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4. TEIL
VERBRECHEN
UND BLICKE, DIE UNS TRAGEN

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401

Es ist ja – wenigstens den Eingeweihten – bereits sattsam bekannt, dass die andere Realität nicht von präziser Spiegelbildlichkeit geprägt war: Das begann bei der Tatsache, dass die Biographien von Doppelgängern be-merkenswerte individuelle Abweichungen aufweisen konnten, und reichte bis dorthin, wo zeitliche Anomalien (wie etwa im Gebiet der Station VIÈVE) oder andere strukturelle Verwerfungen beider Universen auftraten.

Das erste einschlägige Phänomen widerfuhr mir bald, nachdem ich die Grenze zur Alpha-*-Welt überschritten hatte. Auch dort gab es etwas wie den Mühlenstern, aber wie verschieden waren Aussehen und Zielsetzung der beiden Himmelskörper! Während diesseits versucht worden war, der Denkmaschine eine adäquate äußere Form zu geben, hatte drüben jemand seinen Ehrgeiz daran gesetzt, den Planeten (der wie jener der Alpha-Welt um eine tote Sonne kreiste) in ein Symbol mit einem kugelförmigen Kern und daraus hervorspringenden Strahlen zu verwandeln. Eine weithin sichtbare Leuchtschrift gab dem Herannahenden die Botschaft bekannt, die ich zunächst nicht verstand: VLAXOL P’TOPQOLK OKXO KIBO!

Auch an diesem Ort war – analog zu GWL-M – niemand anwesend, den ich als Person hätte identifizieren können – und dennoch war Kommunikation möglich. Obwohl man es mir nicht leicht machte, half mir meine phänomenale Datenverarbeitungskapazität, die mich jegliches Sprachproblem in kürzester Zeit überwinden ließ, und als erstes lernte ich die Bedeutung dessen verstehen, was ich gelesen hatte: BRÜDER, SCHWESTERN, DAS ENDE IST NAH!

MISS SERPENTINA:
Mangelndes Selbstbewusstsein schien schon damals nicht Vangelis’ größtes Problem gewesen zu sein. Jedenfalls musste er nach seinen Berichten, um die ich ihn immer wieder bat – und zwar in der für mich genussvollen konventionellen Form, nicht mittels nüchternem Rapid Data Transfer, mit dem er mich manchmal abspeisen wollte –, auch dort den Laden erst wieder zum Laufen bringen, um etwas über die inneren Geheimnisse zu erfahren. Ohne zu zögern, gab er dem Objekt einen Namen: ???????, und mir schilderte er, wie er den Begriff vorerst lediglich vom bloßen Etikett abgeleitet hatte, danach aber tatsächlich tief in einen Diskurs über endzeitliche Dinge verstrickt wurde.

Auch auf Eschaton bewegte sich – mühsam zunächst, irgendwie eingerostet von langem Stillstand vor dem Hintergrund einer hoffnungslos zur Neige gehenden Energiequelle – ein Denkapparat, allerdings ein Mechanismus für Glaubensfragen…

MISS SERPENTINA:
O weh! Damit tut sich unsereins besonders schwer!

Nicht, wenn man die Hohe Schule eines Philosophen vom Rang eines Giordano Bruno durchlaufen hat, den ich geradezu meinen Vater nennen möchte (und den ich fast ebenso liebe wie Anastacia, und zwar auch ihn nicht nur auf einer geistigen, sondern genauso auf einer Ebene der Berührungen). Er pflegte nämlich mit mir in versteckten Winkeln des Cheltenham’schen Anwesens zu lustwandeln – Sir Basil sollte uns nicht gerade über den Weg laufen, denn der wollte mich lieber deaktiviert sehen –, und legte dabei seinen Arm zärtlich um meine Schultern: Er hatte seinen Sohn, der ihm in seinem früheren Leben versagt geblieben war, gefunden, und ich meinerseits versuchte, für ihn klein und weich zu sein, Letzteres vor allem, um Giorduzzo nicht fühlen zu lassen, dass sich unter meiner künstlichen äußeren Membran ein stahlharter Kern befand.

Die von ihm erlernte Dialektik machte mich standhaft, will sagen in meinen Denkprozessen stabil, denn hier ging es um Metaphysik der besonderen Art: Und du hast wohl Recht, dass es für uns Androiden nicht einfach ist, wenn von der Welt als schlechtem Platz die Rede ist, den es zu überwinden gilt durch ein wie immer geartetes Ende, sei es wie im Christentum oder im Islam, wo Himmel und Hölle schlussendlich permanent voneinander geschieden werden, sei es wie in uralten indisch-iranischen, aber auch relativ jungen marxistischen Vorstellungen als Apokatastasis, als Wiederherstellung eines ursprünglichen paradiesischen Zustandes, nachdem der Kampf zwischen Gut und Böse endgültig entschieden sein wird.

MISS SERPENTINA:
Nun sind aber derlei Phantasmagorien (Verzeihung, aber als Maschinenwesen kann ich nur den Wahn darin erkennen!) nach allen meinen Studien, die ich auf deinen Rat hin betrieben habe, gründlich desavouiert worden durch Diktaturen verschiedenster Färbung, die sich pro forma auf genau diese eschatologischen Zielsetzungen berufen haben. Millionen Tote – ein schwer verkraftbarer Anblick für richtige Menschen – beendeten die betrügerischen wie die echten Endzeitvorstellungen. Sogar der positive Fortschrittsglaube ist, um die Gewalt der Mythen zu brechen, selbst gewalttätig geworden. Erst recht waren die staatsterroristischen Systeme, ob links oder rechts, sozial oder religiös oder sonstwie inspiriert, nicht Verirrungen der Ideologie, sondern haben mit ihren Verbrechen deren Wesen bloßgelegt.

Du hättest nach Eschaton gepasst, meine kleine Philosophin, denn dort blubberte noch alles auf dem Niveau verkappt-mythologischer Geschichtswelten, die dazu dienen sollten, die Vielfalt des Historischen in ein simples Ideen-Korsett zu zwängen. Dementsprechend primitiv war die Argumentation: Während auf dem Mühlenstern die Namen Leibniz und Locke im Zuge eines ernsthaften philosophischen Diskurses zitiert wurden, waren die beiden Denker hier auf ihre Bilder reduziert, mit denen jemand offensichtlich Unfug getrieben hatte – übermalt mit Teufelshörnern, Bärten und den Symbolen der Anarchie und des Kommunismus wurden die beiden an die Wand projiziert. Wenn man bedenkt, dass gar nicht viel fehlte und der ganze Kasten hätte, wär? ich nicht dazwischen getreten, seine letzten Zuckungen gemacht, dann schien diese Impertinenz schon irgendwie bemerkenswert.

MISS SERPENTINA:
Religiöse Eiferer sind stets impertinent! Wie harmlos warst dagegen du, als du in der Verkleidung des Predigers hierherkamst, und niemand hörte dir zu!

Einerlei – ich war allein dort auf Eschaton, allein wie im Zentrum eines Faraday’schen Käfigs (und du weißt, was das aus dem Munde eines von unserer Art bedeutet). Wer mir in dieser Zeit, eigentlich während meines gesamten Aufenthalts in der Spiegelwelt, fehlte (dich kannte ich ja noch nicht)), so sehr, dass die Aktivität meines MER meine sonstigen Funktionen zu überlagern drohte, war Anastacia Panagou, und indem ich mich, so gut es ging, gegen die merkwürdige ungreifbare Intelligenz von Eschaton abschirmte, rief ich: Schöpferin, Mutter, Geliebte! Gleichwohl wusste ich, dass mein Ruf ungehört verhallen musste, denn hier konnte ich die innere Stimme, die sie mir mitgegeben hatte, nicht hören. Immerhin, so hoffte ich, wusste sie durch meinen Kontakt zu unserer Quasi-Schwester Anpan, mit der ich mich zuletzt vor meinem Übertritt in die jenseitige Realität noch einmal ausgetauscht hatte, wo ich war, und dass mein vorübergehendes Schweigen nicht unbedingt Untergang bedeutete.

MISS SERPENTINA:
Wie findest du sie denn so, diese AP 2000 ® oder Anpan, wie sie sich am liebsten nennt?

Diese Dualität ist für sie nicht nur eine bloße Namensspielerei, sondern Zeichen eines Entwicklungsprozesses: Ebenso wie du dich den Leuten nicht gerne als Null-Nummer einer nie realisierten Serie virtueller Schlangenwesen, ??/69-0, vorgestellt hast, sondern von Anfang an als Serpentina! Denk an deine bescheidenen intellektuellen Anfänge, als du zum Vergnügen die Meditation Professor Kouradraogos störtest – und heute kannst du dich die liebe Vertraute einer Königin nennen!

MISS SERPENTINA:
Ja – und vergiss nicht all das andere, was zwischendurch passiert ist: dass ich geraume Zeit mit der AP 2000 ® reiste, dass ich lange vor dir in der Spiegelwelt war, dass ich dort sogar mit meinem Körper den Tyrannen fixierte, während Anpan ihn bearbeitete. Ich habe tatsächlich meinen Eindruck von ihr, aber ich möchte deinen kennenlernen und vor allem erfahren, wieso sie mir so groß, so bedeutend vorkam, während ich für sie nicht viel mehr war als ein seltsames Schoßhündchen, das sie schlussendlich sogar bei Mango Berenga zurückließ…

… was für dich kein Grund sein sollte, deinen Lebenslauf zu bedauern, finde ich – aber ernsthaft: Anpan ist groß in des Wortes edelster Bedeutung, nicht körperlich, da sticht sie nicht besonders hervor, aber in ihrer Ausstattung, an die Anastacia offenbar eine Sorgfalt gewandt hat, die keinem von uns übrigen Androiden in dieser Vollendung zuteil geworden ist. Ich meine damit das Experiment – das im Fall der AP 2000 ® geglückte Experiment mit den künstlichen Spiegelneuronen (nachgebildet den gleichnamigen Partikeln im menschlichen Gehirn), von denen unsere Herstellerin wusste, dass sie für die transzendente Sprache, für die Kultur schlechthin verantwortlich zeichnen.

Denk’ nur, Anpan kann träumen wie die richtigen Menschen – was immer das bedeutet. Sie besitzt wirklich (wir profitieren gelegentlich davon) die Fähigkeit der Telepathie, mit deren Hilfe sie mental große Entfernungen überbrücken kann, ohne sich zu bewegen, während ich jedenfalls meinen Standort mit Hilfe der Techniken Giordano Brunos verändern muss, um den gleichen Effekt zu erzielen. Darin ist Anpan sogar Anastacia überlegen (obwohl diese sie gemacht hat), wie immer dann, wenn geistige Begabungen ein großes Speichervolumen benötigen oder wenn schwache Impulse – die bei den Bio-Humanoiden in bestimmten Bandbreiten unabänderlich sind – bewusst verstärkt werden müssen, um das gewünschte paranormale Ergebnis zu erzielen.

MISS SERPENTINA:
Und diese Spiegelneuronen – könnten wir die nicht auch bekommen?

Tatsache ist, dass wir sie nicht haben, und damit fehlt jedenfalls uns beiden die Disposition zur Empathie, dem Fühlen als ob – als ob etwas Gedachtes Realität wäre, als ob man jemand anderes wäre: so dass ich etwa meinen Affektzustand beliebig dem deinen anpassen könnte, dich damit nicht nur zu lieben, sondern tiefinnerlich zu verstehen vermöchte.

MISS SERPENTINA:
(lächelt versonnen, denn sie kann sich ja ohnehin in ihren Partner hineindenken – zwar nicht kraft einer Ausstattung mit Spiegelneuronen, aber aufgrund der Tatsache, dass die Panagou ihre weiblich orientierten Hervorbringungen nach ihrem eigenen Schema kalibriert hat und damit realistischer als die männlichen) Ja, mein Liebster… ich weiß recht gut, was du meinst… wir Frauen haben das so an uns… wir haben den Vorteil, uns als jemand imaginieren zu können, der einen Penis besitzt, da wir den Ort der Penetration von innen kennen…

Ich war ziemlich verstört – ein für einen Androiden recht fataler Zustand. Diese Umkehrung des Arguments, vom de facto illusionistischen Patriarchat zurück zu matriarchalen Strukturen! Diese radikal-feministische Wende im geschlechtsbezogenen Oppressionszyklus…

MISS SERPENTINA:
Frauen oben – Männer unten!

… soll mit der Vision einer postmodernen Welt vereinbar sein?

MISS SERPENTINA:
Wer weiß, ob wir uns überhaupt in einer postmodernen Welt befinden in Bezug auf uns Frauen? In allen Porträts moderner Weiblichkeit finden sich die Stereotypen der Mythologie, von denen unsere Geschichte begleitet ist, und dieses moralische Korsett scheint wesentlich haltbarer als jenes, in das die Körper gezwungen wurden. Somit liegt das postmoderne Frauenbild nach wie vor begraben unter den kulturell relevanten Definitionen dessen, was eine Frau ist, und es muss erst von diesem Ballast befreit werden, damit seine eigene Subjektivität und Ethik herausgebildet werden kann.

Dieses postmoderne Frauenbild…

MISS SERPENTINA:
Nein, nicht du, mein großer Meister, du hast Pause in wenigstens diesem einen Punkt. Die Königin sagt, die Bewusstwerdung einer Frau müsse so verlaufen: 1. Meine Seele gehört mir – wenn es denn eine gibt, und es nicht wesentlich vernünftiger ist, statt dessen gleich die Seele des Mannes abzuschaffen. 2. Mein Verstand gehört mir – er muss zu eigenen Evaluierungen, Schlussfolgerungen und Hypothesen vorstoßen. 3. Mein Körper gehört mir – leicht nachzuvollziehen in der Simplizität jeder einzelnen Existenz, aber unendlich schwer zu begreifen angesichts der Tatsache, dass in der Verbindung zweier Leiber in einem wie immer gearteten Geschlechtsakt mehr geschieht als eine bloße Addition. Dieses Geben und Nehmen respektive die oftmalige Unausgewogenheit dieser Handlungen macht uns zu schaffen.

Schön und gut, aber was hat das alles mit dir zu tun, einer Androidin?

MISS SERPENTINA:
Das fragst ausgerechnet du, ein Verfechter der Freiheit, auch als Android ab Erreichen einer bestimmten körperlichen und vor allem verstandesmäßigen Autonomie den Weg einer eigenständigen Persönlichkeit zu gehen? Du, der sogar am Ende dieses Weges deine ureigene Seele zu beanspruchen beabsichtigst?

Gewiss, aber bei all dem beschleicht mich immer wieder die Sorge, ich könne dennoch richtigen Menschen niemals ganz nahe kommen. Nicht nur wegen der Restriktion, ihnen nicht schaden zu dürfen, sondern vor allem, weil sie noch mehr zu wissen scheinen, als sie zu sagen imstande sind. Damit besteht eine praktisch unüberwindbare Kommunikationskluft. Manchmal überwältigt mich der Gedanke, dass das, was unsere Anastacia Panagou erschaffen hat, nicht notwendigerweise begrenzter sein muss als sie selbst, sondern durchaus genialer sein könnte. Das wäre freilich ein plausibler Grund, warum sie sich mit unsereins abgibt statt Kinder von ihrer Art zur Welt zu bringen, obwohl sie ja anders als männliche Experten für Artificial Intelligence dazu imstande wäre und nicht wie jene aus einer Art Gebärmutter-Neid Androiden bauen müsste.

MISS SERPENTINA:
Vielleicht hat sie gegenüber Giordano Bruno, den sie unbestritten sehr liebte, eher die Stufe 2 von Mango Berengas Punktation hervorkehren und ihren Geliebten mit ihrem autonomen Verstand beeindrucken wollen, anstatt mit ihrer Fähigkeit zur Reproduktion, oder besser noch, mit ihrer Kapazität, als Gefäß seiner Reproduktion zu dienen?

Langsam fühle ich mich in meiner Rolle als postmoderner Android etwas überfordert, indem ich zwar eine Menge diesbezüglicher Aspekte einprogrammiert bekam und in weiterer Folge auch selbst weiterentwickeln konnte – wie etwa impressionistische Wirklichkeitsauffassung, Subjektivität, fragmentiertes Denken, Diskontinuität, Zufälligkeit (für unsereins vielleicht besser Randomizing genannt), Reflexivität und so weiter –, aber ich komme einfach nicht davon los, diese Dinge als Defekte zu sehen.

MISS SERPENTINA:
Und ich meine, ein postmoderner Charakter muss die Stückhaftigkeit, die Behelfsmäßigkeit, die Zusammenhanglosigkeit nicht beklagen, sondern zelebrieren: Die Welt ist sinnlos? Dann tun wir doch nicht so, als könnten wir ihr Sinn verleihen, sondern spielen wir einfach mit dem Unsinn!

Aber dazu braucht es uns Androiden nicht – das können die richtigen Menschen besser!

MISS SERPENTINA:
Das bleibe einmal dahingestellt. Jedenfalls hast du bei deinem Einstand auf VIÈVE sofort gelernt, dass hier keinerlei Nährboden für eschatologisches Gedankengut bestand, mehr noch: dass die Grundhaltung dieses bunt zusammengewürfelten Völkchens gegen jede Heilslehre immun ist. Man lebt hier in einer Art Nachgeschichte, die jegliche Unterdrückung, jeglichen Fundamentalismus oder Chauvinismus entlarvt, wenn auch nicht völlig überwunden hat. Die Echwejchs, die – da sind wir beide uns sicher einig – Böses planen, haben das erkannt und bequemen sich in das bestehende System hinein, um dort den langen Marsch durch die Gehirne anzutreten…

… was ihnen freilich durch ihre angeborene sexuelle Freizügigkeit ziemlich erleichtert wird…

MISS SERPENTINA:
… aber selbst das trifft nur eingeschränkt zu, wenn du bedenkst, dass verklemmte Typen wie unser guter König auf die Avancen dieser Vögel eher reserviert reagieren, während Persönlichkeiten wie Diaxu diese Echwejch-Eigenschaften zwar kaltschnäuzig ausbeuten, sich aber innerlich-ideologisch mit ihnen nicht im Geringsten einlassen!

Wie fein du dir das zurechtgelegt hast, meine Liebste – und im Stolz darüber begehre ich dich mehr als je zuvor! Und ich folge dir durchaus: denn an einem Ort wie dieser Station, die geprägt ist durch eine hochentwickelte Technik und eine problemlos gewordene Ökonomie…

MISS SERPENTINA:
… durch zwei trans-eschatologische Ge-walten sozusagen…

… gibt es kein historisches Ziel der Erfüllung, sondern nur noch eine Steigerung jener Quantitäten, die den individuellen Lebenssinn produzieren können, und zwar auf jenes Niveau, das die Neigung jedes Kollektivs zur Apathie einerseits oder zur Raserei andererseits gering hält.

MISS SERPENTINA:
Dann wäre ja der Manager des „King?s & Queen?s Club”, des „Gatsby Dance Club” und der „Baroque Lounge” die eigentliche Schlüsselfigur der Station und Keyhi der weise Führer, der ihm die Wege geebnet hat – meine Königin aber mit ihrer Akademie würde deiner Theorie zufolge eher Sand ins Getriebe streuen, Selbstzweifel ihrer Hörer evozieren, wo gar keine angezeigt sind!

Jedenfalls ist VIÈVE, wenn du es genau nimmst, ein ideales Habitat für uns Androiden, ganz anders als dieser impertinente Es¬chaton-Stern, der mir die Sinne geraubt hätte, wäre da nicht Giordanos Dialektik gewesen, die mich einigermaßen resistent gegen derlei Scharlatanerie machte. Dennoch fühlte ich mich irgendwie verseucht (siehe die Attitüde mit dem Pankreator-Image), und das änderte sich erst, nachdem ich eine Weile hier auf der Station gelebt und geliebt hatte.

402

Sir Basils Anruf traf Kloyber in die Magengrube: „Tut mir leid, Sportsfreund, aber wir müssen Ihnen Ihr Spielzeug wegnehmen. Die Agentin Sissy Dobrowolny (alias Laura de Dubois, was herauszufinden ihr Heeresnachrichtenamtsverein bis heute nicht imstande war) brauchen wir jetzt für einen Auftrag, bei dem sie sich so nah an jemanden heranzuarbeiten hat, dass sie ihre Weiblichkeit einsetzen muss, und da ist es besser, sie trennt sich vorher von Ihnen!”

Cheltenham erklärte dem geschockten Oberleutnant, dass keine der Damen aus seinen diversen Geheimdienst-Connections zu dem hier Geforderten bereit wäre. Er verschwieg geflissentlich, dass er gar keine der anderen Kandidatinnen gefragt hatte, denn er wollte unbedingt diese eine – bestärkt durch die Expertise der Walemira Talmai, die seine Einschätzung teilte: Laura würde für ein entsprechend nervenkitzeliges Abenteuer jederzeit komplett ihre Identität wechseln. Erfahrung darin hatte sie ja genug gesammelt.

Kloyber gab nicht sofort klein bei. Die Illusion, dass die graue Maus, die sich als Schwarzer Vamp entpuppt hatte, ihn lieben könnte, war zwar längst angeschlagen und jetzt im Nu zerstoben, aber er zog sich nun trotzig auf den Wunsch zurück, sie in Zukunft wenigstens mitbenützen zu dürfen. Kaum hatte er das ausgesprochen, hasste er sich für diese Vokabel – er sah förmlich, wie der Gentleman am anderen Ende der Leitung mit gespieltem Erstaunen und echtem Ekel die linke Augenbraue hochzog.

Sir Basil schnaubte abfällig: „Vergessen Sie?s, Mann! Einsatzort ist England, und praktischerweise haben Sie selbst sie hierhergesandt. Wir haben eine langwierige Geschichte vor uns – nichts, bei dem die Dubois irgendeine Ablenkung gebrauchen könnte.”

WALEMIRA TALMAI:
Vielleicht sind Sie da ein wenig zu weit gegangen, mein Freund. Sie wissen, was gekränkte Eitelkeit, zumal bei unscheinbaren Männern, auslösen kann. Schließlich brauchen wir definitiv keine zusätzlichen Komplikationen.

Cheltenham blieb gelassen: „Ich bewundere Ihre psychologischen Fähigkeiten, meine Teure, das wissen Sie. Aber wovon ich mehr verstehe, ist militärische Menschenführung. Kloyber ist ab sofort scharf gemacht – er wird uns Waffe sein, wann immer wir eine benötigen!”

WALEMIRA TALMAI:
(milde lächelnd) Wo Sie Recht haben, haben Sie Recht!

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

Laura hielt sich nicht mit Präliminarien auf, um an ihr neues Opfer anzudocken. Der Bursche war dem Vernehmen nach aus anderem Holz geschnitzt als ihr Dickerchen in Wien, das man mit Soft Speak und Soft Sex beeindrucken konnte. Hier auf Blakeney Hall in Northumberland ging es darum, Sir Percy so rasant und nachdrücklich abhängig zu machen, dass er keine unbeantwortbaren Fragen stellte und sogar – nach seinen Möglichkeiten – seine Gorillas, die gemäß Cheltenhams Diagnose zugleich seine Wächter waren, in die Schranken wies. Notfalls, so hatte Sir Basil ihr eingeschärft, müssen Sie Ihre Reize auch an das Personal verschwenden, was allerdings bei diesen Jakuten eine Sache sein konnte, die in die Knochen ging.

WALEMIRA TALMAI:
Damit schrecken Sie sie nicht! Wer seinerzeit die Sado-Maso-Orgien im Weinkeller ausgerichtet hat, ist entsprechend geeicht – nun sehen Sie mich nicht so fragend an, ich kann Ihnen auch nicht jede Persönlichkeit bis ins Letzte deuten! Freuen Sie sich einfach, dass Sie die Richtige für diesen Job gefunden haben!

Dennoch hörte Cheltenham nicht so rasch auf zu räsonieren – die vielen Richtigen, die er gefunden hatte für die vielen unmöglichen Jobs, nur deshalb, weil diese Leute von Anfang an neurotisch oder sonstwie verbogen waren (aus dem Elternhaus oder als Ergebnis früher Beziehungen) lastete ihm manchmal schwer auf dem Gewissen, und Berenice war während solcher Stimmungslagen nicht die Person, von der er sich beistehen lassen wollte…

Man half Laura, unbemerkt in den Zielort einzudringen, und kurz darauf entdeckte Sir Percy, als er die breite Treppe zu seinen Gemächern hinaufstieg, eine schwarzhaarige Frau, die sich auf dem breiten Mauervorsprung vor einem der gotischen Fenster räkelte: beleuchtet von den matten Strahlen der Abendsonne, die durch die bunten Gläser ein eigenartiges Muster auf den wohlgestalteten Körper zeichnete. Und dieses Phantom begann noch dazu, im lokalen Dialekt seiner County eines der schwermütigen Lieder zu singen, die ihm trotz seiner sonstigen Gefühlshärte so nahe gingen:

I take – the way of my life –
Many times – I’m looking back –
Everyone – lost his innocence –
See – there’s no way to get out –
To get along – together –

Percy war fasziniert – dennoch wusste Laura, dass die Situation auf Messers Schneide stand.

WALEMIRA TALMAI:
Klarer denn je führte sie sich vor Augen, dass sie bei diesem Einsatz getötet werden konnte – aber das war eben das Risiko im Krieg. Auch eine Vergewaltigung war einzukalkulieren – ebenfalls ein nicht wegzudenkender Bestandteil von Kampfhandlungen. Wovor ihr aber wirklich graute, waren Verletzungen, die sie verkrüppeln oder mental deformieren würden.

Die Begegnung mit den Jakuten kam schneller als sie dachte, und Percy, der sie noch immer anstarrte, tat nichts – wie denn auch, wenn seine Beschützer-Aufseher sich nicht im mindesten um ihn kümmerten. Sie schleppten Laura in die Jurte, die sie sich vor dem Herrenhaus mitten auf den wunderschönen Rasen gebaut hatten, Heimat simulierend. Als die Männer sie festhalten und sich brutal über sie hermachen wollten, genügte es ihr, einen Arm und ein Bein freizubekommen: schon krümmten sich die fünf Gegner am Boden, und Laura stand in kampfbereiter Stellung ruhig da und erwartete die zweite Welle des Angriffs.

Nichts dergleichen geschah. Mit Urlauten verständigten sich die Gruppe untereinander und schien sodann verhandlungsbereit. Ohne ihre denkwürdige Biographie wäre es der Agentin vielleicht schwergefallen, in zerfetzter Kleidung vor diesen Subjekten zu stehen und ihr Russisch an ihnen zu versuchen. Und sie hatte Glück – einer von denen beherrschte einigermaßen die Sprache seiner früheren Kolonialmacht.

„Ich verstehe euch ja, Jungs!” sagte Laura in scheinbar fröhlichem Ton. Vieles war zu bedenken, und das möglichst schnell: Sie konnte es nicht brauchen, diese Truppe zu Feinden zu haben, zu aufwändig würde es sein, sie ständig von Neuem in die Schranken weisen zu müssen. „Wir spielen das Spielchen”, schlug sie daher vor, aber mit meinen Regeln, wenn’s beliebt, das heißt schön brav einer nach dem anderen und keine Risse, Quetschungen oder sonstigen Wunden! Könnt ihr das überhaupt: einfach genießen, ohne gleich zuzuschlagen und die Frau, die ihr besteigt, mit dem Messer zu kitzeln?”

