nennen mich Pifsixyl, kurz Pif, antwortete er, und ich werde Sie jetzt leider erschießen müssen. Darauf ich: Meine Freunde nennen mich Anpan, und Sie können mich nicht erschießen, weil ich nämlich unter meiner wunderschönen zarten Haut einen Metallpanzer habe. Ich trat neben ihn und applizierte in seinem Nacken einen Nervengriff, der ihn zwar noch sehen und hören ließ, aber nicht mehr sprechen oder sich bewegen.

GRÄFIN VON B.:
Wir fragten uns, wo sie wohl diesen Trick gelernt hatte, aber auch Anastacia wusste es nicht. Wir konnten uns nur darüber freuen, wie perfekt sie weiter vorging. Sie entblößte den Herrscher, der angesichts seiner Lage einerseits große Angst hatte, andererseits aber leuchtete ihm die Gier nach diesem Weibsstück aus den Augen, und als Anpan auf ihn aufritt, entspannte er sich und ließ sich mit Vergnügen von ihr befriedigen. Sie aber, die nicht durch eine reale Gefühlssphäre abgelenkt war, sondern sich auf zwei rationalen Ebenen bewegte, scannte ihm inzwischen Leib und Seele und übermittelte uns die Daten. Als Anastacia die Parameter überprüft hatte, mussten wir der AP 2000 ® bedauerlicherweise mitteilen, dass es sich (nach allen Anhaltspunkten, die wir uns aus den Nachforschungen von Colonel Kendick heimlich beschafft hatten) nicht um den Diktator, sondern um einen Doppelgänger handelte, allerdings bloß um einen ganz gewöhnlichen aus seinem eigenen Universum.

Welcher genauen Art der Doppelgänger war, interessierte mich in diesem Augenblick nicht. Unsere Mission war gescheitert und drohte (wie ich an den Geräuschen der Meute hören konnte, die sich an der Außenseite der Saaltür zu schaffen machte) darüber hinaus in einem Desaster zu enden. Ich versetzte der wertlosen Marionette einen Schlag, packte die Schlange, warf mir den netten betäubten Agenten über die Schulter und flüchtete mit den beiden durch die Tapetentür, nicht ohne auch diese mit einer Kraftfeldsperre zu versehen.