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R4 1

Johannes Themelis

ANASTACIA
Die ewige Barbarei der Gefühle

Anastacia
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Für Marcus

ICH MALE BILDER, DIE ES NICHT GIBT,
BILDER, WIE ICH SIE ABER SEHEN MÖCHTE.
Leonor Fini

DER VERSUCH – UND NICHT DER ERFOLG –
HAT IKARUS UNSTERBLICH GEMACHT!
Sid Bogdanych, Romanfigur

KOMMT DER KOMET –
ODER KOMMT ER ZU SPÄT?
Falco

Anmerkung
In dieser Geschichte wird teilweise
auf Charaktere und Motive zurückgegriffen,
die in den Romanen „NOSTRANIMA”
und „BERENICE” entwickelt wurden.

Gedenken möchte ich an dieser Stelle
meines viel zu früh dahingegangen Freundes
Wendelin Schmidt-Dengler
dessen ebenso menschlicher wie fachlicher Zuspruch
mich bei dieser „Cheltenham-Trilogie”
stets begleitet hat

1. TEIL
LANDNAHME
UND STAATSIDEE

101

Um es gleich vorwegzunehmen: Im Labyrinth unter Cheltenham House gab es keinen Übergang zum Paralleluniversum mehr, denn dieses hatte ja von unserem abgekoppelt. Allerdings war der Untergrund von Sir Basils Anwesen noch immer ein geheimnisvoller Ort, nicht nur wegen seines sagenhaften Ursprungs als Oilell Guinevere (der uralten Befestigungsanlage, die vor 1000 Jahren dort stand), sondern auch wegen der Ereignisse, die später an dieser Stelle stattfanden. Von all diesen soll nur an ein einziges erinnert werden: dass nämlich der Baronet – so dachten alle – hier durch einen primitiven Androiden, den ihm der frühere Diktator der Spiegelwelt quasi aus dem Grab heraus an den Hals gehetzt hatte, zuerst seinen Verstand und dann sein Leben verlor.

BRIGITTE:
Aber das änderte nichts an der Loslösung der beiden Realitäten. Natürlich wurde in der Alpha-Welt – sobald diese Trennung ruchbar geworden war – sofort behauptet, es gäbe gar kein Alpha-*-Universum, und von einem kollektivpsychologischen Standpunkt aus neige ja auch ich dieser These zu: Eine Gesellschaft bedarf keiner umfangreichen kosmologischen Ausstattungsorgien, um schizophren zu sein!

Nun ist es also wieder so weit, Brigitte. Der Lichtpunkt auf dem Fernsehschirm springt uns ein weiteres Mal entgegen, bis er die gesamte Bildfläche ausfüllt und beginnt, eine neue Geschichte zu erzählen. Wir aber sollten darangehen, die ohnehin schon längst brüchige Einheit des Ortes, der Zeit und der Handlung ganz zu zerstören!

Denn jetzt kommt es: Sir Basil war gar nicht tot, denn sein Feind hatte ihn entgegen seinen Befürchtungen weder in den Wahnsinn treiben noch umbringen lassen, sondern an einen Punkt geführt, an dem ihm eine völlig neue Aufgabe übertragen wurde. Darin nämlich bestand die eigentliche Rache des ehemaligen Tyrannen der jenseitigen Völker – nicht im Untergang Cheltenhams, sondern in dessen Scheitern an einem geradezu unerhörten Projekt. Jedem, der den Baronet genauer kannte (und auf wen traf dies wohl mehr zu als auf Iadapqap Jirujap Dlodylysuap, sein Pendant von drüben), war klar, dass ein solcher Misserfolg für ihn schlimmer sein müsste als der Tod…

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

Sir Basil Cheltenham hatte bereits seit seinen jungen Jahren, nach einer spartanisch verbrachten Kindheit früh begreifend, einem unveränderlich Vierzigjährigen geglichen, der sich weder beruflich noch privat mit Halbheiten zufrieden gab, sondern genau wusste, was er wollte. Was körperlich an ihm auffiel, war seine schlanke Gestalt, die gleichwohl eine ausgeprägte Muskulatur erkennen ließ, vor allem aber seine tief liegenden, intensiven Augen. Seine Willenskraft hatte es ihm ermöglicht, das kalte Elternhaus und die noch kälteren Nobelschulen, die vergeblich versuchten, seine Widerspenstigkeit zu brechen, relativ unbeschadet zu überstehen. Mit Unnachgiebigkeit, Selbstbewusstsein und Stolz nahm er sein Leben in die Hand, und bereits am Beginn seiner Laufbahn bei der Royal Army war es so, dass viele derjenigen, die ihm zu befehlen glaubten, in Wahrheit seine Intentionen erfüllten.

Seine Umgebung war weder imstande, seinen Verstand als solchen, der zu höchsten Erkenntnissen fähig war, noch die Abgründe seines Charakters wie Unversöhnlichkeit und gelegentlich aufwallende Rachegelüste auszuloten. Er umgab sich gern mit einer Aura des Geheimnisvollen und verteidigte diese ebenso erfolgreich, wie er die Hintergründe anderer mit Leichtigkeit aufdeckte. Obwohl er es lange Zeit nicht einmal vor sich selbst wahrhaben wollte, zog ihn die Sphäre des Magischen unwiderstehlich an. Dass seine fast unerschöpfliche Energie zur Macht drängte, gestand er sich hingegen von Anfang an ohne Zweifel und Skrupel ein. Oberflächlich von der Schutzschicht eines englischen Gentleman umgeben, bewegten ihn darunter heftige Leidenschaften, die dann und wann zum Ausdruck kamen, indem scheinbares Phlegma in jäh aufflammende Gefühle wie Liebe oder Zorn umschlug.

BRIGITTE:
Er war es gewesen, der die Idee einer definitiven Aufteilung der Welt zwischen Amerika und China (die zugegebenermaßen aber nicht von ihm stammte) in ihrer exorbitanten Tragweite erkannt und gefördert hatte. Die direkten Kontrahenten des Deals, Dan Mai Zheng und Ray Kravcuk, die später folgerichtig die obersten Führungspositionen Groß-Chinas und Grand Americas einnahmen, hätten es ohne Sir Basils diskretes Eingreifen mit Sicherheit viel schwerer gehabt, ihren Plan zu verwirklichen. Cheltenhams eigenes Interesse dabei war, die irdischen Verhältnisse ruhigzustellen, während er sich seinerseits anschickte, den Diktator des Paralleluniversums niederzuringen und am Ende auszulöschen. Nachdem er an den Folgen dieses Kampfes beinahe selbst zugrunde gegangen war, hatte er sich nach seiner Wiederherstellung neuen kosmischen Bedrohungen gestellt: Wieder ging es darum, einem bösen Feind, der unsere diesseitige Realität versklaven wollte, entgegenzutreten – mit Erfolg, wie man weiß, denn die Aggression der Echwejchs wurde gestoppt.

Wobei diesmal, um der Wahrheit die Ehre zu geben, den Löwenanteil andere leisteten, zu Sir Basils nicht geringem Missvergnügen!

BRIGITTE:
Schon damals zeichnete sich ab, dass er allmählich alt wurde – nicht so sehr, indem er äußerlich und für andere so gewirkt hätte, aber er selbst fühlte, dass sein Kraftaufwand für ein und denselben Effekt ein ungleich höherer als früher war, und dass er sich zeitweise nur mit größter Willensanstrengung gegen eine ungewohnte Lethargie durchsetzen konnte. Vor allem die Nächte begannen, dunkler zu werden, wenn Cheltenhams Physis ihm sagte, dass er am Morgen nicht ohne weiteres mit jener Einsatzbereitschaft rechnen konnte, die ihm so lange selbstverständlich gewesen war. Er beobachtete auch, dass er sich selbst in Stunden der Zweisamkeit einsam zu fühlen begann: eine Regung, die er in seinem bisherigen Leben beileibe nicht gekannt hatte, nicht einmal wenn er tatsächlich ganz allein gewesen war.

Er empfand die Verpflichtung, sowie er gegen sich milder wurde, dies auch anderen gegenüber sein zu müssen, und gleichzeitig wehrte er sich dagegen, wohl ahnend, dass er auf diesem Weg nicht mehr er selbst bleiben werde, geschweige denn weiter jene Maßnahmen setzen könne, die das Flair seiner Durchschlagskraft ausmachten. Er war, mit einem Wort, drauf und dran, seinen eigenen Mythos zu zerstören. Seltsamerweise tat ihm das nicht im vordergründigen Sinne leid, sondern wegen derer, die auf diesem Mythos ihre Karriere oder vielleicht sogar ihre ganze Existenz aufgebaut hatten.

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

BRIGITTE:
Hat übrigens (und ich wende mich jetzt nicht nur an dich, sondern auch an den Produzenten Sid Bogdanych, den großen Regisseur, die Drehbuchautorin Claudette Williams, ja und meinetwegen auch noch an das übrige Personal, obwohl es mir nicht so sehr gefällt, wenn hier wirklich jeder mitmischt) noch irgendjemand einen einigermaßen plausiblen Überblick darüber, was in den Berichten von NOSTRANIMA und BERENICE beschrieben wurde – oder ist das ohnehin irrelevant für diesen neuerlichen Versuch, die verwirrenden Reflexionen einer an Facetten überreichen Wirklichkeit einzufangen? Dann machen wir doch einfach tatsächlich nichts anderes, als wiederum unsere Ton-und-Licht-Orgel einzuschalten und zu warten, was passiert, wenn Sender um Sender versucht, unser besonderes Interesse zu wecken und damit die Chance auf mehr als einige Augenblicke Aufmerksamkeit zu erhalten.

Gestatte mal, aber es gibt immerhin mich, den Erzähler, und obwohl ich hier auftrete und solcherart natürlich vom richtigen Autor zu einer bloßen Figur dieses Textes gemacht werde – also trotz meines zwangsläufig eingeschränkten Gesichtsfeldes versuche ich doch nach Kräften, den ganzen Laden hier zusammenzuhalten, wenn nicht überhaupt eine Richtung vorzugeben, und vielleicht sogar etwas spezifische Rationalität zu erzeugen.

BRIGITTE:
Gerade dabei solltest du allerdings nicht vergessen, dass wir – alle miteinander – nicht nur erzählen, was ist (respektive was es gibt), sondern natürlich auch, was nicht ist (oder was es nicht gibt)…

… wie es sich für eine ordentliche Fiktion gehört!

BRIGITTE:
Das eigentlich Schwierige daran ist, dass wir uns ständig entscheiden müssen, was vom Nicht-Existenten uns würdig erscheint, offengelegt zu werden, und was davon wohl angedacht, aber nicht veröffentlicht werden sollte, ganz zu schweigen von dem verlockenden Versuch, dem überaus weiten Feld des Bisher-nicht-einmal-Gedachten nachzuspüren: dem, was uns gar nicht in den Sinn kommt, obwohl es, wie man so schön sagt, denkmöglich wäre.

Eines jedenfalls werden wir weiter hochhalten, wie wir es schon bisher getan haben – unser Bekenntnis, dass Literatur, mehr womöglich als jede andere Kunstgattung, Sehnsüchte stillen soll, auf virtuelle Weise eben, wenn es auf reale Art nicht möglich scheint. Geschieht das nämlich nicht (wie bei so vielen geistigen Selbstbefriedigern, die gerade in der deutschsprachigen Schreibeszene so stark vertreten sind), wird auch kein Kunstwerk entstehen.

BRIGITTE:
Sehnsüchte stillen heißt aber – wie die kluge Androidin AP 2000 ® von ihrer Schöpferin Anastacia Panagou gelernt hat – nicht das zu verwirklichen, was die Menschen zu wollen vorgeben, sondern das, was sie in ihrem Innersten eigentlich anstreben, aber nicht auszusprechen wagen. Dies zu negieren, macht weite Teile der Literatur so langweilig: weil eben nicht von Abenteuer, Erotik, Weisheit oder Utopie die Rede ist, sondern von deren Plagiaten. Anders als in der Musik oder in der bildenden Kunst, in denen das Ursprüngliche und Urtümliche, das im Urgrund der Seele Verankerte eher hervorzubrechen vermag, hat die Sprache leider immer auch den Unterton banaler Alltäglichkeit.

Sie ist, während wir Menschen unsere Individualitäten zu immer größeren Komplexen sozialer Organisation zusammengefügt und diesen damit auch untergeordnet haben, vom Kultur- zum Zivilisationsinstrument verkommen.

BRIGITTE:
Wo früher lapidar gehandelt wurde, wird heute geredet, zerredet. Anders Cheltenham – der war kein Zivilisationskrüppel: Er tat, was er glaubte, dass getan werden musste. So wird es auch bei seinem neuen Job sein, solange, bis seine ganze Kraft verbraucht ist.

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

DIE DREHBUCHAUTORIN CLAUDETTE WILLIAMS:
Alle wissen jetzt zur Genüge, denke ich, worum es euch geht – und um es uns bekanntzugeben, habt ihr ähnlich den von euch Kritisierten jede Menge geistige Masturbation betrieben!

Aber ich wollte doch noch die Raumstation VIÈVE erwähnen, die weit von der Erde als winzige Insel im All schwebt und von Königin Mango regiert wird…

DIE DREHBUCHAUTORIN CLAUDETTE WILLIAMS:
Nur nichts überstürzen, mein Freund! Dazu wird später noch ausreichend Gelegenheit sein.

102

Fidschi: seinen richtigen Namen kannte kein Mensch mehr, ausgenommen vielleicht sein ehemaliger Sitznachbar im Gymnasium, der gründliche Franz-Josef Kloyber. Fidschi saß im Büro des Oberleutnants, nicht aus eigenem Antrieb, sondern eingeladen. Es handelte sich um kein Zimmer im Wiener Heeresnachrichtenamt, und Kloyber trug auch keine Uniform, sondern schlichtes distinktionsloses Grau: Einzig der präzise Sitz der Krawatte oder die blankgeputzten Schuhe hätten den Offizier verraten können, noch dazu im Vergleich zur offensichtlich betonten Schlampigkeit seines Gastes.

Das Büro gehörte übrigens zu einer privaten Personalvermittlungsagentur, die vom HNA als Tarnorganisation betrieben wurde – nur wenige Eingeweihte kannten den Weg durch eine Geheimtür im Drucksortenlager des Unternehmens, durch die man direkt in die Räumlichkeiten der Militärbehörde wechseln konnte. Wie unbefangen auch immer der Oberleutnant sich hier zu geben versuchte, er musste doch stets gewärtig sein, dass er von drüben beobachtet und abgehört wurde – bekanntlich stand er ja nicht in der höchsten Gunst seiner Vorgesetzten, denen er eine Geheimaktion gründlich versaut hatte. Dass er nicht überhaupt entfernt worden war, verdankte er offensichtlich irgendwelchen Befehlen von ganz oben in Washington, wo alle Fäden der früheren Staaten, die nunmehr zum amerikanischen Imperium gehörten, zusammenliefen.

Man tauschte Erinnerungen aus – der unerschöpfliche Fundus von Marotten und Eigentümlichkeiten des seinerzeitigen Lehrkörpers tat sich auf. Wie sich später herausstellt, sind diese Leutchen tatsächlich nicht dann am lustigsten, wenn man sie in der Schule vor sich stehen hat, sondern gewinnen ihre wahre Komik erst, wenn man aus der ordinären Realität des Lebens auf sie zurückblickt.

FIDSCHI:
… und kannst du dich noch erinnern, wie die Mathe-Professorin uns einreden wollte, dass man ohne dreidimensionale analytische Geometrie nicht existieren kann?

„Stimmt doch auch”, versetzte Kloyber, „wenn man Raumschiffpilot werden möchte!”

FIDSCHI:
(plötzlich sehr ernst) Aber niemand hat uns darauf vorbereitet, wie es ist, wenn man den ersten umlegt…

Der Oberleutnant war ernüchtert. Ein wenig entspannte Plauderei hätte er noch ganz gut vertragen, aber einerlei. Er bat Fidschi, von seinen Erfahrungen zu berichten – ein Euphemismus angesichts dessen, was er zu hören bekam. Es war aber nicht so, dass sein Gesprächspartner ihn in irgendeiner Weise überraschte oder schockierte: Er hatte ohnedies bereits alles in seinem Dossier, das in diesem Fall von ihm höchstpersönlich und sehr sorgsam zusammengestellt worden war, lange bevor er diesen Termin vereinbarte.

FIDSCHI:
Südafrika, damals noch im Zustand der Apartheid (ich hatte somit genügend Zeit, um an die Minderwertigkeit der schwarzen Rasse glauben zu lernen). Nach meiner verlängerten Militärzeit daheim heuerte ich dort als privater Sicherheitsberater an: großes Kaliber, das kann ich dir verraten.

Er zog stolz eine Walther PPK hervor. Der Oberleutnant erschrak nicht – ein fast unmerkliches rotes Lämpchen über der Tür, in deren Rahmen ein Metalldetektor eingebaut war, hatte ihn bereits vorgewarnt.

„Bond lässt grüßen!” sagte er nur lakonisch.