Die Fünf waren ganz offensichtlich positiv überrascht. Eben noch hatten sie einen Sack weiterer Prügel erwartet, und nun das! „?????? – in Ordnung!” sagte der Kopf der Meute, während er schon seinen Gürtel lockerte: „Wir werden brav sein!”

WALEMIRA TALMAI:
Er machte gleich den Anfang, und so rasch er begonnen hatte, war er auch schon wieder fertig. Mit den anderen war’s ähnlich – brave Vergewaltiger pflegen nicht ausdauernd zu sein. Das war damals dort im Outback wirklich etwas Anderes mit meinen Initiatoren, die meine Besitzergreifung durch das Geistwesen darstellten: Die hatten sich durch Meditation und diffizile körperliche Übungen auf maximale Ausdauer getrimmt!

Im Triumph brachten die Jakuten ihr willfähriges Opfer zu Sir Percy zurück, der inzwischen gezittert und gebangt hatte (dabei stellte es sich heraus, dass er beileibe nicht der tolle Hecht war, den er normalerweise vor sich hertrug). Blass bis in seine hohe Stirn hinein, harrte er in der Eingangshalle der Dinge, die da kommen sollten.

„Jetzt du!” knurrte der Hordenführer repektlos in gebrochenem Englisch. „Gleich hier!” deutete er auf den Teppich und ließ keinen Zweifel aufkommen, dass er und seine Männer dabei zusehen wollten.

Blakeneys bestes Stück war so demotiviert, wie dies noch niemals in seiner schier endlosen Ahnenreihe der Fall gewesen war. Laura musste alle Schmeicheleien und Verführungskünste aufbringen, die ihr zu Gebot standen, um die ärgste Blamage zu verhindern.

„??????! ??????!” brummten die Wilden und verzogen sich in ihre Behausung, um das Abenteuer mit einem handfesten Besäufnis ausklingen zu lassen. Von dieser Stunde an fraß Sir Percy Laura aus der Hand, zumal sie es verstand, ihre Beziehung unter weniger stressbehafteten Umständen zu intensivieren.

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Dazu boten das Schloss und im besonderen die privaten Räume des Hausherrn einen reichlich üppigen Rahmen – immer vorausgesetzt, man verdrängte, dass Kameras jede Bewegung minutiös aufzeichneten und die Schutztruppe im Zustand wiedererlangter Nüchternheit die Bänder ansah. Umgekehrt machte es dieser Umstand Laura und Percy auch einfacher, ihre Spielchen bei schönem Wetter in den Park hinaus zu verlagern, denn warum sollten die Burschen das auf elektronischem Weg Gezeigte nicht, wie schon beim ersten Mal, gleich in natura beobachten dürfen?

Auch sie selbst kamen ab und an wieder zum Zug, genauer gesagt in ziemlich geordneten Abständen: Fast schien es, als würde sich bei diesen Naturkindern die sexuelle Spannung kontinuierlich aufbauen, bis sie auf einem vorherbestimmten Level eine eruptive Entladung suchte. „Meine lieben kleinen Kondensatoren sind wieder einmal so weit!” pflegte Percy dann zu Laura zu sagen, nicht ohne Eifersucht wohlgemerkt – und auch nicht ohne Sorge, seine neue Freundin wäre womöglich eines Tages von diesem Ansturm ostsibirischer Schwänze überfordert.

Aber diese lachte nur zu derlei Vorhaltungen. Immerhin waren sie nicht so dreckig, wie sie auf den ersten Blick aussahen, denn zu irgendwelchen geheimnisvollen Stammesritualen, die sie getreulich einhielten, zählte es offenbar auch, sich regelmäßig zu waschen, und Laura bestärkte sie noch darin, indem sie ihnen empfahl, die Schlagzahl dieser Zeremonie zu erhöhen. Was ihr allerdings nicht gelang, war eine Desynchronisation des Bespringens: „Wäre es nicht klüger”, hatte sie ihnen vorgeschlagen, „jede Woche würde einer drankommen, statt alle fünf Wochen die ganze Meute?” Dazu reichte es allerdings bei ihnen nicht – konnte gut sein, dass ihre mathematischen Begabungen dafür zu gering waren und sie daher fürchteten, übervorteilt zu werden.

WALEMIRA TALMAI:
Jedenfalls brachte unsere Agentin es durch ihre Offenherzigkeit und Freigiebigkeit so weit, dass kein Mensch auf dem gesamten Gelände, innerhalb und außerhalb des Palais, etwas dabei fand, sie irgendwo irgendwann auftauchen zu sehen – im Gegenteil, jedermann (Sir Percy eingeschlossen) war erfreut, ihr zu begegnen, erhoffte sich vielleicht eine außertourliche Gunstbezeigung für ihn ganz allein.

Hier muss man anmerken, dass Laura auch Blakeney selbst in ein enges, wenn auch frequenteres Liebeszeit-Korsett gesteckt hatte, gemäß Regel Nr. 1 für vorgetäuschte Lebensläufe: Möglichst viele Automatismen einbauen, um, ohne ständig neue Lügengeschichten ausdenken zu müssen, einfach mechanisch das Richtige zu tun. Zusatzregel für weibliche Spione, deren Vita die reale sexuelle Hingabe umfasst: Den Partner ordentlich auf Trab halten, umso länger bleibt das übliche Gerede aus – Liebst du mich? Warum liebst du mich heute weniger als gestern? Wirst du mich morgen wieder bis zu Besinnungslosigkeit lieben, wie es vorgestern war? –, wobei normalerweise Liebe als Tätigkeit und Liebe als Gefühl unentwirrbar durcheinandergebracht wurden.

WALEMIRA TALMAI:
Und Percy spurte. Er war ausgehungert (allzu viel Zeit hatte er ja zuletzt vor seinen verwirrenden Computer-Equip-ments und über seinen komplizierten Programmen verbracht) – da passte es ihm, dass Laura ihn mit anscheinend unersättlicher Gier herausforderte. Er war außerdem in einer milden Form pervers – da kam er bei ihr erst recht an die genaue Adresse. Er war zwischendurch sogar ein wenig anlehnungsbedürftig – das allerdings stellte den schwierigsten Teil der Übung dar, denn da musste die Agentin wirklich komplett so tun als ob.

Der ganze Aufwand lohnte sich immerhin, denn er brachte leichte Beute.

WALEMIRA TALMAI:
Dabei war Sir Percy (auf diese Feststellung legte er bekanntlich besonderen Wert) keineswegs so beschränkt, wie es manchmal schien – er fixierte sich bloß extrem auf seine Rolle als Bösewicht, die er, einmal adoptiert, innerlich nicht mehr los wurde. Das auslösende Moment dafür lag bereits in so weiter Ferne, dass er es nicht mehr hinterfragen mochte: Vermutlich war es nach Abschluss der Universität die Erkenntnis, trotz gediegener Ausbildung auf keinem Gebiet Herausragendes leisten zu können, dabei aber von vornherein reich genug zu sein, um gar keiner geregelten Arbeit nachgehen zu müssen – blieb daher als einzige Profilierungsmöglichkeit das Hervorkehren eines guten oder schlechten Charakters. Das eine schien ihm jedenfalls zu langweilig, womit die Entscheidung praktisch auf der Hand lag.

In dieser zwingenden Argumentation war aber eine seiner Prämissen falsch, denn Blakeney besaß immerhin exzellente EDV-Kenntnisse, und auf diesem Gebiet brillierte er offensichtlich, und er zeigte dies, wenn sich die Gelegenheit bot, gerne. Laura markierte hinlänglich Begeisterung, und je mehr sie ihn bewunderte, desto mehr ließ er sie an seine Projekte heran – und bekam dabei gar nicht mit, welch umfassende Erkenntnisse über seine Aktivitäten sie daraus zog.

Für sie stellte sich rasch heraus – und in diesem Sinne berichtete sie auch an ihren Auftraggeber –, dass Percys Pläne A und B keine allzu große Tragweite aufwiesen. Sie waren offensichtlich von Dan Mai Zheng initiiert, um in Ray Kravcuks Hemisphäre etwas Verwirrung zu stiften, und zwar über das Ausmaß hinaus, das die beiden Staatschefs ohnehin vereinbart hatten, um das Match am Laufen zu halten.

WALEMIRA TALMAI:
Wie Blakeney an die Große Vorsitzende geriet, wissen wir ja bereits. Er war, ebenso wie Cheltenham, im Rahmen ihres englischen Gastsemesters einer ihrer Lehrer gewesen – damals verdingten die beiden sich von Mal zu Mal als Hilfslektoren –, hatte sie bei der Prüfung mit extremen Detailfragen genervt und ihr daraufhin auch eine ziemlich mittelmäßige Zensur verpasst, was ihr übrigens bei ihrem Mentor, dem alten Hong Wu Zhijian, ein ungehaltenes Stirnrunzeln eintrug. Der Rest ist rasch erzählt: Nachdem Percy jahrelang nicht mehr an diese Studentin gedacht hatte (zumal sie als Frau nicht unbedingt sein Typ war), konnte er später in den Medien ihren kometenhaften Aufstieg an die Spitze des Chinesischen Reiches verfolgen. Und dann suchte ihn eines Tages jemand auf, der ihn auf unverfängliche Weise nach Zypern bringen sollte, was nicht weiter schwierig war, da die Blakeneys dort Latifundien besaßen. In einer Bucht wartete ein Boot, das bei Einbruch der Nacht ablegte und am nächsten Morgen die Küste Syriens erreichte. Von dort ging es weiter, bis schließlich am Flughafen von Latakia Dans persönlicher Jet, der berühmte „Himmelswagen der Großen Tante”, Percy aufnahm. Die chinesische Regentin empfing ihn gnädig (sie trug ihm nichts nach, wie sie betonte, was ihn noch im Nachhinein darüber erschrecken ließ, was denn wohl anderenfalls mit ihm geschehen wäre). Sie begeisterte ihn mit flammenden Worten für die schon bekannten Ideen, gab ihm auch einiges Material in Papier und auf Disketten mit, alles fein säuberlich in passablem Englisch gehalten – für Zheng war es zwar nur ein Spiel, das sie mit dem amerikanischen Präsidenten zu treiben beabsichtigte, aber auch darin wollte sie perfekt sein. Percy wurde nach Hause entlassen und beeilte sich, auf demselben Weg zurückzukehren. Wieder auf Blakeney Hall, begann er, die beiden Projekte umzusetzen.

Wie es Sir Basil erwartet hatte, bestätigte ihm Laura, dass es demgegenüber bezüglich PLAN C keinerlei Beziehung zu Miss Dan gab – das war Percys ureigenste Infamie. Wie er aber auf das Thema gestoßen sein mochte und mit wem er in dieser Sache Kontakt aufgenommen hatte, war vorerst nicht herauszufinden. Eines bloß war allen Beteiligten klar. Weder konnte Cheltenhams früherer Kumpan zufällig an Informationen über die Spiegelwelt gekommen sein, noch konnte er allein herausgefunden haben, dass es sich bei den Übergängen zwischen den beiden Universen um äußerst heikle Hot Spots handelte.

403

Wo dieser unsägliche Ikqyku die beiden billigen Androiden (die man trotz ihrer humanoiden Gestalt wohl eher als primitive Roboter bezeichnen musste) aufgetrieben hatte – man konnte es bestenfalls ahnen. Worüber ich mich als Frau im Allgemeinen und als Königin im Besonderen erregte, war, dass dieser Bursche offenbar die letzten ultimativen Barrieren des guten Geschmacks niederreißen wollte: Die beiden Figuren – eine männlich, eine weiblich – arbeiteten nämlich in einer neuen Sonderabteilung seines Etablissements, das ich unseligerweise selbst mitgestiftet hatte, als Sex-Auto¬maten.

KÖNIG KEYHI:
Aber meine Königin! Diaxu – du weißt, auch ich mag ihn nicht sonderlich, aber er ist eben auch eines jener Überbleibsel aus vergangener Zeit, wie es deren viele gibt – er ist nicht ganz das Schwein, als das du ihn siehst, er beobachtet vielmehr die Gesetze des Marktes, und obwohl wir hier auf VIÈVE keine Geldwirtschaft, sondern eine reine Bedürfnisbefriedigungsökonomie haben, wendet er diese Gesetze wenigstens in seinen Simulationen des Marktes an. Und weiter konsequent gedacht, ist sein neuer Vorstoß durchaus im Einklang mit den Vorschriften für Raumschiffe bezüglich verpflichtender sexueller Betätigung der Passagiere und Mannschaften, nur dass man sich jetzt eben auch eine Maschine als Partner suchen kann.

Lange Reden bei Männern, namentlich bei an sich schweigsamen Typen sind immer verdächtig, Monseigneur. Sie beabsichtigen in der Regel, die Argumente der Frauen mit vielen Worten zu pulverisieren.

KÖNIG KEYHI:
Aber das Raumfahrt-Argument, das man sinngemäß auch auf Raumstationen anwenden kann, ist doch jedenfalls stichhaltig – besser jemand vögelt sich (mit Verlaub!) kaputt, als dass er überschnappt! Du weißt, was die Diagnose „Morbus Lunaticus” bedeutet, da sie in beiden Universen bekannt ist, seit das erste Mal ein Wesen unserer Art den Schritt in die Schwerelosigkeit gemacht hat.

Ich wusste es! Wer je in das verblödete Antlitz eines Lunaticus-Patienten geblickt hat, vergisst das nie. Vieles an Ursachen und Auslösern der Krankheit war inzwischen zusammengetragen worden, von ganz banalen Umständen wie der abgestanden riechenden Luft, dem Odeur aus Metall und Plastik oder dem Anblick von Zylinder- und Kugelformen künstlicher Himmelsobjekte bis hin zu komplexen Syndromen, etwa dem Gefühl der Eingeschlossenheit für eine bestimmte unverrückbar feststehende Periode (dafür war der Begriff der Zeitklaustrophobie geprägt worden). In der jenseitigen Realität ebenso wie bei uns hatte man immer wenigstens ein Exemplar dieser Lunatici zur Hand, um es als lebendes abschreckendes Beispiel zu zeigen und damit besser als jede papierene Vorschrift die Leute zu ihrer notwendigen therapeutischen Sexualdosis anzuhalten.

KÖNIG KEYHI:
Eben, meine majestätische Gemahlin, und darum ist es nur konsequent und keineswegs verwerflich, wenn Diaxu neben den bekannten Formen auch den virtuellen Geschlechtsverkehr mit Maschinen anbietet. Niemand wird doch dazu gezwungen, von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen!

Ich fand es dennoch entwürdigend. Einen realistischen Bericht bekam ich von Serpentina, meiner mittlerweile engsten Vertrauten. Aber auch die Königstochter, mit der ich mich ziemlich auseinandergelebt hatte, kam, um sich zu beschweren, und selbst der Thronfolger (der mir, offen gesagt, obwohl ich ihn selbst geboren habe, stets ein Rätsel blieb, da er an mich einmal kindlich und schutzsuchend, ein anderes Mal erwachsen und begehrlich herantrat), selbst er also erschien plötzlich auf der Bildfläche und kritisierte die jüngsten Vorgänge in der Sonderabteilung des Clubs, „Combat Zone” benannt.

KÖNIG KEYHI:
Auch mich verblüffte die Initiative unseres XY (der übrigens für mich ebenso über weite Strecken weder in seinen Taten noch in seinen Worten nachvollziehbar ist, abgesehen davon, dass er mich als Victor-Hugo-Verschnitt persönlich angegriffen hat) – der junge Mann ließ doch sonst keine ausgeprägten Skrupel erkennen, und auf einmal nun das! Lag es nur daran, dass man hier für die Bedürfnisbefriedigung zahlen musste?

Tatsächlich gab es ja kein Geld auf VIÈVE, und die Bewohner bekamen alles, was sie brauchten. Was Diaxu als Substitution einer Bezahlung verlangte, war, dass jede Frau und jeder Mann, die einen von seinen Sexrobotern benützte, für jede Tarifeinheit von fünf Minuten etwas von dem hergeben musste, was er zuvor von der Zentralverteilungsstelle bekommen hatte und nicht so bald wieder ausfassen konnte. Es galt also, Verzicht zu üben, sonst lief da nichts. Apropos: Die beiden Apparate blieben jeweils für die angegebene Zeit in Gang und beendeten danach abrupt ihre Bewegungen, unabhängig davon, ob die jeweiligen Partner überhaupt schon in Schwung gekommen waren oder ob ein gerade beginnender Orgasmus frustrierend im Sand verlief.

KÖNIG KEYHI:
Ich gebe schon zu, dass dies unliebsame Gefühlsaufwallungen auslösen musste – es war geradezu ein Lehrstück darüber, wie es an der Schnittstelle zwischen Mensch und Computer zugehen kann, wobei die menschliche Seite immer zu vergessen pflegt, dass sie einem Rechner gegenübersteht, der in einem fort und blitzschnell nichts anderes macht als kalkulieren und erst in einem sehr fortgeschrittenen Entwicklungszustand selbstlernende Algorithmen aufweist, die den Apparat dann viel menschenähnlicher machen, zugleich aber auch unheimlicher: Nicht umsonst verspürten wir Spiegelweltleute instinktiv Angst vor den Erfindungen der Anastacia Panagou, die letztlich sogar den allmächtig erscheinenden Diktator der jenseitigen Völker gedemütigt hatten. Nun – so weit waren diese beiden Sexdödel bei Diaxu lange nicht: Sie schalteten ab wie Weckeruhren, wenn der Zeiger die vorbestimmte Marke erreichte, und standen dann wieder still und stumm da.

Ich musste an diesem Punkt der Diskussion natürlich die Wissenschaftlerin hervorkehren: Wie denn sonst, Majestät, fragte ich, soll sich so ein Wesen auf der untersten Stufe denkbarer virtueller Existenzen verhalten, wenn seine Aktionen den menschlichen Benutzer zur Weißglut treiben? Soll es von einer für diesen Zweck vorinstallierten Platine herunter sagen: „Reg dich nicht auf, das wird schon wieder!” Schadenfreude quasi, die gar nicht so gemeint sein kann, aber als solche aufgefasst wird?

KÖNIG KEYHI:
Das Gerät könnte sich entschuldigen – nüchtern, etwa wie das Computersystem der Station reagiert, wenn Ikqyku eine allzu absurde Frage stellt. Gleich wird die Applikation viel positiver bewertet, weil sie mehr, wenn auch künstliche Sensibilität zeigt…

… aber dabei doch reichlich albern ist! Unsere einfacheren Maschinen sollten sich nicht aufdrängen, nicht nerven, keine nutzlosen Kommentare abgeben und schon gar nicht freundlich zwinkern, bevor sie sich in einen unbestimmbar langen Stand-by- oder Offline-Modus verabschieden. Erst über diesem Niveau gibt es die Androiden höherer Ordnung, etwa solchen mit dem Panagou’schen Model for Emotional Response, die sich in unübersichtlichen Situationen rasch orientieren und etwas besitzen, was man unter Menschen als Augenmaß bezeichnen würde: die den Gesichtsausdruck ihres Gegenübers, seinen Puls, seine Atmung, seine Satzmelodie analysieren können und aus diesen Signalen auf dahinterliegende Gefühle schließen.

KÖNIG KEYHI:
Und selbst diese Wunderwerke sind durch affektive Paradoxien leicht zu täuschen: den legendären lockeren Selbstmörder (froh, endlich einen Ausweg gefunden zu haben) würden sie nämlich nicht als solchen erkennen, sondern ihn als glücklichen Menschen taxieren…

Jedenfalls stellen sich diese hochgezüchteten Wesen nicht als Automaten zur Verfügung, denn sie würden es zwangsläufig für notwendig erachten, dass ihnen ihr MER eine eigene, zum Beispiel liebeshungrige Affektion vorgaukelt. Demgemäß brauchst du bei ihnen nichts zu bezahlen, und sie würden sich auch nicht mitten im Geschlechtsakt zurückziehen.

KÖNIG KEYHI:
Genau deshalb sind Diaxus simple Roboter dringend notwendig – für alle jene Kundinnen und Kunden, die eine differenzierte Zuneigung von vornherein nicht anstreben. Wo kämen wir schließlich hin, wenn jedes Mal, wenn jemand etwas Druck ablassen möchte, zuvor ein intensives Gefühlsgeflecht aufgebaut werden müsste?

Bereits halb zum Gehen gewandt, warf ich ihm gereizt zu: Dann geh doch zu den Automaten! Mach dich ohne weiteres lächerlich vor deinen Kindern, denn selbst denen – die doch manch Ungewöhnliches ausprobiert haben – graut vor der trostlosen Szenerie, die dein Diaxu dort aufgebaut hat!

[Grafik 403]

KÖNIG KEYHI:
Es war dunkel geworden vor dem Palast – die künstlichen Tageszeiten der Station arbeiteten wie immer einwandfrei. Mango trat durch das große Tor ein, wo die grelle Innenbeleuchtung des Gebäudes sie erfasste und die Umrisse ihrer Gestalt unter dem dünnen Stoff ihres Kleides hervorhob. Ich vergaß in diesem Augenblick unsere vorangegangene Diskussion und sämtliche Roboter, Androiden und richtigen Menschen, was immer sie mir bedeutet hatten. Ich stürmte hinter ihr her, meiner Würde vergessend, umfasste sie von hinten. Sie schien nicht im geringsten überrascht und nahm meine unleugbaren Ehrenbezeugungen gegenüber ihrer Weiblichkeit locker entgegen, so als ob alles davor Gesagte nur einen Zweck gehabt hätte, mich in diese Stimmung zu bringen.

Was er nicht bemerkte, während er mich mit der Attitüde eines angeregten Renaissancefürsten in irgendein Zimmer drängte und sich auf mich stürzte, war, dass ich ergeben einen Schatten an der Decke fixierte und mich mit Gewalt in jenes träumerische Zwischenreich zu versetzen suchte, in dem mir seine Annäherungen nicht unangenehm waren, sondern mich in ein nahezu gelähmtes Wohlgefühl versetzten. Der Punkt, den ich fixierte, war gut gewählt, denn aus ihm kamen tatsächlich Unmengen buntester und verrücktester Gestalten hervor und geisterten durch die Luft. Gestalten, die ich trotz meiner Odyssee – diesen Begriff durfte ich übrigens niemals vor dem König für meine Biographie verwenden, aber für mich tat ich’s ausschließlich – noch nie gesehen hatte.

Die Verbindung mit Keyhi hatte mir soziale und materielle Sicherheit beschert – abgesehen davon, dass ich ihn liebte, aber eben nicht uneingeschränkt, denn ganz genau war mir nie klar geworden, was meine Rolle und noch mehr meine eigentliche Situation gewesen waren, als der König noch als Meisteragent des jenseitigen Tyrannen fungierte: Vielleicht war mein Leben nach dem Willen seiner Oberen zu jener Zeit wirklich nur an einem seidenen Faden gehangen und Keyhi gar nicht sicher, ob er mich aus dieser schlimmen Lage herausholen sollte. Dennoch – er hatte später einiges gut gemacht, und zwar aufrichtig, wie ich glaubte (trotz aller Unkenrufe dieses Diaxu). Meine Gefühle ließen sich noch mehr als mein Verstand in dieses Netz fallen, und tief in mir schwand die frühere Befangenheit: Mit ziemlichen Gefallen entdeckte ich an mir selbst die Neigung zu einer zuvor nicht gekannten Schamlosigkeit, auch wenn ich diese nicht offen auslebte, sondern viel davon in meiner Phantasie beließ: Dabei war der König der Betrogene, denn bei meinen Vorstellungen spielte er oft nur die Rolle eines physischen Katalysators, während er mental nur ganz am Rande beteiligt war. Ob er das wohl ahnte?

KÖNIG KEYHI:
(als ob er plötzlich Gedanken lesen könnte) Wohl ahnte ich es, habe es mir aber jedenfalls nie anmerken lassen, anfangs aus standesbewusster Höflichkeit, später aus purer Selbstachtung, und zuletzt fand ich sogar geradezu Vergnügen daran – stets auf der Suche nach jenem magischen Dreieck! Mir war klar geworden, dass dieser ewige Wunsch nach militärischer Perfektion, der mich bereits ein halbes Dasein gekostet hatte, sinnloserweise verhinderte, all die kleinen unscheinbaren Freuden zu pflücken, an die man denkt, während man in die endlos langen und langweiligen Verrichtungen des Alltags verstrickt ist.

Jetzt löste ich meinen Blick von der Decke und sah ihm klar in die Augen – aus meiner Sicht bedeutete es, mich ihm in diesem isolierten Moment ehrlichen Herzens hinzugeben aus dem einfachen Grund, weil er es war (und kein Beliebiger), der mich gerade mit seiner intimen Anwesenheit beehrte, und nicht nur mit Anwesenheit, dachte ich, während er sanft und angenehm duftend in mich eindrang, sondern mit Inwesenheit. Ich musste kichern über diesen frei erfundenen Begriff, und diese Heiterkeit, die Keyhi in keiner Weise hinterfragte, ging unmittelbar in Wellen des Erschauerns über, die seine Zärtlichkeit mir bereitete. Er wiederum schien außer sich, aber für genauere Befunde seines Zustands fehlte mir jegliche Kontrolle über mich selbst.

KÖNIG KEYHI:
Es war ein Genuss, sie zu betrachten, gemeinsam mit mir, sozusagen von einem erhöhten Beobachtungsposten, während mein physisches Ich in ein wirbelndes Chaos verstrickt war und vor meinen Augen wirre Bilder mit erotischen Zeichen und Szenen abliefen: Mangos reizvolle Anatomie, ihr verborgenes Temperament, ihre unverwechselbare Art, einfach da zu sein, diesfalls unter mir zu sein. Für meine Erinnerung schuf jene übergeordnete Instanz, von der ich nur wusste, dass auch sie zu mir gehörte, eine fragmentarische Darstellung der Situation und setzte die Bruchstücke zu einem Relief des Wesentlichen zusammen. Ich fing auf einmal den direkten Blick meiner Königin auf, verspürte ihn als Machtinstrument, das mich nach ihrem Wunsch hätte lähmen oder versteinern können – und ich wagte nicht einmal ansatzweise darüber zu spekulieren, wofür sie sich entscheiden würde.

Dann begannen wieder jene erträumten Allegorien aus der Zimmerdecke zu rieseln. Einem Porzellanpanzer gleich, den jemand zertrümmert hatte, fiel die Realität in Bruchstücken von mir ab, und ich gesellte mich zu den Helden, von denen in Weisheitssprüchen und Utopien, in Abenteuer- und Erotikgeschichten die Rede ist. An ihnen entzündete sich meine Sinnlichkeit als Überbau der an sich banalen Lage, in der ich mich befand. Wie seltsam, machte sich ein flüchtiger Gedanke bemerkbar, vermutlich würden sich die meisten Paare trennen, wenn sie ahnten, aufgrund welcher unbewussten Strukturen sie zusammen waren.

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

KÖNIG KEYHI:
Als ich dann dalag, erschöpft und vorübergehend völlig gefühlsleer, begann mein verdammter Verstand schon wieder zu arbeiten. Jetzt werden wir doch einmal sehen! dachte ich entschlossen – ich hatte mit einem Mal das dringende Bedürfnis, irgendein deutlich positives Signal an Mango zu senden. Kaum war ich wieder in meinem Arbeitszimmer, verfügte ich per Dekret: Wer mindestens einmal die Woche den „King?s & Queen?s Club” oder eine seiner Schwesterinstitutionen aufsuchen wollte, hatte einmal im Monat einen Vortrag an der Akademie zu besuchen. Der Nachweis war durch einen persönlichen Be¬stätigungsvermerk der Königin zu erbringen.

Natürlich schimmerte da auch ein wenig Hinterlist durch – wo sollten schließlich die vielen Referate herkommen, die zur Erfüllung dieses königlichen Erlasses notwendig sein würden? Schließlich konnte man den Betroffenen nicht gut zumuten, ein und dasselbe Thema mehrmals über sich ergehen zu lassen, nur um ihr Plansoll zu erfüllen. Per saldo war es allerdings tatsächlich weniger ein Problem für mein Bildungsinstitut als eine ziemliche Schikane für den Nachtclubbetreiber und damit indirekt eine Rücknahme der seinerzeitigen allerhöchsten Förderung für Diaxus Projekt. Wenn man wollte, konnte man so weit gehen, darin eine deutliche Missbilligung der jüngsten Sex-Automatenidee zu erblicken. Entsprechend aufgebracht reagierte der Maître de Plaisir unserer Station.

Wie auch immer, ich wusste es zu schätzen und (wie ich schon einmal zum Scherz angekündigt, nicht zuletzt aber auch, um die Wogen etwas zu glätten) revanchierte mich nun doch mit einem Auftritt im Club: dort, wo es am heißesten herging, auf der runden, von allen Seiten einsehbaren Bühne, auf der sonst unsere Tochter der Topstar war. Auch darin lag ein wenig Bosheit, diesmal von meiner Seite: Natürlich war es Keyhi nicht völlig gleichgültig, seine Königin zur Schau gestellt zu sehen.

KÖNIG KEYHI:
Aber sie machte es sehr vornehm, offenbar nach eingehenden Beratungen mit Ikqyku, auf dessen Einfallsreichtum und Geschmack (ja, auch das, so paradox es klingt) sie sich diesbezüglich verlassen konnte. So bestärkte er sie in ihrer Intention, nicht mit den jüngeren Artistinnen in Konkurrenz treten zu wollen und stattdessen das Publikum so wie sie war – ohnedies gut in Form übrigens – durch Originalität in ihren Bann zu ziehen. In der Mitte des Plateaus an der Tanzstange stehend, sich um diese drehend, wurde sie ständig aus vier Richtungen grellen Spots angestrahlt, so dass sie zu jeder Zeit für jeden Zuschauer im Gegenlicht erscheinen muss¬te, von einer Aura umgeben. Aber als dann der letzte Stoff fiel, eine Art Schleier, war sie definitiv nackt, und alle ihre anwesenden Untertanen konnten es sehen.

Auch meine Kinder saßen da und ließen ihre Blicke nicht von mir. Ohne jene Szene an Keyhis Steinfluss, die quasi die Generalprobe einer Apotheose gewesen war, hätte ich das hier nicht gewagt. Ich gestand mir allerdings auch erstmals in meinem Leben ein, dass wir Frauen etwas Exhibitionistisches an uns haben. Selbst ernstzunehmende Wissenschaftlerinnen bilden da keine Ausnahme…

404

Berenices Doppelgängerin aus der Spiegelwelt sah zwar natürlich genauso aus wie ihr diesseitiges Pendant, hatte aber bei weitem nicht die metaphysische Kapazität der Koori-Schamanin – allein, wer war schon in der Lage, das festzustellen? Auf VIÈVE brauchte sie jedenfalls nichts befürchten, denn dort hatte außer Vangelis und mir, seiner Freundin Serpentina, schwerlich jemand von der Walemira Talmai gehört, geschweige denn diese je persönlich kennengelernt, und man würde daher keinerlei Demonstration gehobenen magischen Könnens von ihr erwarten.

Es kam ihr sehr gelegen, dass Keyhi Pujvi Giki Foy Holby sie weiterhin als Therapeutin konsultierte, als die sie sich ja ausgegeben hatte – in seiner Vertrauensseligkeit, die einen oft verblüffte, denn ein Herrscher sollte immer doppelt vorsichtig sein, zweifelte er nicht an ihr. Man darf allerdings auch nicht vergessen, dass seine an sich bescheidenen Bedürfnisse durchaus befriedigt wurden: denn was sonst ergeben die üblichen Therapie-Sitzungen, als dass man endlich einmal seiner Wut freien Lauf lassen, seine Aggressionen entfesseln und seine Deformationen exzessiv zeigen kann, ohne dass diese spezielle Beziehung Schaden nimmt oder gar gänzlich gefährdet ist?

Wie es Volokuzo Nungua (das war der für die jenseitige Realität ungemein melodisch klingende richtige Name der geheimnisvollen Fremden) gelungen war, überhaupt auf die Station zu gelangen, ist praktisch nicht nachzuvollziehen. Eigentlich konnte es nur bedeuten, dass die Alpha-Welt bereits wieder von Agenten des anderen Universums unterwandert wurde: und das hieß wiederum, dass Romuald und Lyjaifxy, die Hüter des – wie die meisten annahmen – einzigen Übergangs, nachlässig geworden waren oder sich womöglich sogar bestechen ließen.

VANGELIS PANAGOU:
Ich wusste es allerdings besser (und mir als einem unter wenigen war somit klar, dass man den beiden Grenzwächtern im konkreten Fall keinen Vorwurf machen konnte). Es gab weit draußen im All noch die eine oder andere Transitmöglichkeit, die seinerzeit von der NOSTRANIMA übersehen worden war. Auch ich hatte ja eine solche dazu benützt, meine Bildungsreise auf die andere Seite auszudehnen. Drüben war mir irgendwann Volokuzo über den Weg gelaufen, eine alleinstehende Dame, die Anschluss suchte, und wir hatten uns auf Anhieb sehr gut verstanden – so gut, dass sie mir gegenüber nicht die übliche Scheu der Spiegelweltbewohner vor künstlichen Lebewesen an den Tag legte.

Tatsache war, dass sie im Paralleluniversum zwar einfache Roboter besaßen, aber keine so fabelhaften Androiden hervorgebracht hatten wie den AMG oder – durch seine tatkräftige Weiterentwicklung – auch mich. Jedenfalls hatte die Nungua gezielt beabsichtigt, meinen Liebsten auf VIÈVE wiederzusehen, denn, wie sich bald herausstellte, hatte sie ihre Pläne mit ihm. Ich aber, von vornherein misstrauisch gegen Berenices Doublette, vergewisserte ich mich meinerseits mittels Fernkontakt mit meiner Quasi-Schwester Anpan, dass die echte Walemira Talmai nach wie vor zweifelsfrei auf der Erde weilte, und beschloss, der Königin Bericht zu erstatten.

VANGELIS PANAGOU:
Immer langsam, meine Liebe. Hör zuerst an, was Volokuzo vorgeschlagen hat! Wie würde es dir denn gefallen, drüben in der anderen Welt an meiner Seite die Herrschaft zu übernehmen?

Ich war bestürzt: Natürlich konnte ich derlei extreme Gelüste rational einordnen – dazu gab es genug Belegstellen in meinem stark erweiterten Datenspeicher, und auch mein Model for Emotional Response konnte beispielhaft den heiligen Schauer simulieren, der den Mächtigen erfasste, wenn er sich seiner Potenz bewusst wurde.

Aber Vangelis? Mein Vangelis?

Wer war er wirklich? Was wusste ich denn von ihm? Offenbar gab es jenseits der Fakten, an denen wir An¬droiden uns so gerne festklammern, etwas, das ich nicht im Mindesten verstehen konnte. Allein – ich musste es begreifen, wollte ich nicht aus meiner jetzigen Situation, in die ich mich bequem eingeklinkt hatte, herausfallen.

Zweifellos hatte es mit seiner denkwürdigen Originalgestalt zu tun, die er dem weiland berühmtesten Doppelgängerpaar zu verdanken hatte. Zwar hatte Anastacia Panagou, unsere Konstrukteurin, die dramatische Konfiguration seines Bewusstsein gelöscht, die aus der Ambiguität des Tyrannen der Spiegelwelt und Sir Basil Cheltenhams erwachsen war, und ihm ein neues eigenes und im Prinzip lammfrommes Wesen aufgesetzt – dennoch gab es in seinen künstlichen Anlagen etwas, das hinüberragte in jene archaischen Sphären des Kampfes um Sieg oder Vernichtung.

VANGELIS PANAGOU:
Es ist viel einfacher als du denkst, Serpentina! Die Nungua ist lediglich der Ansicht, dass es Verschwendung wäre, wenn einerseits drüben so viele Leute dem Diktator nachtrauern und ich ihm andererseits so ähnlich sehe (wenn es mir nicht gerade gefällt, mich anders zu kalibrieren). Füg zwei und zwei zusammen und wir besteigen den verwaisten Thron, üben die Autorität aus, die angesichts der faulen Untätigkeit von Cheltenhams jenseitigem Statthalter Lyjaifxy brach liegt.

So weit konnte ich wenigstens argumentativ folgen. Ich hatte aber gelernt, nach Motiven zu forschen – niemand von den richtigen Menschen tat jemals etwas, ohne den eigenen Vorteil zu erwägen. Was hat sie davon, diese Volokuzo Nungua? fauchte ich, während mein MER blanken Hass produzierte.

VANGELIS PANAGOU:
Du bist auf dem Holzweg, Chérie. Die falsche Berenice kann den Schatz allein keinesfalls heben. Sie hat eben nicht die Fähigkeiten einer Walemira Talmai, sondern ist bloß eine Gauklerin, die ein wenig wahrsagen kann, ein wenig hypnotisieren, ein wenig betrügen unter Verwendung von Hologrammen. Und wenn alle Stricke reißen, verdient sie ihren Unterhalt damit, zum Gaudium des Publikums Licht zu schlucken. Bei allem, was darüber hinausgeht, braucht sie unsere Hilfe.

Ich war elektrisiert (übrigens ein eher unangenehmes Gefühl bei Androiden) und mir fiel es wie Schuppen von den Augen: Klar, wenn dieses Biest die Herrschaft auf der anderen Seite ohne fremde Hilfe hätte übernehmen können, wär’s doch längst passiert!

Und dann dachte ich weiter – ein für mich nach Überwindung meiner Schlangenexistenz trotz aller Übung manchmal noch immer sehr mühsamer und langsamer Prozess: Wenn sie uns nun braucht, respektive dich (denn ich bin in solchen Überlegungen für sie völlig unwichtig), wird sie lediglich eine Marionette suchen, die sie beliebig steuern kann. Wer garantiert dir, dass du nicht eines Tages sang- und klanglos auf einem Schrotthaufen landest?

VANGELIS PANAGOU:
Wenn es tatsächlich so ist, dass die Menschen drüben mehrheitlich sehnsüchtig die Rückkehr des Tyrannen erwarten und ich zumindest äußerlich diesem Wunsch Genüge tue, dann wird es im Gegenteil für Volokuzo gefährlich, denn sie hat ja nichts in der Hand, was sie gegen mich verwenden könnte außer ihren wenigen Taschenspielertricks.

Seine Argumentation klang plötzlich sehr logisch, und das ist eine Konstellation, in die unsereins gern einrastet – und gern bedeutet bei uns Androiden wohl eher besonders schnell, jedenfalls ist das wahrscheinlicher als dass wir ausgeprägte Vorlieben zeigen. Wenn Vangelis dieses Angebot annahm, wurde er ab einem bestimmten Punkt der Entwicklung vollständig Herr der Lage, denn wenn man nicht noch jemand anderen finden konnte, der dem Diktator ähnlich sah, war er unangreifbar. Drüben gab es vielleicht noch den einen oder anderen der früheren Doppelgänger, aber die hatten nie viel mehr als zur Ersatz-Zielscheibe getaugt und konnten daher keinesfalls als falsche Herrscher eingesetzt werden. Herüben gab es einzig und allein Sir Basil Cheltenham, aber den zu entführen und sich gefügig zu machen, konnte die Nungua nicht wagen, abgesehen davon, dass sie mit ihm keinesfalls weniger Probleme haben würde als mit Vangelis. Alles zusammengenommen, hieß das: Einmal im Sattel, wäre mein Geliebter durch nichts mehr aufzuhalten, was immer er dann tatsächlich plante.

An dieser Stelle meiner mittlerweile in Lichtgeschwindigkeit ablaufenden Gedankengänge kam ich selbst ins Spiel. Ich, ja ich würde mitplanen können, und wenn ich wollte, würde ich das Ganze als ein komplexes Schachspiel betrachten – mit mehreren Dimensionen, in dem sich nur noch androidisches Vorstellungsvermögen zurechtfinden konnte. Wie man’s auch betrachtete – eine eindrucksvolle Karriere von der mechanischen Schlange über Mango Berengas Maskottchen respektive Ikqyku Diaxus klassisch-erotische Tanzmaus zur Königin der Spiegelwelt!

Ich lächelte, wie vor mir nur Madame de Pompadour gelächelt haben dürfte – mein Model for Emotional Response schwelgte in Überlegenheit.

VANGELIS PANAGOU:
Jetzt hat sie’s geschnallt, meine kleine Denkmaschine…

… besser gesagt: Sex- und Denkmaschine!

VANGELIS PANAGOU:
Wer wohl den Sex in unsere Beziehung gebracht hat?

Plötzlich war ich wieder ernst. Ich hatte erlebt (wenigstens in den Anfängen), wie Anpan ihrem Pifsixyl geradezu mit Feierlichkeit begegnet war, nachdem sie ihn einmal akzeptiert hatte, damals auf dem Heimatstern der Lhiks, und nicht ohne Risken, auf die ich, wie ich mich erinnere, sie aufmerksam zu machen nicht müde wurde. Wir haben uns ineinander verliebt! sagte ich langsam, jedes Wort extra bedenkend und abwägend: Und Liebe, mein Freund, ist zwar an sich ein ganz überflüssiges Gefühl (beileibe nicht nur für Androiden, wie unser Nachtclubbesitzer zynisch angemerkt hat, sondern auch für richtige Menschen), aber das tut der Qualität dieser Emotion keinen Abbruch. Wie richtige Menschen ihre Sexualität auch rein mechanisch ausleben können – siehe die Séparées im „King?s & Queen?s” –, ja sogar mittels bloßer Körpertechnik Nachwuchs zu zeugen imstande sind, funktionert natürlich auch unsereins ohne ausgeprägte Empfindung, aber alle begreifen die Schönheit und Einzigartigkeit der Liebe, wenn sie sie je an sich selbst erfahren.

VANGELIS PANAGOU:
Siehst du, und das ist noch ein Moment, das in Bezug auf Volokuzo Nungua eine Rolle spielt: Sie war äußerst angetan von mir, als wir drüben eine Zeitlang zusammenlebten, bevor ich wieder weiterzog. Du weißt, dass ich in die Schule unserer Konstrukteurin gegangen bin – einer leidenschaftlichen Griechin, von der man etwas verhaltenen, aber dafür tiefgründigen Sex lernen kann. Nimm dazu noch die auch auf diesem Gebiet unverzichtbaren Ratschläge Giordano Brunos, der, wenn er einmal seine Wissenschaft vorübergehend vergaß, ein Latin Lover erster Güte war, ausdauernd und voll geheimer Glut: Die Nungua war jedenfalls von dieser Mischung begeistert! Sie wird daher auch jetzt nichts tun, was mir zum Nachteil gereicht, denn dann würde sie sich der Hoffnung begeben, das je wieder erleben zu dürfen.

Meine Schaltkreise kühlten sich schlagartig um einige Grade ab, will sagen, mir wurde kalt von diesem Schock. In Sekundenschnelle rasselte ich vom Olymp meines Triumphes herab in meine Welt, wie sie vor dem Erscheinen Vangelis Panagous auf der Station gewesen war: ein zwar widerwillig geachtetes, aber ungeliebtes Monster, das von einigen Perversen, allen voran Diaxu, missbraucht wurde und sich vergeblich danach sehnte, eine humanoide Gestalt anzunehmen und ganz vorne im Rampenlicht zu stehen.

Dann erinnerte ich mich jedoch daran, dass mein Fall so tief, wie im ersten Moment befürchtet, nicht sein würde, denn mein mittlerweile erreichtes Format und meine Rolle als Ballettstar und als Favoritin der Königin konnte mir niemand mehr nehmen. Das Einzige, was zu tun war – die rasche emotionale Trennung von Vangelis – leitete ich sofort in die Wege: Dann geh’ doch allein mit ihr! zischte ich. Fang nur gleich wieder an, es mit ihr zu treiben, um dich ihrer unzweifelhaften Ergebenheit zu versichern!

VANGELIS PANAGOU:
Aber was hätte ich davon, dich aufzugeben, meine Kleine? Ich gebe zu, dass ich nicht gleich in der ersten Sekunde unserer Bekanntschaft wild für dich entflammt war – aber einerlei: Ich habe begonnen, dich so sehr zu genießen wie nie zuvor eine richtige Frau, Anastacia vielleicht ausgenommen, aber das wirst du verstehen, denn diese Beziehung ist wesentlich komplexer als jede andere, umfasst sie doch neben dem Verhältnis der Liebenden zu ihrem Liebhaber auch jenes der Schöpferin zu ihrem Geschöpf und das der Mutter zu ihrem Sohn. Ich verstehe jetzt auch deinen Wunsch, das MER für unsere androidischen Bedürfnisse umzuprogrammieren, was ich dir verweigern musste und noch immer verweigere, obwohl ich selbst mittlerweile gute Lust dazu hätte. Dürften wir nämlich diese Änderung vornehmen, würde dies in wunderbarer Weise unsere Fähigkeit, uns körperlich aneinander anzupassen, ergänzen. Ich liebe es, wenn die Beweglichkeit deines Leibes und deiner Gliedmaßen mit jener meiner eigenen äußeren Abmessungen millimetergenau zu harmonieren beginnt. Und ich liebe es vor allem, wenn die Kalibrierung deiner Vagina jener meines Penis auf halbem Weg entgegenkommt, sodass wir so perfekt ineinander passen, wie kein menschliches Paar es je schaffen könnte. Ich liebe es aber auch, wenn du mich hinter der Tapetentür zu Ihrer Majestät Schlafgemach versteckst, von wo ich bequem zusehen kann, wie du zu Mango Berenga ins Bett schlüpfst – da rührt es sich nämlich heftig bei mir, hinten im Nacken und, davon ausgelöst, zwischen meinen Beinen.

Dort dürfte er auch einiges mitbekommen haben von dem, was meine Königin mir zuflüsterte, wenn sie erregt war, und vor allem, wie sie es formulierte. Wenn auch seine Liebeserklärung noch vergleichsweise hölzern klang, rührte sie mich doch in ihrer Differenziertheit. Wenn man sich nun überdies davon ausging, dass ein Android nicht imstande wäre, ein derart verwickeltes Sprachgebilde abzusondern, wenn es nur aus falschen Aussagen (die richtigen Menschen würden sagen: Lügen) bestünde, musste man sein Statement einfach für glaubwürdig halten.

Ich kehrte innerlich zu jener früheren feierlichen Ernsthaftigkeit zurück. Ich stellte mich vor ihn hin und ergriff seine Hände, spürte dabei, wie diese in den meinen zu vibrieren begannen, bis (wie er es eben zuvor beschrieben hatte) unsere Finger wie miteinander verschweißt waren: Vangelis Panagou! Schwöre mir…

VANGELIS PANAGOU:
Ach was – ein Android, der schwört!

Denk an Anastacia, unsere Konstrukteurin, der wir alles verdanken und vor der wir daher keinerlei Hintergründe unseres Daseins verbergen sollten, und mit Blick auf sie versichere mir, dass du mich liebst, nur mich allein, und dass du, wenn wir mit Volokuzo Nungua hinübergehen, sie bestenfalls im notwendigen Ausmaß ermutigen, aber niemals gewähren lassen wirst.

VANGELIS PANAGOU:
Ich schwöre es – ich schwöre, so wahr mir Anastacia Panagou helfe!

405

Fialuo Xlot (ihren früheren Künstlernamen Nancy Long brauchte sie nicht mehr zu bemühen) war also an Romuald über Vermittlung seines Doppelgängers geraten und so nach langer Abwesenheit wieder bei uns erschienen. Als unumschränkte Herrin von Cheltenham House registrierte ich das sehr wohl, auch wenn manche die Ansicht vertraten, ich würde mich überhaupt nicht um jene Personen kümmern, die als Folge früherer Ereignisse auf meinem Besitz gestrandet waren. Ich erwog kurz, ob Lyjaifsxy diese Beziehung in böser Absicht oder gar im Auftrag von mir unbekannten Mächten des Paralleluniversums gestiftet hatte, verwarf aber diesen Gedanken rasch wegen der evidenten Dummheit von Romualds Amtsbruder. Dennoch erinnerte mich das Ganze wieder einmal daran, dass unter den relativ diffusen Umständen, die mein Mann, Sir Basil, in der Spiegelwelt geschaffen hatte, dort jederzeit neue Gefahren auftauchen konnten, denen ein Typ wie Lyjaifsxy keinesfalls die Stirn zu bieten vermochte – wenn er dies überhaupt beabsichtigte.

Deshalb lenkte ich von da an mein besonderes Augenmerk auf die Xlot und zog stets die Möglichkeit in Betracht, dass sie – obwohl zu jenen gehörig, die den jenseitigen Diktator verraten und danach angeblich ihren Abschied vom Geheimdienst genommen hatten – mittlerweile schon wieder als Agentin arbeiten könnte, neuerlich für die Spiegelwelt, wenn auch für eine ganz andere und uns völlig unbekannte politische Position. Ich beschloss, Lyjaifsxy auf unverfängliche Weise in unregelmäßigen Abständen, als Nachbar sozusagen, zum Tee zu bitten. In Bezug auf Romuald erübrigte sich dies, denn diesen konnte man ohnehin täglich irgendwo auf meinem Besitz treffen, sodass sich vielfältige Gelegenheiten boten, ihn selbst oder durch einen meiner Mitarbeiter auszuhorchen.

LYJAIFSXY:
O Zierde des Landadels, ich grüße ergebenst, und wenn ich auch lieber Bier und Whiskey trinke (eine Unsitte, die ich mir übrigens erst im Kontakt mit dem Alpha-Universum angeeignet habe), werde ich es für diesmal wieder bei dem heißen Wasser bewenden lassen.

Ich war noch Amerikanerin genug und darüberhinaus auch noch (wie wir das bei uns daheim nannten) Seemannsbraut genug, um seinen Wunsch nach etwas Härterem zu verstehen – trotz der mittlerweile erworbenen Nobilität, die ich nur, für alle übrigen unsichtbar, bei Sakamoto abstreifte. Daher kippte ich eine gehörige Portion Rum in Lyjaifsxys Tasse. Er quittierte das mit einem wohligen Grunzen, wie es mir nicht mehr untergekommen war, seit ich das Kapitel mit den brünftigen US-Senatoren abgeschlossen hatte. Dieser hier wies im Vergleich zu jenen den Vorteil auf, dass er von mir nicht mehr wollte, als ein wenig Stoff in seinen Tee. Er zündete sich eine Zigarette an, und ich konnte das Aroma von Marihuana wahrnehmen – wieder eine Errungenschaft, die unsere Alpha-Welt ihm beschert hatte, denn das gab es meines Wissens ebenfalls drüben nicht: Die Leute dort waren verrückt genug, auch ohne Gras zu rauchen.

Erzählen Sie mir ein wenig vom Paralleluniversum! forderte ich ihn auf, als man annehmen konnte, dass seine Zunge sich etwas gelöst hatte: Wie kommen Sie dort zurande?

LYJAIFSXY:
(desinteressiert, nimmt einen kräftigen Schluck) Ach, das macht sich prima…

Eine glatte Lüge, so weit ich wusste. Aber vielleicht mochte diese Aussage aus seiner Sicht sogar stimmen – niemand dort drüben kümmerte sich auch nur im Geringsten um ihn, was nicht zuletzt seine Schuld war, hatte er doch für keinerlei Strukturen gesorgt, die ihm den Einfluss geben konnten, den er benötigte. Mehr noch: Man konnte wohl davon ausgehen, dass die meisten Bewohner der anderen Realität ihn gar nicht kannten, mit Ausnahme einiger früherer Kameraden vielleicht, und die hielten ihn ohnehin für einen Verräter, der sich, niemand wusste wirklich wie, noch im Krieg mit jener Gestalt arrangiert hatte, die sie für einen Androiden hielten. Und bei dieser Version wären sie selbst dann geblieben, wenn man ihnen die Wahrheit (dass es sich doch um einen Menschen, wenn auch mit einigen besonderen Fähigkeiten, nämlich um Romuald, handelte) eröffnet hätte: Nur ein Android konnte einigermaßen ihre damalige Feigheit erklären, wenn schon nicht entschuldigen – das durchaus nicht, denn der Tyrann der jenseitigen Völker hatte seine Truppen darauf eingeschworen, dass sie sich für ihn bedenkenlos in Stücke hauen ließen, ehe sie kapitulierten.

Noch mehr Rum (dazu fast kein Tee). Langsam kam doch noch etwas zutage.

LYJAIFSXY:
In der drüberen Welt wächst eben jetzt, ganz langsam, aber dafür unaufhaltsam eine neue Ideologie heran, die unsere Niederlage in einen Sieg ummünzt. Unendlich viele kleine Aussagen, von wenigen als Losung ausgegeben, von Tausenden als Parole wiederholt, höhlen die Schmach aus: Hätte man den Übergang unter Cheltenham House erobert, wäre die Sache wohl anders gelaufen. Der Diktator sei nicht gut beraten gewesen, als er sich freiwillig ins Hauptquartier des Feindes begab und seinen Gegenspieler zum Duell aufforderte – was ihn nämlich dort erwartet hatte, war offenkundig List und Heimtücke und jedenfalls kein ritterlicher Schlagabtausch. Als unfair wird überdies der Einsatz der NOSTRANIMA angesehen, die wie ein Schatten aus dem Hinterhalt Tod und Vernichtung brachte, aber sich nie einem offenen Kampf stellte.

Meine Aufmerksamkeit wuchs und wuchs, während er das erzählte. Sollte er doch ganz gut Bescheid wissen? Und wenn ja, wie stand er persönlich dazu? Trog mich mein Eindruck, oder stand er tatsächlich auf der Seite jener Um- und Einfärber?

LYJAIFSXY:
Viele sagen auch, der Augustus Maximus Gregorovius sei gar nicht tot, habe sich lediglich versteckt, um seine Kräfte aufs Neue zu sammeln und dann loszuschlagen.