FIDSCHI:
Wir arbeiteten zu dritt für Mr. Vandenberg, den Besitzer einer Chromitfördermine: Zwei von uns standen ständig bereit, um den Chef bei seinen Ausfahrten im Wagen zu begleiten, ich war für die Sicherung des Anwesens zuständig. Pamela Vandenberg, die dort im goldenen Käfig lebte und sich so sehr langweilte, dass sie den ganzen Tag am Pool ihren Luxuskörper zur Schau stellte, schaffte es, mich so weit abzulenken, dass eines Tages ANC-Terroristen eindringen und schwere Schäden anrichten konnten. Zum Glück gab es keine toten Weißen, denn die Hausfrau, die ebenfalls ihre Pistole griffbereit hatte, und ich ballerten aus allen Rohren zu unserer Verteidigung. Die paar Kaffern vom Hauspersonal, die dabei umkamen, zählten natürlich nicht.

„Wozu auch”, murmelte Kloyber, „wenn doch nicht einmal ihre schwarzen Brüder auf sie Rücksicht nahmen?” Mechanisch vermerkte er, dass die Schilderung sich präzise mit seinen Unterlagen deckte.

FIDSCHI:
Ich war erledigt. Nicht nur, dass ich gefeuert wurde – Vandenberg sorgte natürlich dafür, dass mich keine von den anderen reichen Familien mehr engagierte. So blieb nur noch die Chance, mich für richtige Drecksjobs zu bewerben, bei denen du dir völlig abgewöhnst, ein Menschenleben zu schonen, sei es von welcher Hautfarbe auch immer. Und ich lernte, dass im Hintergrund dieses Staates und seiner internationalen Beziehungen einiges ablief, was besser niemand wusste, der mit moralischer Entrüstung und wirtschaftlichen Sanktionen die Rassentrennung bekämpfen wollte.

Der Oberleutnant war sich ziemlich im Klaren darüber, was das gewesen sein konnte, und er erlebte einen jener Augenblicke, in denen sein Gewissen mit seinem Soldatsein empfindlich kollidierte. Er zwang sich, das Ganze nicht persönlich zu nehmen – schließlich brauchte er für sein neuestes Projekt genau so einen, wie er da vor ihm saß.

„Hast du sie gefickt, diese Pamela?” fragte er und rang sich ein Grinsen ab.

FIDSCHI:
Worauf du dich verlassen kannst, Big Nugget!

Kloyber erstarrte. Zum ersten Mal seit Beginn ihres Treffens hatte der Schulfreund es geschafft, ihn gänzlich ohne Deckung zu erwischen! Woher wusste der seinen Nickname, den er aus dem Fairyland der Defense Intelligence Agency auf der Bolling Air Force Base, Washington DC, mitgebracht hatte?

FIDSCHI:
Mach dir nicht ins Hemd, alter Junge! Ist nichts Ernstes: Die Szene, in der ich zuletzt verkehrte, bestand großteils aus abgehalfterten Geheimagenten, und von den vielen unnützen Geschichten, die in langen Stunden des Wartens auf den Einsatz (wenn selbst beim Abgebrühtesten unter uns langsam die Nerven zu flattern begannen) erzählt wurden, war auch die eine von Big Nugget, wie er drei Washingtoner Tussis planwidrig nicht vergewaltigte. Ich hab’s quasi aus erster Hand, von dem, der’s denen statt dir besorgt hat, aber dann schmissen sie ihn doch raus, dafür sorgte schon der Große Weiße Vater!

Als Kloyber auf diese Art vom US-Präsidenten Ray Kravcuk sprechen hörte, lief es ihm kalt über den Rücken, denn es kam ihm urplötzlich zu Bewusstsein, dass die geplante Aktion ganz schön brisant war. Jedenfalls beabsichtigte er, für die gefährlichere Seite der Angelegenheit seinen heutigen Gesprächspartner vorzuschieben, denn nur zu diesem Zweck (und nicht, um sich in irgendwelchen Reminiszenzen hinzugeben) hatte er diesen hierher gebeten. Allerdings zögerte der Oberleutnant weiterhin, direkt auf den Punkt zu kommen.

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

Für mich ist es jedenfalls an der Zeit, Farbe zu bekennen und zuzugeben, woher ich all das weiß. Nun, tatsächlich – wie unser schlauer Franz-Josef vermutete – verfolgte jemand aus seiner Behörde diese Unterhaltung, aber auf die Idee, dass dieser Jemand gegen eine hübsche Summe guter amerikanischer Bucks mich, Leo Di Marconi neben sich sitzen ließ, konnte Kloyber sicher nicht kommen.

Ich hatte mich nach langer, viel zu langer Zeit entschlossen, die einzig mögliche Konsequenz aus meinem verpfuschten Leben zu ziehen: Ich arbeitete jetzt genau für den, der meine einst glänzende Karriere als Star-Journalist und Pulitzer-Preisträger jäh beendet hatte – Sir Basil Cheltenham. Und siehe da, endlich ging’s mir wieder gut. Mit einem Mal hatte ich wieder Zugang zu einigen der bedeutenderen TV-Anstalten, und dort nahm auch niemand daran Anstoß, wenn ich, so wie früher gewohnt, ein wenig pointiert berichtete. Zwar legte man mir klar, dass es bestimmte Tabus gab, aber das machte selbst in der US-Diktatur keinen wirklich so großen Unterschied zu früher: Auch in der alten Zeit war es schwierig gewesen, das Weiße Haus frontal anzugreifen, ganz zu schweigen von Themen, die durch die Army oder die verschiedenen Geheimdienste zu Fragen der nationalen Sicherheit erklärt worden waren.

Hier im Abhörkämmerchen des Wiener HNA ging es bloß darum, Sir Basil eine Gefälligkeit zu erweisen, indem ich dem First Lieutenant auf die Finger sah. Sollte es diesem einfallen, außerhalb der Leitlinien des Baronets zu agieren, würde man rechtzeitig gegensteuern können. „Glauben Sie mir, Marconi”, hatte mein Auftraggeber gesagt, „an sich traue ich dem Burschen, aber die Erfahrung eines langen Lebens hat mir gezeigt: Kontrolle ist allemal besser!” In diesem Moment dämmerte mir, dass auch ich mit großer Sicherheit überwacht wurde, und ich richtete von da an meine Aufmerksamkeit darauf, herauszufinden, wer mein Beschützer war – schließlich hatte Cheltenham es bei mir nicht mit einem solchen Naivling zu tun wie bei Kloyber.

Ich unterschätzte allerdings Big Nugget. Nachdem er noch eine Weile mit diesem Fidschi herumgefaselt hatte –

„Noch je etwas von Sexy-Hexy gehört?” (offenbar eine Schulkollegin der beiden, die bereits frühzeitig hervorragend entwickelt gewesen sein musste und ihren üppigen Körper von den Jungs bereitwillig auskundschaften ließ, allerdings nicht von jedem, was fallweise zu mörderischen Schlägereien geführt hatte; der junge, damals schon pummelige Franz-Josef war – fast müßig, es zu erwähnen – bei der Kleinen nie zum Zug gekommen).

„Woher hast du denn eigentlich deinen Spitznamen Fidschi – in der Schule sagten wir doch noch ‚Gorilla’ zu dir?” (es stellte sich heraus, dass die Sehnsucht nach der Südsee der Grund war, und dass die Hoffnung bestand, der lukrative wie dubiose Beruf würde eines Tages genug Geld abgeworfen haben, um sich eine eigene Insel zu kaufen – wenn er nicht zuvor ein unrühmliches Ende finden würde, dachte Kloyber bei sich).

– und ich hoffte, dass der Oberleutnant nun endlich zur Sache kommen würde, stand er einfach auf und lud seinen Gast zu einem längeren Spaziergang ein! Ich konnte mir schon vorstellen, dass es jetzt ans Eingemachte ging, hatte aber keine Chance, das herauszufinden. In Big Nuggets Auto war sicherheitshalber eine Wanze installiert, aber der durchtriebene Mensch ging mit seinem Gast einfach zu Fuß!

Ich latschte in einiger Entfernung hinterher und konnte daher nicht verstehen, was die beiden besprachen.

FIDSCHI:
Übrigens, Sexy-Hexy brauchst du nicht nachzutrauern, Junge, denn diejenigen, die bei ihr zum Zug kamen, wurden auch nicht glücklich davon, und manch einer bereute sogar seine Ambitionen. Das Mädel war ein richtiger Cock-teaser, wie man das in meinen Kreisen nennt – sie geilte ihre Opfer auf bis zum Gehtnichtmehr und ließ sie dann hoffnungslos abstinken!

Ich denke, Kloyber tat an dieser Stelle mäßig interessiert. Gerade dass er fragte, was wohl geschehen wäre, hätte einer von denen sich glattweg auf Sexy-Hexy gestürzt.

FIDSCHI:
Mach dir keine Sorgen – wenn es nämlich je so weit kam, erschien ich wie auf Kommando aus dem Nebenzimmer, von wo aus ich alles beobachtete: stand einfach aus dem Nichts da und richtete meine Pistole (die hatte ich damals schon) auf den Aggressor, worauf dieser nur mehr zusehen konnte, wie der Samen von seiner Standarte herabtropfte, untermalt von Sexy-Hexys glockenhellem Lachen. Dann ein Wink mit der guten PBK, und der Betreffende nahm seine Sachen und haute so rasch wie möglich ab.

„Da hab‘ ich ja wirklich noch einmal Schwein gehabt!? bemerkte der Oberleutnant: Er war sichtlich erleichtert, selbst nach so vielen Jahren.

FIDSCHI:
Hätte ich aber gewusst, dass dir, mein geschätzter Sitznachbar, so sehr der Sinn nach dem flotten Mädel gestanden ist, wär’s mir ein Leichtes gewesen, dir ein wesentlich positiveres Erlebnis mit der Guten zu verschaffen – denn bei mir durfte sie keine Zicken machen, da geschah alles, was ich wollte, und, weiß Gott, ich habe das genossen, aber sie auch – die war schon mit siebzehn total versaut!

Kloyber konnte persönlich mit solchen Typen und auch mit solchen Charakterisierungen nichts anfangen. Es schmerzte ihn fast körperlich, in diese Fresse zu sehen und sich das Gerede anzuhören, daher beeilte er sich, zur Sache zu kommen.

Sir Basil eröffnete mir später, worum es ging (nicht ohne mir sarkastisch vorzuwerfen, wie unfähig ich mich dabei erwiesen hatte, das selbst herauszufinden) und dass der Oberleutnant jedenfalls ohnehin präzise im Einklang mit den Vorstellungen des Baronets gehandelt hatte: Fidschi sollte den sogenannten Limes, die Demarkationslinie Grand Americas gegenüber Groß-China, entlangreisen und seine Eindrücke von der Lage in den grenznahen Gebieten sammeln. Kloyber sollte ihn dabei mit allen zu Gebote stehenden Mitteln und unter strikter Umgehung seiner eigenen Oberen unterstützen: Das bedeutete insbesondere, dass entsprechende Ressourcen (Papiere, Kleidung, Fahrzeuge und so weiter) zu beschaffen und flexibel an verschiedenen Orten des weitläufigen Zielgebiets zur Verfügung zu halten waren.

Als der Oberleutnant seinen Freund für diesen Auftrag anheuerte – bei jenem Gespräch, von dem ich das Entscheidende gar nicht mitbekam –, stand schon alles bereit, und Fidschi konnte sofort loslegen. Genau genommen tat sich der HNA-Offizier ganz leicht: Abgesehen von seiner gediegenen allgemeinen Ausbildung konnte er ja prinzipiell in allen Frontstaaten auf die Hilfe von Personen zurückgreifen, die er seinerzeit bei ihrem Symposion in Wien davor bewahrt hatte, Opfer eines tödlichen Anschlags zu werden: darunter Natalia Petrowna und Verushka Dimitrowa aus Rest-Russland, Huseynagha Pasheyev aus Azerbeidjan, Aram Hovakimian aus Armenien sowie Ebru Saraço?lu aus der Türkei, weiters Faouzi Hassini (Tunesien), Nouara Saadia Abad (Algerien), Mahamane Toure (Mali) und Sougalo Kodjo (Côte d’Ivoire).

102-A

Der gute alte „Flaubert”-Club in Hamburg, skandalös zu seiner Zeit, als wir beide, als junges Pärchen, in echter Umarmung auf offener Bühne gezeigt wurden! Ich denke noch immer gerne an das Etablissement, aber es ist sehr schwer zu definieren, was eigentlich noch heute die Faszination unseres damaligen Jobs ausmacht. Vielleicht die Erinnerung daran, dass man gut in Form war, mehr noch: so toll ausgesehen hat, dass die Leute dafür Eintritt zahlten. Der Mut, etwas getan zu haben, das später durch tausend Skrupel verhindert worden wäre. Die jugendliche Selbstverständlichkeit, mit der unsere Körper den Akt zelebrierten, selbst unter diesen zweifellos extremen Bedingungen…

ERZÄHLER:
Nicht zu vergessen die Tatsache, dass etwas an sich Positives – die unverkennbare Liebe zweier Menschen und ihre physische Anschauung – von vielen als Ärgernis und Tabubruch empfunden wurde, anders als die eklatante globale Gewaltbereitschaft, an der kaum noch je ein Moralapostel Anstoß nahm.

Denn weder brachte ich dir Schläge bei, noch hast du mich mit heißem Wachs beträufelt oder mich mit Nadeln durchbohrt oder sonst praktiziert, was heutzutage von einem saturierten Publikum verlangt würde, das über 1000 Fernsehkanäle die ärgsten Gräueltaten frei Haus geliefert bekommt.

ERZÄHLER:
Nein, wir kamen einfach aus der Kulisse, zogen uns unbefangen aus und legten uns auf das mit Samt ausgeschlagene, kreisrunde und sich langsam drehende Bett und machten, wofür wir engagiert worden waren.

Der Vorgang an sich – wieviele Schriftstellerinnen und Schriftsteller haben sich nicht daran versucht und Ergebnisse geliefert, die von der Lächerlichkeit über den Kitsch bis hin zur Poesie und zurück zur Geschmacklosigkeit reichen: Maupassant zum Beispiel und die Frau mit den drei Augenfarben – grau zu Mittag, grünlich in der abendlichen Dämmerung und (er schwört es!) blau bei Sonnenuntergang; Grace Zabriskie, die von ihrem Liebhaber intensiv bearbeitet wird, von den Lippen die ganze Geografie entlang bis zu den Zehen, und während er gerade mit der linken Brustwarze beschäftigt ist, findet er noch Zeit für ausschweifende Vorträge – über die Mythen (die zweifellos irgendwo auf Realität beruhen müssen!), betreffend den Umstand, dass Männer auf jede x-beliebige Art abfahren, während für Frauen das ganze Drum und Dran wichtig ist; Mary McCarthy, deren Dottie ihr erstes Mal erlebt und damit auch gleich ihren ersten Orgasmus, worüber sie nicht wenig verstört ist, gerade so, als ob da etwas schief gelaufen wäre (und Dick, den sie sich selbst zum Deflorator erwählt hat, muss sie beruhigen – obwohl ihm gar nicht nach Reden zumute ist, denn post coitum omne animal triste – und ihr sagen, dass sie sich dessen nicht zu schämen braucht); Gerhard Zwerenz, der mit einer Gewerkschaftsfunktionärin schläft, die nicht abgeneigt wäre, ihn bei sich aufzunehmen und auszuhalten (denn bei gleichbleibend steiler Karriere bis auf den Präsidentinnensessel ihrer Organisation würde es locker für beide reichen), aber ihm wird mulmig bei dem Gedanken, dass er dann nur noch Gewerkschaftsromane schreiben könnte oder gewerkschaftliche Liebesgedichte.

ERZÄHLER:
Aber wenn du dann mitten drin bist in dieser facettenreichen Sache, und sei es auch nicht in der Abgeschiedenheit des Privaten, sondern in einem öffentlichen Raum, bedarfst du der Worte nicht mehr: Du lässt einfach deinen Körper sprechen!

Womit klar wird, dass der Homo sapiens beileibe nicht nur dann er selbst sein kann, wenn er seinen körperlichen Untergrund zurückdrängt (wie es uns von verschiedener Seite immer wieder weiszumachen versucht wird).

ERZÄHLER:
Deshalb haben wir uns, wie du dich erinnerst, standhaft geweigert, unsere Performance im „Flaubert” dadurch zu relativieren, dass wir uns dabei unterhielten: Solcherart unsere Rollen als Ikonen des Sinnlichen zu verlassen und uns in die mehr oder weniger sabbernden Niederungen des Publikums zu begeben, hätten wir – anders als die Darbietung selbst – als Gipfel der Obszönität empfunden.

Und genau diese wollte der Manager, der unsere Subtilität nicht kapierte (und vor allem nicht, dass sie ihm die viele Kohle brachte), ständig von uns einfordern und dazu versuchte er uns ununterbrochen zu drängen, mit seinem untrügerischen Gefühl dafür, wie man aus etwas, das unter Nachsicht aller Taxen wohl Kunst war, Pornografie machen konnte. Schließlich wäre er auch gierig danach gewesen, uns zu fotografieren oder zu filmen, was wir ebenfalls vehement ablehnten. Nicht einmal Schaufensterbilder von uns gab’s, denn die Leute kamen auch so: Unser Ruf eilte uns voraus!

ERZÄHLER:
Vielleicht, weil deine spitzen Schreie, wenn du zum Höhepunkt gelangtest, so echt klangen…

Sie waren echt, verdammtnochmal!

ERZÄHLER:
Ja, für mich gab’s ja keinen Zweifel in diesem Punkt, da ich spüren konnte, wie dein ohnehin ganz naher Körper – wie soll ich es formulieren – noch näher rückte, wie ich umschlossen wurde, gerade so, als wolltest du alles aus mir herausholen. Aber das Publikum – das mochte noch immer denken, dass alles nur Show war, schon aus dem Grund, dass man uns davor 15 oder 20 Minuten dabei zusehen konnte, wie wir unsere Vereinigung gemächlich starteten, langsam entwickelten und erst nach und nach beschleunigten, um sie am Ende rasant ausklingen zu lassen, während der durchschnittliche Zuschauer von daheim vielleicht gerade einmal eine phantasiearme Dreiminuten-Nummer gewöhnt war und deshalb annahm, so etwas wie bei uns müsse zwangsläufig eine Vorspiegelung falscher Tatsachen sein!

[Grafik 102-A]

Wenn du Recht hättest…

ERZÄHLER:
Ich habe Recht, darauf möchte ich meinen Kopf verwetten!

… dann hätten wir da oben wesentlich mehr Vergnügen gehabt, als die da unten, die dafür eine Karte lösen und außerdem eine beträchtliche Konsumation machen mussten.

ERZÄHLER:
Das will ich doch hoffen!

103

Dass im Trubel um die Abfahrt der NOSTRANIMA von der Raumstation VIÈVE, als alles durcheinanderlief und überall Abschied genommen wurde, niemand (vor allem nicht mein Androidenfreund Vangelis) bemerkte, wie ich mich davonstahl, kam mir äußerst gelegen. Mein Entschluss, bei Königin Mango Berenga zu bleiben, die nun allein über diesen künstlichen Himmelskörper herrschte, nachdem König Keyhi Pujvi Giki Foy Holby und die anderen aus der Spiegelwelt stammenden Bewohner zurück in das Paralleluniversum katapultiert worden waren, lag schon relativ weit zurück: Nicht dass ich den AMG (so seine prosaische Typenbezeichnung) nicht mehr mochte, aber hin- und hergerissen zwischen der Zuneigung zu ihm und jener zu Mango zog es mich doch zu ihr, und die Gefühle, die mein Model for Emotional Response (MER) ihr gegenüber entwickelte, waren einfach stärker.

Vangelis war mir durch seine Bereitschaft, in der anderen Realität den Platz des gestürzten Tyrannen einzunehmen (wie dies eine einflussreiche Gruppe drüben vorangetrieben hatte), irgendwie fremd geworden und ich empfand mit einem Mal tiefe Verunsicherung über meinen eigenen Stellenwert für ihn. Die gesamte Aktion war nunmehr zwar durch die Trennung der beiden Universen ohnehin obsolet (und zum Glück hatte Anastacia Panagou uns noch rechtzeitig evakuiert), aber welchen neuerlichen Versuchungen mochte Vangelis in Zukunft erliegen und von wem respektive wozu würde er sich womöglich aufs Neue verführen lassen? Ich zog gleich nach unserer Befreiung aus dem Aquarium mit flüssigem Stickstoff – als meine Moleküle sich endlich wieder normal bewegten und ich deshalb auch wieder einigermaßen klar denken konnte – den innerlichen Schlussstrich, hatte aber nicht den Mut, dies dem AMG zu sagen.

MANGO BERENGA:
Unter normalen Umständen hätte er es ja nonverbal wahrnehmen können, aber die sich überschlagenden Ereignisse ließen ihn offenbar die Signale seiner Subliminal Recognition Matrix überhören – und so ging er denn aufrechten Schrittes an Bord des Raumkreuzers (sein eigenes kleines Schiff ließ er in einer unserer Andockstationen zurück), trug stolz sein Astrolabium vor sich her und schien völlig überzeugt davon, dass Serpentina ihm auf dem Fuß folgte. Sie aber blieb bei mir.

Eine wunderbare Zeit begann, und ich hätte niemals Anlass gehabt, meine Entscheidung zu bereuen, wenn ich als künstliches Wesen zu solch einem Gefühl oder besser gesagt einer solchen Kognition überhaupt fähig gewesen wäre. Wie auch immer, die Königin liebte mich – da war ich sicher – mehr als ihre eigenen Kinder, die ihr von Anfang an ein wenig unheimlich erschienen, infolge des Erbteils ihres Vaters, dessen Innerstes ihr, wenn sie ehrlich war, ebenfalls immer ein Rätsel blieb, vor allem wegen des schwer durchschaubaren Beginns ihrer Beziehung, als er sie keinesfalls zur Frau begehrte, sondern für die obskuren Ziele der Spiegelwelt missbrauchte.

Jetzt waren Königssohn XY und Königstochter XX (Mango benützte nach wie vor die von ihr gewählten nüchternen Namen und nicht Julia oder Victor Hugo) erwachsen und gingen eifrig ihren Jobs nach: Julia als Topstar des „Queen’s Club” (früher „King’s & Queen’s”), wo sie nach wie vor allabendlich ihre verblüffende Gelenkigkeit zur Schau stellte, auch unter der neuen Leiterin Pachwajch und deren Assistenten Rejchwejch, die als einzige Überlebende der Schwaneninvasionstruppe auf der Station verblieben waren, nachdem sie sich schon mehr oder weniger lange vor dem Echwejch-Fiasko von den Intentionen ihrer Gebieterin Machwajch distanziert hatten. Victor wiederum kümmerte sich um die Akademie, wo man aus purem Interesse Vorlesungen hören konnte oder aber einfach hinging, um die obligatorische Quote von einem Akademiebesuch pro 30 Abenden im Club zu erfüllen.

Da sich XX und XY gut verstanden (wohl auch deshalb, weil sie eine lange inzestuöse Beziehung hinter sich hatten), gab es allerdings noch mehr als dieses seltsame, von Keyhi verfügte Junktim zwischen den beiden Institutionen: Julia stellte sich der Zeichen- und Malklasse der Akademie regelmäßig als Aktmodell zur Verfügung, während ihr Bruder die eine oder andere Aufführung im „Queen’s”, so etwa meine Classic Dance Performances, mit Lesungen aus eigenen Werken verbrämte.

MANGO BERENGA:
Tatsächlich hatte sich auf VIÈVE einiges geändert, und ich behaupte: nicht zum Schlechteren. Natürlich konnten wir allesamt nicht leugnen, dass die uns gewaltsam entrissenen Abkömmlinge des Paralleluniversums, allen voran der König, uns fehlten, aber wir hatten uns stillschweigend darauf geeinigt, so zu tun, als sei nichts geschehen, und – soweit dies möglich war – die leeren Plätze einzunehmen. Ich selbst gestehe, dass Serpentina es war, die mich davor bewahrte, in ein emotionales Vakuum zu stürzen: Ich genoss ihre Umarmungen, jede ihrer Zärtlichkeiten, die so punktgenau das erfüllten, was ich mir im Augenblick wünschte – und es war mehr, als ich je von einem richtigen Menschen, namentlich einem Mann, erfahren hatte.

Sie übertrieb da ein wenig, die gute Königin, oder argumentierte vielmehr an der Realität vorbei, denn was sie da als die Erfüllung ihrer Wünsche pries, ging ja nicht von einem Organismus ähnlich dem ihren mit besonders hoher Einfühlsamkeit aus, sondern war einfach Ausdruck jener extremen technischen Perfektion, mit der unsere Schöpferin mich und meinesgleichen ausgestattet hatte. Ich konnte, wenn ich wollte, einerseits mit stahlharter Faust zuschlagen und sogar jemanden mit bloßen Händen töten (wenn die in mir eingebaute Direktive über das Verbot der Beschädigung biohumanoiden Lebens im Einzelfall aufgehoben wurde), andererseits aber schmetterlingsflügelgleiche Berührungen ausführen.

MANGO BERENGA:
Illusion oder nicht – allein die Anwesenheit Serpentinas half mir fast unmerklich über den Verlust Keyhis hinweg. Zu mei¬ner eigenen Überraschung wurde mir ganz langsam und unter heftigem inneren Widerstreben bewusst, dass ich den König schon bald viel weniger vermisste als unmittelbar nach seinem Verschwinden, aber auch das war wiederum nur bedingt richtig. Ich befand mich in Wahrheit in einem Zustand, der nur schwer zu beschreiben ist, denn einerseits hatte ich natürlich zu einem guten Teil meine eigene Persönlichkeit über Keyhi definiert (vor allem meine schiere Existenz auf VIÈVE ist ja allein ihm zuzuschreiben), andererseits war selbst breiteren Kreisen auf der Station bekannt, dass ich das ganze Leben des Königs (so sehr es sich auch gegenüber früher verändert haben mochte) und sogar ihn selbst als absonderlich empfand. Unweigerlich führte mich, wenn immer ich an ihn dachte, die Spur zielsicher auf die Erde zurück, von der er mich unter fragwürdigen Umständen weggeholt hatte, und das bedeutete schließlich nicht mehr und nicht weniger, als dass mir mein eigentliches Dasein vorenthalten worden war.

Aber das ist bloße Rhetorik, Majestät (diese Phrase hatte ich mir zugelegt, als Mango dem König nachgerückt war, und sie schien’s zu freuen)! Zumal nach so langer Zeit, in der du keinerlei Einspruch erhoben hast, abgesehen von einigen deiner nicht ganz leicht zu interpretierenden psychischen oder physischen Zustände, auf die deine Umgebung, allen voran der König, wohl reagieren konnte, aber keineswegs musste. Und überhaupt: Was wäre denn diese „wahre” Existenz, diese – je weiter man sich in eine ganz andere Richtung bewegt – immer schemenhaftere Fiktion?

Was immer deine ursprünglichen Anlagen waren oder wie immer der Entwurf aussah, der auf diese aufbaute (anfangs jedenfalls mehr durch deine Eltern und Ausbilder beeinflusst als durch dein eigenes Streben) oder wie immer du dieses Programm später noch adaptieren konntest – du musstest es in eine Welt voller Sachzwänge tragen, in der es mit einer Unmenge konkurrierender Pläne konfrontiert war.

MANGO BERENGA:
Aber selbst in dieser Situation muss man nicht zwangsläufig scheitern!

Mit allem Respekt, Majestät: Sogar ein extrem umtriebiger Mann wie Sir Basil Cheltenham, der es – seinen Schopenhauer im Hinterkopf, wenn auch vielleicht nicht konsequent genug zu Ende gedacht – mehr als andere verstand, mit eisernem Willen die Wirklichkeit nach seinen Vorstellungen zu formen (manche meinten auch: zu verbiegen), hatte früher oder später vor jenen scheinbar unabwendbaren Fügungen zu kapitulieren, die durch die vielfältigsten Defizite und Defekte des Seins zustandekommen!

MANGO BERENGA:
Ich widersprach ihr nicht mehr. Mir war bekannt, dass Sir Basil bei aller nach außen zur Schau gestellten Sicherheit längst an der Geradlinigkeit der Welt als einer elementaren Voraussetzung für sein eigenes Handeln zweifelte, im Wesentlichen an der Kette von Ursachen und Wirkungen und vor allem am Dogma, dass es irgendwo in einem geordneten Raum-Zeit-Kontinuum den einen ursprünglichen und unverrückbaren Beweggrund gab. Ihn beschlich zusehends der Gedanke (so wollte es mir jedenfalls bei seinem kurzen Aufenthalt auf VIÈVE scheinen), eines Tages würde er sich selbst auf den Hinterkopf sehen, und immer öfter wandte er sich im Gehen um, nicht wie früher mit der gebotenen Umsicht des gewieften Taktikers, sondern voll innerer Unruhe, die ihm den Verstand verwirrte und die Hände zittern machte.

In diesem Moment, als die Königin gerade noch als Fremde durch eine Glasscheibe auf ihr eigenes Leben geblickt hatte, fand sie plötzlich in die Realität zurück – präziser ausgedrückt (wie es mir als Androidin besser ansteht), ihr Innen und Außen wurden wieder weitgehend deckungsgleich, und auch ich, deren MER massiv Unruhe produziert hatte, suggerierte mir wieder Wohlbefinden. Ich fiel scheinbar federleicht in Mangos Arme: Es drängte mich geradezu, mich so eng und exakt wie möglich an ihren Körper zu schmiegen.

MANGO BERENGA:
Ich musste es zum Glück nicht mit eigenen Augen ansehen, aber es war mir natürlich berichtet worden, dass Serpentina eine der Echwejch-Soldatinnen nicht als Kriegshandlung, sondern aus blanker Mordlust getötet hatte, und es gab sogar Leute in meiner Umgebung, die behaupteten, erst durch diese Tat sei es zur letzten Eskalation der Auseinandersetzungen gekommen, weil ab diesem Augenblick keinerlei Verständigung mit den Schwanenhalsigen mehr möglich war. Nichts aber deutete, wenn die Androidin mit mir zusammen war, auf diese Facette ihres Wesens hin. Ich begriff, wie komplex ihr virtuelles Selbst mittlerweile geworden war. Darüberhinaus wurde mir schlagartig klar, dass sie – während sie ihrem MER in jene Blutrünstigkeit gefolgt war – zugleich ein höchst rationales Ziel verfolgte: Nicht abzuwarten, bis die wahren Absichten der Echwejchs zutage traten (selbst auf die Gefahr hin, dass diese harmloser sein mochten als angenommen), sondern den Anstoß zu deren Vernichtung in Unsicherheit zu geben.

Ich fühlte, dass die Königin mit ihren Gedanken erneut weit weg war, weg vor allem von meiner Umarmung, und ich versuchte, sie wieder in meine leibliche Nähe zurückzuführen.

MANGO BERENGA:
(streichelt Serpentina zärtlich) Meine kleine Androidin – du hast Geschichte geschrieben!

104

„Silent night, holy night…”, summte Idunis, Berenices Dienerin, die sich selbst als furchtbar schwarze Naturschönheit bezeichnete (die sie auch noch immer war, trotz der mittlerweile vergangenen Jahre). Das ist die Mutter aller Geschichten, dachte sie: von der heiligen Jungfrau, die das heilige Kind gebar, das sie auf heilige Art und Weise von ihrem heiligen Geistwesen empfangen hatte – die Interpretation einer Koori, einer Ureinwohnerin Australiens, die in England intensiv mit der westlichen Ideenwelt in Berührung gekommen war.

BERENICE:
Es hat nichts mit abendländischer Kultur zu tun, sondern ist viel archaischer: die spirituelle Initiation einer Frau mit aller auch körperlichen Brutalität. Am Beginn steht ein rigoroses Eindringen des Überirdischen, aber es handelt sich angeblich nicht um Notzucht, denn die Betroffene soll dem Initiator aus freien Stücken erlaubt haben, dass sein Wille geschehe, weil auch er nur Handlanger eines großen Plans ist. Auf diese Weise machten mich die Stammesältesten zur Walemira Talmai, „der das Wissen weitergegeben wurde”, aber was sich meiner bemächtigt hat, um diesen Prozess zu vollziehen, war nach unserer Überzeugung nicht die Lüsternheit dieser Männer, sondern die transzendental hinter ihnen stehenden geisterhaften Ahnen.

„Was wir von diesen Dingen hören”, spekulierte Idunis, „ist also entweder schaurigste Blasphemie oder nackte Tatsache.” Sie hatte in jedem Fall Recht, denn es gab ja so viele Wahrheiten, darunter jene, dass Cheltenham verschwunden war, aber auch jene, dass er wieder zum Vorschein kam.

BERENICE:
Eines Tages nämlich stand Sir Basil für alle (außer für mich) überraschend wieder da, kam einfach heraus der Wand, die das unterirdische Labyrinth abgrenzte, wo der Baronet nicht nur, wie früher oft, sich selbst, sondern auch seiner neuen Aufgabe begegnet war. Niemand von denen, die ihn so gut kannten wie Charlene, wunderte sich über sein Erscheinen, denn es schien für alle einer seiner Wesenszüge zu sein, die Umwelt mit der Gewährung seiner Präsenz zu erfreuen oder mit deren Verweigerung zu ängstigen. Der Sohn, der zwar nicht seines Blutes, aber sonst in der ganzen Art durchaus er war, hatte – so stellte sich jetzt heraus – in der Zwischenzeit nicht im Geringsten daran gezweifelt, dass Cheltenham wiederkehren würde: nicht zuletzt eine Folge der seinerzeitigen Aussage der Mutter, derzufolge ihr Mann entweder nicht willens oder nicht in der Lage sei, das Labyrinth zu verlassen (was für Nicholas, der damals noch klein, aber schon äußerst verständig war, in deutlichem Widerspruch dazu stand, dass der Baronet rasch für tot erklärt wurde).