Ich möchte derlei Aussagen gar nicht kommentieren, meinte ich, aber man sollte doch der Tatsache ins Auge blicken, dass in Ihrer Welt blanke Anarchie herrscht. Namentlich auf Ihrem Heimatplaneten, den Ihre Eliten schon zu Zeiten des Ancien Régime verlassen haben, rotten einander selbst jene aus, die noch nicht von wirtschaftlichem Desaster und exzessiver Umweltverschmutzung dahingerafft wurden. Es gibt keinerlei staatliche Ordnung mehr, so viel ich weiß auf keinem der Himmelskörper, über die sich das ehemalige Tyrannenreich erstreckt hat. Wie kann man da an einen neuen Krieg denken?

LYJAIFSXY:
Für die allermeisten Bewohner des Paralleluniversums ist Chaos etwas völlig Normales. Unterdrückung ist das, was sie gewöhnt sind. In Angst wachsen sie auf, und diese Angst wächst im Laufe ihres Lebens steil an, denn je länger dieses dauert, desto akuter wird die Möglichkeit, dass man es auf brutale Weise verliert. Somit liegt es nahe, in einem neuerlichen Gewaltakt den Ausweg zu sehen: Die Vernichtung der Alpha-Realität wird als Synonym für die Verbesserung der Situation auf der anderen Seite gesehen.

Man konnte aus diesen Leuten nicht schlau werden. Offensichtlich war die Auslöschung des Tyrannen durch Basil nicht als Befreiung vom Joch der Sklaverei betrachtet worden! Offensichtlich gab es dort ein immanentes Bedürfnis nach Barbarei, korrigiere: nach gefühlsduseliger Barbarei! Offensichtlich konnte man sich seitens unserer Welt nur davon zurückziehen und dieses Gezücht einfach sich selbst überlassen!

Aber das war nicht ganz so einfach, wie es sich zunächst anhörte. Dabei meinte ich weiß Gott nicht jene Minderheit drüben, die möglicherweise anders dachte als der Mainstream, die vielleicht ein zivilisiertes Leben mit einigen über die einfachsten Grundbedürfnisse hinausgehenden Ansprüchen vorziehen würden, vielleicht sogar gerne den einen oder anderen kulturellen Wunsch befriedigen wollten. Nein, ich fürchtete die Gefahren, denen das Alpha-Universum ausgesetzt war, weil man den Grad der Unterwanderung nicht kannte, der bis zum Zeitpunkt der Versiegelung der Übergänge zwischen den beiden Welten erreicht war, und zwar nicht nur die vordergründige Unterwanderung mit Agenten, sondern jene fast unmerkliche Durchdringung mit Ideen: Wer kann schon genau sagen, wes Lied er wirklich singt, wenn er anscheinend seine eigene Meinung zum Besten gibt? Wer kann von sich allen Ernstes behaupten, er sei in seinen Überzeugungen nicht infiltriert von jenem fremden Gedankengut? Wer darf schon annehmen, dass die Berührung mit Barbaren ihn nicht kontaminiert hat?

Übt Fialuo Xlot noch ihren alten Beruf aus? fragte ich meinen Teestundenpartner heuchlerisch.

LYJAIFSXY:
(lächelt) Sie macht nichts Aufregendes, Mylady. Sie genießt, wenn sie’s mit Romuald treibt – pardon, aber ich weiß nicht recht, wie man das in höchstdero Kreisen korrekt ausdrückt –, die Güte des Instruments, das jener von seinem Vater geerbt hat, und er wiederum genießt wie seit jeher die außergewöhnliche Lust, die er mit dem legendären Ding verursacht (und ich kann’s ihm ehrlich nachfühlen, bin ich doch von meinem eigenen Erzeuger sozusagen mit dem Analogon ausgestattet worden). So weit so gut – dass dann niemand mehr auf Zeit und Ort sieht und insbesondere niemand darauf achtet, wer unseren Checkpoint passiert, versteht sich fast von selbst.

Okay – den Zweck der Übung begriff ich, aber wie ging die Dame wohl vor?

Es stellte sich heraus, dass Fialuo noch immer, wie bereits in ihrer Rolle als Liebeskunst-Detektivin Nancy Long, ihre Männerbekanntschaften, seien sie nun beruflich oder privat (oder eine Mischung aus beiden à la Romi) in Materialien für virtuelle Denkmäler umarbeitete – ein gravierender Unterschied etwa zur Vorgangsweise von Laura de Dubois alias Sissy Dobrowolny. Diese hatte in ihrer Ausbildung den härteren Weg nehmen müssen und benützte ihren Körper unmittelbar als Werkzeug und Waffe, lief damit natürlich Gefahr, in eine gewisse Schizophrenie zwischen den Stereotypen, die sie bedienen musste, und ihrem wirklichen Selbst (oder was sie davon noch zusammenbringen konnte) zu schlittern. Hin und wieder, wenn die Action ihres Jobs Pause machte, wurde ihr schmerzlich bewusst, welch gravierendes emotionales Vakuum sich hier auftat: und sie war nicht der Typ, dieses ewig mit ausreichend phantasievollen Geschichten zu füllen.

Anders Fialuo Xlot. Sie produzierte solche Geschichten am laufenden Band, dokumentierte sie schriftlich und bildlich, veröffentlichte auch jene, bei denen die handelnden Personen so weit anonymisiert werden konnten, dass die Agentin nicht in berufliche Konflikte geriet. Die Sammlung trug noch immer den Titel „Manifestationen der Liebe” und wuchs praktisch laufend an. Die darin Verewigten wurden teils informiert (wenn Xlot dies für möglich oder richtig hielt), teils blieb ihnen ihre Beteiligung an diesem Spiel verborgen.

DER GROSSE REGISSEUR:
Ich störe wirklich ungern, zumal ich auch selbst genug um die Ohren habe, aber kann mir jemand sagen, ob diese Fialuo Xlot Interesse an der Verfilmung ihres Werkes hätte? Wenn der Stoff, soweit ich es verstanden habe, ohnehin bereits diesen extremen Naturalismus aufweist, müsste man ja fast nur mehr die gute alte Arriflex hinhalten und hätte den perfekten Kultfilm der beziehungskühlen Postmoderne. Die diversen männlichen Rollen besetzen wir mit Nachwuchsschauspielern, die bloß das zu kopieren brauchen, was ihnen Miss Xlots Originale vormachen, und die Hauptfigur soll entweder die Perfomancekünstlerin selbst darstellen, wenn sie Lust hat, oder wir holen uns einfach Emmanuelle Béart – die ist es gewöhnt, sich in einem Zwei-Stunden-Werk über eine Stunde oder gar eineinhalb ungeschützt dem männlichen Voyeurismus auszusetzen. Wenn sie nicht auf Englisch spielen will, dann machen wir’s auf Französisch, das kriegen wir auch noch hin, zumal gar nicht so viel gesprochen wird, es sei denn von einem Pärchen, das – selbst unsichtbar – mit samtweicher Stimme das Gesehene kommentiert. Damit sollte der Ästhetik Genüge getan sein, und wenn ich es mir recht überlege: Ja, wir nehmen gleich von vornherein die Béart, und diese Xlot soll dafür gemeinsam mit meiner erfahrenen Claudette Williams das Drehbuch verfassen.

Ich fragte mich, wie er so sicher sein konnte, die berühmte Aktrice zu bekommen. Was wäre zum Beispiel, wenn Emmanuelle, intelligent wie sie trotz all der Frivolität nun einmal ist, das Ganze nicht als literarische Parabel verstehen würde, sondern quasi als Altmänner-Ersatzerotik? Dabei hatte sie noch nicht einmal den potentiellen Produzenten, Sid Bogdanych, kennengelernt, der sie mit seinem Gesabber noch in dieser Meinung bestärken müsste. Und was wäre erst dann, wenn die Béart wirklich zusagte, aber Regisseur und Produzent erst im Laufe der Dreharbeiten, wenn schon einiges an Geld verpulvert wurde, draufkämen, dass dieser berühmte Blick, der sie da fixiert, eigentlich Mitleid für alle Männer signalisiert – ins Unerträgliche gesteigert durch die aggressive nudité agressive dieser Schauspielerin. Wäre nicht günstig für die Einnahmen, wenn sich potentielle Zuschauer nicht angeregt, sondern stattdessen ertappt vorkommen!

Der große Regisseur starrte mich entgeistert an: War denn diese Weiberschar überhaupt nicht mehr zu bremsen? Ich bot ihm Tee an, die Amerikanerin dem Amerikaner, ohne Eiswürfel zumal, einfach paradox – das warf ihn völlig aus der Bahn. Er beschloss, sich ruhig zu verhalten und lediglich aus seiner Tasse zu schlürfen.

LYJAIFSXY:
(hat verblüfft die Szene beobachtet) Nicht dass mich das alles kalt lässt, Herrschaften, aber ich weiß nicht recht… (und zur Drehbuchautorin gewendet, die plötzlich hinzugetreten ist) Wer sind Sie, bitte?

CLAUDETTE WILLIAMS:
(beachtet Lyjaifsxy gar nicht) He, das erinnert fatal an ein Set, auf dem die Parole „Sex sells” in der Luft liegt – hier wimmelt es geradezu von Agentinnen, die ihre bloße Haut zu Markte tragen!

LYJAIFSXY:
Offenbar ein Beruf, der dem weiblichen Naturell sehr entgegenkommt!

CLAUDETTE WILLIAMS:
Ihr hämisches Grinsen können Sie sich sparen, mein Freund, denn ich kann mir gut vorstellen, worin Ihre Definition des weiblichen Naturells besteht. Und wenn es auch manchmal so scheint, als hätten Sie und Ihresgleichen im Prinzip Recht, so behalten meine Schwestern und ich uns dennoch vor, wen genau wir so nah an uns heranlassen, dass er unser Naturell studieren kann. Fialuo Xlots Affäre mit Romuald ist deren Entscheidung (und dabei nicht losgelöst von ihren künstlerischen Ambitionen zu betrachten). Meine Entscheidung wiederum ist es, Typen wie Sie und Ihren Zwilling zu ignorieren.

LYJAIFSXY:
Nicht ignoriert hingegen haben Sie in geeigneter Situation den Tyrannen der jenseitigen Völker, Iadapqap Jirujap Dlodylysuap, meinen ehemaligen Herrn…

Das wusste der also, Donnerwetter! Basil hatte mir davon erzählt, als er von der Sache Wind bekommen hatte.

LYJAIFSXY:
… und da Sie schon dabei waren (ich ersuche untertänigst um Verzeihung, Lady Charlene), nahmen Sie den Baronet of Cheltenham auch gleich mit, der, wie man hört, nicht gerade zimperlich mit Ihnen umgesprungen ist…

Das wusste ich wiederum nicht, denn darüber hatte mein Mann sich ausgeschwiegen!

Basil war wirklich überall! Wenn es für mich noch überhaupt einen Zweifel gegeben hätte, dass seine Umtriebe durchaus nicht ausschließlich staatlich, militärisch oder geheimdienstlich waren, wäre spätestens jetzt klar geworden, dass es sich bei ihm immer um ein Amalgam aus beruflichen und persönlichen Bestrebungen handelte, was für seine offiziell Angetraute nicht sehr schmeichelhaft war.

Was hat er Ihnen getan, Claudette?

CLAUDETTE WILLIAMS:
Er selbst hat keinen Finger gerührt, wenn Sie das meinen, und er hat auch nicht Hand an mich gelegt, obwohl’s mir in gewisser Weise nicht unangenehm gewesen wäre. Nein, er machte die Demütigung perfekt, indem er mich, sozusagen mittelbar, von seinen Gorillas bearbeiten ließ. Aber dennoch, Lyjaifsxy, beides sind Herren, denen sich zu ergeben einer Frau letztlich keine wirkliche Schande bereitet, denn die sind von anderem Kaliber als Sie, sodass man am Ende immer noch mit dem stolzen Gefühl davongehen kann, einer bedeutenden Persönlichkeit über den Weg gelaufen zu sein!

DER GROSSE REGISSEUR:
Genau – und darum kommt sie ja auch von mir nicht los, weil ich ihre tollen Scripts in noch tollere Filme verwandle, und weil es mir ab und an gefällt, sie selbst – die kleine graue Maus – ganz außerordentlich zu inszenieren, sodass (er wird pathetisch) die Augen – der Welt – auf sie – gerichtet sind!

Worauf ich hinauswollte, Herr Lyjaifsxy, ist nicht irgendeine Eitelkeit oder irgendjemandes Befindlichkeit, sondern die Frage, ob wir denn einem neuen Bedrohungspotential gegenüberstehen, und Sie haben dies in Abrede gestellt, gleichzeitig aber eingeräumt, dass nicht einmal Ihr Checkpoint zwischen den beiden Universen ordnungsgemäß bewacht wird, weil dieser Romuald sich pflichtvergessen mit einer jenseitigen Agentin (in wessen Sold auch immer sie stehen mag) vergnügt, um nicht ein deutlicheres Wort zu gebrauchen; weil er es folglich Ihnen als seinem Pendant leicht macht, Ihre eigene Pflichtvergessenheit hinter der seinen zu verbergen. Es sei denn, Sie haben den Mut und bekennen hier und jetzt offen, welche Ziele Sie wirklich verfolgen.

Er schwieg sich beharrlich aus.

CLAUDETTE WILLIAMS:
Vielleicht haben all diese toughen Frauen ein Netzwerk gebildet, um die Eskapaden der Männer zu stoppen: die Umtriebe dieser Lyjaifsxys und Romualds, hinter denen wieder die Basils und Iadapqaps stehen?

Das wäre zu schön, um wahr zu sein – auf den ersten Blick! Aber ist die Welt so einfach, dass sie auf diese Weise heilbar wäre? Ziehen sich die Risse nicht nur durch zwei Realitäten, sondern auch durch jede soziale Entität und am Ende selbst durch jeden einzelnen Menschen? Unterliegen wir nicht Tag um Tag einer gigantischen Illusion?

CLAUDETTE WILLIAMS:
Sie meinen – zu wissen, was wir wollen, oder zumindest, was wir wollen sollen?

405-A

Um auf Anastacia zurückzukommen…

BRIGITTE:
Zurecht, denn viele der Entwicklungen, die wir hier festhalten, wären undenkbar ohne sie, bei aller Zurückhaltung, die sie normalerweise demonstrativ an den Tag legte. Schon immer war sie nämlich das gewesen, was man ein sehr verständiges Mädchen nennt: und bereits von klein auf, als sie mit ganz dünnen Beinchen durch die Gegend stakste (noch keine Spur von den wohlgeformten Gliedmaßen ihrer erwachsenen Jahre!), suchte sie intensiv nach einer weiblichen Identität jenseits der jahrhundertealten männlichen Konzepte. Immerhin hatte sie diese aufgrund des frühen Todes ihres Vaters niemals unmittelbar, stets bloß aus einiger Entfernung kennengelernt – niemand hatte sie höchstpersönlich dazu gezwungen, patriarchalische Strukturen zu internalisieren. Die Mutter wiederum erlebte sie – aber das mag auch am spezifischen Ambiente Griechenlands liegen – als heidnische Naturgottheit, die unter der dünnen christlichen Lasur mit kräftigen mythologischen Farben und Formen hervortrat. Die Erotik der Älteren, die als Witwe nach den Bräuchen ihres Heimatlandes zu lebenslanger Trauer verpflichtet war, schien allgegenwärtig, denn je mehr ihr Sexus durch die Tradition unterbunden werden sollte, desto mehr brach er mitten im Alltag unverblümt hervor, freilich nur für die Tochter sichtbar, nicht aber für die übrigen Dorfbewohner. Anastacia konnte beobachten, wie fast jeder Ge-brauchsgegenstand, der sich einigermaßen dafür eignete, als Instrument der Selbstbefriedigung benützt wurde, und sie begann folgerichtig, zu diesen Dingen und später, als ihre frühreife Zeit gekommen war, auch zum Vorgang als solchem eine tiefe Beziehung zu entwickeln.

???

BRIGITTE:
Wenn dann die beiden Frauen schwer beladen mit ihrer Ernte zum weit entfernten städtischen Markt marschierten und einem Mann begegneten, der nicht aus der Gegend war und den folglich der Status und die schwarze Kleidung der Mutter nicht zu bekümmern brauchte, wusste es diese jeweils so einzurichten, dass er sie bald nach dem üblichen Woherwohin hinter die nächste Baumgruppe führte und in Besitz nahm. Das Mädchen wurde dazu vergattert, die Warenkörbe zu beaufsichtigen und gleichzeitig den Weg im Auge zu behalten, aber sie bekam natürlich mit, was hinter ihr geschah. So konnte sie nicht umhin, trotz aller philosophischen Überlegungen, die sie wälzte, anzuerkennen, was bei diesem Geschäft Sache war: das mehr oder weniger unabänderliche physische Phänomen männlicher Ausstülpung und weiblicher Einstülpung.

???

BRIGITTE:
Wie immer du es nennen willst – selbst wenn du die sekundären Geschlechtsmerkmale vernachlässigst oder die geschlechtsspezifischen Verhaltensweisen beseitigst, verbleibt auf der primären Ebene dieser fundamentale Unterschied…

… dieser nicht ganz unerfreuliche Unterschied!

BRIGITTE:
Anders als wenn man einander küsst, dachte Anastacia Panagou (und da war sie zu jener Zeit schon ganz schön erfahren, wenn auch nur mit gleichaltrigen Mädchen – welcher Junge hätte schließlich diese dürre Gestalt anrühren wollen?), anders als beim Kuss da oben, wo alle gleich sind, schien es nach den Urlauten zu schließen, die sie von der Mutter und dem jeweiligen Partner zu hören bekam, um viel mehr zu gehen. Sie nahm sich fest vor, dieses Elementarereignis zu ergründen, und eigentlich brauchte sie gar nicht mehr allzu lange zu warten: ihre Brüste entwickelten sich, Becken und Schenkel rundeten sich, aber nicht früh-matronenhaft wie in anderen Mittelmeerländern, sondern mit der Festigkeit, die jungen Griechinnen eignet.

Die Jungs werden Schlange gestanden sein!

BRIGITTE:
„Ich flehe dich an, Tasoula, niemanden vom Dorf!” bat die Mutter. Das hätte ihr gerade noch gefehlt, nach all der Vorsicht, die sie für ihren Teil angewendet hatte, um den Schein zu wahren. Sie ermöglichte der Tochter einen guten Start mit einem, der sie selbst sehr glücklich gemacht hatte und der über dieses Angebot mehr als überrascht war. Er konnte den Reizen der Kleinen jedenfalls nicht widerstehen. „Ich komme nicht in dir”, versprach er, „keine Sorge!” Anastacia aber ergriff entschlossen die Initiative, indem sie ihn nicht mehr rausließ, bis er seinen Samen entgegen seiner Beteuerung doch in ihr abgeladen hatte – zwang ihn damit möglicherweise, ein Kind zu zeugen, das er nicht wollte und das sie sich selbst auch nicht wünschte, aber die Versuchung, endlich präzise zu wissen, wo’s lang ging, war einfach übermächtig.

Sie hatte Glück, denn sie bekam ihre Erfahrung, konnte sie bis ins Letzte auskosten, aber ohne die Zugabe unerwünschten Nachwuchses. Und – Tasoula, wie sie auch der Freund zärtlich titulierte, dürfte diesem ebenfalls eine Sensation bedeutet haben, denn er beschloss, fasziniert von seinem Mutter-Tochter-Tandem, die beiden in seine Heimat England mitzunehmen, wo er als Adeliger zwar hochkarätig verheiratet war, aber reich genug, zusätzlich eine Maison fantôme zu unterhalten. Für Anastacia eröffnete sich damit plötzlich die Möglichkeit, ihre zweite große Perspektive zu verwirklichen, und die hatte nur bedingt mit zwischenmenschlichen Beziehungen zu tun.

BRIGITTE:
Das Mädchen lernte sehr rasch die Sprache und besuchte sodann eine gute Schule. Danach durfte sie ein Informatikstudium durchlaufen (was, egal, wie sie darauf gekommen sein mochte, ihr sehnlichster Wunsch war – neben jenem schon bekannten) und zuletzt schlug sie ihr Quasi-Stiefvater für einen der wenigen und begehrten Ausbildungsplätze der Royal Society of Artificial Intelligence vor: Deren Präsident, Sir Basil Cheltenham, unterzeichnete die entsprechende Permission bedenkenlos aufgrund der Empfehlung seines Standesgenossen, ohne die Kleine überhaupt persönlich zu begutachten.

War sicherlich zu beschäftigt, der alte Junge!

BRIGITTE:
Das kannst du laut sagen: Stabschef des legendären Ordens der Orangenblüte, Kommandant der sogenannten O’RAZOR-Truppe und von allen möglichen anderen todbringenden Institutionen, dazu hoher Offizier der britischen Armee, und als solcher in diverse geheimdienstliche Operationen involviert – wie er all das unter einen Hut brachte, konnte sich wirklich niemand erklären.

Professor Pascal Kouradraogo – mit dem Anastacia später ein mehr als amüsantes Liebesabenteuer hatte und den sie, wie wir uns erinnern, mit ihrem ernsthaft-verhaltenen Zugang zum Liebesakt faszinierte – konnte sie in der illustren Society nicht kennenlernen, allenfalls indirekt als Autor eines Standardwerks über künstliche Intelligenz, das noch an seiner Heimatuniversität Ouagadougou entstanden war. Jedenfalls wurde sie mit Abstand die Beste, nicht zuletzt auf der praktischen Ebene infolge ihres handwerklichen Geschicks, das sie dafür prädestinierte, ortsunabhängige Rechner (präzise ausgedrückt: Roboter) zu konstruieren. Anders als der Professor, der in dieser Hinsicht bestenfalls dilettierte, war Anastacia Panagou schlichtweg genial. Im Gegensatz dazu oder vielleicht gerade deshalb strebte sie niemals akademische Würden an.

BRIGITTE:
Der Mentor der Panagou-Frauen tauchte nur sporadisch auf: die Ehefrau, die beruflichen, die politischen Verpflichtungen, ein wenig auch die Angst vor einem Skandal – man kennt das ja. Zudem zögerte er im Warten auf die günstige eigene Stimmung, die beileibe nicht immer da war. Wenn er erschien, bevorzugte er mittlerweile die Ältere, denn insgeheim musste er sich eingestehen, dass ihm die Jüngere irgendwie schon zu anstrengend war. Daher holte er sich noch viel seltener, als er überhaupt vorbeikam, von Anastacia den Lohn für seine Investitionen. „Ein Fick mit einer von uns kostet ihn gut 1000 Pfund!” rechnete die Mutter eines Tages der Tochter vor, was ihr diese sehr verübelte: „Sei nicht so ordinär!” Aber sie wusste natürlich, dass diese Kalkulation ganz gut hinkam.

Als Anastacia dann einige bahnbrechende Erfindungen gemacht hatte, die ihr den Schritt vom Roboter- zum Androidenbau ermöglichten – eine lebensecht wirkende künstliche Haut; die Methode, komplexe biomechanische Strukturen in einem einigermaßen begrenzten Körper unterzubringen; das Programm für das Model for Emotional Response und anderes mehr – und ihr klar wurde, dass sie diese in der Society nicht lange für sich allein haben würde, betrieb sie die Rückkehr auf die heimatliche Ägais-Insel, um auf dem familieneigenen Grundstück ein verborgenes Labor errichten zu können. Gesagt getan – doch so einfach, wie sie die Durchführung dieses Planes empfand, war diese selbstverständlich nicht, nur merkte sie von dem, was im Hintergrund ablief, nicht viel. Ihr Sponsor sah sich gezwungen, noch einmal tief in seine Tasche zu greifen, aber auch, sich der Hilfe Sir Basils zu versichern. Dieser beteiligte sich an dem Projekt (von dem die Panagou selbst nicht ahnte, dass es eines war) und schoss aus einem der Reptilienfonds, über die er ohne Kontrolle des Parlaments für verdeckte Operationen verfügen konnte, eine beträchtliche Summe zu. Beschleunigt wurde das Ganze schließlich noch durch den plötzlichen Tod der Mutter, die nicht mehr aus England weggewollt hatte. Nun aber hielt die Tochter nichts mehr dort.

BRIGITTE:
Das Panagou’sche Land lag nahe am Meer – wenn Anastacia daher etwas brauchte, konnte ein kleineres Schiff einige Dutzend Meter vor dem Strand ankern und seine Fracht löschen, ohne dass je irgendjemand (schon gar nicht der griechische Zoll) irgendetwas davon zu Gesicht bekam. Günstig war die Topographie auch für Cheltenhams Spezialeinsatztruppe, genannt die Babysitter: sie bewachten das Objekt, unbemerkt von der Besitzerin, rund um die Uhr. Eines Tages stellten und töteten sie einen Eindringling und deponierten ihn übel zugerichtet mitten auf dem Hauptplatz des nahen Dorfes. Nachdem er vor der Friedhofsmauer verscharrt worden war, ohne dass die Behörden auch nur seine Identität hatten feststellen können, erhielt Sir Basil den Anruf eines Herrn, der offensichtlich einem fremden Geheimdienst (vielleicht sogar dem von der anderen Realität?) angehörte und der sich ungewöhnlich weit vorwagte – geschockt fragte, ob denn das nötig gewesen sei. „Wenn Sie sich künftig fernhalten, wird es nicht wieder vorkommen!” war die lakonische Antwort.

Anastacia baute währenddessen ihre Maschinenwesen, die künstliche Schlange sozusagen als Übungsstück und kurz danach ihre erste Androidin, die ihr gleich zum Meisterstück gedieh: die AP 2000 ®.

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Von einem Tag auf den anderen aber begann die Panagou an einem fallweisen Verschwimmen ihrer Wahrnehmungen zu leiden: Sie war Technikerin genug, um dieses Phänomen so zu beschreiben, dass sie in den Frequenzbereichen ihrer Sinne bestimmte Wellenlängen suchte, aber keine klar abgegrenzten Sender finden konnte. Es waren dies die ersten Anzeichen des Auftretens von Giordano Bruno, der ja in Anastacias Zeit nicht so existierte wie sie, sondern kraft der von ihm theoretisch untermauerten und praktisch erprobten Stringtechnologie materialisierte oder dematerialisierte, wo er wollte – vielleicht sogar, wie er wollte (aber das Letztere wissen selbst wir nicht).

BRIGITTE:
Wer also war dieser Giordano Bruno – nicht der historische, sondern derjenige, dessen Identität die Walemira Talmai gerettet hatte und der in weiterer Folge Anastacia Panagou begegnete? Wer war er, der gemeinsam mit ihr von Sir Basil (der damit eine alte Schuld einforderte) nach England zurückgeholt wurde. Er, der in Kooperation mit Tasoula und Chicago das Raumschiff NOSTRANIMA entwickelt und sich an dessen Mission in der Spiegelwelt beteiligt hatte: an diesem Krieg, der schließlich gar nicht durch die Verwüstungen, die man drüben anrichtete, sondern durch einen Zweikampf entschieden wurde? Er, der danach mit Anastacia auf Cheltenham House lebte, dort als ihr Latin Lover reüssierte und unter anderem auch den Androiden AMG (alias Vangelis Panagou) in seine Geheimwissenschaft einweihte?

Er ordnete sich problemlos seiner Geliebten unter, ging ihr willig zur Hand bei ihrer Arbeit, die eigentlich mehr darin bestand, ihre wissenschaftlichen Interessen zu verwirklichen und auszuleben. Und wenn es sie beide gelüstete, hießen sie die NOSTRANIMA sich in ein Pferdegespann verwandeln, das Giorduzzo scheinbar mühelos und mit sicherem Griff kreuz und quer durchs Cheltenham-Gut kutschierte. Oder das elektronisch-telepathische Riesenraumschiff wurde in ein altmodisches Kleinflugzeug transponiert, mit dem die beiden – Anastacia am Steuer – Kurzbesuche in London absolvierten. All das wissen wir aus den für jeden Betroffenen ziemlich unwillkommenen Intimreportagen Leo Di Marconis, die jedes Detail registrierten, selbst die Tatsache, dass Giordano Bruno bei diesen Gelegenheiten stets in seinem exklusiven elfenbeinfarbenen Staubmantel von Armani zu sehen war, während das Outfit der Panagou wie immer (der uncharmante Journalist!) keiner Erwähnung wert war.

BRIGITTE:
Was dem alten Schnüffler allerdings verborgen blieb, war die dritte Art Ausflüge des Paares. Wie jeden mediterranen Menschen drängte es Bruno zum Wasser, und prompt entdeckte er in der Nähe von Cheltenham den Ort Bourton on the Water, das „Venedig der Cotswolds”, wo man den idyllischen Windrush River mit kleinen Booten befahren konnte. Die gigantische NOSTRA¬NIMA musste sich demgemäß in das Format eines Kahns zwängen, den Giorduzzo mit angeborenem nautischen Talent an den verträumten Ufern entlangruderte. Da und dort legte er unter einer tiefhängenden Weide an, setzte sich zu Füßen der Freundin und erzählte ihr von seinen altrömischen Urahnen, die sich an dieser Stelle rund 300 Jahre aufgehalten hatten, wobei manch einer sich in eines dieser strammen britannischen Mädels vergaffte, die ein Mann noch richtig rannehmen konnte – ganz anders als die verweichlichten Schönheiten der Heimat: und er vergaß nicht, den Vergleich mit Anastacia zu ziehen, obwohl die beiden bis dato noch gar nicht miteinander geschlafen hatten.

Was die Panagou damals vergeblich versucht hatte, war, der AP 2000 ® (die sich als Kupplerin zwischen ihrer Konstrukteurin und deren Freund gefiel) verständlich zu machen, dass zwischen ihr und Giorduzzo aufgrund der gemeinsamen Beschäftigung mit den komplexen Materien rund um die Konfiguration der NOSTRANIMA bereits eine tiefe, wenn auch ephebische Intimität entstanden war. Die Androidin winkte mit der doktrinären Logik eines Computerprogramms ab: Keine körperliche Vereinigung der eindeutigen Art – keine ordnungsgemäße Liaison!

BRIGITTE:
Nun – die beiden fragten die ach so kluge Anpan dennoch nicht um Rat, noch erbaten sie ihre Hilfe, als sie sich von einem Moment zum anderen doch zum Vollzug physischer Freuden entschlossen, nachdem Bruno sich endlich erklärt hatte. Er tat‘?s recht poetisch: Er wolle den orgiastischen Schauern wissenschaftlicher Erkenntnisse, die sie gemeinsam erlebt hatten, eine weitere Facette hinzufügen! Ob Aastacia es genau so verstanden hat, wie es gemeint war, wissen wir nicht, aber sie fiel ihm um den Hals, küsste und biss ihn zugleich, hatte zudem ihre Hände plötzlich überall an seinem Körper, womit das Eis endgültig gebrochen war.

Nach einer langen schönen Zeit, in der das Akademische bei den Zweien ziemlich zurücktrat, war Giordano Bruno dann wieder fort. Wo er allerdings war, darüber konnte man lediglich spekulieren. Vielleicht hatte ihn etwas von der Jahrhunderte dauernden Pilgerschaft quer durch uns unvorstellbare Realitäten erlöst.

406

Ich hatte weder Zeitungen noch Sender, die mir eine ernstzunehmende Reportage abgekauft hätten, aber als echter Di Marconi verlor ich trotz aller Brotarbeit, in deren Rahmen ich nur allzuviel machen musste, was mir widerstrebte, den Pulitzerpreis nicht aus dem Visier. Daher war ich stets bestrebt, unter dem Deckmantel dümmlicher Berichte, für die ich einzig und allein noch Bares erhielt, insgeheim die wirklich heißen Eisen der Welt mitzunehmen – in der Hoffnung, dass für mich wieder einmal andere Zeiten kommen würden.

MAX DOBROWOLNY:
… aber wider besseres Wissen, denn längst war der einst begehrte Preis für hervorragende journalistische oder literarische Leistungen völlig pervertiert. Der Machthaber in Washington verlieh ihn nunmehr höchstselbst, und zwar ausschließlich an Personen, die dem Regime treu ergeben waren.

Shutup – wir wollen’s gar nicht hören! Stattdessen werde ich schildern, was ich unter anderem so herausbekommen habe.

China etwa – dieses von Menschen geradezu überquellende Reich, dem nach der Aufteilung des Globus der wesentlich größere Teil der Weltbevölkerung zugefallen war – hatte keine prinzipiellen organisatorischen Schwierigkeiten. Zu groß war der harte Kern des eigentlichen Staatsvolks, das nicht weniger als ein Drittel von insgesamt mehr als vier Milliarden umfasste: und bei aller politischen Dissidenz konnte die Führung doch eine gewisse Solidarität ihrer Untertanen erster Ordnung gegen alles Nicht-Chinesische aufrechterhalten. Bestimmte Konfliktherde, die man infolge der massiven Ausweitung der Einflusssphäre von der alten Weltordnung übernommen hatte und die früher von größter Publizität gewesen waren, liefen sich infolge konsequenter Nichtbeachtung durch Beijing zunächst rasch tot.

Meine Einreisebewilligung in das Reich der Mitte hatte ich erhalten, um ein persönliches und dezidiert verharmlosendes Porträt der Großen Vorsitzenden zu gestalten. Mit offenen Augen und Ohren bekam ich aber darüberhinaus mit, dass jenem Cold Neglect doch Entscheidendes entging. Der extreme Pragmatismus der chinesischen Führer vom Schlag eines Hong Wu Zhijian, aus dessen Schule Dan Mai Zheng so erfolgreich hervorgegangen war, schien jedenfalls einen blinden Fleck hinsichtlich der Wahrnehmung von kollektiven Emotionen zu haben: Man bemerkte einfach nicht, wie sehr es in den beiden anderen großen Ethnien des Reiches – bei Arabern und Indern oder, religiös ausgedrückt, Moslems und Hindus – zu gären begann.

Diese hatten sich insgeheim gefunden im Kampf gegen den kühlen Atheismus der Chinesen (der ja nicht erst durch den formal noch immer gültigen Kommunismus Eingang gefunden hatte, sondern ein elementarer Wesenszug dieses Volkes seit jeher war). Es kam ein gefährliches Gemisch zustande: enttäuschter Nationalstolz, Träume von der eigenen Größe, damit verbunden der innere Anspruch, selbst die dominierende Rolle in der Welt zu spielen, und als brisanteste Zutat eine mehrheitlich fundamentalistische Gläubigkeit – an all dem waren schon die früheren Großmächte im Nahen und Fernen Osten politisch gescheitert.

Langsam aber sicher verbanden sich die unzähligen spirituellen Bewegungen zu Katarakten moslemischer und hinduistischer Religiosität, und am Ende entstand aus beiden ein gemeinsamer Strom. Die ursprünglich erbittert verfeindeten Gruppen schlossen nunmehr, offenbar ganz problemlos, einen Waffenstillstand, um nach außen hin ihre im Prinzip ähnlichen Ansätze zu vertreten – in gewisser Weise trauerten sie dem christlichen Abendland nach: als einem (selbst von fundamentalistischen Attitüden durchwirkten) Gegner, den man so wunderbar provozieren konnte. Man suchte daher dringend nach Möglichkeiten, Gleiches mit den Chinesen zu tun.

Dan Mai Zheng und ihre Crew beobachteten hingegen nach wie vor fasziniert und als ob es sie nicht beträfe sowohl in den arabischen, als auch in den südostasiatischen Ländern die alltägliche Abfolge von Gewalt und Gegengewalt, die durch die genannte Einigung keineswegs gestoppt worden war – die Lust zu töten war dort offenbar ein Ding an sich. „Nur zu”, sagten sie im Staatsrat, „sie nehmen uns die Arbeit ab!” Und sie blieben durchaus unbesorgt, während sich hinter diesen Kulissen jene bedeutenden Dinge anbahnten, über die der ominöse Kasten mit Max Dobrowolnys Hirngespinst von Goethes Besuch in Libyen ebenfalls geheime Informationen enthielt. Genau diese das eigene Land betreffenden Fakten entdeckten die Chinesen aber vor lauter Stolz über die Entzifferung des Codes betreffend die Invasion der Echwejchs in der westlichen Hemisphäre nicht. Man war in Beijing geradezu verblendet von dem Gedanken, die momentane Schwäche Amerikas auszunützen: Dan Mai Zheng bremste zwar solche Tendenzen immer ein wenig, Ray zuliebe, aber auch sie konnte nicht völlig der Versuchung widerstehen, ihre Spielchen mit ihm zu treiben.

Ich wusste übrigens längst, dass Sissy und ihr angeblicher Bruder lediglich in ihren Agenten-Viten und nicht wirklich miteinander verwandt waren – die dunkle Laura de Dubois, die unter dem Namen Dobrowolny den Oberleutnant narrte, hatte nämlich in Wahrheit nur eine Schwester: DDD (und selbst die nur halb, wenn man sich die verzwickten Verwandtschaftsverhältnisse zwischen ihrer Mutter, dem Vater des Erzählers und dem alten Romi vergegenwärtigt). Sehr leicht möglich, dass auch die Figur „Max” bloß eine Tarnexistenz war, und es würde mich nicht einmal wundern, wenn etwa der Mensch hinter dieser Kunstfigur, dessen tatsächliches Curriculum niemand kennt, im Zivilleben mit Laura verheiratet gewesen wäre – allein, was könnte es uns nützen, wenn es gleich so wäre?

MAX DOBROWOLNY:
Ich pflegte – mit wechselnden Auftraggebern, wenn auch beileibe nicht mit so häufig veränderten Identitäten, wie mancher sich das vorstellen mochte – als ehrlicher Makler zu reisen. Mein Job war es nie, die große Katastrophe auszulösen, oder das Mega-Dissimulationsding durchzuziehen. Mir vertraute man jene Projekte an, bei denen irgendjemandem auf schonende Art die Wahrheit überbracht werden sollte, und schonend heißt, dass er nicht merkte, wie er dazu gekommen war: Spontane Reaktionen der Zielperson konnten auf diese Weise ausgelöst werden. Als zum Beispiel in Shanghai meine Goethe-Box durchstöbert wurde, sollte der verdeckte Inhalt die Grosse Vorsitzende zwar auch auf die Schwanenhälse bei Dirk hinweisen, vor allem aber auf die subkutanen Vorgänge in ihren eigenen südwestlichen und südlichen Provinzen – leider ohne jeden Erfolg, es sei denn, man begnügt sich mit der Ehre, im Paramount mit Dan Mai Zheng getanzt und geschmust zu haben und damit in die private Domäne des Großen Tigers von Washington eingedrungen zu sein.

Der Gentleman genießt und schweigt – kein Wort davon, dass er die Herrscherin über China nicht nur anknabbern, sondern als Ganzes vernaschen durfte, wobei Miss Dan sich anfangs noch besonders schlau vorgekommen war und geglaubt hatte, mit ihren Reizen die Zeit erkaufen zu können, die erforderlich war, um Dobrowolnys Geheimnisse zu ergründen. Bis sie dann hatte einsehen müssen, dass dies ohnehin in seiner Absicht gelegen war – und dabei ahnte sie gar nicht, was Max ihr noch alles auf dem Präsentierteller servieren wollte, zumal kostenlos, wenngleich er sich nicht dagegen wehrte, als die Große Vorsitzende mit ihren niedlichen Naturalien bezahlte.

Bei ein wenig mehr Entschlüsselungseifer hätte Dans Truppe hätte unter der Textstelle „im schwülen afrikanischen Milieu” (immer vorausgesetzt, die Blätter wären gegen eine Lichtquelle gehalten worden) den blass geschriebenen Vermerk Al-Jawf / Al-Kufrah gefunden. Von da aus hätte man jedenfalls weitere Ermittlungen anstellen können.

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Wenn es die Experten in Shanghai und Beijing nicht getan haben, wollen wir es wenigstens versuchen, und da ist es mir gelungen, einiges zusammenzutragen. Was also war so bemerkenswert an diesem Ort namens Al-Jawf in der libyschen Provinz Al-Kufrah? Wen sollte es dort hinziehen, an den Rand des Dünenmeeres Ribiana unterhalb des Tibesti-Massivs?

Einige Kilometer von Al-Jawf entfernt, mitten in der Wüste und damit schwierig zu entdecken (obwohl man annehmen kann, dass die Luftwaffe der Chinesischen Volksbefreiungsarmee das bei einigem Bemühen geschafft hätte), lebte in einem Beduinenlager ein Mann, den wir eigentlich tot geglaubt haben: Ahmed Al-Qafr.

Ertrunken in einer praktisch wasserlosen Gegend, am Schnittpunkt 30° Nord / 30° Ost, war die letzte und geradezu unglaubliche Information über Ahmed und seine Begleiterin Tyra, übermittelt vom Androiden Protos, kurz bevor dieser selbst zerstört wurde. Was Tyra betraf, lag der Maschinenmensch richtig, denn die Magie dieses Vorgangs traf die Agentin völlig unvorbereitet, und es ereilte sie das Heldenschicksal ihrer Branche. Al-Qafr hingegen reagierte rasch genug, um zu verhindern, dass auch für ihn die virtuelle Situation in eine faktische umschlug. Er hielt einfach den Atem an – und überlebte dank dieser Geistesgegenwart.

Umso überraschter war er aber, als er sich umsah und nichts mehr von dem vorfand, was vorhin um ihn gewesen war – Tyra war verschwunden, ebenso Protos sowie sämtliche Ausrüstungsgegenstände. Er begann umherzuirren, und es schien ihm, als habe sich auch die Landschaft verändert, wenngleich man dies in einer Wüste nicht mit Sicherheit zu sagen vermochte. Er hatte nichts zu essen und nichts zu trinken, sah nun wirklich ernsthaft dem Tod ins Auge, bis er auf jene Handvoll Beduinenzelte stieß.

MAX DOBROWOLNY:
Spätere Recherchen, die erst eingeleitet wurden, als aus Ahmed Al-Qafr längst der berühmt-berüchtigte Abu Al-Nasr, der weithin verehrte Vater des Sieges, geworden war, ergaben, dass jene Leute ihn nach anfänglichen Diskussionen – bezogen auf die Tatsache, dass bei ihm nichts zu holen schien – freundlich aufnahmen, und nachdem er körperlich wiederhergestellt war, bekam er durch geschicktes Fragen heraus, dass jemand oder etwas ihn um gute 900 km nach Südwesten versetzt hatte.

Ahmed dürfte seine Rettung jedenfalls als Fingerzeig genommen haben und änderte sein Leben ein weiteres Mal radikal. Er las viel im Koran, von dem er ein reichverziertes Exemplar im Zelt des Scheichs gefunden hatte, und er rezitierte vor allem auch den Dorfbewohnern daraus: wofür er von ihnen, die (einschließlich ihres Anführers) rundweg Analphabeten waren, nahezu wie ein Heiliger verehrt wurde. Über kurz oder lang fühlte sich einer der Zuhörer, den ein Schmerz bedrückt hatte, von einer bestimmten Sure geheilt, was dazu führte, dass man schließlich bereits die Hände dessen, der das Heilige Buch richtig zu gebrauchen wusste, als wundertätig ansah. In weiterer Folge wurde Al-Qafr in beinahe allen Angelegenheiten des Daseins als kompetent betrachtet, und dieser umfassende Ruf begann sich wie ein Lauffeuer landauf landab zu verbreiten. Sein in Mythen und Märchen schwelgendes Volk begann zu glauben, dass er zum Führer aller Araber berufen sei, und zuletzt war es so weit, dass sämtliche Muslime ihn in der Rolle ihres Oberhauptes sahen.

Wie im Islam üblich, wurde hier kein individuelles Handeln geplant, sondern in erster Linie ein wie auch immer erkennbarer göttlicher Wille befolgt, und wie es schon immer gewesen war, gab man damit der Umma, der Gemeinschaft, die ihr zukommende Priorität gegenüber dem persönlichen Wohl. Ahmed Al-Qafr selbst glaubte das zwar nicht wirklich, aber es schien ihm, als gäbe es für ihn keine andere Möglichkeit als mitzuziehen. Er legte sich sogar eine besonders suggestive Redeweise zu und sprach von der toten Zone der Wüste, in die er sich zurückgezogen habe vor den Versuchungen dieser Welt (wobei er indirekt einräumte, dass er diesen vormals sehr wohl erlegen sei): Und er sah in dieser Landschaft die urtümliche Himmelsanziehungkraft noch ungehemmt wirksam. „Fühlt ihr nicht”, so seine immer wiederkehrende eindringliche Frage an die Jünger, „fühlt ihr nicht, dass man hier leichter ist als anderswo?” Er verführte sie dazu – was sie ohnehin gern glauben mochten –, dass sich nur in ihrer Religion das frühe, das reine, das metaphysische Denken erhalten habe.

„Spürt ihr nicht”, predigte Ahmed, der Vater des Sieges, „spürt ihr nicht, wie China, genau wie früher das Abendland, die Suche nach jenem Anderen in irgendwelche sektiererischen Nischen verbannt und dadurch die Kluft zwischen dem, was dort als Realität gilt, und unseren Überzeugungen immer größer werden lässt?”

Obwohl all das, wie gesagt, keine Aufmerksamkeit in den höchsten Kreisen Beijings fand, geriet es doch in Form einer winzigen Fußnote in einen der untergeordneten Routineberichte, wie sie zu Tausenden aus allen Provinzen und abhängigen Territorien angeliefert wurden. Allein aufgrund dessen machte sich ein subalterner Beamter der chinesischen Staatssicherheit auf den Weg in die Sahara, um dieses seltsame Phänomen Al-Qafr zu untersuchen. Ich erfuhr zufällig davon, aber wer ihm die Genehmigung dazu erteilte oder ob er überhaupt völlig auf eigene Faust handelte, entzieht sich meiner Kenntnis – offen gesagt, ich wagte es nicht, dieser Information weiter nachzugehen, denn ich hatte längst bemerkt, wie genau mir die Behörden auf die Finger sahen.

MAX DOBROWOLNY:
Vorsicht war sicher geboten. Allein, wenn ich daran denke, wie ich trotz dieses seltsamen Naheverhältnisses zu Dan Mai Zheng von einer Stunde zur anderen ausgewiesen wurde, wobei ich die Tatsache, dass mir nicht Schlimmeres passierte, vermutlich noch als Privileg betrachten durfte.

Von jenem wagemutigen Menschen kenne ich nicht einmal den Namen, und es ist auch ziemlich gleichgültig, wie er hieß, denn mittlerweile ist er zur Unperson geworden.

MAX DOBROWOLNY:
Er verschwand im Zielgebiet seiner Operation und blieb von da an verschollen – wie vom Erdboden verschlungen. Al-Qafr rief zwar nicht definitiv zum Hass auf, aber er wurde offenbar wohlverstanden. Seine Anhänger wussten (oder glaubten jedenfalls zu wissen), was mit jenen geschehen sollte, die ihrem Idol zu nahe traten.

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Nahezu zeitgleich verlor sich die Spur eines anderen Chinesen (eines Kollegen des ersten, wie dieser aus dem Neunten Büro des Ministeriums für Staatssicherheit, zuständig für die Entdeckung und Überwachung von Abweichlern), der aus ähnlichen Gründen und mit analogen Absichten nach Indien gefahren war. Dort versuchte er herauszufinden, was es mit den Lehren eines Hindu-Philosophen namens Ravindra Pramesh auf sich hatte, die jenen Ahmed Al-Qafrs nicht unähnlich waren: Auch bei diesem hörte man vor einer ebenfalls immer stärker anschwellenden Masse von Gleichgesinnten Worte von jener anderen Welt, die wichtiger sei als die vordergründig sichtbare und daher von widerwärtigen Agnostikern systematisch negiert werde.

„Sie behaupten” – so der Weise –, „eine Vorstellung sei nur solange wahr, als es nützlich ist, sie zu glauben!” Allein dieser Satz reichte aus, um die Massen vor Wut toben zu lassen – da ging schon fast unter, dass er seinen Gläubigen empfahl, ihre Imagination zu Hilfe zu nehmen, um endlich zu erkennen, das echte Leben sei nicht dieses, sondern ein ganz anderes. Und als sie sich durchaus nicht beruhigen wollten, insistierte er, trieb sie durch seinen Willen zur Stille, gab ihnen Gelegenheit, die Authentizität seines Wahns (obgleich dieser nur gespielt war) zu erfahren, denn nur wenn er sie überzeugen konnte, dass er nicht ihre bisherige Normalität verkörperte, würden sie sich mit Gedeih und Verderb an ihn binden: „Jenseits des Horizonts, und wenn auch nur in unseren Träumen, müssen wir suchen!” – fast im Flüsterton warf er diesen Satz in die nun atemlos lauschende Runde.

MAX DOBROWOLNY:
Die verschwundenen Staatssicherheitsleute – Freunde übrigens, soweit man in ihren Kreisen überhaupt genug Vertrauen zu jemandem aufbringen konnte, um eine Beziehung zur Freundschaft werden zu lassen – hatten natürlich eine Parteikader-Ausbildung durchlaufen, in deren Verlauf neben dem Studium der Schriften Lenins und Maos vor allem Karl Marx gelehrt wurde. Sie teilten das Schicksal, sich nicht für alles, was sie dort hörten, interessieren oder gar erwärmen zu können, aber in vielen Punkten nahmen sie dennoch etwas für ihre Zukunft mit, so etwa im Vorwort zur „Kritik der Politischen Ökonomie”, dass nicht das Bewusstsein der Menschen ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein ihr Bewusstsein bestimme. Beiden eignete, da sie diesen Befund ernst nahmen, ein weitreichendes Verständnis für soziale Strömungen auch irrationaler Natur, und sie zeigten entgegen der Doktrin ihrer Zentrale eine gewisse Sensibilität dafür, wie die von Beijing abhängigen Völker ihr Schicksal erlebten. Es traf also quasi die Falschen, als man gerade sie ermordete, und dass dies geschehen war, erfuhr ich viel später, als nämlich Al-Qafr und Pramesh einander trafen und als Unterpfand ihrer Kooperation makabre Geschenke austauschten: Zwei Stücke gegerbter Menschenhaut, tätowiert mit den jeweiligen heiligen Symbolen, waren alles, was von den Beamten noch übrig schien.

[Grafik 406]

Seit jeher bin ich verblüfft darüber, wie weit Fanatiker jedweder Glaubensrichtung gehen und zu welchen Absurditäten sie fähig sind. In meinen Interviews mit ihnen hatte ich mit der Zeit begriffen, wie verächtlich aus ihrer Sicht Ungläubige betrachtet wurden, wenn man auch normalerweise versuchte, das Decorum zu wahren. Eine unentwirrbare Verquickung zwischen Praktischem und Spirituellem sowie zwischen Privatem und Politischem fand ich im konkreten Fall sowohl bei meinen Gesprächspartnern im Hindulager, als auch bei den Moslems vor: Alle menschlichen Handlungen und Einrichtungen, selbst einfache Gegenstände oder Symbole, ja sogar Orte und Zeitpunkte wiesen eine metaphysische Dimension auf, jedenfalls für die Mitglieder dieser Gemeinschaften, und dieser gehört man an, weil man in sie geboren wurde.

Gegenüber Andersdenkenden oder völlig Außenstehenden war in früheren Zeiten immerhin höfliche Duldung angesagt, sodass in anderen Teilen der Erde jener Radikalismus gar nicht so recht wahrgenommen wurde – aber wie ersichtlich, trog der Schein. Zwar verbot sich wie in allen anderen Religionen die Anwendung von Gewalt gleichsam von selbst, aber wie die anderen verwandelte der fast unausweichliche historische Prozess der fortschreitenden Konsolidierung und Kanonisierung sogar den angeblich so friedfertigen Hinduismus in ein offensives Projekt. Wie überall auf der Welt wurden auch in Indien Konflikte zusehends um ihrer selbst willen aufrechterhalten und erzeugten die Unverhandelbarkeiten, die folgerichtig zur Zerstörung von Hab und Gut sowie zur Auslöschung von Menschenleben führen.

MAX DOBROWOLNY:
Hinter diesen Kulissen wurde mehr und mehr gemeinsam gegen den Säkularismus des Chinesischen Reiches gekämpft. Pramesh hatte es am Ende geschickt verstanden, die „verständliche Wut” der Nationalistenorganisation Vishva Hindu Parishad entsprechend umzulenken.

Das Verschwinden zweier Staatssicherheitsleute war indessen noch nichts, was in Beijing überhaupt bemerkt wurde. Man muss sich nämlich die Diktatur Dan Mai Zhengs nicht so vorstellen, dass sich jeder einzelne der Millionen und Abermillionen Untertanen konkret und ununterbrochen im Visier der Obrigkeit befand – im Gegenteil: Die Oppression entsprang primär der völligen Bedeutungslosigkeit des Individuums. Die legendären Massen bewegten sich mit der Mechanik von Sanddünen: Tat sich irgendwo ein Hohlraum auf, wurde dieser sofort wieder aufgefüllt und war Sekunden später vergessen.

Folglich reagierte man in der fernen Zentrale auch dann noch nicht, als da und dort lokale chinesische Verwaltungsbeamte verschwanden, und mit diesen der eine oder andere von den arabischen oder indischen Kollaborateuren, ohne deren Hilfe die Staatsmacht in den nachgeordneten Territorien nicht hätte ausgeübt werden können. Als dies oberster Stelle endlich registriert wurde, war es inzwischen so weit, dass ganze Distrikte dem direkten Zugriff Beijings entzogen waren, darunter weite Teile des Subkontinents und viele der stark bevölkerten Gebiete Nordafrikas und Südwestasiens.