Dementsprechend zögerte Charlene selbst, eine Fotografie Cheltenhams in ihr Album „Defunct” zu kleben: die beiden Indianer Murky Wolf und Sherman Yellowhawk waren dort zu finden; Margharita Sanchez-Barzon, die ein weniges an Abenteuer mit viel Leid bezahlen musste; Tyra die sich stets mit Leib und Seele bedingungslos ihrem Agentenjob hingegeben hatte; der merkwürdige US-Senator Hawborne, der im wahrsten Sinne des Wortes in Charlenes eigenen Armen verschieden war; weiters Heather H. Skelton, die resolute Generalin, und ihr Mann Gus, der es nur bis zum Captain gebracht hatte, sowie ihr ehemaliger Adjutant Kendick, der während eines angeblichen Vergewaltigungsversuchs von seiner Chefin erschossen worden war; ferner die unglückliche Vera – und Konrad, der diese am Ende glücklich gemacht hatte, wenn auch unter Vorspiegelung falscher Tatsachen; nicht zu vergessen schließlich die armen Androiden-Drillinge Protos, Devteri und Tritos, von denen jeweils bloß ein Häufchen Schrott übriggeblieben war.

Längst schon war im Auftrag Charlenes der amerikanische Bildhauer Cyprian Bishop am Werk, steinerne Abbilder von all diesen Leuten anzufertigen und dann in einer der beiden Kapellen von Cheltenham House aufzustellen: dort wo Sir Basil beabsichtigt hatte, die Figuren katholischer Heiliger aus der Zeit vor Heinrich VIII durch solche britischer und französischer Aufklärer zu ersetzen, ein Plan, der über eine Statue Francis Bacons allerdings nicht hinausgekommen war. Das war auch gut so, denn sonst wäre beispielsweise der geistig harmlose Gus Skelton neben dem Titanen John Locke, dessen Ideenwelt dem wackeren Captain unüberwindliche Kopfschmerzen bereitet hätte, zu stehen gekommen.

BERENICE:
So kam es denn, dass Cheltenham diese seltsame Galerie bereits in einem sehr fortgeschrittenen Stadium besichtigen konnte, wenngleich mit sehr gemischten Gefühlen – war es doch nicht wirklich das, was er sich vorgestellt hatte: Ihm war nämlich vorgeschwebt, eines Tages die lokale Geistlichkeit einzuladen und mit den Freigeister-Statuen am einstmals geweihten Ort zu nerven.

Einerlei – der Gag war, wie Sie mir als professionellem, um nicht zu sagen großem Regisseur glauben dürfen, gar nicht so gut, und es entging folglich der Welt nichts, wenn er unterblieb. Lassen wir daher den jungen Herrn Nicholas Cheltenham den, der für ihn Vater war, auf dem Anwesen herumführen, das er mittlerweile mehr, als wenn Sir Basil leiblich präsent gewesen wäre, als sein Eigentum erlebte – das er quasi „in loco patris” in Besitz genommen hatte. Charlene ließ ihn gerne gewähren, zumal sie merkte, dass sich die respektvolle Sympathie, die man ihr rundum entgegenbrachte, auch auf den Kleinen übertrug. Daneben aber löste er, anders als die Mutter (und zu deren nicht geringem Erstaunen), jene undefinierbare Furcht vor seinem möglichen Zorn aus, wie sie die Leute gegenüber dem Baronet empfanden.

Die neue Familienidylle währte allerdings nur kurz, denn schon bald reiste Sir Basil ab, beseelt von seiner neuen Aufgabe, aber über diese sprach er nicht – gab bloß vor, die Fäden seiner zahlreichen Organisationen wieder in die Hand nehmen und ordnen zu müssen. Charlene war’s nachgerade gewöhnt, und sein Sohn nickte ernst zu Cheltenhams Worten.

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

BERENICE:
Meine Koori auf dem Anwesen der verblichenen Lady Prudence Goldalming, den wir inmitten Englands zu einem Stück Heimat gemacht hatten, erlebten – nachdem ich aus Mango Berengas Königreich zurückgekehrt war und sich das Geschehen um Sir Basil wieder mehr auf dessen Herrschaftssitz verlagerte – wieder ruhigere Zeiten: Was nicht vielleicht bedeutete, dass mein kleiner Stamm bloß dahindämmerte. Bei Menschen mit einem derart hohen parapsychologischen Potenzial einerseits (angesichts dessen selbst der Alltag dann und wann seltsame Züge annimmt) und einer urtümlichen Gefühlswelt andererseits (die jeden Liebesakt unversehens zu einem Kampf um Sein oder Nicht-Sein machen kann), war dies schließlich auch gar nicht möglich. Brian Thomson, mein Geliebter, der – um die Zustimmung meines Geistwesens zu unserer Verbindung zu erwirken – die Strapazen einer Initiation auf sich genommen hatte, war zwar anfänglich nicht so rigoros gewesen, aber das Zusammenleben mit mir und den übrigen der Gruppe hatte seine Mittelwestprüderie gehörig ins Wanken gebracht, sodass inzwischen auch bei ihm kontemplative Phasen mit solchen von Original-Outback-Wildheit abwechselten.

Ich stellte mir vor, wie die beiden zusammensaßen und meditierten – er, um weiter an Tiefe, sie, um an Breite des Bewusstseins zu gewinnen (so würd’ ich es jedenfalls formulieren). Berenice beschäftigte sich innerlich mit einem Problem, das – wie viele andere davor – weit außerhalb des irdischen Lebens respektive weit weg von der Erde beheimatet war, und damit meine ich beileibe nicht etwas, das sich auf der Raumstation VIÈVE zutrug.

Ihr Instinkt ließ sie eine umfassende Gefahr erkennen – durch etwas, das möglicherweise die Macht besaß, komplexe Zerstörungen anzurichten, aber sie schob all das beiseite, wollte nicht schon wieder im Fokus dramatischer Ereignisse stehen.

105

Von DDDs Mann, dem seine Frau so oft und ausgiebig Hörner aufgesetzt hatte (besonders seit sie 50 geworden war und sich in ihrem bisherigen Leben extrem zu langweilen begann), wissen wir mittlerweile nicht nur, dass er bei der österreichischen Sozialversicherung angestellt ist, sondern endlich auch seinen Namen – Horst. Die Witwe, bei der er sich bequem einrichtete, als ihm klar wurde, dass er von DDD besser endgültig die Finger ließ, hatte bekanntlich als Prostituierte gearbeitet, und auf diese Art war Horst auch anfangs mit ihr in Kontakt getreten, bis da mehr war und er in Elses Privatleben wechseln durfte. Er konnte es sich durchaus leisten, ihr einziger Freier zu sein (und ihr damit de facto den Ausstieg aus ihrer bisherigen Profession zu ermöglichen), denn sein Institut, dessen oberste Funktionäre von seiner Frau heillos kompromittiert worden waren, zahlte ihm viel für sein Schweigen.

Else war – wie die meisten Huren – außerhalb des Jobs eher spießig und ziemlich häuslich, was bedeutete, dass sie ein Schmuckkästchen von Wohnung unterhielt, konservativ kochte, nicht gerne ausging und noch weniger das Bedürfnis hatte zu verreisen: alles Umstände, die Horsts eigenem Lebensstil äußerst entgegenkamen. Zu seinem Leidwesen blieben aber auch die sündigen Dessous von dem Tag, an dem er bei ihr einzog, im Schrank, und mit ihnen bestimmte Redens- und Verhaltensweisen. Ganz musste ihr Dauerfreund allerdings nicht auf das Nuttige an ihr verzichten, denn was Else nicht ablegen konnte, war ihre sexuelle Geläufigkeit. Ich vermeide hier bewusst den Begriff Routine, denn der träfe es nicht: Sie war nur einfach daran gewöhnt, vor allen Dingen die Befriedigung ihres Partners im Auge zu haben, zuweilen gänzlich ohne Rücksicht auf ihre eigene momentane Befindlichkeit, und dabei jene quasi technische Raffinesse anzuwenden, die ihr eine lange Reihe von Kerlen mit höchst unterschiedlichen Körpern, Charakteren und Neigungen beschert hatten.

ELSE:
Da wird fast zuviel Geheimnis gemacht um meine Existenz, denn was ist denn von der früheren Arbeit wirklich geblieben? Einfach das Anekdotische – wie beim Soldaten, der aus dem Krieg zurückkehrt ins zivile Dasein und nicht mehr von der mörderischen Seite seines Handwerks spricht, sondern von dem, was inmitten all dieses Grauens menschlich, vielleicht allzu-menschlich gewesen ist!

Interessanter Aspekt, meine Liebe – als Drehbuchautorin, die ständig hinter ausgefallenen Situationen und Motiven her ist, weiß ich derlei zu schätzen. Aber mehr noch, ich bin fasziniert von Ihrer Herangehensweise – als Frau, die für gewisse, den Ihren ziemlich ähnliche Dienste nicht nur nicht bezahlt wurde, sondern dabei, anders als Sie, womöglich sogar etwas vom eigenen Inneren dazulegen musste.

ELSE:
Ihre Gefühle müssen Sie in dem Job immer draußen lassen, genauso wie den Zungenkuss – diesen zuzulassen (was gegen meinen Willen niemals geschehen wäre, da täuscht sich mein Freund) hat ja Horst erst endgültig signalisiert, dass er für mich mehr war als ein normaler Kunde.

[Grafik 105]

Ich begriff, dass hinter diesen Worten einiges an literarischer Bildung steckte, angeeignet in den Steh- respektive Sitzzeiten, die Elses bisheriger Beruf mit sich brachte. Sie musste eine eindrucksvolle Leseliste aufweisen. Kaum hatte ich das gedacht, deklarierte sie sich als versierte Kennerin des berühmten Heimito von Doderer.

ELSE:
Viel ist hingesunken uns zur Trauer
und das Schöne zeigt die kleinste Dauer.

Aber damit hatte es keinesfalls sein Bewenden. Was Else nämlich herauszuarbeiten suchte, war der Bogen, der sich von jenem Motto der „Strudlhofstiege” bis zum Ende des Romans spannt, wo der pensionierte Amtsrat Zihal zusammenfasst: dass glücklich derjenige sei, dessen Bemessung seiner eigenen Ansprüche hinter einem diesfalls herabgelangten höheren Entscheid so weit zurückbleibt, dass dann naturgemäß ein erheblicher Übergenuss eintritt. Und sie wollte wissen, dass solcherart aus Trauer Trost entstand oder besser (um nochmals Zihals Sprache zu bemühen) aus der Evidenz von Trauer wurde eine von Trost.

Beflügelt durch die Gedankengänge ihrer Lieblingsautoren, hatte Else irgendwann begonnen, auch selbst etwas niederzuschreiben und sich damit gegen ihre frühere Situation gestellt, in der man von ihr etwas sehen oder spüren wollte, aber nicht unbedingt etwas hören (von jenem gewissen Stöhnen vielleicht einmal abgesehen).

Auch Horst kannte seine Freundin so nicht, denn allzu tiefschürfend waren ihrer beider Gespräche bis jetzt noch nicht gewesen – natürlich seinetwegen, denn trotz der mittlerweile eingetretenen Veränderungen war sein Zugang zu Else ja doch ein anderer, um es einmal milde auszudrücken. Auch bei dem, was ihm von DDD vorenthalten wurde, hatte es sich schließlich nicht gerade um ihren weiblichen Intellekt gehandelt, sondern um die Tatsache, dass seine Frau sich nicht zu ihm hingezogen fühlte und er sie deshalb – nach anfänglichen halbherzigen Zugeständnissen ihrerseits – ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr bumsen durfte.

Aber da war noch mehr: Die Ehe Horsts und DDDs gestaltete sich auch insofern zu einem äußerst komplexen Fiasko, als ihm a priori das Quäntchen Courtoisie fehlte, wonach es sie angeblich verlangte, aber wenn er dieses einigermaßen erfolgreich zu simulieren versuchte, war’s ihr natürlich auch wieder nicht Recht – den Versuch, seine abwegigeren (und damit echteren) Träume zu erschließen, unternahm hingegen sie nicht, denn solches konnte sie sich gerade bei ihm nicht vorstellen. Das wiederum empfand er, ohne es jemals anzusprechen (und daher ihr gegenüber dümmer dastehend als er war), als Zurücksetzung, denn er wusste wohl, dass DDD selbst in extremeren Situationen – so etwa in der Sandwichposition mit Johannes und Romuald – keineswegs irgendwelche Hemmungen hatte. So zeigten sie einander Masken der Biederkeit und ödeten einander an.

ELSE:
Das jedenfalls hatte der Gute bei mir mit all meiner persönlichen Bürgerlichkeit nicht zu befürchten, denn – es wurde bereits treffend gesagt – mein Körper funktionierte weiterhin in jenen Bahnen, die mein Job mit sich gebracht hatte.

Um ihm verständlich zu machen, was sie damit meinte (und überhaupt einmal eine Facette ihrer Persönlichkeit hervorzukehren, die er noch nicht kannte), las sie Horst ein Elaborat vor, das sie selbst eigentlich als ernstzunehmenden fiktionalen Entwurf sah, wenngleich dieser auch als Tatsachenbericht aus ihrer Demi-Monde gelten konnte. Den Versuch ist es wert! dachte sie, wohl wissend, dass er’s nicht mit dem Lesen hatte und daher zu befürchten stand: auch nicht mit dem Zuhören (es sei denn, der Fernseher erzählte ihm etwas).

ELSE:
Schon früh, als ich den Beruf noch gar nicht ausübte, fragte ich mich, wie das wohl möglich sei – seinen Leib zu exponieren, aber gleichzeitig seine Seele zu schützen. Wie machten das die Prostituierten, ihre Sexualität zwischen der gewerblichen Performance und dem individuellen Ding zu differenzieren? Aufgewachsen in diesem Milieu, sah ich nicht wenige Mädchen am Versuch scheitern, ihre Nacht- mit ihrer Alltagsgestalt zu harmonisieren, und ich begriff, dass dies genau dann geschah, wenn die Betreffenden es nicht schafften, ihr innerstes Selbst entsprechend abzuschotten, will sagen, wenn sie gegen Geld mehr von sich hergaben, als man sich füglich kaufen kann. Dabei müsste eine Frau, die sich in dieser bestimmten Weise zu Markte trägt, nicht von vornherein verletzbar werden – allein, unsere Gesellschaft ist, wie sie ist: mit all den Vorurteilen des Mainstream, die letztlich dazu führen, dass niemand eine Hure beschützen würde, wenn sie gedemütigt wird. Man gibt ihr lediglich zu verstehen, dies sei genau die Behandlung, die sie verdiene: ein Phänomen, das die Konfusion unserer Kultur hinsichtlich ihres Eros schlechthin beleuchtet. Wir Sex-Arbeiter selbst – jedenfalls diejenigen, die in diesem Milieu überleben wollen – definieren ja unsere Grenzen genau und bewegen uns streng zwischen diesen, aber die Gesellschaft kennt ihre Grenzen uns gegenüber nicht.

Horst sperrte die Ohren auf. Der Text hatte auf ihn sozusagen nicht nur primäre, sondern auch sekundäre Auswirkungen.

ELSE:
Sex, das wird kaum jemand bestreiten, gibt es im Überfluss, und selbst wenn eine von uns ihren Kunden noch so viel davon gibt, wird genug vorhanden bleiben. Was wir uns selbst vorbehalten und mit niemandem aus der Klientenschar teilen wollen, ist hingegen unsere Intimität.

Nun war für sie, seit DDDs Mann bei ihr eingezogen war und ihre marktmäßigen Dienste beendet hatte, beides wieder deckungsgleich geworden. Die große Bestie, wie Else das insgeheim genannt hatte, wenn sie im Dunkeln neben einem schlecht riechenden Typen besudelt dalag, war gezähmt. Und das konnte doch wohl nichts anderes heißen, als dass Horst (der immer nur gefordert und folgerichtig nie das Gewünschte erhalten hatte) ein erstes und einziges Mal zum edlen Geber wurde – was prompt dazu führte, dass ihm umgekehrt etwas zufiel, und wenn es nur das prickelnde Gefühl war, der krönende Abschluss von Elses Karriere zu sein.

Angesichts der Überlegungen, die sie ihm eröffnet hatte, ging er daran, sich aus ihrem Hurenleben berichten zu lassen, und das war mit Abstand besser, als was er sich mittels gewisser Filme bis dahin ’reingezogen hatte. Wenn sie ihm nämlich – nach einigem Zögern, wohlgemerkt – tatsächlich die verschiedensten Episoden erzählte, noch dazu (je mehr es sie selbst erregte) mit zunehmender Detailverliebtheit, dann konnte es ihm als weiteres Zeichen dafür gelten, das ihm allein die bewusste Intimität offenstand.

ELSE:
Angesichts seiner Geilheit, mein Leben bis ins Letzte auszuschlachten und damit seine Libido am Kochen zu halten, merkte er erst spät, dass ich das nicht als Einbahnstraße verstand. Ich zwang ihn demgemäß, seine eigenen geheimsten Erfahrungen preiszugeben, und da landeten wir umgehend bei den Umtrieben seiner Frau (die er ja fast alle gewissenhaft ausgekundschaftet hatte), was ihm anfangs gar nicht schmeckte, denn da war er nie die Hauptfigur gewesen, sondern immer nur ein jämmerlicher Statist. Ich verschonte ihn aber nicht davor, seit ich festgestellt hatte, dass mich diese Geschichten – wenn ich mich nur recht in die ungewohnte Rolle DDDs hineinversetzte – ungemein erotisierten.