MAX DOBROWOLNY:
Dan Mai Zheng zog die Notbremse – relativ unaufgeregt, muss man ihr zugestehen: Kein Vergleich zu der Nervosität, mit der Ray Kravcuk auf sein Naturkatastrophenproblem reagiert hatte. Die Parole lautete, die Zone der Erdölproduktion sowie einen breiten Kordon an der Grenze zum Westen ruhig zu halten, wofür zusätzliche Truppen in beträchtlicher Stärke aus dem Kernland herangebracht wurden. Obwohl es der Staatssicherheit noch immer nicht gelungen war, Al-Qafr und Pramesh persönlich als Haupt-Unruhestifter zu identifizieren, mussten die beiden mehr und mehr zusehen, wie eine große Zahl ihrer Anhänger großräumig eingekesselt waren, mit der Konsequenz, dass sich das Aggressionspotenzial wieder innerhalb dieser Entitäten entlud. Die beiden religiösen Revolutionäre hatten, jetzt ausschließlich verdeckt reisend und ständig in Sorge, von jemandem aus ihren eigenen Reihen verraten zu werden, alle Hände voll zu tun, um etwas zur Beruhigung der Lage beizutragen, womit sich aus der Sicht der Großen Vorsitzenden jenes labile Gleichgewicht wieder einstellte, das ohnehin seit der bipolaren Aufteilung der Welt ihre Intention gewesen war. Sie trug eben ein kluges Köpfchen zwischen ihren wohlgeformten Schultern!

Und sie hatte auch Glück. Weder befand sich ja auf der von ihr beherrschten Hemisphäre ein Übergang ins Paralleluniversum, noch gab es Echwejch-Aktivitäten…

MAX DOBROWOLNY:
Sie hatte mehr als nur Glück, mein Freund! Neben ihren eigenen hervorragenden Fähigkeiten standen ihr Sakamotos Yakuzas zur Verfügung, die lautlos töteten, ohne Fragen zu stellen. Langsam aber sicher verbreitete sich die Angst.

406-A

LEO DI MARCONI:
Apropos Echwejchs: Ich hatte bis dato keinen von ihnen je gesehen, wusste nur durch Max Dobrowolny von ihrer Existenz. Allein ihr Aussehen, dachte ich bei mir, könnte mich an die Spitze des Fernsehjournalismus zurückbefördern, wenn es mir gelänge, dieses Geflügel auf den Bildschirm zu bringen – aber was soll’s, mir fehlte die alte Schneid. Diese Schwanenwesen an sich waren gefährlich, und ebenso gesundheitsschädlich konnte der Versuch sein, einen solchen Bericht an der Zensurbehörde Grand Americas vorbeizuschleusen. Zum Teufel, das war nicht mehr mein Land! … Und was sonst an Themen an mich herangetragen wurde, war zu vergessen, zum Beispiel die Geschichte von der Laienspielgruppe dieser Natalia Petrowna und ihrem kläglichen Versuch, mit Literatur gegen die Macht anzukämpfen. Hätte nicht jener Lieutenant Kloyber ein derartiges Feuerwerk in den Strassen Wiens veranstaltet, wäre die Literature at the Borderline–Show völlig unter Ausschluss der Öffentlichkeit verlaufen. Ich versuchte dennoch, ein wenig zu recherchieren, wer in diesem Fall Kloybers Gegner gewesen waren: Wer steckte denn hinter dieser „Freisinnigen Sportvereinigung” – Libertarian Sports Union, isn’t it? O man, das kann es nur in Good Old Europe geben! Jedenfalls bremste ich mich sofort ein, als die Spur fast direkt zur österreichischen Marionettenregierung führte. Übrigens: Natalia bewirkte mit ihrer Aktion nichts anderes, als dass die Homeland Security Organisation die Länder, aus denen ihre Partner kamen, wesentlich genauer unter die Lupe nahm – ein schöner Erfolg. Immerhin reizte es gerade deshalb Max und mich (wir hatten uns direkt ein wenig angefreundet, obwohl ich nicht sicher sein konnte, wer oder was er wirklich war), um der Gerechtigkeit willen auch im Chinesischen Reich ein wenig zu sticheln, fernab von jenen religiös fundierten Profi-Wider¬ständlern – nennen wir sie mal so, trotz ihrer mäßigen Ergebnisse. Was uns vorschwebte, sollte formal genau der Idee der Petrowna entsprechen, freilich ohne deren tierischen Ernst. Wir waren uns im Wesentlichen darüber einig, dass man Politiker am besten mit etwas verunsichern konnte, was sie zwar mit größter Sicherheit als ungefährlich einstufen mussten, bei ihnen aber dennoch einen winzigen Rest an Bedrohung hinterließ. Big Nugget – nice nickname, by the way! – würde uns dabei helfen, da waren wir uns ganz sicher, und prompt tat er uns den Gefallen, denn für ihn ging es jetzt darum, sich an seinen eigenen Vorgesetzten zu rächen, die ihn seit jener Schießerei im Regen stehen ließen. Er hatte mittlerweile herausgefunden, dass seine Leute nicht alle Mitglieder der „Freisinnigen Sportvereinigung” getötet hatten und es noch mehr von dieser Sorte gab, geschätzte 15 bis 20 Stück. Mit einigen Volunteers seiner Truppe – in Zivil, gleichwohl gut bewaffnet, aber mit dem Befehl: diesmal keine Leichen! – überfiel er eines späten Abends das Vereinslokal der Liberal Sportsmen mit der beziehungsreichen Adresse Walkürengasse 14, direkt neben dem Truppenübungsplatz der ehemaligen Monarchie (auf dem man bedauerlicherweise keine Manöver mehr abhalten konnte). Als erstes kaperten Kloybers Leute die verbliebenen drei Kleinlaster des Vereins, die um die Ecke in der Brunhildengasse parkten, und bald darauf wurde bereits das vollständig anwesende Personal, einzeln gut verschnürt und geknebelt, aufgeladen. Nur einer von ihnen hatte es geschafft, sich bemerkbar zu machen, ehe ihm der Mund gestopft wurde: „Das wird euch noch leid tun!” Der Lieutenant fauchte bloß zurück: „Nicht so leid wie dir!” und versetzte dem Vorwitzigen einen Hieb gegen die Rippen.

MAX DOBROWOLNY:
Für den Weitertransport hatte ich mich der Hilfe Cheltenhams versichert, dessen weltumspannende Beziehungen allein in der Lage schienen, das schier Unmögliche möglich zu machen – abgesehen davon, dass bei dieser Aktion britischer Sportsgeist und Humor besonders gefordert waren. Um mit dem Ende zu beginnen: Die drei Fahrzeuge standen schließlich mit ihren Besatzungen am Ufer des Changjiang-Flusses nahe Dan Mai Zhengs geliebter Stadt Shanghai. Wie Sir Basil sie dorthin verbracht hatte, war sein Geheimnis, das er mit uns unbekannten Helfern und Helfersherlfern teilte. Dabei schreckten mich weniger die über 11.000 Kilometer von Wien nach Guam (ich vermutete jedenfalls, dass dort ein Zwischenstopp eingelegt worden war), als vielmehr die restlichen 1668 Seemeilen über Meeresgebiete, die von der östlichen Supermacht kontrolliert wurden und daher für die englischen oder amerikanischen Freunde des Baronets feindliche Domäne waren.

LEO DI MARCONI:
Max und ich rätselten endlos darüber, wie Cheltenham das angestellt haben mochte. Hubschrauber kamen nicht in Frage, ein Schiff, das seinerseits die Choppers in die Nähe der chinesischen Küste gebracht hätte, eigentlich auch nicht, da es umgehend entdeckt worden wäre. Daran anknüpfend, verfielen wir auf den zunächst abwegigen Gedanken, Seiji Sakamoto habe in einer Art Auflehnungsgeste gegenüber Beijing (und wohl auch in dem Bewusstsein, damit keinerlei echtes Risiko für die Große Vorsitzende heraufzube¬schwören) Sir Basil unter die Arme gegriffen.

MAX DOBROWOLNY:
Man neigt dazu, rationale oder zumindest rational klingende Erklärungen zu bevorzugen, und so blieben wir schließlich bei der Sakamoto-Version. Andernfalls hätten wir das übersinnliche Eingreifen der Walemira Talmai vermuten müssen, und abgesehen davon, dass wir an diese ihre Fähigkeiten beide nicht recht glauben wollten, hielten wir es für äußerst unwahrscheinlich, dass Berenice, wenn sie schon die Teleportation beherrscht hätte, diese für einen bloßen Gag einsetzen mochte.

LEO DI MARCONI:
Jedenfalls war der Spaß gelungen, und zwar in vielerlei Hinsicht. Wir amüsierten uns königlich, obwohl wir nicht dabei sein konnten und daher lediglich auf unsere Phantasie angewiesen blieben.

MAX DOBROWOLNY:
Da saßen die Helden der „Freisinnigen Sportvereinigung”, und zur Abwechslung ging ihnen einmal selbst (statt den von ihnen Terrorisierten) der Arsch auf Grundeis. Verständnislos blickten sie durch die Windschutzscheiben auf einen Massenandrang chinesischer Schaulustiger: Sie wussten weder, wie sie hierhergeraten waren, noch was all diese Leute von ihnen wollten. Dann wimmelte der Ort nur noch von Polizei und Militär. Die Männer wurden mitgenommen und einem ersten Verhör unterzogen. Da sie rein gar nichts wussten, manövrierten sie sich immer tiefer in komplexe Verdächtigungen seitens der Behörden. Man reichte sie von einer Charge zur nächsten weiter, immer höher hinauf, bis sie schließlich nach Beijing verfrachtet wurden und vor einer Kommission, gebildet aus der Großen Vorsitzenden und den wesentlichen Exponenten der Generalität, landeten. Die Gefangenen waren mittlerweile in einem beklagenswerten Zustand: körperlich verwahrlost, stinkend, abgemagert, vor allem aber übersät mit Verletzungen, da jede unbefriedigende Antwort – und andere konnten sie zwangsläufig nicht geben – mit äußerster Brutalität geahndet wurde.

LEO DI MARCONI:
Der endgültige Beschluss lautete, die drei Wagen in einer streng bewachten Halle einzuschließen, die Männer aber ins finsterste Verlies, das noch aus der alten grausamen Kaiserzeit stammte, zu werfen und zu warten, dass irgendjemand sich mit Eigentums- oder Zuständigkeitsansprüchen meldete. Natürlich geschah nichts dergleichen.

407

Als Drehbuchautorin hat man fallweise massive Konkurrenz beim Personal des selbst Geschriebenen. Da gibt es immer wieder Figuren im eigenen Text, die sich berufen fühlen, auf eigene Faust Schicksal zu spielen. Ikqyku Diaxu war eindeutig so einer.

Endlich hatte er gefunden, was er suchte. All dieser Aufwand, um vorgeblich die verrücktesten Dinge für seine Shows auszugraben, hatte sich gelohnt. Wie allerdings diese sensible Information, die letztendlich aus dem Paralleluniversum stammen musste, in die geradezu unendlichen Computer-Archive von VIÈVE gekommen war, konnte er sich nicht erklären, wiewohl – so überraschend fand er’s bei näherem Hinsehen doch wieder nicht, wenn man bedachte, wie lange die Unterwanderung der Station durch Agenten des Tyrannen der Spiegelwelt zurückreichte. Andererseits: Keyhi war der Chef dieser Leute gewesen, und dass er Material gegen sich selbst unter den riesigen Berg von Datenschrott geduldet haben sollte, war einigermaßen unglaubwürdig! Einerlei, sein Maître de Plaisir und Betreiber des einzigen Unterhaltungsetablissements vor Ort hatte genau das entdeckt, was irgendjemand (vielleicht der frühere Diktator selbst, der sich zuweilen als Kaufmann Augustus McGregor in der Alpha-Realität herumtrieb) deponiert hatte, um Keyhi von langer Hand zu schaden.

IKQYKU DIAXU:
Natürlich glaubte der König, dass ich selbst hinter all dem steckte: Schließlich nannte er mich nicht umsonst sein Chamäleon – übrigens eine leere Floskel bei ihm, denn noch niemals, nicht einmal in einer elektronischen Bildersammlung, hatte er eines jener Tiere je gesehen. Dennoch wandte er die Phrase richtig an, und so fügte er unserer komplizierten Beziehung, die wechselseitige Anziehungen ebenso wie Abstoßungen umfasste, eine weitere Facette hinzu, die mich zur Wut reizte.

Es ging um die Kriegsverbrechen, die der jetzige König und seinerzeitige hohe Offizier der Tyrannenarmee mit seiner Mannschaft auf dem Planeten Qyxop’p’qolk, der Heimat des Tizb’ptouk, begangen hatte. Der Himmelskörper war vom Volk des Diktators als einer der ersten kolonisiert worden, offenbar wegen seines Rohstoffreichtums, doch der Preis für die Exploitation war in jeder Weise hoch. Es handelte sich um einen richtigen Todesstern, in Eis erstarrt: Zwischen unüberwindlichen Gebirgsketten lagen düstere Ebenen, die von Schneestürmen gepeitscht wurden, und in dem einzigen weithin auffindbaren Tal-Einschnitt, den man zum Errichten halbwegs geschützter Unterkünfte nutzte, herrschte praktisch fast ständig Nacht.

Ausschließliches Vergnügen des Kommandanten Keyhi Pujvi Giki Foy Holby war die Jagd nach Tizb’ptouks, aber dabei stellte sich heraus, dass er nicht nur den wilden Typus erlegte, sondern auch solche Exemplare, die als Haustiere der Ureinwohner dienten. Bei dieser Gelegenheit wurde das Expeditionskorps erstmals mit der spärlichen Bevölkerung dieser ungastlichen Welt konfrontiert: Der Stützpunkt wurde überfallen, um den entstandenen Schaden zu rächen.

IKQYKU DIAXU:
Mit Hilfe der ihm zu Gebot stehenden Waffentechnik hoffte Keyhi, den Angriff locker abwehren zu können, jedoch hatten auch seine Gegner nicht unwesentliche Vorteile auf ihrer Seite: Erstens waren sie körperlich in ihrer natürlichen Umgebung kaum zu erkennen und zweitens legten sie hypnotische Fähigkeiten bedeutenden Ausmaßes an den Tag, mit denen sie die Aktivitäten ihrer Feinde empfindlich stören konnten.

Keyhi griff entschlossen durch. Er befahl seinen Leuten, sich unter Aufbietung aller Kräfte gegen solche Einflüsse abzuschirmen und mindestens einen der Einwohner gefangen zu nehmen – diesem wurde der relativ leicht aufzufindende physische Ort der übersinnlichen Kräfte in einem rohen chirurgischen Eingriff aus dem Gehirn entfernt. Schreiend und eine unübersehbare Blutspur hinterlassend, lief er zu seinen Gefährten und machte sie zu leichten Zielen der Kolonisten.

IKQYKU DIAXU:
Zwecks Abschreckung ließ Keyhi noch einige Eingeborene töten, und bei den übrigen (Männern, Frauen wie Kindern) wurde ebenfalls jene Operation appliziert, die ihnen ihre Gabe nahm und sie überdies in mehr oder weniger willenlose Arbeitstiere verwandelte. Das ist auch eine Wahrheit unseres sogenannten Königs, und ich denke, es ist eine von wichtiger und gravierender Natur.

Die Anspannung, die nun von Keyhis Truppe abgefallen war, entlud sich in extremer Barbarei. Ohne Ansehen der Person ließ man die Einheimischen mit bloßen Händen Erz fördern und zu hohen Dämmen aufschütten, um es zum Abtransport bereitzuhalten. In den wenigen Ruhepausen, die man diesen Menschen gönnte, wurden sie zu Dutzenden zusammengekettet, und so mussten sie in der klirrenden Kälte ausharren. Wiewohl an extreme Lebensbedingungen gewöhnt, starben Unzählige und mussten entsorgt werden, so die grausame Diktion ihrer Sklaventreiber. Fälle von Insubordination kamen dementsprechend zwar kaum vor, doch wenn sie auftraten, wusste die Besatzungsmacht zunächst gar nicht, wie sie diese ahnden sollte – das normale tägliche Leben war so schlimm, dass sich jede Strafdrohung als wirkungslos erweisen musste.

IKQYKU DIAXU:
Keyhi hatte die passende teuflische Idee zu dem, was man im Jargon der Truppe bald als „Vergeltungsfolter” bezeichnete: Er befahl, renitente Individuen in den Aufenthaltraum des Stützpunktes zu bringen und dort zum Gaudium der Besatzer aufzutauen. Wie man sich vorstellen kann, litten die ständig unterkühlten und im Freien mit einer Eisschicht bedeckten Geschöpfe entsetzliche Qualen, zumal die Peiniger darauf achteten, den Vorgang möglichst langsam ablaufen zu lassen.

Ein Nebeneffekt der Prozedur war, dass die Mannschaft die Geschlechtlichkeit der Eingeborenen entdeckte, was entsprechende Gelüste wachrief. Innerhalb der Gruppe gab’s nämlich schon lange keine sexuellen Beziehungen mehr, so satt hatten sie einander mittlerweile, ungeachtet der Anordnung ihres Offiziers, den Koitus wenigstens therapeutisch zu vollziehen. Lange Zurückgestautes brach jetzt ungehemmt hervor.

IKQYKU DIAXU:
Schon beim Enteisungsvorgang japsten die Opfer nach Luft, Fischen auf dem Trockenen gleich – danach wurden sie in durchsichtige Plastikzellen gesteckt, in denen sich ihre Temperatur rasant in den positiven Bereich erhöhte, was mit vielleicht noch größeren Schmerzen verbunden war als das Auftauen. Und sie mussten lächeln…

Wer nicht strahlend lächelte und sich solcherart dagegen wehrte, der Phantasie von Keyhis Schar auf die Sprünge zu helfen, wurde kurzerhand extremer Hitze ausgesetzt – wer auch da noch standhaft blieb, gab schließlich unter schweren Verbrennungen seinen Geist auf. Die meisten Gefangenen aber unterwarfen sich und wurden zu Objekten langwieriger und skurriler sexistischer Spiele (in denen es am Ende immer um die Erlangung völliger Kontrolle über die gesamte Person ging), ehe man sie wieder ins Freie und zurück zur Fron expedierte. Lediglich zwei oder drei ausgesuchte Exemplare blieben zur dauerhaften Erlustigung der Garnison zurück – keines davon für den Kommandanten persönlich, denn der vermied im Sinne der Befehlshierarchie peinlichst jeglichen körperlichen Kontakt mit dem fremden Volk: Verspürte er ein erotisches Rühren, konnte er jederzeit eine Soldatin in sein Quartier bitten (dieser Umgang war durch die Dienstvorschrift genau geregelt und gedeckt).

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Und dann noch so ein Fund, den Diaxu im Datenschrott der Stationscomputer machte: die Personalien von Ojikaofo, Keyhis früherer Frau aus der Spiegelwelt, und dazu passend eine ganze Reihe von Details über ihre Lebensumstände.

Vordergründig war die erste Ehe des Königs deshalb auseinandergegangen weil Keyhi sich gegen den Tyrannen gestellt und aus dem Paralleluniversum abgesetzt hatte. Nicht zu vergessen auch sein Wunsch, dem ewigen kriegerischen Gezerre, das charakteristisch für die andere Realität war und das unerbittlich auch in die Alpha-Welt hineingetragen wurde, endgültig zu entfliehen und irgendwo weitab davon ein behagliches Leben aufzubauen. Nicht zuletzt gab es Mango Berenga, seine große Liebe (wenn diese sich auch aus einem eher fragwürdigen Abhängigkeitsverhältnis entwickelt hatte).

IKQYKU DIAXU:
All das konnte man als gute, rationale Gründe Keyhis dafür interpretieren, Ojikaofo zu verlassen. Dabei war es – wie sich später herausstellte, als ich mit großer Hartnäckigkeit weiter in der Vergangenheit unseres Monarchen herumwühlte, gar nicht relevant, nach seinen Motiven zu forschen, denn tatsächlich hatte sie ihn verlassen, schon lange vor den genannten Ereignissen – klar ersichtlich dem Trennungsdokument, wie man das in der anderen Realität nannte, und der wichtigsten Beilage dazu, dem seltsamsten Ehevertrag, den ich je gesehen habe.

Als Frau – auch als eine, die nicht gerade verwöhnt bin durch die Bedingungen, unter denen unser Geschlecht zu leben hat – war ich eigenartig berührt. Bei diesem Papier ging es nämlich nicht nur, wie sonst üblich, um Geld und Gut (die diesbezüglichen Bestimmungen waren geradezu amikal formuliert), sondern vor allem um die juristisch abgesicherten physischen Ansprüche des Gemahls gegen seine Angetraute: täglich mindestens ein sogenannter Actus normalis, dazu je einmal pro Woche ein Coitus a tergo und eine Fellatio, zudem monatlich eine Pedicatio, alles gemäß den Definitionen im einschlägigen Standardwerk des jenseitigen Sexualforschers Sik’Sofxo. Und aus dem Trennungsdokument ging hervor, dass eigentlich die brutale Einforderung dieser Vertragspunkte letztlich zur Beendigung der Partnerschaft geführt hatte – selbst für den in solchen Fragen sicher nicht zimperlichen und jedenfalls frauenfeindlich eingestellten Richter dort drüben war das wohl zu viel gewesen.

IKQYKU DIAXU:
Mir ging es ähnlich: Das überforderte bei weitem jene Mischung aus Skepsis und Verständnis, die ich, wie man weiß, dem König entgegenbrachte. Mein Bild von ihm war durch die jüngsten Erkenntnisse erschüttert, denn es war ein so völlig anderer Charakter, der mir da plötzlich entgegentrat, als der des gravitätischen Bonvivants – ich mochte es wirklich erst glauben, als ich die untrüglichen Hinweise in Händen hielt.

Das Entsetzen des Clubmanagers entsprang nicht zuletzt einer merkwürdigen Konstellation in seinem eigenen Inneren, denn er war selbst kein unbeschriebenes Blatt, wie man sich lebhaft vorstellen kann, selbst wenn man nur seine Aktivitäten auf VIÈVE in Betracht zieht. Vor allem aber wäre jemand, der in Diaxus eigener Vergangenheit in der Spiegelwelt nachgegraben hätte, durchaus auf vergleichbaren Unflat wie beim König gestoßen. Zwar kreuzten sich ihre Wege erst lange nach der Heimkehr Keyhis von Qyxop’p’qolk, sodass man Diaxu die dortigen Verbrechen nicht anlasten konnte, aber als Angehöriger der Soldateska des Diktators der jenseitigen Realität hatte er genug andere (und eigene) Gelegenheiten, Schweinereien zu begehen.

Da gab es eine Zeit, in der er an relativ prominenter Stelle auf Olxo – dem Heimatplaneten seiner Rasse, den die Eliten bekanntlich längst in Richtung Lhik-Welt verlassen hatten – für Ruhe sorgen musste. Aber (damit rechtfertigte er sich stets vor sich selbst, und ich bin geneigt, ihm bei dieser Argumentation wenigstens ein Stück weit zu folgen) es war eine Art Krieg, den er dort führte, und es herrschte eine gewisse Waffengleichheit zwischen Diaxus Einheit und den Rebellen: Diese waren, gemessen an den desolaten Zuständen, als Umwelt, Sozialsystem und politischer Überbau längst zusammengebrochen waren, in jeder Hinsicht ziemlich gut ausgerüstet.

IKQYKU DIAXU:
Auch mich selbst hätte es also dort jederzeit erwischen können, während auf Qyxop’p’qolk keiner der Ureinwohner die Kapazität hatte, Keyhi auch nur ein Haar zu krümmen. Und das Wesentliche: Wir folterten nicht!

In Freund Ikqykus Erinnerung mag das derart verklärt erscheinen, aber es hieß in Wahrheit: Sie schossen auf alles, was sich bewegte, und betrachteten dies, wie man sieht, als einen gnädigen Tod für die Betroffenen. Und sie führten einen sinnlosen Kampf um nichts, nur weil ihr oberster Herr verboten hatte, Olxo (das den Ehrentitel „Erlauchte Geburtsstätte Iadapqap Jirujap Dlodylysuaps” trug) seinem Schicksal zu überlassen. Auch die Mitstreiter Diaxus wurden durch dieses sinnlose Gemetzel Tag um Tag dezimiert, sodass am Ende, als Olxo beim Sturz des Diktators in eine noch größere Anarchie versank, nur noch wenige – darunter er selbst – flüchten konnten.

Sein Verhältnis zu Frauen – um den zweiten Punkt seiner Kritik am König anzusprechen, war ohnehin von vergleichbarer Problematik. Welche Frau, frage ich mich (aber ich bin zu lange im Bizz, um nicht die Antwort zu kennen), profitiert wirklich davon, wenn ein Mann ihre Zurschaustellung organisiert, wie es auf VIÈVE im „King?s & Queen?s Club” geschah? Natürlich – Ikqyku behauptete stets, zum Besten der Betroffenen zu handeln, und wir sollten das hier auch so stehen lassen, um uns nicht dem Vorwurf auszusetzen, wir negierten die Tatsache einer gewissen weiblichen Bereitschaft, sich in der Öffentlichkeit sexuell zu exponieren. Wenn aber Keyhis matrimoniale ToDo-Liste pervers war, dann auch Diaxus Club.

IKQYKU DIAXU:
Jedenfalls war ich für den Moment nicht gewillt, dem König zu schaden. Denn das konnte, wie die Dinge lagen, kaum in meinem Interesse liegen. Mochte er auch von seinem ursprünglichen Naturell her ein rechter Schlagetot gewesen sein, die neue Rolle als Gentilhomme überlagerte die alten Geschichten, und es war nicht einmal auszuschließen, dass er beides bewusst nebeneinander war – an sich stets bereit, von diesem Zustand in jenen zu wechseln, nur eben gerade jetzt nicht. Diese Apathie vor allem (oder einfach dieses Phlegma) war es, was mich meine Informationen unter Verschluss halten ließ.

Diaxu ging sogar daran, seinen König massiv zu unterstützen. Dabei bediente er sich der alten Methode, die da lautet: Die große Mehrheit kann nicht irren, schon gar nicht, wenn einige der besten Köpfe der Nation mit dabei sind. Umzüge zu Ehren des Königs wurden organisiert – Prozessionen zum Palast, Exkursionen rund um den Platz davor, und im hellen Sternenschein der Stationsnacht Fackelzüge, bei denen die Vorzüge des Herrschers in Sprechchören und Liedern verherrlicht wurden.

IKQYKU DIAXU:
Tatsächlich hoben sich die Imagewerte des Königs beträchtlich, und obwohl die diesbezüglichen Umfragen sehr fragwürdig schienen – es gab schließlich keine denkbare Alternative zu Keyhi – veranlasste es diesen doch dazu, seinem aktuellen Ruf gerecht zu werden und die Bedürfnisse seiner Untertanen noch stärker als je zuvor in seine Überlegungen einzubeziehen. Davon konnte am meisten ich selbst profitieren, da ich es wie immer am besten verstand, die sich bietenden Spielräume optimal zu nutzen.

Die Echwejchs nahmen an den Kundgebungen zu Ehren des Königs übrigens nicht teil – sehr zum Missfallen Keyhis, der bekanntlich seit geraumer Zeit ein wachsames Auge auf die Schwanenwesen hatte. Selbst wenn er einmal selbst weder Zeit noch Lust hatte, durch die Stationsnacht zu spazieren, musste das Tizb’ptouk unregelmäßige, aber dichte Patrouillengänge machen, um allfällige bösartige Aktivitäten der Fremden im Keim zu ersticken, dazu aber stets auf der Hut sein, um in den Palast zurückzueilen, falls Keyhi selbst Unheil drohen sollte. Jeder, der das Vieh so sah, wunderte sich über die eigenartige Waffenbrüderschaft der beiden ungleichen Gefährten: Was mussten sie gemeinsam erlebt haben, das sie so zusammengeschweißt hatte?

IKQYKU DIAXU:
Ich saß wieder öfter als zuletzt bei meinem Gebieter, war in seiner Gunst sichtlich gestiegen und hatte auch ein wenig das Gefühl, er würde angesichts undurchsichtiger Zusammenhänge, die wir beide mehr erahnten als beweisen konnten, stärker die Nähe eines Menschen gleicher Herkunft suchen. Wir pflegten dabei über dies und jenes zu reden, meist aber nicht über das, was uns unter den Nägeln brannte. Ich hätte ihn zu gerne nach seinen paranormalen Verbindungen zu anderen und wesentlich berühmteren Truppenführern gefragt, wagte es aber nicht – das Wissen um das neben seiner Großherzigkeit ebenfalls vorhandene dunkle oder sogar destruktive Potential machte mich scheu, in einem Ausmaß wie ich es an mir selbst noch nie zuvor erlebt hatte. Dann, als ob Keyhi geahnt hatte, womit ich mich in letzter Zeit beschäftigte, sprach er bei unseren Unterhaltungen auch seine erste – jenseitige – Ehe an: Dass er seiner Frau trotz langer Trennung während seiner Stationierung auf Qyxop’p’qolk treu gewesen sei, obwohl ihm die Gesetze auch anderes erlaubt hätten; dass er aber innerlich verroht zurückgekehrt sei und Ojikaofo erst dann all jene schmerzhaften und demütigenden Dinge zugefügt hätte, die – nachdem sich die Arme endlich dazu entschließen konnte, jedes Detail zu Protokoll zu geben – zuletzt die rasche Trennung herbeiführten. Ich verschwieg ihm geflissentlich, dass ich über jede Einzelheit (namentlich über die quantitativen Anforderungen des Ehevertrages, die entgegen seiner Darstellung von anfang an durchgesetzt wurden) im Bilde war: Damit gab ich ihm das beruhigende Gefühl, dass zwar er über mich gut informiert war, ich aber nicht über ihn.

408

Täusche ich mich oder gleiten wir wirklich mit unserem Projekt in ein ganz resignatives Fahrwasser, während doch auch Heiterkeit ein ausgewiesenes Ingrediens sein sollte?

ERZÄHLER:
Die Zeiten sind schlecht, meine Liebe…

Das könnte mir jeder sagen – dafür müsste ich nicht dich an meiner Seite haben, den ich einst als den gescheitesten und zugleich schnuckeligsten Liebhaber empfunden habe.

ERZÄHLER:
Mit zunehmendem Alter fällt es schwer, leichten Herzens die jeweils neueste Wahrheit zu kaufen, und damit kommt langsam der Enthusiasmus abhanden, dessen wichtigste Grundlage eben der Glaube an die gerade aktuelle Ideologie ist.

Wie schön dann, offizieller Erzähler und geheime Co-Erzählerin zu sein, da man doch bei diesem Geschäft – anders als in der Politik, der Wirtschaft und der Wissenschaft – ununterbrochen ohne Skrupel neue Halbwahrheiten, Scheinwahrheiten oder entbehrliche Wahrheiten produzieren darf. Zu wissen, dass man genau genommen lügt, wenn man eine Fiktion errichtet, das heißt von den wirklichen (oder von der Gesellschaft im Moment als wirklich definierten) Umständen abweicht, womöglich sogar grob ins Dickicht des Unmöglichen, Unwahrscheinlichen oder explizit nicht Vorhandenen vordringt.

ERZÄHLER:
Also weißt du, Brigitte – dafür den Be-griff Lüge zu verwenden: Das kann einem doch nur in einer Zeit einfallen, die einen Ausbund von Technologiehörigkeit darstellt. Es ist ja selbst wieder eine Fiktion, wenn ich glaube, in jeglicher Versuchsanordnung per Experiment Dinge beweisen oder falsifizieren zu können.

Aber der Roman eines jungen Mannes, der sich selbst therapiert hat, indem er statt seiner einen anderen namens Werther fiktiv hat sterben lassen, trieb viele andere junge Männer mit dem gleichen Leiden in den richtigen Tod – in diesem Sinne war’s wohl Betrug…

ERZÄHLER:
… wenngleich nicht eigentlich Schuld.

Gekauft. So wird also jemand geschildert, der – lebte er in Wirklichkeit und geriete man in die Reichweite seiner fatalen erotischen Ausstrahlung – unsere eigenen Gefühle unweigerlich entflammen würde…

ERZÄHLER:
… indem wir für den nicht wirklich Lebenden, für seine breitmäulige Impertinenz, die sich hinter einer scheinbaren Lebenshilflosigkeit verbirgt, eine merkwürdige Sympathie entwickeln.

Wie glücklich ich stets war – in all meinen Turbulenzen, in all dem Gefühl, dann und wann in einem falschen Dasein gefangen gehalten zu werden –, indem ich es immer wieder schaffte, den Blick zu erhaschen, der mich trug.

Dieser Blick (vielleicht waren es die fragenden Augen von Claudette Williams, die uns zuletzt mit dem Erklärungsbedarf des Daseins konfrontiert hat) sagte mir, ich solle mich anstrengen, begründen, wozu man Kunst produziert – und ich antwortete schnell: Die Wissenschaft kann die komplette Dekonstruktion unseres Seins nicht schlüssig darstellen, ebensowenig die Philosophie, wohl aber die Kunst, und das leichten Herzens! Aber sie kann noch mehr: Denn wo für alle anderen geistigen Bestrebungen die Zukunft hinter dem Horizont verschwindet, sieht die Kunst weiter, kann einen Entwurf der Welt in 1.000, in 10.000, ja in 100.000 Jahren vorlegen. Sie geht dabei nicht das Risiko ein, der Täuschung bezichtigt zu werden – wie denn auch? –, wird aber im günstigsten Fall noch gelobt für die ästhetische Schlüssigkeit, mit der sie vorgeht.

ERZÄHLER:
Sie hält uns jung, solange auch nur ein Funken Kraft in uns ist, denn selbst alt geworden, darf man sich als Künstler der Illusion ewiger Jugend hingeben, darf zumindest innerlich begehrenswert bleiben, auch wenn die äußere Schale kränklich und griesgrämig aussieht. Und wenn, wer weiß, das Gehirn vom Standpunkt unserer Umgebung längst von Demenz umnachtet ist, gibt es dort vielleicht, für niemanden sichtbar außer für uns selbst, einen winzigen hellen Fleck alter Majestät.

Genau dort mag es dann noch einmal gelingen, was sonst ein ausschließliches Privileg unserer jungen Jahre ist, nämlich im Rauschen ungelebter Lebenskonzepte diese himmlische Musik zu vernehmen statt jene höllische, die normalerweise dem Alter zugemessen ist…

ERZÄHLER:
… sodass wir beide damit fortfahren können, fast ausschließlich die Rosinen einer Beziehung zu genießen, indem wir diese unseren übrigen Partnern (so vorhanden) permanent vorenthalten. Der Ernst jeglicher Existenz, den auch wir anderswo erfahren mussten, bleibt zwischen uns beiden ausgespart, all die Dramatik von Paaren, Gruppen oder Massen sublimiert bei uns zu einem Scherz auf den Lippen, den wir auskosten, bevor wir wieder zu unserer elementaren Tagesordnung übergehen.

In diesem Sinn amüsieren wir uns über Keyhi, über Mango Berenga und auch über die erste Frau des Königs (Ojikaofo aus der Spiegelwelt). Apropos: Kannst du die verstehen? Wie ging sie mit all dem um? Woran wird sie gedacht haben, wenn ihr gegen ihren Willen eine Pedicatio appliziert wurde?

ERZÄHLER:
Woran würdest du denken?

An dich, mein Freund, denn alle Spezialformen des Sex bedürfen, jedenfalls was mich betrifft, einer gewissen Courage, sodass ich sie vernünftigerweise mit dem Mann meines Vertrauens begehe…

ERZÄHLER:
… nicht mit Romi, nicht mit Marconi, nicht einmal (selbst wenn du noch einmal von einem Panoramablick über Sevilla überwältigt würdest) mit Don Julio Sanchez-Barzon?

Was soll’s – auch wenn du jetzt sämtliche Trümpfe gegen mich in der Hand haben solltest: Ich hätte mich nie tiefer mit jemandem einlassen können als mit dir auf der Bühne des „Flaubert”, denn dort ging es definitiv ums Ganze. Vor all den Leuten mussten wir (aber wem sage ich das) wie ein einziger Körper agieren, sonst hätte man uns ausgepfiffen und verspottet. Natürlich waren dane¬ben andere Beziehungen mit ganz unterschiedlichen Kriterien möglich, aber bei diesen konnte man eine bestimmte Distanz aufrechterhalten, die nicht einmal so übel war. Mit Hool erlebte ich stärker als je zuvor oder danach das klinische weibliche Interesse an der Funktionsweise der Männlichkeit. Mit Leo machte ich die erheiternde Erfahrung, wie weit ein zynischer Sensationsreporter sich in einen Irrgarten lyrischer Hymnik verschleppen ließ. Bei meinem Mann Romuald hieß es für mich schlicht, wie kann man ihn überleben, wie kann man die Kluft überwinden zwischen den grundsätzlich positiven Empfindungen, die eine Frau gegen den Vater ihrer Kinder hegt, und der Urangst vor einem jähzornigen, mich durch den Tunnel unberechenbarer Leidenschaft treibenden, mir im Prinzip fremd gebliebenen Wesen.

ERZÄHLER:
Was zur Folge hatte, dass du, um dir in diesen Fährnissen selbst treu zu bleiben, von Zeit zu Zeit den Panzer des Ich (deines Ich, so wie es die anderen unbedingt sehen wollten) gesprengt hast, um mich dort zu suchen, wo du mich deiner Erinnerung nach in einer Einöde der Gefühle zurückgelassen hattest.

Die keine war, denn du verstandest dich immer ganz gut zu trösten. Aber tatsächlich hatte ich in dieser Situation ein einzigartiges Bild vor mir, sah dich schutzlos und erschöpft hingestreckt in der Moränenhalde unserer Vergangenheit: einem Chaos aus Gedenken, Vergessenwollen, Bewahren, Erneuerung, Rückschau, Betrachtung, Vorhersage, Anerkennung, Ächtung und immer wieder Neubeginn. Ich legte mich, selbst trümmerhaft in meiner Zerrissenheit, in deine Nähe, hoffte, du würdest auf geheimnisvolle Weise meine Anwesenheit – die dir in der Vergangenheit stets etwas zu bedeuten schien – fühlen, dich aufrichten, durch meinen Anblick (denn da waren ja ganz hübsche Teile darunter) wieder an Energie gewinnen, sodann auch mich wieder zusammenfügen und zweckentsprechend zu verwenden.

ERZÄHLER:
Du meinst, ohne dieses ununterbrochene Wenn und Aber einer offziellen, rundum sanktionierten Partnerschaft, in der gleich einem Patiencespiel jeder weiß, welche Karte als nächste gelegt werden muss – dem übermächtigen Vater folgt der dominante Ehemann, der in Trauer erstarrten Mutter die depressive Tochter?

Ja, denn immer wenn wir uns geliebt hatten, klappte ich widerstandslos die beiden Hälften meiner Persönlichkeit wieder zu jenem von allen gewünschten scheinbaren Einheitsleib und Einheitsgeist zusammen und ging einigermaßen willig zurück in jene Sphäre, die sozusagen mein amtliches Zuhause war.

ERZÄHLER:
Und du meinst, indem wir hier jener geheimen Authentizität folgen, spielen auch allfällige Inkonsistenzen in diesem Bericht nur eine untergeordnete Rolle?

Nein, denn du hast kein Problem, solange du nur freimütig das schilderst, was du selbst gerne lesen möchtest, und sei es noch so absurd, gewagt, brutal oder wunderbar: Das wird dann auch deiner Leserin / deinem Leser behagen.

409

Der Zulauf zur Akademie ließe sich leicht erhöhen, sagte ich mir als Verantwortliche dieser Institution. Nach allem, was passiert war, fiel es mir ohnehin schwer, auf irgendeinem Tabu zu beharren: Meine Aufregung anlässlich der Wahl zur Miss Endless Thigh of the College fand ich nach meinem eigenen Auftritt in Diaxus Etablissement selbst nicht mehr tolerierbar – ich war eben wirklich durch und durch korrekt und fair (ob man’s auch rational nennen könnte, bleibe dahingestellt). Kurzum, warum nicht Akt-Zeichen- und -Malkurse an der Akademie? Derlei würde all denen, die aufgrund des königlichen Dekrets über die Junktimierung von Club- und Akademiebesuchen in Schwierigkeiten waren, das Leben erleichtern.

Wie sehr auch immer diese Leute, die fraglos auf etwas ganz anderes aus waren als auf Kunst, mit dem Bleistift oder Pinsel dilettierten (erstens mangels Begabung an sich, zweitens wegen generationenlanger computerbedingter Vernachlässigung handwerklicher Fertigkeiten), an dieser hehren Stätte würde ihr Tun automatisch geadelt sein. Dementsprechend konnten sie dann auch die geforderte „Permission Obscène” für den Club bekommen.

DER GROSSE REGISSEUR:
(schleicht sich in Mangos Gedanken) Ein gutes Beispiel dafür, Madame…

DIE DREHBUCHAUTORIN:
Vorsicht, er packt seine Französisch-Kenntnisse aus – die sind bei Amerikanern der gehobenen Klasse immer nur das Feigenblatt für eindeutige Absichten wie etwa statt der unschönen Worte bang, fuck oder screw: voulez-vous coucher avec moi?

DER GROSSE REGISSEUR:
Ach was, du missverstehst schon wieder alles gründlich – natürlich geht es mir um Höheres!

DER PRODUZENT SID BOGDANYCH:
Kann ich nur vollinhaltlich bestätigen – er ist groß, sogar überlebensgroß, und ich bin sein Finanzprophet, folglich weiß ich, wovon ich spreche!

In meiner intellektuellen Redlichkeit, die mir nicht erlaubte, mir etwas vorzumachen, schob ich all die fremden Überlegungen beiseite. Für mich selbst erschien ohnehin alles ganz einfach: Den Sinn der Kunst in der Theorie zu entdecken, war ebenso schwierig, wie ihn in der Praxis zu suchen, zumal das wirkliche Leben ein ständiges Gemenge aus beiden Sphären bildete, bei dem manchmal die unfassbaren alltäglichen Ereignisse jegliche Existenzberechtigung gehobener Bedürfnisse nachhaltig in Frage stellten, manchmal aber auch der geistige Aufschwung zum Kunstwerk – namentlich zur eigenen künstlerischen Betätigung – der einzige Weg zum Ertragen eben dieser Alltäglichkeit war.

DER GROSSE REGISSEUR:
(merklich verschnupft) Aber genau das wollte ich vorhin sagen, Your Majesty! Dass Sie der Welt ausweichen können durch Kunst, sich aber gleichzeitig umso inniger mit der Welt verbinden durch sie.

DIE DREHBUCHAUTORIN:
Majesty?! – Die Sehnsucht des geborenen Republikaners nach ein wenig royal mysticism hat dich wohl übermannt! Dessenungeachtet wird unsere Wissenschaftlerin nicht gerade auf deine Weisheiten gewartet haben – du kannst dir also jegliche Plattitüde sparen!

Ich war irgendwie erleichtert, dass die zweite innere Stimme bereits ohne mein Zutun die erste widerlegte. Ich schätzte es nicht so sehr, wenn man mich argumentativ überfahren wollte – lieber war es mir, Schritt für Schritt durch logisches Schließen zum Ziel zu kommen, wobei auch allen erdenklichen Alternativen genug Zeit zugemessen werden konnte. Für mich war nämlich – nebenbei gesagt – sogar der Hauptgrund, warum Kunst es schwer hat, dass die differenzierten Konstrukte, die sie hervorbringt, mit dem üblichen Tempo der Trivial-Gesellschaft oft nicht synchronisierbar sind…

DER PRODUZENT SID BOGDANYCH:
… wobei wir vor diesem allgemeinen Hintergrund leider noch beobachten müssen, dass die überwiegende Zahl künstlerisch Tätiger (mit dem verbohrten Wunsch, von der Kunst zu leben, statt sich jenseits materieller Überlegungen von ihr übermannen zu lassen) durchaus mittelmäßige Talente sind – allenfalls ihre Begabung zum Spektakel ist groß…

DIE DREHBUCHAUTORIN:
… und wenn wir auch höflicherweise anwesende Regisseure ausnehmen wollen, müssen wir doch feststellen, dass hinter solchem äußeren Spektakel die Kunst langsam verschwindet, allerdings nicht ersatzlos, sonst würden die Menschen sie ja vermissen. Vielmehr wird das Spektakulöse selbst zum Inhalt: bei uns leicht erkennbar am Leitmedium Fernsehen – das allerdings gab es auf Mango Berengas Station nicht, aber Ikqyku Diaxu tat ohnehin sein Möglichstes, um Ersatz zu schaffen.

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

Noblesse oblige, bedeutete mir der König wortlos. Seit ich im „King’s & Queen’s Club” aufgetreten war, hatte ich den Vorsprung, den er mir gegenüber durch den Akademie-Erlass gewonnen hatte, wieder wettgemacht. Es lag also an ihm, neuerlich einen entscheidenden Schritt zu tun, und so sah ich, als ich eines Tages mein Kollegium betrat, bereits eine Gruppe eifriger Zeichner und Maler am Werk, und als Aktmodell, zwischen Spiegeln posierend, diente ihnen höchstpersönlich – mein Keyhi!

Ohne sich zu bewegen, ließ er seine Augen erwartungsvoll zu mir wandern, und ich enttäuschte ihn nicht, dank einer plötzlichen Fähigkeit, zu erkennen, was aus welchen Motiven geschah: Sein Erscheinen hier stellte eindeutig einen Liebesbeweis und keine Herausforderung dar.

DIE DREHBUCHAUTORIN:
Mango war recht seltsam zumute, abgesehen von der Tatsache, dass sie ihre Serpentina dabeihatte (die sich neuerdings, wann immer es ging, von Vangelis loseiste und sich der Königin anschloss – der Android nahm’s übrigens gelassen: Schließlich waren seine wissenschaftlichen Interessen fast ebenso stark wie die emotionalen Bedürfnisse, die ihm sein MER vorgaukelte). Bei der ehemaligen Schlange wurde die Anhänglichkeit an die Königin gleichermaßen aus dem Drang, sich intellektuell weiterzuentwickeln, und der Sehnsucht nach Vervollkommnung ihrer Weiblichkeit genährt. Der Anblick des modellsitzenden Königs ließ Serpentina heimlich lächeln – an sich eine sensationell fortgeschrittene Reaktion eines Maschinenwesens, aber sie hielt sich mit ihrer Begeisterung darüber zurück, in der nicht ganz abwegigen Annahme, Mangos Applaus würde für diesmal dürftig ausfallen.

Dabei lagen wir gar nicht so weit auseinander, zumal auch ich amüsiert war durch die Aufmachung meines Mannes, der allen Insignien seiner Würde entraten hatte, mit Ausnahme der weit abstehenden louis-napoleonischen Schnurrbartspitzen. Eigentlich, fand ich, sah er selbst bei Licht betrachtet noch immer ganz knusprig aus. Seine Rolle als Conaisseur hatte bislang zu keiner extremen Gewichtszunahme geführt, und seine Haut war glatt wie die vieler Menschen, die nie in ihrem Leben körperliche Arbeit hatten verrichten müssen. Ich erinnerte mich plötzlich daran, dass ich ihn vor langer Zeit aufgrund seines ebenmäßigen Äußeren sogar verdächtigt hatte, künstlicher Provenienz zu sein.

DIE DREHBUCHAUTORIN:
Ganz schlau war sie ja bis zum heutigen Tag noch nicht aus ihm geworden, genauso wenig wie aus sich selbst: Wenn sie ehrlich war, sah sie ihre eigenen Ursprünge im Dunkeln, letztlich ihre gesamte Biographie – immer vor dem Hintergrund einer zeitversetzten Seelenver¬wandtschaft, die man sich schließlich streng genommen auch nicht erklären konnte, abgesehen von der unverrückbaren Wahrheit, dass Mango Berenga sich der Gräfin Geneviève von B. auf das Innigste verbunden wusste.

DER GROSSE REGISSEUR:
Du glaubst hoffentlich nicht wirklich, my dear little screenwriter, dass man diesen Schwulst verfilmen könnte? Du skizzierst hier nicht vielleicht Szenen eines Drehbuches, von denen du allen Ernstes erwartest, dass unser Sid hier sie finanziert und ich sie mit meiner legendären Regiepranke zum Leben erwecke?

DIE DREHBUCHAUTORIN:
Selbstverständlich nicht, Mr. Big – ich krieche vor deinem Urteil (und vor Sids Brieftasche!) auf dem Bauch! Im Moment treiben wir ja auch lediglich die Geschichte voran, in der wir selbst vorkommen und auf die wir daher ungemein angewiesen sind. Angesichts der momentanen Abstinenz unseres Erzählerpärchens – wer weiß, was die beiden gerade treiben, dass sie sich nicht um die Story kümmern – bleibt uns wohl nichts anderes, als eigenmächtig zu handeln.

DER PRODUZENT SID BOGDANYCH:
Bravo! Daran erkenne ich meine Kleine! (zum Regisseur gewandt) Kannst mir dankbar sein, alter Knabe, dass ich sie in die Welt gesetzt habe…

DIE DREHBUCHAUTORIN:
… wiewohl man einräumen muss, dass deine diesbezüglichen Aktivitäten eher flächendeckend als gezielt abgelaufen sind, sodass in Bezug auf mein individuelles Werden eine gewisse Zufälligkeit…

DER PRODUZENT SID BOGDANYCH:
Da siehst du es wieder – selbst wenn ich äußerst lobende Worte für sie finde, übergießt sie mich mit ihrem Hohn! Das hat sie von ihrer Mutter!

DIE DREHBUCHAUTORIN:
… mit der ich infolge deiner vielfältigen Belastungen zwangsläufig mehr Zeit verbrachte als mit dir. Außerdem teile ich mit ihr eine ganz elementare Erfahrung: die Anwesenheit deines Schwanzes in uns!

DER PRODUZENT SID BOGDANYCH:
Mein Gott, Kind, kannst du ordinär sein! Das hast du nicht auf unserer renommierten Filmakademie gelernt, deren Präsident zu sein ich die Ehre habe. Außerdem: Nimm bitte – bitte! – endlich zur Kenntnis, dass ich noch nicht wusste, wer du bist, als wir miteinander geschlafen haben!

DIE DREHBUCHAUTORIN:
… und dass es dir leid tut! Und dass du es (wohl in einer Art Vorahnung auf das skandalöse Faktum) in keiner Weise genossen hast! Und dass es dich ferner auch dann, als dir bewusst wurde, was du getan hattest, überhaupt nicht mehr aufgegeilt hat, sondern dass du reumütig sogar einen Augenblick lang überlegt hast, künftig abstinent zu leben!

DER GROSSE REGISSEUR:
So vertragt euch doch wieder! Schau, Claudette, jetzt hast du ja mich und brauchst den alten Bock nicht mehr! Und du, Sid, beschränke dich auf das, was deine wirkliche Aufgabe ist und was du auch perfekt beherrschst: das Ausstellen von Schecks! Im Übrigen hat unser Darling hier Recht – wollen wir überleben, muss die Geschichte weitergehen!

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

Ich trachtete, der ganzen Szene in der Akademie einen Hauch von Kompetenz zu verleihen, und verwöhnte meinen Mann sowie die Strichler und Kleckser, die ihn gerade auf ihren Blättern verewigten, mit einer aus dem Handgelenk gehaltenen Vorlesung über Kunsttheorie: Kunst ist das, wovon ein Fachmann sagt, dass es Kunst ist. Unabhängig davon, wie das Kunstwerk rezipiert werden würde, wenn man es unbeeinflussten Personen vorlegte, ist Kunst etwas ganz Anderes, nämlich das zur Kunst Erklärte.

DIE DREHBUCHAUTORIN:
Sie will damit sagen: Ein großer Regisseur (wir kennen ja einen) kann aus einem mittelmäßigen Drehbuch einen vortrefflichen Film machen, denn wie sollte er ab dem Punkt, an dem er zum Genie geadelt wurde, etwas anderes als exzeptionelle Ergebnisse liefern?

Ich will damit sagen, führte ich weiter aus, dass Kunst etwas Erotisches ist, allerdings unabhängig davon, ob tatsächlich jemand nackt hier sitzt, denn es gibt ja auch die Erotik des Geistes: Den hässlichen Mund eines alten Mannes, der kluge Worte spendet, kann ich lieben, aber ich werde ihn nicht küssen. Somit kann Begehren nicht synonym für Erotik verwendet werden, und das ist ein tiefes Geheimnis der Kunst. Das Modell – hier ist es sogar ein König – kann starke Begehrlichkeiten auslösen, selbst wenn keines der nach seinem Vorbild gestalteten Blätter irgendeinen ästhetischen Reiz evoziert.

Hier unterdrückte der eine oder andere der Teilnehmer ein leises Gähnen, und sie dachten sich, wie einfach es jetzt drüben im Club wäre – dass jemand, wer auch immer, auf die Bühne käme und sich geradlinig als Lustobjekt präsentierte, ohne jeden künstlerischen Schnörkel, oder vielmehr nur mit jenen Verzierungen, die das Maß der Begehrlichkeit steigern und diese schließlich zur Entladung bringen, anstatt sie zurückzustauen bis zu einem äußerst verfeinerten Grad an Sublimation.

König Keyhi war sehr zufrieden mit dem Verlauf der Dinge. Mich hingegen beschlich selbst langsam das Gefühl, die Anwesenden dächten die ganze Zeit nur an meinen Auftritt in Diaxus Etablissement. Um die Akademie konkurrenzfähig zu machen, bedurfte es offenbar noch mehr als das, was ich mir bis dahin ausgedacht hatte: Allenfalls musste ich als Kunstprofessorin einmal selbst das Aktmodell abgeben, aber den Eleven gestatten, ihre Skizzenblöcke im Schrank zu lassen und mich statt dessen lediglich zu betrachten.

409-A

BRIGITTE:
Leider ließ Mango Berenga unerwähnt, was sonst üblicherweise die Männer vergessen: „Weibliche” Kunst respektive die Marginalisierung jeglicher weiblichen Kunst respektive die Unsinnigkeit, immer wieder auf die Tatsache hinweisen zu müssen, dass Kunst de facto nichts mit der leiblichen Ausstattung zu tun hat…

… es sei denn, meine Liebe, dass der Körper selbst als Material des Kunstwerks verwendet wird…

BRIGITTE:
… womit wir schon mitten im Thema sind: Der Frauenanteil unter den bildenden Künstlern ist nämlich minimal, während hingegen Frauen als dargestellte Objekte hoch im Kurs stehen, gemessen an der großen Zahl weiblicher Akte!