Indem auf diese Weise ihre eigenen Bedürfnisse, die lange nicht bewusst (und wenn bewusst, dann nicht erfüllbar) gewesen waren, eine bisher nicht gekannte Bedeutung gewannen, transzendierte die eben erst definierte Beziehung zu Horst schon wieder – das heißt, von seiner erst vor kurzem eroberten Stellung als dominantes Subjekt musste er relativ bald Abstriche machen und diese Rolle mit der eines Objekts von Elses Begehren teilen.

Nicht dass er dadurch neuerlich zu jenem – nennen wir die Dinge doch beim Namen – Hanswurst wurde, aber irgendwie beschlich ihn schon manchmal dieser Gedanke. Vielleicht hätte er doch, wie seine neue Geliebte, ab und an seine Zuflucht bei berühmten Autoren nehmen und den einen oder anderen Rat beherzigen sollen, der dort mehr oder weniger offen angeboten wird…

ELSE:
… und doch glaube ich nicht, dass dies bei ihm etwas gefruchtet hätte, denn ihm fehlte jegliche Antenne für spezifisch weibliche Dialektik: dass zum Beispiel die Frage nach seinen Wünschen, wann immer sie ihm überhaupt je von einer Frau gestellt wurde, nur dazu diente, ihm ihre Wünsche zu suggerieren.

Allerdings muss man betonen, dass DDD dieses Spiel mit Sicherheit nie mit ihm gespielt hatte, denn es gab offenbar vom Anfang an nichts, was sie von ihm erwartete…

ELSE:
… sodass man sich fragen muss, wozu sie ihn eigentlich geheiratet hat…

… aber das ist eines jener Geheimnisse der weiblichen Psyche, die nur ein Genie entschlüsseln könnte!

ELSE:
Irgendetwas wollte sie bestimmt damit beweisen, aber das missglückte wohl…

… und gelang erst mit ihrem Neuen, Franz-Josef Kloyber, denn vor dem entwickelte sie selbst in ihrem tiefsten Inneren, wo man notgedrungen ganz ehrlich mit sich ist, einen gewissen Respekt, wiewohl sie nach außen hin ganz bestimmt demütiger gegen ihn tat, als sie es tatsächlich war. Und eines stimmt zweifellos: Anders als ihr Mann war der Oberleutnant trotz seiner Pummeligkeit ein ganzer Kerl, der – wenn es nötig war – im richtigen Moment und in der richtigen Weise zupacken konnte, wodurch er DDD den nicht zu verachtenden Kick verschaffte, so etwa, als er kaltblütig Percy Blakeney und dessen fünf Jakuten umnietete und selbigen Tags mit denselben Händen, mit denen er die Waffen geführt hatte, DDD berührte.

ELSE:
Aber es werden wohl nicht nur die Hände gewesen sein, sondern auch eine andere Extremität, die durch die brutale Tat einen ungeheuren Vortrieb erhalten haben musste. Aggression ist schließlich – und ich weiß, wovon ich spreche – der verlässlichste Anstoß männlicher Sinnlichkeit!

Sei dem, wie dem sei – DDD beherrschte ihren Franz-Josef, indem sie sich scheinbar von ihm beherrschen ließ: einmal ihm in der genannten Form ihre subtilen und längerfristig orientierten Wünsche einflüsterte, ein andermal sich seinen kurzfristig-vordergründigen Forderungen bedingungslos auslieferte.

106

Die Imperien Grand America und Groß-China beschlossen, einen Sicherheitskordon zwischen ihre beiden Hoheitsgebiete zu legen. Damit wurde, wie erinnerlich, die Idee Seiji Sakamotos, des Oyabun aller Oyabuns, realisiert, und ich darf wohl aufgrund meiner Recherchen behaupten, dies sei nicht zufällig geschehen, sondern von dem japanischen Gentleman, der sich als Graue Eminenz des Reichs der Mitte gefiel, aber auch seine diskreten Kontakte zum Westen nicht vernachlässigte, in langer und mühevoller Kleinarbeit eingefädelt worden.

Hier spricht Leo Di Marconi. Ich habe heute einen exzellenten Kenner der geopolitischen Verhältnisse ins Studio gebeten. Sir Basil Cheltenham, dieser Kordon wird, jedenfalls so weit er auf Festland verläuft, aus völlig neuen, relativ winzigen Staaten bestehen, die durch Abtretung von je ungefähr 50 km breiten Gebietsstreifen beiderseits des „Limes” entstehen sollen – also der Grenze, die ursprünglich von der späteren chinesischen Staatsratsvorsitzenden und Generalsekretärin der KPCh, Dan Mai Zheng, und dem späteren US-Präsidenten auf Lebenszeit, Ray Kravcuk, gezogen wurden, als beide noch subalterne Funktionäre der beiden Großmächte waren. Worin besteht nun das eigentliche Problem dabei?

SIR BASIL:
Man kam – sowohl in Washington, als auch in Beijing – im Rahmen solcher Überlegungen nach kürzester Zeit zum Schluss, dass sich die Vielzahl dieser Objekte nicht bewähren kann: Man müsste schlicht mit zu vielen sprechen, wenn man etwas vereinbaren oder Druck ausüben wollte. Daher neigt man jetzt dazu, eine Zentralautorität zu schaffen, die geografisch auf Zypern errichtet wird. Das Konstrukt als Ganzes könnte sich offiziell Federation of Independent States oder im Chinesischen ??????? nennen.

In den Medien bürgerte sich nach Bekanntwerden dieses Entwurfs dafür ziemlich rasch die saloppe Bezeichnung „CORRIDOR” ein, sodass man beispielsweise in der trotz aller diktatorischen Gleichschaltung noch immer irgendwie renommierten New York Times lesen konnte: „Klar dürfte sein, dass mit den geplanten budgetären Mitteln CORRIDORs insbesondere die Seegrenzen zwischen Amerika und China nicht im ausreichenden Maß überwacht werden können.”

SIR BASIL:
Wie wahr! Ist nämlich die Situation entlang der kontinentalen Grenzen schon heikel genug, reicht ein kurzer Blick auf die Weltkarte, um zu sehen, welch teuflisches Angebinde der Föderation auf den großen Weltmeeren in die Wiege gelegt wurde. Es waren seinerzeit ziemlich willkürlich Linien gezogen worden, die nunmehr mit einer Bandbreite von beiderseits je 25 Seemeilen zu kontrollieren sein werden, und wer je versucht hat (selbst unter Anwendung modernster technischer Instrumente), einen bestimmten Punkt im weiten Ozean zu finden und vor allem immer wieder zu finden respektive eine bestimmte Strecke präzise abzufahren, kann ermessen, was ich meine.

[Grafik 106 – 1]

Er zitierte auswendig einige Passagen aus der Beilage zum Vertragstext der beiden Supermächte. Wie man sehen konnte, war Cheltenham in die Materie bestens eingearbeitet. Die nächste Frage ergab sich daher wie von selbst: Sir Basil – ist es richtig, dass Sie Chef dieser Föderation werden sollen?

SIR BASIL:
Kein Kommentar! (und nach einigem Zögern, da ihm offenbar die Schroffheit seiner Antwort angesichts seiner geheimen Abmachungen mit Marconi bewusst wird – es scheint, als sei er fast gewohnheitsmäßig wieder in sein früher übliches verächtliches Verhaltensmuster gegenüber dem Journalisten zurückgefallen) Kein Kommentar – für den Moment!

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

Ich ließ daher nach diesem Interview einige Zeit verstreichen und fuhr schließlich nach Zypern, um mich dort ein wenig umzusehen – allein, ohne Aufsehen, nur eine Handkamera dabei. Und mein legendärer Riecher führte mich dabei sofort an die richtigen Plätze.

„Schwimmen, Sir Basil?”, hörte man eine weibliche Stimme fragen und sofort sarkastisch ergänzen: „… und ausnahmsweise einmal nicht im Meer der eigenen Eitelkeit?”

Das war Charlene (unabänderlich die alte Chuck für mich) – sie hatte Cheltenham entdeckt, der vor der Nordküste der Insel im Meer badete wie ein ganz gewöhnlicher Tourist, mit dem Unterschied, dass die umliegenden Ländereien weithin ihm gehörten, denn Sir Percy Blakeney hatte ja, bevor er von Franz-Josef Kloyber liquidiert worden war (und damit höchst unfreiwillig), nicht nur seinen englischen Besitz an Laura de Dubois, DDDs Halbschwester, sondern vor allem seine Latifundien auf Zypern an Sir Basil übertragen, worauf dieser, weitblickend wie immer, auf der Insel Fuß fassen konnte, lange bevor Sakamotos Konzeption nur die kleinste Chance einer Verwirklichung hatte. Dass der Oyabun von vornherein an den Baronet dachte, ist übrigens durchaus fraglich – man munkelte zu Recht, dass die Berufung Cheltenhams in diese heikle Position ganz woanders entriert wurde. Immerhin war dafür gesorgt, dass seine Person sich wie von selbst anbot, als es so weit war.

Prompt hatte ich meine Szene. Charlene, ebenfalls nicht zufällig an jenem Ort, versuchte sich ihrem Mann auf diese unverfängliche Weise zu nähern, da sie und ihr Sohn spontan beschlossen hatten, nicht tatenlos zu Hause herumzusitzen, sondern Sir Basil bei seinen Unternehmungen nicht allein zu lassen, mochte es ihm nun gefallen oder nicht. Dabei verfehlte besonders Nicholas seine Wirkung auf den Baronet nicht – er war ja tatsächlich ein hübscher Junge: besaß die unvergleichliche Anmut eines Eurasiers, der für sich das Beste aus beiden Welten in Anspruch genommen zu haben schien.

Sir Basil freute sich ehrlich. Allein der Einstiegssatz seiner Frau hatte ihn schon begeistert: „Nun hast du am Ende den British Sense of Humour erlernt, Dear!” stellte er befriedigt fest.

Und dann saßen alle drei am Strand und schwiegen. Die Wassertropfen glänzten auf ihrer Haut und schienen die ganze Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Man musste sich einfach in dieser Situation die Zeit nehmen, die erforderlich war, die inneren Weichen für ihr neues Zusammensein zu stellen – derlei geschieht bekanntlich ohne unser aktives Zutun, und es empfiehlt sich, den Dingen in diesem Fall ihren Lauf zu lassen. Später – das war ihr unausgesprochenes Einvernehmen – würde noch genug Gelegenheit sein, sich konkret zu unterhalten.

Als die kleine Familie das Gefühl hatte, sie sei nun so weit, begannen alle gleichzeitig zu sprechen.

SIR BASIL, CHARLENE UND NICHOLAS:
Alles scheint auf einmal wichtig zu sein! Hört euch zum Beispiel das Konzert der Zikaden an!

Mit einem Mal drängte sich diese permanente mediterrane Begleitmusik, die in der Zwischenzeit keineswegs verstummt gewesen war, wieder in den Vordergrund. Sie kam von den landeinwärts stellenweise ziemlich dicht stehenden Kieferngruppen, die durchsetzt waren mit Wacholder- und Ginsterbüschen. Nur bei gesteigerter Aufmerksamkeit konnte man in einiger Entfernung einzelne Wachen patrouillieren sehen – Cheltenhams Truppe, wie ich sicher war, da sie offenbar mit meiner Identität vertraut war und mich daher nicht behelligt hatte.

NICHOLAS:
Gibt es eigentlich einen geheimen Rhythmus der Zikaden?

Der Baronet, selbst dran gewöhnt, stets die Relevanz seiner Wahrnehmungen zu hinterfragen, war angenehm berührt, dass der Junior das gleichmäßige Auf- und Abschwellen des Geräuschs bemerkt hatte.

SIR BASIL:
Alles mag seine verborgene Bedeutung haben, und wenn wir diese auch nicht gleich oder vielleicht überhaupt nicht immer erkennen, müssen wir offen dafür sein, das bisher noch nicht Geschaute zu akzeptieren und wenn möglich in unser Streben einzubauen.

CHARLENE:
Jetzt aber halblang, Basil! Mach ihm nicht den Kopf schwer! Schließlich wirst du noch jede Menge Zeit haben, um ihn mit deinen hochfliegenden Gedanken zu belasten. Oder siehst du vielleicht auch einen geheimen Sinn darin, dass dieser kleine weiße Hund uns umkreist?

SIR BASIL:
Ach der – das ist bloß der „Sammy” der Köchin! Er macht sich von selbst, ohne dass es ihm jemand zu befehlen braucht, auf und sucht mich, wenn das Essen fertig ist. Ich darf also bitten…

Aber er holte Charlene und Nicholas nicht nur zum Dinner, sondern bestand darauf, die beiden, die in einer kleinen Pension untergekommen waren, sofort ganz bei sich zu Hause unterzubringen. Dazu musste man lediglich einen kurzen Fußmarsch auf sich nehmen, vom Strand durch das kleine Wäldchen hinauf auf den dahinter liegenden Felskegel. Dort stand die alte Festung Kantara, eine Ruine seit langem, nun aber in einem fortgeschrittenen Stadium der Restaurierung: Wichtige Teile waren bereits wieder bewohnbar, oberflächlich einigermaßen im Stil des byzantinischen Originals, im Inneren allerdings mit moderner Infrastruktur ausgestattet.

Instinktiv begriffen die neuen Bewohner, deren Gepäck mittlerweile herbeigeschafft worden war, dass Cheltenham sich hier auf Zypern anschickte, den Mythos des Johanniterordens wieder zu errichten, mit deutlichen Anklängen an Rhodos, wo er ganz zu Beginn seiner militärischen Karriere einige Zeit verbracht hatte…

SIR BASIL:
… und weiß Gott nicht die schlechteste!

[Grafik 106 – 2]

Die Anlage, die er Frau und Sohn präsentierte, sollte offenbar ein Herrschaftssitz werden, der seinesgleichen suchte, wobei angesichts der bestimmt astronomischen Kosten anzunehmen war, dass Geld genau wie in der Vergangenheit keine Rolle für den Baronet spielte: Irgendwie hatte er es mit Hilfe seines Old Boys’ Network geschafft, dass ihm diverse Finanzquellen weiter zur Verfügung standen, so vor allem der sogenannte Fund for Illegitime Procedures, der ursprünglich vom britischen Parlament global bewilligt, aber niemals wieder kontrolliert worden war und sogar die Integration des Landes in die USA überlebt hatte. Darüberhinaus konnte Cheltenham sich aus seiner Zeit als Verbindungsoffizier zur NATO–Task Force on the Review of Unconventional Psychologic and Parapsychologic Scares (TROUPPS) der üppigen Konten dieser Organisation bedienen, die so top secret war, dass niemand danach zu fragen wagte.

SIR BASIL:
Daher musste ich bis jetzt praktisch niemals auf eigene Mittel zurückgreifen, die mir aus den Erträgen von Cheltenham House dank Charlenes umsichtiger Betriebsführung erwuchsen, ganz zu schweigen vom Profit aus den zypriotischen Besitztümern.

Selbst das aber war bestenfalls erst die halbe Wahrheit. Obwohl Sir Basil mich nicht dafür bezahlte, um gegen ihn selbst zu spionieren, konnte ich es wie immer nicht lassen und stellte auf eigene Faust Ermittlungen an. Diese ergaben, dass zu diesem Zeitpunkt Seiji Sakamoto bereits begonnen hatte, Cheltenham zu unterstützen, um auf diese Weise das Zustandekommen von CORRIDOR zu fördern: Ihm war klar, dass der Baronet von einer Sache, in die er sich einmal verbissen hatte, unter keinen Umständen lassen würde, wenn ihm nur die geeigneten Ressourcen zur Seite gestellt wurden. Nur das war das Kalkül des Oyabuns (einschließlich der sich für ihn daraus ergebenden Möglichkeiten) und nicht vielleicht irgendeine Sentimentalität gegenüber Charlene oder gar gegenüber seinem Sohn, von dem er mit Sicherheit wusste, aber ebenso sicher nichts wissen wollte.

Davon war auf Kantara nie die Rede, aber sonst gab Sir Basil dem Kleinen bei jeder erdenklichen Gelegenheit – und so auch bei diesem Dinner – hemmungslos Erfahrungen weiter, ohne Rücksicht darauf, ob Nicholas das eine oder andere bereits verstehen konnte. Er hatte überall auf der Welt Kinder gesehen, die mit grausamen Realitäten konfrontiert wurden, sei es, dass sie von vornherein in diese hineingeboren waren oder dass sie über kurz oder lang durch widrige Umstände in einer solchen landeten. Nur im Wissen darüber, dachte der Baronet, würde sein Deszendent in die Lage versetzt, voll und ganz in seine Fußstapfen zu treten.

Charlene thronte an einer der Stirnseiten der ausladenden Tafel und genoss, zufrieden mit sich und der Welt, die erlesene Speisenfolge. Großteils wohlwollend folgte sie dem Gespräch der beiden, warf kaum je etwas ein, eigentlich nur, falls sie direkt angesprochen wurde. Bloß wenn ihr ein Thema überhaupt nicht zusagte, gab sie dies ihrem Mann vorwiegend mittels Blicken und allenfalls mit einem kaum merklichen Stirnrunzeln zu verstehen. Grundsätzlich wusste sie es zu schätzen, dass Basil nicht nur forderte, sondern sich auch fordern ließ – was nach Charlenes Einschätzung höchst wichtig für Nicholas’ Entwicklung war und wozu es nicht nur der Mutter, sondern auch des Vaters bedurfte.

Wo überall auf der Welt Cheltenham schon gewesen sei, wollte Nicholas wissen. Der Baronet zählte seine Einsatzorte auf, jedenfalls die offiziellen.

SIR BASIL:
Und was interessiert dich jetzt besonders?

„Japan!”, kam unbefangen die Antwort, während Charlene unter diesem Wort zusammenzuckte. Ja, meine Beste, dachte ich hämisch, das ist der Fluch der bösen Tat! Unmittelbar darauf allerdings entwaffnete mich die Souveränität, die Sir Basil auch bei einer solchen Frage an den Tag legte. Eigentlich hätte ich es mich ja nicht zu wundern brauchen, denn ich hatte ausreichend Gelegenheit bekommen, den Baronet in Aktion zu beobachten – mehr noch, seine konzise Art am eigenen Leib zu verspüren.

SIR BASIL:
Japan ist ein aufregendes und außergewöhnlich bemerkenswertes Land, mein Sohn, und ich werde es nie vergessen!

107

„Wozu glaubst du denn, heiratet ein Mann?”, feixte mein frisch Angetrauter – Romuald, genannt der Triebhafte, aber dieses Epitheton ornans war mir von seinem Freundeskreis zunächst vorenthalten worden –, als er sich in der Hochzeitsnacht bereits das vierte Mal über mich hermachte (wozu er mit seiner legendären, vom Vater ererbten physischen Ausstattung bestens in der Lage war). Um aber auf deine stumme Frage zu antworten: Nein, ich kann nicht behaupten, dass es mir von Anfang an unangenehm gewesen wäre, denn ich ging – wer wüsste das besser als du! – weder jungfräulich-zickig noch altmodisch-prüde in diese Verbindung. Allerdings zeigte ich langsam Ermüdungserscheinungen und war daher ganz froh, als Romi von einem Moment zum anderen satt-zufrieden seufzte: „Ich kann nicht mehr!”

ERZÄHLER:
Aber das spontane „Gott sei Dank!” wirst du wohl aus matrimonial-taktischen Gründen geflissentlich verschluckt haben, bevor du deinen durchgewalkten Körper entspanntest – hast dich aber womöglich zu einem (erster Skepsis gegenüber dem Gemahl entspringenden) „Wie schade!” hinreißen lassen und dabei riskiert, dass sich diese Knochen- und Muskelmaschine nochmals stöhnend in Bewegung setzte zu einem fünften Durchgang en suite?

Diese letzte Szene des ersten Aktes gab es definitiv nicht, wohl aber hob sich gegen Morgen (ich war in einen todesähnlichen Schlaf verfallen) der Vorhang zum zweiten Aufzug des Dramas, und zwar indem zunächst mein Négligé brutal zerrissen wurde.

ERZÄHLER:
Klingt ja so, als seien unser beider öffentliche Auftritte im Hamburger „Flaubert Club” poetischer verlaufen als jene Prima Nox in häuslicher Zurückgezogenheit…

… zumal jene ohne nachhaltige Folgen blieben, während diese (da bin ich ziemlich sicher, obwohl es auch ein paar Tage später passiert sein konnte, da Romualds Show ungebremst weiterlief) gleich zu Nachwuchs führte, was mir im Handumdrehen zu meinen bestehenden beruflichen Pflichten nicht nur die jungen ehelichen, sondern bald darauf auch die mütterlichen bescherte. So verwandelte ich mich aus der, die du kanntest, in kürzester Zeit in eine multifunktionale Sklavin – mit entsprechenden Auswirkungen auf mein Aussehen und meine Psyche. Und wenn etwas unter dieser Konstellation zu leiden hatte, dann war es stets meine Arbeit oder das Kind (respektive nur ein Jahr später beide Kinder), niemals Romi, der ungerührt sein Recht forderte.

ERZÄHLER:
(abrupt) Du hättest mich heiraten sollen!

Bei aller Wertschätzung, mein Guter, das wäre keine Lösung meiner Probleme gewesen, denn eines kann ich als Resümee meiner Lebenserfahrungen behaupten: Am Ende wär’s mit dir das Gleiche geworden – wann auch, zugegebenermaßen, mit weniger Brutalität –, denn so entwickeln sich alle Beziehungen, wenn sie nur lange genug dauern, auch falls es nicht gleich derart offensichtlich ist wie mit Romuald!

ERZÄHLER:
Wie so oft bei uns – die kulturpessimistische Stunde, diesmal von dir gestaltet?

Nichts als die Wahrheit in einer Männerwelt!

ERZÄHLER:
Eine von vielen Wahrheiten unserer an Realitätsvarianten so reichen Welt, in der man sich als Opfer fühlt und unversehens als Täter gebrandmarkt wird – oder sogar Täter sein möchte und mittendrin erkennt, dass man Opfer ist.

Aber das ist doch bloß intellektuelles Wortgeklingel – eine kritische Bewusstheit, die (wenn sie nicht ohnehin pure Koketterie bedeutet) nur dann entsteht, wenn eine menschliche Persönlichkeit auf einer Metaebene ihr biologisch-animalisches Handeln reflektiert (und das heißt ja noch lange nicht, dass dieses damit auch kontrolliert wird). Romi jedenfalls war von derlei auch nur ansatzweiser Selbstkritik nicht angekränkelt…

ERZÄHLER:
… wenngleich ihm an anderer Stelle und von nicht weniger kompetenter Seite, als wir es sind, attestiert wurde, dass auch er denken konnte…

Das war nicht gemeint: Niemand bezweifelt, dass er sein Gehirn gebrauchte – aber mit welcher Absicht?

ERZÄHLER:
Immerhin ist er mein ältester Freund!

Ja – ?

ERZÄHLER:
Und er besitzt wirklich ein einzigartiges Zeugungsinstrument – davon konnte sich jeder von uns bereits in der Schule überzeugen, als wir es im Umkleideraum anfassen durften.

Aha –

ERZÄHLER:
Auch sonst war seine Setcard beeindruckend, obwohl sein wichtigster Teil darauf nicht vermerkt war. So sah unser Romi zum Beispiel im Alter von 18 Jahren aus: Größe 187, Konfektion 50, Brust 104, Taille 82, Hüften 94, Kragen 41, Schuhe 45, Haar braun, Augen braun.

Verstehe –

ERZÄHLER:
Und wir waren ein Herz und eine Seele…

… bis auf eine Prügelei auf Leben und Tod um diese DDD – man fragt sich unwillkürlich, wie manche Frauen es schaffen, diese obersten Weihen absoluter Begehrtheit zu erreichen, zumal euer Streitobjekt damals, als Teenager, noch weit entfernt von der Raffinesse war, unter ihrem Mantel nackt zu sein!

ERZÄHLER:
Dieser Konflikt renkte sich ohnehin bald wieder ein, und einige Zeit später (DDD fühlte sich durch die mittlerweile eingegangene Ehe sicher) teilten wir sie uns brüderlich – mit ihrem Einverständnis!

Oder besser gesagt, sie nahm von euch Besitz, ohne lang um Erlaubnis zu fragen. Und als sie euch völlig ausgepumpt da liegen sah, als eure Körper von Schweiß und sogar von leiser Scham überzogen waren, konfrontierte sie euch mit der Eröffnung, dass ihr drei Halbgeschwister seid.

ERZÄHLER:
Das war im Prinzip okay, der falsche Zeitpunkt vielleicht…

Genau der richtige, finde ich!

ERZÄHLER:
Auch wieder wahr, unter dem Aspekt, dass mich die Situation derart aufgegeilt hatte, dass sich mein Schwanz vor dem meines Kumpels wenigstens ein einziges Mal nicht zu verstecken brauchte. So verabschiedeten sich meine neuentdeckten Blutsverwandten von mir, er wie sie, in dem Bewusstsein, dass das Erbe des alten Romuald auch mir ein wenig zugute gekommen war, wenn auch nicht mit jener außerordentlichen Beständigkeit wie bei Romi junior.

Etwas, worauf man unbedingt stolz sein kann!

ERZÄHLER:
Aber du versuchst jetzt hoffentlich nicht so zu tun, als wüsstest du nicht, wovon wir sprechen?

Und unter allen Frauen, die bei Romuald die Klinke putzten…

ERZÄHLER:
Man beachte die subtile Metapher!

… war dann ich die Gebenedeite, die er zur Frau nahm. Als solche hintergangen, war mir zumindest als Co-Erzählerin bekannt, was da alles lief. Den Producerjob im Verlag schmiss er hin, kaufte sich ein kleines Zaubertheater, brachte de facto die arme Vera zu Tode, indem er sie hilflos einer erbarmungslosen Meute überließ…

ERZÄHLER:
… aber tatsächlich nicht mit Absicht, sondern er vergaß sie einfach, war schlicht damit beschäftigt, seine eigene Haut zu retten, als sein Etablissement von einem der zahlreichen amerikanischen Geheimdienste abgefackelt wurde und Sir Basil ihn mit sich nach England nahm…

… wo er, nachdem der Baronet eine Weile seinem wilden Treiben (das er nach kurzer Pause der Reue wieder aufnahm) zugesehen hatte, seinen Meister fand. Er wurde in das Labyrinth unter Cheltenham House verbannt – war dort quasi gezwungen, aus der Not eine Tugend zu machen und im Krieg zwischen den beiden Universen sogar eine Heldentat zu begehen. Aber das ist lange her: Als er nach all der Zeit – ganz gegen seine Art plötzlich trostbedürftig – wieder bei mir auf der Matte stand, habe ich ihn aufgenommen und jetzt hängt er in der Wohnung, in der ich und unsere Kinder Romano und Romina mittlerweile daran gewöhnt waren, ohne ihn zu leben, den ganzen Tag herum: tut eigentlich nichts, zumindest nichts Fassbares, stört aber auch niemanden von uns direkt – wir beschäftigen uns eigentlich nicht konkret mit ihm, außer dass wir ihn an den Fazilitäten des Haushalts mitnaschen lassen.

ERZÄHLER:
Auch an den Fazilitäten der Hausfrau?

Wie umwerfend charmant hier mein Körper umschrieben wird! Aber einerlei: Die Kinder wollten mir a priori das Versprechen abnehmen, ihn nicht an mich ranzulassen, aber ich verbat mir das als eklatante Einmischung in mein ureigenstes Leben, zumal mir das Argument unseres Nachwuchses ohnehin nur oberflächlich rational erschien – in Wahrheit wollten sie meine Arbeitsleistung womöglich nicht mit jemandem teilen müssen.

Dessenungeachtet schob ich die unvermeidlich scheinende Entscheidung auch vor mir selbst her…

ERZÄHLER:
Ohne Gedanken an mich?

… immer auch im Gedanken an dich, dabei aber allein mit dem Aspekt, ob es mir, wie früher auch, gelingen könnte, zweigleisig zu fahren! Doch bis heute stellt sich die Frage gar nicht, denn es ist, als ob Romis legendäres Instrument den Winterschlaf angetreten hat.

ERZÄHLER:
Kann sein, dass ihm die extreme Reizüberflutung seines bisherigen Erdenwandels endgültig zu schaffen macht – wenn ich da beispielsweise an jene furchtbar schwarze Naturschönheit denke, die er in London beglückte, während er gleichzeitig die aristokratisch-mar¬morne Eleganz der Gräfin von B. für seine Bedürfnisse einebnete. Daraus allein schon (aber auch aus zahllosen anderen Episoden) wird klar, dass es nicht viel geben wird, was sein bestes Stück heute noch aus der Reserve locken könnte.

108

Verschlüsselter Funkspruch
FIDSCHI an BIG NUGGET
Zeit: t + 4, neunzehnhundert-0
Mittel-Ural
Ich bin unterwegs. Die Strecke von vielleicht 10.000 km (je nachdem, welche genaue Route ich nehmen kann) schreckt mich nicht, denn ich habe schon ganz andere, mehr an die Substanz gehende Aufträge ausgeführt, und – so hoffe ich jedenfalls – bei diesem hier ist wenigstens niemand umzubringen, es sei denn in Notwehr, wenn jemand sich mir ernstlich in den Weg stellt. Noch kann ich schwer schätzen, wie lang meine Reise dauern wird, denn eine durchschnittliche Tagesleistung ist nicht vorauszuberechnen: Gut möglich, dass ich es in sechs Wochen schaffe, aber genauso könnte ich zwei oder drei Monate benötigen. Ich hoffe, selbst das würde reichen, um für PRIME die gewünschten Informationen zu beschaffen.

FRANZ-JOSEF KLOYBER:
In meiner knappen Antwort beruhigte ich ihn. PRIME – unser Code für Cheltenham – konnte froh sein, wenn sein Emissär die Aktion unbeschadet überlebte. In den ersten vier Tagen war jedenfalls alles glatt gegangen, und Fidschi hatte, nachdem er am Eismeer gestartet war, im westlichen Uralgebirge etwas mehr als 1000 km zurückgelegt. Meine Vertrauenspersonen Natalia Petrowna und Verushka Dimitrowa hatten ihn mit einem geeigneten Fahrzeug sowie mit Berichten über den Straßenzustand und Hinweisen auf Orte, wo er problemlos übernachten konnte, versehen – all das mit Unterstützung durch ihre beiden Gönner Semion Timoschew, den Verwaltungsdirektor der rundum kapitalistisch agierenden Kolchose „Roter Osten”, sowie seinen deutschen Geschäftspartner und Freund Kai-Hasso von Thybalt, genannt „Der Pascha”, den Chef des Moskauer Hotels K. Nach einer längeren Pause ergriffen die beiden Herren die Gelegenheit, sich von den beiden Damen als Gegenleistung für ihre Hilfe wieder einmal nach allen Regeln der Kunst verwöhnen zu lassen, und dabei – aber das führt jetzt fast zu weit – ruhte ihr Kennerblick erstmals auf der langsam aufblühenden Anmut von Natalias Tochter, deren Vater spurlos zu beseitigen sie seinerzeit bereitwillig übernommen hatten.

Verschlüsselter Funkspruch
FIDSCHI an BIG NUGGET
Zeit: t + 9, zwanzighundert-15
Orenburg
Wie vereinbart, trete ich hier als Beamter des US Interior Department auf, und man nimmt mir das auch ab, weil jemand, der meine sonstigen Lebensumstände nicht kennt, mich im grauen Anzug mit dezent gemusterter Krawatte als geradezu natürlich empfinden muss. Die Gefahr, die ich von Anfang an ständig im Hinterkopf hatte – dass sich nämlich wirklich ein Offizieller aus der Zentrale des Amerikanischen Imperiums in diese gottverlassenen Gegenden verirrt und mich gleichsam durch seine Anwesenheit enttarnt – sehe ich mittlerweile als äußerst gering an. Jetzt zur Stimmung entlang des russischen Limes-Abschnitts: Grundsätzlich nicht zu unterbieten schlecht, geradezu hoffnungslos. Die Städte verkommen ebenso wie das Kulturland ringsum, und würden die lokalen Behörden die Bevölkerung nicht gewaltsam zum Bleiben zwingen, wären diese Außenposten bereits völlig menschenleer.

[Grafik 108]

FRANZ-JOSEF KLOYBER:
Weitere 1000 km waren geschafft, und nichts als Tristesse pur oder eigentlich mehr als das, denn selbst die Schwermut gedeiht nur unter einigermaßen zivilisierten (fast möchte ich sagen behaglichen) Umständen. Hier jedoch herrschte tiefe Trostlosigkeit. Fidschi bewegte sich durch eine Vorhölle, in der es keine Erlösung gab, weder durch die Rückkehr ans Licht, noch durch das endgültige Versinken in Dunkelheit. Sir Basil würde – wenn das zutraf, was er vorhatte, und daran ließen mich meine Informationen nicht zweifeln – ein desaströses Erbe antreten, aber andererseits war er keinesfalls der Typ, um zu jammern, und gerade durch diese Erkundungsmission wollte er möglichst präzise herausfinden, woran er war. Abgesehen davon, dass er es, wie schon so vieles andere in seinem Leben, sportlich nahm, schien er bereits intensiv damit beschäftigt, seine Optionen zu prüfen und wenn möglich zu verbessern. Eines übrigens machte mir schwer zu schaffen: Ob wohl drüben, auf der chinesischen Seite des Limes, ohne dass ich auch nur die geringste Ahnung davon hatte, quasi Fidschis Alter Ego zugange war, um Cheltenham auch von dort die nötigen Informationen zu beschaffen (die hoffentlich nicht noch katastrophaler waren)?

Verschlüsselter Funkspruch
FIDSCHI an BIG NUGGET
Zeit: t + 11, zwanzighundert-45
Ural-Fluss, bei Atyrau
Weitere 700 km, alles in freier Natur. Der Ural-Fluss, dem ich seit Orenburg folge, strömt malerisch dahin, besonders ab dort, wo er die Tiefebene betritt. Besonders das westliche Ufer scheint über lange Strecken geradezu unberührt, was auch nicht verwundern kann, denn die früher dort lebenden Kasachen sind bei der Aufteilung der Welt nach Osten geflohen, ohne dass Russen in nennenswerter Zahl in diesen Landstrich eingewandert wären. Ich campiere am Rande eines Schilfstreifens und werde ab morgen entlang des Kaspischen Meeres weiterreisen. Ich bin hundemüde, geradezu erschöpft wie schon lange nicht – habe vielleicht 48 Stunden nicht geschlafen. Danke also, dass ihr mir Modafinil in meine Lebensmittelvorräte gemischt habt! Was es aber für einen Sinn hatte, das heimlich zu tun und mich in einer Phase dauerwach zu halten, in der die Umstände der Mission dies gar nicht erfordern, weiß ich nicht. Unabhängig davon fördert dieses Zeug offenbar verdrängte Erinnerungen zutage und verhindert konsequent, dass ich diese neuerlich wegschiebe – ich bin bereits halb wahnsinnig davon.