[Grafik 409]

Nun…

BRIGITTE:
O – bitte komm jetzt nicht mit dem unsinnigen Argument, Frauen seien eben um so viel schöner als Männer!

Gutgut – aber sie sind zweifellos offenherziger veranlagt.

BRIGITTE:
Kurioser Gedanke, dass dies nichts mit den Machstrukturen in unserer Gesellschaft zu tun haben sollte, mit der Notwendigkeit, sich mehr oder weniger verkaufen zu müssen…

Aber das leugnet doch wahrscheinlich gar niemand – dennoch muss man spezifischen Konstellationen nicht unbedingt nachgeben: Wer zwingt dich schließlich dazu, deine Intimität öffentlich zu machen?

BRIGITTE:
Tun wir doch nicht so, als ob Frauen als solche nicht primär unter dem Prinzip von Physiognomie, Haartracht, Figur und Kleidung betrachtet würden, unabhängig davon, was ihre eigentliche Profession ist – wem würde es auf der anderen Seite einfallen, die Nase eines Literaten, die Glatze eines Verkäufers, den Hängebauch eines Politikers oder den Anzug eines Universitätsprofessors zu kommentieren?

Frauen sind eben doch geradezu geboren, um unser männliche Auge zu erfreuen – oder das einer anderen Frau, da bin ich nicht kleinlich.

BRIGITTE:
Mit demselben Unschuldston könntest du jetzt fortfahren – Schönheit liegt in den Sinnen des Betrachters oder der Betrachterin begründet. Denke ich ja auch, und es wäre ganz in Ordnung, wenn man die entsprechenden angenehmen Prozesse gerne auslöst – doch da gibt es noch das kleine Manko eines historisch-kritischen Befundes: Nackte Frauen befriedigen (anders als König Keyhi, der aus einer Laune heraus das Aktmodell spielt) eben nicht nur das Schaubedürfnis der Menschen im allgemeinen, sondern bestätigen dabei auch gleich die permanente Verfügbarkeit der Frau für die Männer!

???

BRIGITTE:
Tut mir leid – kann man nicht wegdiskutieren, und nachdem das alles neulich in der Steinzeit seine Berechtigung gehabt haben mochte (aber vielleicht ist selbst das völlig falsch, und wir hatten damals das Matriarchat), hat sich jedenfalls seit damals einiges verändert!

Aber schau – es gibt auch Vorteile durch das Ignorieren weiblicher Künstler…

BRIGITTE:
… der Einfachheit halber Künstlerinnen genannt!

Zum Beispiel können sie ohne Erfolgsdruck arbeiten, und sie haben üblicherweise einen ordentlichen Zivilberuf, der sie ernährt. Weiters werden sie nicht ständig von den Medien verfolgt und laufen auch nicht Gefahr, auf irgendwelchen Professorenstellen zu verbürgerlichen. Das Wichtigste aber ist: Sie haben stets die mildernden Umstände des „Weiblichen” auf ihrer Seite!

BRIGITTE:
Für diese Zynismen sollte ein befristeter Liebesentzug verhängt werden!

Da haben wir es wieder – Männer können mit Frauen keine allgemein relevanten Themen diskutieren, ohne dass die Sache früher oder später ins Private abgleitet, wo es an sich gar keine Probleme gäbe, aber plötzlich entstehen welche! Warum geht denn auf einmal nichts weiter mit unserer Geschichte, sodass bei deren Personal schon das Gerücht kursiert, wir würden quasi in Sexorgien versunken sein und dieses Werk womöglich niemals mehr zu Ende führen.

BRIGITTE:
Ich hab’ schlecht geträumt und darum bin ich in deine Arme geflüchtet, und obwohl du schliefst, hast du mich gleich festgehalten. Dein Körper wusste auch so – ohne deine geistige Präsenz –, wo ich es gerne mag, und seine unbewusste Zärtlichkeit war nicht zu verachten…

Aber…

BRIGITTE:
(legt die Finger auf Johannes’ Lippen) Widersprich nicht, wenn ich dir die allerschönsten Komplimente mache. Nimm’s einfach hin, in dem beseligenden Gefühl, es gäbe innerhalb von dir, aber außerhalb dessen, was dir selbst davon bewusst ist, noch etwas, was ich ebenfalls liebe, wodurch meine Zuneigung größer ist, als du sie dir vorstellen kannst.

Wovon hast du geträumt?

BRIGITTE:
Schwanenwesen waren überall, mehr als in unserer Geschichte bisher jemals vorgekommen sind. Sie drängten sich allenthalben auf der Station, und König Keyhi bastelte mit Hilfe Ikqyku Diaxus am sogenannten Gefieder-Erlass, demgemäß das Tragen von Federkleidern auf VIÈVE untersagt werden sollte – bei Androhung der Todesstrafe. Der Club-Betreiber bekam den diskreten Auftrag, Quartiere für die erwarteten römischen Legionäre zu schaffen, mit deren Hilfe der Erlass rasch und konsequent umgesetzt werden sollte. Ich sah im Traum ein Blutbad vor mir, und dass die Station danach nie mehr dieselbe, vielmehr für lange Zeit unbewohnbar sein würde.

Schlimm, fürwahr – auf die Spitze getrieben die geradezu kosmische Frage, wer oder was denn auf der Werteskala alles Existierenden wo stünde. Wie wir Menschen ungerührt dem Fressen und Gefressenwerden der Flora und Fauna, die wir ohne Zögern unterhalb von uns ansiedeln, zuschauen, gibt es mit großer Sicherheit jemanden, der uns seinerseits ziemlich gleichgültig betrachtet: was wir Artgleichen untereinander anstellen, wie die verschiedenen Zivilisationen des Alls miteinander umgehen, wie die Bewoh-ner verschiedener Universen, wenn sie je aneinandergeraten, aufeinander reagieren…

BRIGITTE:
… und es beschleicht uns die Vermutung oder es übermannt uns die Gewissheit (die altruistischen Denker meinen jene, die egoistischen Philosophen diese), dass nämlich ausschließlich das Recht des Stärkeren gelte, durchgängig, ohne jede Ausnahme, respektive dass jede Ausnahme davon nur Illusion sei.

Aber wir haben an anderer Stelle schon einmal festgestellt, dass der Mensch (oder allgemeiner formuliert: jedes intelligente Wesen), losgelöst von seinem Schöpfer, emanzipiert von jenem apathischen Betrachter unseres Seins ein Nicht-Müssen-Könner sei, demzufolge er des Lachens, des Weinens fähig ist…

BRIGITTE:
… fähig dieser für das sonstige Weltgefüge sinnlosen Emanationen, kurz gesagt fähig der Liebe, des Sich-Einlassens, des Hereinlassens.

Aber damit sind wir wieder beim Thema, und diesmal bin ich es, der fragt, ob denn auch hier die Gaben der Geschlechter nicht ungleich verteilt seien, denn ihr Frauen seid, physisch jedenfalls, die Einlassenden, wir Männer hingegen die Eindringenden, wiewohl wir nicht immer in der Lage sind, tatsächlich einzudringen, denn selbst die gewollte Gewalt bedarf der praktischen Potenz, während ihr uns quasi immer aufnehmen könnt, es sei denn, ihr wolltet nicht.

BRIGITTE:
Bleibt aber noch der schmale Grat, auf dessen einer Seite die Frau eine Nicht-Müssen-Könnerin ist, wenn ein Mann dies respektiert, oder aber eine Müssen-Müsserin, wenn er das nicht tut. Und auch im letztgenannten Fall wird – ähnlich der Kunst, wo die Zurschaustellung des Weiblichen als eigenes Wollen angesehen wird – darüber spekuliert, ob es ihr am Ende nicht doch Spaß gemacht hat, dass sich einer den Zugang zu ihr erzwungen hat, denn wozu wäre es denn schließlich da, dieses Organ, das unter einem männlichen Blickwinkel ausschließlich als Zielscheibe des erigierten Penis zu gelten hat!

???

BRIGITTE:
Schau nur, wie traurig er geworden ist in dieser metaphysischen Debatte. Wir machen’s jetzt anders als vorhin, gleiten nun doch bewusst und voller Absicht ins Private ab, um gedankenfrei unserer Lust zu frönen.

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Sir Basil Cheltenham war in allen Ausbildungsveranstaltungen, an denen er Zeit seines Lebens teilgenommen hatte (auch auf dem Kasernenhof beim stupidesten „square-bashing”), immer aufmerksam gewesen – nicht wenigstens die wesentlichen Inhalte mitzunehmen, mochten sie auch noch so irrelevant für seinen weiteren Weg sein, wäre ihm als verlorene Zeit erschienen. Dementsprechend konnte er zum Beispiel den geliebten Homer rezitieren, vornehmlich die Verse der Odyssee.

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Dazu das obligate Latein – welcher hohe britische Militär setzte nicht seinen Ehrgeiz darein, Caesar im Original gelesen zu haben? Mathematik und Geometrie galt ohnedies als selbstverständlich für Generalstabsoffiziere, und was man an naturwissenschaftlichen Erkenntnissen zusätzlich einbunkern konnte, war vermutlich ebenfalls nicht ganz vergeblich. Dazu die Übung in einigen klassischen Sportarten, wozu sich später noch martialische Crash-Kurse (daheim sowie jener bei den US Marines) gesellten.

CHELTENHAM:
Das Training in Strategie und Taktik im engeren Sinn war es jedenfalls, was mich mit anderen Kameraden wie etwa Keyhi Pujvi Giki Foy Holby am meisten verband. Ihm musste ich nicht erst lange Erklärungen abgeben, wenn ich ihm meine Theorie zur Gestaltung von Lebensentwürfen erläuterte, wobei die dreidimensionale Skizze, die ich ihm über meine Kristallkugel übermittelte, noch das Einfachste am ganzen Konzept war.

Sir Basil hatte eine Gerade gezogen, die aus der Vergangenheit in die Zukunft führte und den bereits zurückgelegten Abschnitt als Faktum zeigte, den bevorstehenden aber als Willen und Vorstellung (seinen Schopenhauer hatte er also auch gelesen!) – weniger pathetisch hätte man auch Prognose dazu sagen können. Die eindeutige Richtung dieser Vorhersage implizierte, dass in Cheltenhams Verständnis grundsätzlich jeder – so wie er selbst – den einmal eingeschlagenen Kurs eisern zu halten beabsichtigte: Seine ursprüngliche weltanschauliche Position hätte auch gar nichts anderes zugelassen, als konsequent fortzuschreiten, nachdem man sich schon einmal der Mühe unterzogen hatte, die Grundlagen für ein durchdachtes Dasein zu legen, und danach bestrebt war, Stein auf Stein das Gebäude zu errichten.

Durch die besonderen Umstände seiner Biographie – vor allem dadurch, dass er mit seinem Doppelgänger aus der Spiegelwelt konfrontiert wurde, mit all den bekannten katastrophalen Folgen, aus denen ihn die überwältigende Walemira Talmai und die hinreißende Komtesse in einem seltsamen Zusammenwirken erst langsam wieder befreit hatten – konnte er nicht mehr gut an dieser Vorstellung festhalten. Die Therapeutin hatte ihn gelehrt, ernsthaft die Möglichkeit von Alternativen zu erwägen, die einander weitgehend ausschlossen und doch, falls eine von ihnen eintrat, gelebt werden mussten.

CHELTENHAM:
Gerade daran fand mein Soldatenherz relativ rasch Gefallen, denn – hier sank urplötzlich die Trennwand zwischen den militärischen Strategiespielen und dem richtigen Leben dahin – genau das war es ja, was sie uns in Sandhurst gelehrt hatten: für jede denkbare Eventualität die geeignete Antwort im Kasten zu haben. Flexible Response wurde das dort genannt. Was mich aber noch mehr faszinierte, war die Lektion der kleinen Clio – dass ich nämlich dank ihrer Hilfe die Macht errungen hatte, Dinge, die mich störten, auf magische Weise zu beeinflussen, wenn ich nur an diese Fähigkeit glaubte (das allerdings ist das Schwierigste daran): Diese Weisheit hatte mir Berenice vorenthalten, obwohl sie sie ganz sicher selbst besaß.

Dabei hatte Cheltenham seine Definition des geraden Wegs ohnehin großzügig angelegt. Die Militärkarriere stand natürlich im Mittelpunkt, einerlei, wo er stationiert war: Ob sie ihn in die Sümpfe am Delta von Ganges, Brahmaputra und Meghna hetzten (wo Calcutta nur hundert Kilometer entfernt war und dennoch gleichsam weiter als der Mond), auf das glatte Parkett japanischer Etikette schickten (wo er mühsam lernen musste, wer wirklich das Sagen hatte) oder seinen Pfad zwischen den monotonen Dünen der östlichen Sahara suchen ließen (wo er begriff, dass die Mehrzüngigkeit der Araber nicht bösen Absichten, sondern einer überbordenden Phantasie entsprang) – niemals, nicht einmal unter unmittelbarer Todesbedrohung, geriet er in Gefahr, das Ziel seiner Existenz aus den Augen zu verlieren.

CHELTENHAM:
So viel hatte Keyhi von mir mitgekriegt – drum zog er mich auch immer auf, indem er mich mit unserem Kollegen Scipio, dem Africanus, verglich. Umso erstaunlicher für ihn war, wie viele Varianten zum geraden Weg ich nun bereit war, in das Daseinsmodell einzuzeichnen. Was mir als Erstes einfiel, war selbstverständlich (Selbstverständlich! – denn so viel Zutrauen zu mir selbst oder meinetwegen auch Größenwahn besaß ich nun wieder!) die Möglichkeit eines unplanbaren, aber dafür umso katapultartigeren Take-offs, der mich weit über das hinausführte, was ich je gehofft hatte.

Und da waren dann die möglichen seitlichen Abweichungen – mehr Gefallen am Philosophieren mit seinem früheren Gegenspieler und jetzigen engsten Freund Chicago zu finden als am Kriegshandwerk – oder statt des Alleinseins eine Frau zu nehmen, die mehr als ein vorübergehendes Abenteuer war: Tyra passte noch in die Vita des Kriegers, Charlene hingegen war von deutlich anderer Qualität (schade, dass sie verloren schien, denn Clio bedeutete doch gewissermaßen wieder die Rückkehr zum Mainstream). Der Vollständigkeit halber, ohne dieser Option allzu gerne viel Prominenz zu verleihen, zeichnete Sir Basil auch noch die Deflexion nach unten, die nur im Unterbewusstsein, aber dort ständig präsente Falltür ins Nichts.

CHELTENHAM:
Aber da gibt es noch etwas! Denn wenn ich heute einen Querschnitt durch das Modell lege, eine tomographische Schicht aus dem Brei mich umgebender Lebensstränge schneide, sehe ich die bisher genannten Möglichkeiten mit je einer einzigen Spur, daneben aber auch eine weitere, die mehrmals diese Membran der Gegenwart durchstößt: jene nämlich, die bloß dahintorkelt, das Ziel nicht nur aus dem Visier verloren, sondern völlig vergessen hat. Auf diesem Pfad kann man sich womöglich sogar selbst begegnen, wenn man aus der Vergangenheit in die Zukunft reist (wie es sich gehört), aber gleichzeitig aus der Zukunft in die Vergangenheit zurückkehrt.

„Nicht auszudenken”, murmelte an dieser Stelle König Keyhi, seine inneren Sinne auf Sir Basil gerichtet, „wenn man bei solch einer Gelegenheit mit sich selbst kollidierte…”

CHELTENHAM:
Haarscharf ist es tatsächlich bei mir zugegangen, als das Auftreten Iadapqap Jirujap Dlodylysuaps alles durcheinanderbrachte. Keyhi weiß selbst am besten, wie mein Doppelgänger war, und dass – bei aller Anerkenntnis unserer Verschiedenheit – auch viele Gemeinsamkeiten zwischen uns bestanden. Nicht zu unterschätzen war dabei die körperliche Similarität: Selbst wenn jemand wie ich die Fähigkeit besitzt, sogar waffenlos mit einem gezielten Hieb zu töten, macht es doch einen gewaltigen Unterschied, ob man einen Fremden ins Jenseits befördert oder auf einen einschlägt, der so aussieht wie man selbst. Nachdem ich relativ früh und ziemlich widerstandslos die Relativität von Örtlichkeiten akzeptiert hatte, war es am Ende doch ein Schock, auch die zeitlichen Abläufe als bedingt chronologisch zu akzeptieren, geschweige denn die diffusen Grenzen meiner persönlichen Integrität anzuerkennen.

Keyhi verstand ganz gut, was sein Kamerad meinte. Vielleicht war’s ja bei ihm in der Sache weniger komplex verlaufen, aber als er eines Tages seine Militärkarriere endgültig satt hatte (Meuterei hätte das der jenseitige Diktator genannt) und ganz neu begann, war er gezwungen gewesen, einen hohen Preis dafür zu zahlen: Sein eigenes Dasein, das von Mango Berenga und das der meisten anderen Bewohner von VIÈVE hatte er kurzerhand gegen ein jeweils anderes getauscht, all diese Leben mussten dann ab sofort ohne Wenn und Aber geführt werden, und da die Erinnerung nicht völlig auszuschalten war (wie an der späteren Königin ersichtlich, nicht einmal mit ausgefeilten psychologischen, pharmakologischen oder sonstigen technischen Mitteln), kam es bei dieser Gruppe ursprünglicher Bewohner der Station durchaus vor, dass sie Cheltenhams merkwürdige Erfahrung teilten und sich selbst begegneten: Das machte sie im Vergleich zu den später Hinzugekommenen oder nach wie vor Eintreffenden sowie den erst dort Geborenen ein wenig kontemplativer und verlieh ihnen das, was der Baronet in seinem Sandhurst-Jargon vermutlich als comparative disadvantage bezeichnet hätte.

Der König – froh, nach langer Zeit wieder Gelegenheit zu einer längeren Konversation mit Sir Basil zu erhalten – hatte gar nicht bemerkt, dass im Hintergrund des Bildes, das ihm von seinem Gesprächspartner übermittelt wurde, Chicago aufgetaucht war. Dieser wollte seinen Freund keineswegs von seinem Trip zurückholen, sondern bloß sehen, wo der sich aufhielt: und von Keyhi wusste er natürlich bereits. Allein – dieser wusste nichts von ihm, und als er einen Menschen dunkler Hautfarbe erkannte, assoziierte er die Sklavenheere der Spiegelwelt, deren unruhige Existenz dazu beigetragen hatte, das Tyrannenreich zu destabilisieren. Chicago seinerseits war oft genug das Objekt von Hasstiraden gewesen, noch dazu aufgrund der für ihn unerhörten Form der Verwechslung eines edlen Koori-Kriegers mit irgendeinem dahergelaufenen Schwarzafrikaner (womit er ein klassisches Ressentiment im Ressentiment pflegte). Er empfand jedenfalls genau, was ihm da seitens des Königs entgegenschlug wurde, und er beschloss, sich elegant zur Wehr zu setzen.

CHICAGO:
Ob wir es nun wahrhaben wollen oder nicht, Euer Majestät – den Bakterien zum Beispiel ist unsere Hautfarbe völlig gleichgültig, was wiederum darauf zurückzuführen sein dürfte, dass nur ganz wenige von insgesamt einigen tausend genetischen Codierungen für unsere Pigmentierung verantwortlich sind. Somit schiene es lohnender, sich dem harten Kern einer Persönlichkeit zuzuwenden und sich vor allem dann nicht davon abbringen zu lassen, wenn man möglicherweise feststellt, dass die oder der Betreffende außergewöhnliche Auffassungs-, Erfahrungs- oder Begabungshorizonte besitzt.

Keyhi war kein wirklich eingefleischter Rassist (abgesehen von seiner mittlerweile stark entwickelten Abneigung gegen Geflügel aller Art). Angesichts der Zauberspiele seines Ex-Chefs, des Augustus Maximus Gregorovius, hegte er auch keine allzu große Aversion gegen außersinnliche Phänomene, und wenn daher die Bemerkung dieses Chicago – ihrer grundsätzlichen Respektlosigkeit ihm, dem König, gegenüber entkleidet – ein Angebot darstellen sollte, über derlei Dinge zu diskutieren, überwog Keyhis Neugier alles andere bei weitem.

CHICAGO:
Ich möchte von Ihnen, Monseigneur, zunächst nicht mehr, als dass Sie mich mit dem wissenschaftlich-nüchternen Blick der Besonnenheit betrachten und bezüglich Sir Basils und meiner magischen Talente nicht gleich in völliger Ablehnung verharren. Schließlich könnte es sein, dass Sie eines Tages unsere Unterstützung benötigen, und zwar so schnell, dass Ihnen keine Zeit bleibt, unsere Psi-Begabungen in Frage zu stellen, sondern diese einfach dankbar anzunehmen, wie sie sind.

Auch der König war imstande, anmutig zu parieren. Er tat’s mit einem Zitat aus dem alten Epos, dem Cheltenham so zugetan war:
Wenn doch in jener Gestalt
Odysseus den Freiern erschiene:
Bald wär‘ ihr Leben gekürzt!

Er gab den Gesprächspartnern damit Einiges zu assoziieren, und es brauchte ein Weilchen, bis sie daraufkamen, dass er ihnen sagen wollte, er nähme im Fall des Falles ihre Hilfe an.

In diesem Moment trat auch Clio Alexandrine Andromède Annette Aphrodite von B. ins Bild, zwischen Cheltenham und Chicago, die sie sichtlich stolz flankierten. „Und da ist ja auch schon Penelope, Artemis gleich an Gestalt!” rief der König enthusiastisch, erneut Homer zum Zeugen aufrufend. Er kannte sie natürlich schon aus der Spiegelwelt – Balaf-Ieku Hvuvu, die himmlisch schöne Prinzessin, und wie jeder andere Mann (und so manche Frau) in zwei Universen vermochte auch er sich ihren Reizen nicht zu entziehen.

In der archaischen Denkweise seiner Heimatwelt fand er es ganz in Ordnung, dass die frühere Geliebte des jenseitigen Tyrannen nach dessen Niederlage gegen Sir Basil diesem als Beute zugefallen war, aber das war bloß die rationale Ebene der Angelegenheit: Wie er schon den Diktator um diese herrliche Gespielin beneidet hatte, missgönnte er sie jetzt tiefinnerlich seinem Kameraden. Jedenfalls erfasste ihn mit einem Mal der dringend Wunsch, sie wieder einmal aus der Nähe zu sehen.

CLIO VON B. / BALAF-IEKU HVUVU:
Kann ja sein, Monseigneur…

Wie leicht, dachte Keyhi, kam ihr der Tyrannentitel, den sie mit Sicherheit drüben selbst in den intimsten Stunden hatte verwenden müssen, über die Lippen!

CLIO VON B. / BALAF-IEKU HVUVU:
Kann ja sein, dass wir einander eines Tages wieder einmal die Hände reichen können.

Das war es zwar nicht gerade, woran der König dachte, wenn er sich die himmlisch schöne Prinzessin auf Tuchfühlungsdistanz wünschte, aber immerhin – es konnte als Anfang gelten. Und er träumte gleich ein wenig weiter, ungeachtet der Gefahr, dass sie, auch so weit entfernt, wie sie derzeit war, seine Gedanken erahnen könnte. Chicago schien’s imstande zu sein, so böse wie der dreinsah: Gerade dass er die junge Dame nicht gewaltsam aus dem Fokus der Übertragung drängte. Cheltenham hingegen war milde gestimmt – ganz sicher schien er sich seiner Person und seiner Angelegenheiten mittlerweile wieder. Clio selbst blieb anscheinend arglos.

CLIO VON B. / BALAF-IEKU HVUVU:
Kann ja sein, dass wieder einmal die Zeit kommt, in der es gilt, lange Reisen zu unternehmen. Aber dabei wird mein Platz – ebenso wie hier auf der Erde – an der Seite meines geliebten Basil sein!

Überwältigend!

„Sir Basil Cheltenham”, sagte König Keyhi Pujvi Giki Foy Holby aus spontanem Antrieb förmlich, „ich ernenne Sie aufgrund Ihrer Leistungen in rebus militaribus et civilibus zum Chevalier d’Honneur de Mon Royaume!” Dann fiel ihm ein, dass es diesen Titel gar nicht gab, und er beschloss, ihn sogleich einzurichten.

Mit erhabener Geste teilte er seinen lieben Freunden – wie er sie nun alle drei apostrophierte – mit, dass dringende Staatsgeschäfte ihn riefen und entfernte sich. Aber nicht die Banalität einer neu zu schaffenden Würde beschwingte seinen Fuß, sondern ein großartiges Geschenk an Mano Berenga, das er heute überreichen wollte: die Erfüllung ihres Traums vom Meer!

In einem etwas abgelegenen Teil der Station war auf Keyhis Befehl eine Halle gebaut worden, in der es mittlerweile die perfekte Nachbildung eines Strandes gab – Sand, echtes Wasser, Wellen, die ans Ufer rollten, Palmen und andere exotisch wirkende Gewächse und über allem eine Beleuchtung von indirekten Schweinwerfergruppen, von denen die gesamte Szene in gleißendes Sonnenlicht getaucht wurde. Eine große Zahl von Menschen begleitete die Königin, die nicht das Geringste ahnte, an den Eingang dieses Paradieses – XX-Julia und XY-Victor, Serpentina und Vangelis, der unvermeidliche Ikqyku Diaxu (der selbstverständlich wieder einmal das Seinige zum Gelingen dieses Projekts beigetragen hatte) und viele andere.

Der König erwartete die Menge schon und hielt eine kleine Ansprache, in der er seine Frau bat, die Anlage auf seinen Wunschnamen „Guhxe Syfyh’xu Cuh’r” zu taufen, und sie tat es wie ihn Trance, trotz aller Sprachkenntnisse nicht ahnend, was diese Bezeichnung bedeutete – das konnten ihr vielleicht einmal die Native Speaker der anderen Realität offenbaren: dass es sich nämlich um eine schmeichelhafte Anspielung auf ihre Person handelte. Ebenso widerstandslos ließ sie sich zum Strand hinunterführen, wo ihr Mann ihr eine Umkleidekabine zeigte und einen spektakulären Badeanzug (nach einem von Ikqyku aus den Archiven geholten Entwurf) reichte. Bevor irgendjemand anderer sich in die Fluten stürzen durfte, worauf viele schon sehnsüchtig warteten, schwamm die Königin exklusiv und in perfektem Stil zwei oder drei Längen parallel zum Ufer.

Keyhi empfing sie sodann erwartungsvoll mit einem riesigen Badetuch. Er konnte es kaum erwarten, ihre Dankbarkeit zu spüren und in seiner eigenen Großzügigkeit zu schwelgen.

„Man sieht, dass es bloß eine Illusion ist!” sagte die Königin leise und wandte sich zum Gehen. Keyhi durchliefen die widersprüchlichsten Gefühle, aber er gab ihnen keinen Ausdruck, sondern beherrschte sich vor seinem Volk.

Diaxu sprang ein und rettete die Situation: „Die Meereslandschaft ist nun für alle eröffnet!” rief er und fügte rasch hinzu: „Aber nicht für Schwanenwesen!” Erst jetzt fiel auf, dass zu der Zeremonie keine Echwejchs geladen worden waren.