FRANZ-JOSEF KLOYBER:
Ich hatte noch einiges von dem Stoff aus meiner Zeit bei der DIA, wo es an der Tagesordnung gewesen war, Modafinil zu schlucken – konnte mich allerdings nur an die vigilanten, aber nicht an jene mnemonischen Effekte erinnern! Na, tut mir natürlich aufrichtig Leid, alter Junge! Wollte nur, dass du immer tüchtig auf dem Posten bist!

Verschlüsselter Funkspruch
FIDSCHI an BIG NUGGET
Zeit: t + 14, einundzwanzighundert-30
Baku
Habe heute früh Astrachan hinter mir gelassen und irgendwo westlich davon mitten auf freiem Feld meine Identität gewechselt, mit tatkräftiger Unterstützung durch azerbeidjanische, armenische und kurdische Vermittler, die von deinen Gewährsleuten Huseynagha Pasheyev, Aram Hovakimian und Ebru Saraço?lu geschickt wurden. In seltener Einmütigkeit erklärten sie, ich solle mir für meinen weiteren Weg ein neues Ich als Terrorist zulegen – das würde es mir am ehesten erlauben, mich im Kaukasus und in der Ost-Türkei unbehelligt zu bewegen. Ich bekam einen Geländewagen und dazu einen neutral gehaltenen Tarnanzug, an dem nur einige unauffällige Distinktionen angebracht waren.

FRANZ-JOSEF KLOYBER:
Jetzt war ich völlig sicher – Ebru hatte etwas über für mich! Obwohl sie sich damals in Wien geweigert hatte, mir für ihre und ihrer Gefährten Errettung dadurch zu danken, dass sie sich mir hingab, ließ sie durchblicken, sie sei an einem ruhigeren Ort und zu einem passenderen Zeitpunkt möglicherweise dazu bereit. Dass sie als Türkin (wenn auch nicht fanatische Nationalistin) sogar Kontakte zur kurdischen Untergrundszene geknüpft hatte, um mich zu unterstützen, bestätigte diese Vermutung, und ich hoffte, irgendwann einmal darauf zurückkommen und bei dieser zwar europäisch aussehenden und aufgeklärt denkenden, aber für mich doch exotischen Frau landen zu können.

Verschlüsselter Funkspruch
FIDSCHI an BIG NUGGET
Zeit: t + 16, zweiundzwanzighundert-0
Nähe Berg Ararat
Nachtlager am Berg Ararat. Spüre nichts Heiliges in mir. Die Wirkung des Modafinil ist endgültig abgeklungen, nachdem ich euren famosen Proviant rigoros vernichtet habe, und ich kann endlich normal schlafen, wenn auch mit den notwendigen Vorsichtsmaßnahmen. Und ich darf es einem wieder auf natürliche Weise arbeitenden Unterbewusstsein überlassen, was von meinen verdrängten oder vergessenen Erlebnissen es zur rationalen Betrachtung nach oben befördert. Ich hoffe inständig, der Jugendtraum kehrt heute wieder, in dem ich meine damalige Freundin Sexy Hexy damit quälte, mir genau zu schildern, was sie empfand, wenn sie so da lag – empfangsbereit in des Wortes reinster Bedeutung. In dieser Situation kam mir der Gedanke, dies könnte nicht nur typisch für sie, sondern auch für ihr Geschlecht an sich sein. Ich sah in der Frauenrolle nichts anderes, als die Bequemlichkeit, die mir darin zu bestehen schien, passiv sein zu dürfen, ohne den Partner zurückzuweisen, will sagen: ihm die gesamte Verantwortung dafür zuzuschieben, ob es klappte, denn er musste eine Erektion haben (ihre Vagina war ja da) und er musste eindringen (sie war ja offen) und er musste für ihre Befriedigung sorgen (sie wehrte sich ja gar nicht dagegen).

FRANZ-JOSEF KLOYBER:
Mir langte es, und ich versuchte ihn zu stoppen, angesichts der berechtigten Sorge, PRIME würde am Ende die gesamte Kommunikation einsehen wollen. Dann sollte er womöglich nicht dieses abgeschmackte Zeug vorfinden, sondern die geforderten wertvollen Informationen! Aber Fidschi reagierte nicht und funkte unverdrossen weiter…

… und so kam es, dass ich in jenem Alter, in dem ich dabei war, von einem neurotischen Liebesabenteuer zum nächsten zu stolpern, begann, mich in den Körper einer Frau zu sehnen. Sexy-Hexy, im Prinzip auch solchen Überlegungen nicht abgeneigt, hielt diese dennoch für Zeitverschwendung, zumal sie mir doch ohnehin erlaubt hatte, ihren prachtvollen jungen Körper bis in seine letzten Winkel zu erkunden. So wurde ich der einzige in unserer Schar, dessen Hand sie von selbst ergriff, sie langsam über Berg und Tal gleiten ließ und zuletzt in ihre Scheide einführte, wo meine Finger ihren Muttermund berühren durften. Den leisen Seufzer, den sie dabei – in ihrer tiefsten Sensibilität gereizt – ausstieß, werde ich mein Leben lang nie vergessen, und so bin ich daher ewig auf der Suche danach, außerhalb von mir und in mir selbst. Niemals mehr seither erhielt ich die Gelegenheit, einer meiner Geliebten so nahe zu kommen, und ich bin zudem überzeugt, dass diese spezielle Einfühlsamkeit von damals nicht mehr so leicht wiederholt werden könnte – und wenn, wäre es ja nicht mehr als die banale Belästigung einer Dame.

FRANZ-JOSEF KLOYBER:
Der Bursche war offenbar komplett von der Rolle! Cheltenham würde tatsächlich schäumen – wo war hier die Spur eines Lageberichts! Immerhin musste die Lethargie des russischen Reiseabschnitts mittlerweile der explosiven Situation in den Gebirgszügen westlich Baku gewichen sein, für die Sir Basil wesentlich genauere Daten benötigte als bisher! Aber ich hatte mich getäuscht…

Verschlüsselter Funkspruch
FIDSCHI an BIG NUGGET
Zeit: t + 20, dreiundzwanzighundert-0
Iskenderun
Abschlussbericht puncto Asien (darin enthalten sind auch jene Einschätzungen, die mir mein Antipode, der im Auftrag PRIMEs östlich des Limes unterwegs ist, übergeben hat, als wir einander im Grenzgebiet zwischen der amerikanischen Provinz Türkei und dem chinesischen Verwaltungsbezirk Nordwest-Arabien trafen, nachdem wir bereits während unserer gesamten Reise immer wieder Sicht-, Ruf- oder Zeichenkontakt hatten – übrigens, er gehört drüben, genauso wie ich hier, nicht zum Staatsvolk, sondern ist Ägypter mit Namen Khalid, ja, und wir werden uns wiedersehen, wenn wir, ich auf der tunesischen und er auf der libyschen Seite des Limes, den Weg durch Afrika antreten). Kurz zusammengefasst: Die Bilder diesseits und jenseits der asiatischen Demarkationslinie zwischen den beiden Supermächten unterscheiden sich nur wenig, und es ist daher unsere Empfehlung: Viel Geld hineinpumpen, um die Grenzbevölkerung wohlhabender als ihre Umgebung zu machen und den Bewohnern ein wenig trügerisches Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit geben!

FRANZ-JOSEF KLOYBER:
Teufel auch! Der gab sich gar nicht erst mit banalen Situationsschilderungen ab, sondern kam gleich zum Kern der Sache, so als ob er ganz genau wüsste, was der eigentliche Sinn seiner Mission sei – nämlich die Grundlagen für einen neuen Staat zu festigen. Das Seltsame daran ist aber, dass niemand ihm das gesagt haben konnte, denn selbst ich als sein Auftraggeber war offiziell nicht davon in Kenntnis gesetzt worden, sondern hatte mir nur das Naheliegende zusammengereimt. Ich bewunderte überdies Sir Basil dafür, dass er offenbar ohne weiteres auch drüben im Reich der Mitte jemanden gefunden hatte, der für ihn die nötigen Erkundigungen einzog. Möglicherweise war ihm dabei Ahmed Al-Qafr behilflich gewesen, von dem ich vermutete, dass er trotz seiner nunmehrigen Rolle als politischer Unruhestifter gute Kontakte zu Cheltenham unterhielt, mit welchen Motiven auch immer. In diesem Kontext bewunderte ich auch mich ein wenig – weil ich doch offenbar alles in allem ebenfalls äußerst wichtig geworden war!

109

Der Android AMG, den ich aus dem Paralleluniversum auf die Station VIÈVE zurückgeholt und nach der spektakulären Entkoppelung der beiden Realitäten zusammen mit den meisten meiner anderen Maschinenwesen (Anpan alias AP 2000 ®, Inverno, Primavera, Estate, Autunno, Irmís, Afrodíti und Oudéteron) auf die Erde zurückgebracht hatte, gehörte wieder voll und ganz mir. Anders als man es erwarten sollte, war ich sehr froh darüber, dass Serpentina sich von ihm getrennt hatte. Seit dem Heimgang meines Giordano Bruno in eine für ihn hoffentlich glückliche Erlösung hatte ich mich vor Sehnsucht nach Vangelis verzehrt, und das nicht nur in mütterlicher Sorge, weil er mit Sicherheit mein heikelstes künstliches Kind war, sondern durchaus auch in dem Wunsch, ihn als Geliebten wiederzugewinnen, der er schon einmal für kurze Zeit gewesen war.

Er wusste recht gut um meine vielschichtige Schwäche für ihn und trat deshalb von Anfang an fordernd gegen mich auf, wozu ihn offenbar auch das Selbstbewusstsein, das er auf seiner ausgedehnten Bildungsreise erlangt hatte, befähigte. Er verlangte mehr und mehr danach, dass ihm bei seiner Ausstattung eine ähnliche Sorgfalt zuteil würde wie seiner Quasi-Schwester AP 2000 ®, mit der er nun im Gegensatz zu früher fast täglich konfrontiert war.

ANPAN:
Ich mochte ihn gern, er gefiel mir, denn er war ein attraktiver Bursche, nachgebildet dem Doppelgängerpaar Sir Basil Cheltenham und Iadapqap Jirujap Dlodylysuap, nur dass der erstere mittlerweile gealtert und der letztere tot war, während der AMG seinen Status aus den jüngeren Jahren der beiden beibehielt (abgesehen davon, dass er, wie im Prinzip alle Panagou’schen Schöpfungen, sein Äußeres bis zu einem gewissen Grad umkalibrieren konnte). Ich fand ihn aber, damit das nur klar ist, nicht anziehend im erotischen Sinne, wie das seinerzeit bei meinem geliebten Pifsixyl Xifu gewesen war.

Der AMG wünschte sich konkret, ich möge mit ihm das im Fall Anpans geglückte Experiment mit den künstlichen Spiegelneuronen (nachgebildet den gleichnamigen Partikeln im menschlichen Gehirn), die für die assoziative Sprache, die Kultur schlechthin verantwortlich zeichnen, nachvollziehen. Was ihn so besonders faszinierte, war die Tatsache, dass die AP 2000 ® zu träumen vermag wie die richtigen Menschen – was immer er sich darunter vorstellte; und dass sie tatsächlich (wir profitierten schon gelegentlich davon) die Fähigkeit der Telepathie besitzt, mit deren Hilfe sie mental große Entfernungen überbrücken kann, ohne sich zu bewegen, während ich selbst die Techniken Giordano Brunos einsetzen muss, um den gleichen Effekt zu erzielen. Obwohl ich sie gebaut habe, ist sie mir dort überlegen, wo geistige Begabungen ein großes Speichervolumen benötigen oder wo schwache Impulse – die bei uns Bio-Humanoiden in bestimmten Bandbreiten unabänderlich sind – bewusst verstärkt werden müssen, um die gewünschten paranormalen Ergebnisse zu liefern.

ANPAN:
Anastacia übertraf mit den Erfindungen, die sie rund um uns Androiden gemacht hatte, zweifellos all jene, die ebenfalls mit ortsunabhängigen, menschenähnlichen Rechnern experimentierten, denn sie schaffte als einzige den Durchbruch in eine Kategorie, in der wir uns neben den richtigen Menschen sehen lassen konnten. Durch die Panagou waren wir nicht nur Modelle der biohumanoiden Realität, sondern dieser gleichwertig, wenn auch von anderer Qualität. Und das schloss eben gar nicht aus, dass wir auf manchen Teilgebieten besser performten, genauso wie es umgekehrt als selbstverständlich angesehen wurde.

Ich hatte mich tatsächlich intensiv mit den Spezifika menschlichen und androidischen Seins beschäftigt, denn die Maschinenwesen sollten ja im Rahmen meiner Möglichkeiten, ihnen eine besondere Konfiguration zu verleihen, Aufgaben erfüllen können, die sie zu äußerst nützlichen Werkzeugen machten. Damit nicht genug, war es aber eher die immaterielle Komponente, die mich faszinierte. Nach einigen Fingerübungen à la Serpentina, die anfangs nicht mehr war als eine kleine mechanische Schlange, machte ich mich relativ bald an mein erstes Meisterwerk, die AP 2000 ®, in der ich von vornherein mehr sah als einen bloßen Automaten – nämlich mein genuines Ebenbild! Sie ging nicht nur beim oberflächlichen Be¬trachter als Kopie meiner selbst durch, sondern hatte sich am Ende auch zu einer ausgeprägt eigenständigen Persönlichkeit entwickelt.

ANPAN:
Durch logisches Schließen (was klarerweise meine größte Stärke war), aber mit der Zeit auch durch das Eingehen auf mein Model for Emotional Response (das ich von meinem Verstand her nicht zu steuern vermochte – übrigens eine von Anastacias genialsten Hervorbringungen!) sowie ganz banal auch durch das Anzapfen umfangreicher Datenbanken orientierte ich mich über ein Phänomen, das ich für mich bald die „Restriktion biologischen Daseins” nannte: Leben, wie die richtigen Menschen es verstanden, war offenbar von Anfang an in extremer Abgrenzung entstanden, mit dem erklärten Ziel, so wenig Außenwelt wie möglich in sich einzulassen, die Sensoren für dieses Draußen auf wenige Sinnesorgane zu beschränken und deren jeweiliges erfahrbares Spektrum eher schmal zu lassen. Wenn also ein Biohumanoid die Welt um ihn herum als stark differenziert erlebt, dann handelt es sich dabei mehr um das Ergebnis von internen Verarbeitungsprozessen, die ein entlang der Evolution immer komplexer werdendes Gehirn aufgrund relativ weniger inputierter Daten veranstaltet. Während beispielsweise die Länge elektromagnetischer Wellen objektiv von 10 15 bis 10 7 Meter reicht, begnügt sich das menschliche Auge mit einer vergleichsweise winzigen Bandbreite von 350 Nanometer und sieht die marginale Differenz von 200 Nanometer zwischen Rot und Grün bereits als interessanten Kontrast.

Werde nur nicht zu überheblich, meine Kleine! Immerhin wissen wir Menschen, dass es außerhalb unserer direkten Reizerfahrungen noch weitere Wirklichkeiten gibt, und es ist uns bewusst, dass die Objektivität unserer Wahrnehmungen leiden müsste, würden wir uns lediglich auf unsere Sinne stützen. Wir haben daher Instrumente entwickelt, um unsere Realitätserfassung zu perfektionieren – und in meinem Fall seid es genau ihr Androiden, die, um bei deinem Beispiel zu bleiben, nicht nur das für Menschen sichtbare Licht registrieren können, sondern auch ultraviolette, Röntgen- oder Gammastrahlen auf der einen Seite sowie Infrarotlicht, Mikro- und Rundfunkwellen oder hoch-, mittel- und niederfrequente Wechselströme auf der anderen: Theoretisch sind bei deiner Art unbegrenzte Wahrnehmungsfenster möglich, wenn man nur erst das Problem gelöst hat, ein umfangreiches technisches Equipment in eurem sehr begrenzten Körper unterzubringen.

ANPAN:
Du meinst also, wenn ich bei völliger Dunkelheit Ortungen vornehme und du neben mir hergehst und ebenfalls davon profitierst, hätte ich dennoch nicht dir geholfen, sondern du dir selbst mit mir als Werkzeug? Wie deprimierend!

Ihr MER sah sich offenbar veranlasst, sie mit Selbstmitleids-Impulsen zu überschwemmen. Nicht so melodramatisch, ????? ???! sagte ich und drückte sie zärtlich an mich. Sie erwiderte meine Umarmung leicht wie eine Feder – das Fine Tuning ihrer Bewegungen war so perfekt, dass man, wenn sie es nicht wollte, keineswegs merkte, dass sie gut doppelt so schwer war wie ich und unter ihrer täuschend echten Außenhaut einen stahlharten Kern besaß.

Sie beruhigte sich rasch. Die aufgrund unserer unterschiedlichen Perzeption vorherzusehenden Verständnisschwierigkeiten konnte sie wie ein Mensch bekämpfen, immer vorausgesetzt, der Partner, in diesem Fall ich, hatte ebenfalls die ernste Absicht dazu – ihre Kapazität, sich in ihr Gegenüber hineinzuversetzen, erlaubte ihr heute Konfliktlösungen, die sie an einem früheren Punkt ihrer Entwicklung nicht bewältigt hätte.

ANPAN:
Sicher siehst du jetzt ein, dass Vangelis ebenfalls die Spiegelneuronen braucht, wenngleich er bei seinen Forschungen zur Metaphysik auch ohne diese Unterstützung weit in das knifflige Feld androidischer und menschlicher Theologie vorgedrungen ist, etwa mit der wichtigen Frage, ob völlig isolierte Entitäten beider Gattungen überhaupt je zu irgendeiner Rechenschaft über ihre Handlungen gezogen werden können!

Ich konnte als Wissenschaftlerin meinen Ärger über derlei Problemstellungen nur schlecht verbergen und äußerte mich dementsprechend mit dem mir eigenen Zynismus darüber, wohl wissend, dass diese Art von Kommunikation der AP 2000 ® ein Gräuel war. Schon die Prämisse hinkt nämlich! fauchte ich Anpan an. Wesen in völliger Isolation sind, unabhängig von der Frage, ob nicht jemand sie hätte zeugen respektive erschaffen müssen, dazu verdammt, in völliger Stumpfheit zu existieren – sprachlos und auf rein vegetative Gehirnvorgänge zurückgeworfen, da sie ja weder die Welt der Dinge, noch die der Begriffe je kennenlernen konnten, womit sich die Frage ihrer Verantwortung von selbst erübrigt!

ANPAN:
Vielleicht fehlt dem AMG ja auch nur Serpentina, denn selbst sein einst so geliebtes Astrolabium macht ihm offenbar keinen Spaß mehr. Er findet nur noch Erfüllung durch eine rein geistige, von der Materie völlig losgelöste Auslastung seines Kernspeichers.

Das war mir bereits aufgefallen, denn seit wir aus dem Paralleluniversum zurück waren – noch auf der Raumstation, dann auf der Reise und schließlich hier auf der Erde – hatte er mich noch kein einziges Mal angerührt, obwohl sich genug Gelegenheiten dafür boten. Meine Sehnsucht nach ihm blieb daher nach wie vor unerfüllt, und Anpan stocherte daher, ohne es recht zu ahnen, in offenen Wunden herum.

ANPAN:
Hätte ich ihr sagen sollen, dass der AMG von der Kaltblütigkeit, mit der sie die Herrscherin der Echwejchs hingerichtet hatte, abgestoßen war – zumal von dem altgriechisch-tragödienhaften Ritual, das sie dabei vollzogen hatte –, ebenso wie er die Mordtat seiner Serpentina an einer Schwanensoldatin zutiefst missbilligte (hatte er vielleicht sogar deshalb nicht wirklich darauf geachtet, ob seine Freundin mit an Bord der NOSTRANIMA gegangen war?).

Einerlei, wenn ich weiter die Nähe zu Vangelis suchen wollte, war ich wohl gezwungen, auf seine Wünsche einzugehen – wie es eben ist in Beziehungen, in denen der eine mehr liebt als der andere. Falls daher (wie mir Anpan eröffnete) seine Ambitionen, sich als Philosophie-Professor zu etablieren, von den verdammten Spiegelneuronen abhingen, dann würde ich ihm diese eben verpassen. Die AP 2000 ® musste mir dabei helfen – sie war ohnehin vertraut mit der technischen Ausrüstung auf Sir Basils Anwesen, auf dem wir uns seit unserer Ankunft wieder aufhalten durften, und sie war auch gerne bereit dazu, immer unter dem Aspekt, schöpferische Tätigkeiten wie diese würden den besten Beweis dafür darstellen, dass sie selbst im Sinne einer allgemeingültigen Definition (mit ihren Worten ausgedrückt) „richtig lebte”.

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

ANPAN:
Es kam der große Tag, an dem wir uns ans Werk machten. Es mag nicht ganz korrekt sein, wenn ich behaupte, dass Vangelis aufs Äußerste erregt war, denn bestenfalls produzierte sein MER derartige, den Menschen nachempfundene Stimmungsmuster. Mir selbst ging es ja nicht anders: Auch ich spürte, wie sich von meinem Nacken, wo dieses Programm eingebaut ist, Spannungsschwankungen über meinen ganzen Körper ausbreiteten, und mit ziemlicher Sicherheit überkamen auch Anastacia derlei Gefühle, wenngleich bei ihr in originärer Form. Keineswegs waren wir aber wegen der Aktion an sich beunruhigt, sondern vielmehr, weil der AMG darauf bestanden hatte, zu diesem Zweck nicht deaktiviert zu werden – zu groß war seine Angst, alles an erworbenen Fertigkeiten, Kenntnissen und Memory-Partikeln einzubüßen und auf seine Grundeinstellungen zurückgeworfen zu werden, die zwar dank Panagou’scher Genialität um nichts weniger als außerordentlich waren, aber naturgemäß noch nichts Individuelles aufwiesen.

Darum mussten wir ihn im Standby-Modus, also quasi am offenen Gehirn operieren, und das war riskant genug: Um ihm die Spiegelneuronen – winzige, von mir entwickelte Bauteile, die neben den Schaltkreisen, mit denen auch die normalen Neuronen ausgestattet waren, zusätzliche Widerstände und Katalysatoren für den Aufbau von Imaginationen enthielten – einzubauen, war eine Fülle von Kontakten auf äußerst geringem Raum herzustellen. Dabei konnte mich zweifellos völlig auf die Präzision der AP 2000 ® verlassen, musste allerdings gewärtigen, dass möglicherweise auch ohne direkte Berührung des bestehenden Sets Interferenzen auftreten würden, mit den entsprechenden unliebsamen Ergebnissen.

Davon geschah glücklicherweise nichts. Der AMG wurde wieder auf Normalbetrieb gebracht, erklärte spontan, vorerst keinen Unterschied zu vorher zu erkennen, worauf ich ihm riet, vorsichtig zu sein und die erweiterten Denkvorgänge minuziös zu beobachten. Erst nach Tagen, während derer ich ihn genau im Auge behielt, kam er plötzlich zu mir und eröffnete mir, dass ihn so etwas wie Albträume plagten.

ANPAN:
Es handelte sich dabei nur um den Versuch einer Definition, denn mangels bisheriger Erfahrungen mit Traumgebilden, geschweige denn mit dieser unangenehmen Abart, konnte er nicht vermitteln, was in seinem Kopf vor sich ging. Auch als ich mit Hilfe meiner eigenen, schon länger währenden Beschäftigung mit solchen Phänomenen versuchte, Klarheit zu schaffen, brachte uns das nicht weiter.

In geradezu rührender Weise führten die beiden hier die für Androiden typische Umständlichkeit beim Versuch, diffuse Daten zu präzisieren, vor, und ich sah mich gezwungen, heftig zu intervenieren. Was hältst du davon, schlug ich Vangelis vor, uns einfach den Inhalt dieser Träume zu erzählen?

Da endlich klappte es – Anpan und ich erfuhren, dass es Bewusstseinsbilder aus der früheren Programmierung des AMG als Imitation des Doppelgängerpaares Basil Cheltenham / Iadapqap Jirujap Dlodylysuap waren, die da in ihm hochstiegen. Offenbar hatte sich Einiges meinem seinerzeitigen Löschvorgang widersetzt und in den zahllosen Synapsen seines künstlichen Gehirns überlebt. Mich schauderte bei dem Gedanken, was alles in seiner Biografie vor diesem Hintergrund hätte schief laufen können, und es wunderte mich auch nicht mehr, dass Vangelis für das Abenteuer in der anderen Realität so leicht verführbar gewesen war.

110

Sie fragen nach Clio, der begehrenswerten Tochter der Gräfin Geneviève von B., die noch immer himmlisch schön ist, ganz als ob die Zeit ihr nichts anhaben könnte (und zwar ohne jede Hilfe von Kosmetik oder gar Chirurgie)? Nun, sie ist nicht mehr mit mir zusammen, kurz gesagt, und ohne jetzt meine Emotionen allzu sehr sprechen zu lassen.

Eines Tages, bei einem – so lange hinausgezögerten – Besuch zuhause in B. beschloss sie, sich ernsthaft mit dem Freiherrn von E. zu beschäftigen, dem sie von ihrer Mutter eigentlich versprochen worden war, den sie jedoch (so stellte sich das mir jedenfalls dar) zu meinen Gunsten verschmäht hatte. Und siehe da, urplötzlich fühlte sie sich zu ihm hingezogen: Angeblich war er ja auch ganz anders als früher, locker, sportlich, weltläufig, keine Spur mehr von seiner früheren Verklemmtheit. So versuchte Clio mir das zu erklären, als sie, und das muss ich ihr hoch anrechnen, eigens nach England zurückkam, um einen eindeutigen Schlussstrich zu ziehen. Allright, sagte ich trocken – ein Cheltenham lässt sich, äußerlich jedenfalls, durch nichts aus der Ruhe bringen wie weiland der wackere Phileas Fogg. Aber das war Clio offenbar zu wenig – sie wäre nicht sie selbst gewesen, wenn sie an dieser Stelle nicht zum Angriff übergegangen wäre!

CLIO ALEXANDRINE ANDROMÈDE ANNETTE APHRODITE KOMTESSE VON B.:
(stellt sich in Positur, im Vollgefühl ihrer vielen Namen, und auch im Bewusstsein ihrer tollen Mähne, ihres prachtvollen Busens, ihrer langen Beine und so weiter) Du musst das nicht einfach so hinnehmen, Basil! Du magst Argumente gegen meine Entscheidung finden, und ich werde diese anhören, nur um dir dann zu sagen, dass du noch immer an Charlene hängst, dass du, wie ich mittlerweile weiß, wieder begonnen hast, dich mit ihr zu beraten, und sei es auch telefonisch (wenn ihr euch nicht ohnehin schon wieder regelmäßig seht), und dass du ihr Kind legitimiert hast, was mich zum Gespött aller macht, denn sie sagen, ich hätte dir einen asiatischen Bastard ins Nest legen müssen, um mir deine volle Aufmerksamkeit und Anerkennung zu erhalten!

Da war nichts mehr von den Fährnissen ihrer Jugend in der Spiegelwelt in ihrer Ausdrucksweise, sondern man erkannte den Schliff, den Geneviève ihr spät aber doch für das aristokratische Parkett des Diesseits hatte angedeihen lassen, trotz aller Querelen zwischen den beiden, die teilweise sogar in einem unsinnigen Beauty Contest gipfelten, bei dem klarerweise die Gräfin gegenüber der Komtesse den Kürzeren ziehen musste.

Jugend zu Jugend! sagte ich: Das ist der Lauf der Welt, und ich werde mich ihm auch in unserem Fall nicht entgegenstellen. Ich denke, ich habe genug gekämpft. Tatsache war, aber das behielt ich wohlweislich für mich, dass ich mich langsam schon nach ein wenig Ruhe sehnte – und Ruhe ist ohnehin ein relativer Begriff für meinen Lebensstil, selbst heute noch.

CLIO ALEXANDRINE ANDROMÈDE ANNETTE APHRODITE KOMTESSE VON B.:
(hinreißend in ihrem Zorn) Du willst mir doch nicht weismachen, ich könne dich nicht mehr reizen? Und wenn es gleich so wäre, vielleicht durch eine kleine erektile Dysfunktion: Du nähmst den Magierstrick, den du ja jetzt hoffentlich nicht mehr aus den Augen lässt, und wärst imstande, zu tun, was du tun willst!

So könnte es natürlich immer problemlos funktionieren, dachte ich zynisch. War man aber zurückgeworfen auf seine tatsächliche menschliche, seine männliche Existenz, machte man in meinem Alter die beunruhigende Beobachtung, dass die mentalen Prozesse bei Aufnahme eines sexuellen Reizes prompt abliefen wie eh und je, dass jedoch das Instrument einer allfälligen Exekution dieser Aufforderung nicht so reagierte, wie man es von früher gewohnt war. Ausschlaggebend war jetzt die Tagesverfassung, die Gunst der Stunde und die konkrete Gestalt dieses Reizes, wobei man an sich selbst feststellen konnte, dass sich im Lauf der Jahre (Jahrzehnte, um ehrlich zu sein!) Strukturen eingenistet hatten, die keine Umgehung erlaubten: Man fuhr lediglich auf bestimmte Personen, Gegenstände und Situationen ab, aber auch da nicht immer auf präzise dieselben, sondern innerhalb gewisser Bandbreiten variierende – ein äußerst kompliziertes Szenario für Erfolg! Fast schien mir, es wären bereits allzu viele Reflexionen vonnöten angesichts eines Vorgangs, der sinnvollerweise gar keines Nachdenkens bedürfen sollte!

Clio empfand mein Schweigen als Provokation. Das lag zwar keineswegs in meiner Absicht, aber hätte es vielleicht irgendeinen Sinn ergeben, ihr diese Überlegungen zu präsentieren?

CLIO ALEXANDRINE ANDROMÈDE ANNETTE APHRODITE KOMTESSE VON B.:
Offenbar hast du mich ohnehin längst aufgegeben…

… was dir bei dem, was du vorhast, sehr gelegen kommen muss. Immerhin willst du ihn heiraten, denke ich! Sie stampfte mit dem Fuß. Genau dieses Temperament war es, das alle nach ihr verrückt machten – ob Dirk derjenige war, damit fertigzuwerden?

Einerlei – ich beschloss, mich endgültig und nachhaltig in Clios Erinnerung einzugraben. Ich packte sie an den Handgelenken…

CLIO ALEXANDRINE ANDROMÈDE ANNETTE APHRODITE KOMTESSE VON B.:
Du tust mir weh!

… drehte ihr die Arme auf den Rücken und presste ihren Körper solcherart eng an mich.

CLIO ALEXANDRINE ANDROMÈDE ANNETTE APHRODITE KOMTESSE VON B.:
(das verzerrte Antlitz direkt vor Basil) Du tust mir weh!

Trotz dieser Wiederholung war kein Widerstand zu spüren, eher das Gegenteil schien der Fall, sodass ich es genießen konnte, ihre vertrauten Konturen nochmals (ein letztes Mal?) zu spüren, und ich sagte feierlich: Nach den archaischen Gesetzen des Duells, wie sie auf Oilell Guinevere, dem mystischen Ursprung von Cheltenham House, und in der gesamten jenseitigen Realität galten, gehörst du mir – das weißt du auch genau, und du weißt, dass es immer so sein wird. Dennoch lass’ ich dich ziehen, gebe dich als flüchtigen Besitz auf, allerdings unter Wahrung meiner grundsätzlichen Eigentumsrechte!

Das war zu viel und auch völlig unnötig dick aufgetragen – und dennoch war mir, als würde es eine bestimmte Saite in der Komtesse zum Klingen bringen, die ihr für einen Moment jede Gegenwehr unmöglich machte. Aber Clios Augen – die zwischendurch ganz flach gewesen waren, voll Bereitschaft – wurden gleich wieder abgrundtief und dunkel. Mir schwante, dass ich für diesen eitlen Triumph vielleicht noch bezahlen würde, aber ich ließ mir meine Besorgnis nicht anmerken: Sei bedankt für alles, denn es war unendlich viel, was du mir gegeben hast! Ohne dich (und Berenice, um auch ihr die Ehre zu geben) säße ich heute noch immer in einer Art Gefängnis, eingeschlossen auf Lady Pru’s Anwesen, vor allem aber in mir selbst!

CLIO ALEXANDRINE ANDROMÈDE ANNETTE APHRODITE KOMTESSE VON B.:
(sich umwendend) Ach, geh doch zur Hölle!

So weit nicht! rief ich ihr nach. Ich gehe nach Zypern!

In diesem Moment wurde mir schlagartig klar, dass ich niemals daran gedacht hatte, Clio dorthin mitzunehmen. Allein schon deshalb war es mir innerlich leicht gefallen, ihren Entschluss zu akzeptieren.

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

Der Grund für meine plötzliche Gleichmut gegenüber der Komtesse war – neben Charlene selbstverständlich, mit der ich wieder zusammengefunden hatte – deren Sohn: Mittlerweile zehn Jahre alt, schien er mir, wenn ich ihn beobachtete, die bodenständige Scharfsinnigkeit seiner Mutter und die raubkatzenhafte Brisanz seines leiblichen Vaters, Seiji Sakamoto, zu besitzen. Nun wollte auch ich meinen Anteil zu seiner Entwicklung beitragen, wozu es gottlob nicht notwendig war, ihn gezeugt zu haben – denn, wie Geneviève von B. vor langer Zeit in einem Brief an ihren falschen Vater (den Offizier der Spiegelweltarmee, der den echten Grafen ersetzt hatte) feststellte: „Man sollte nicht versuchen, darüber zu entscheiden, welche Cotes von Hérédité und von Milieu das Bewusstsein eines Menschen prägen!” – das im Bewusstsein geschrieben, dass aller Erfahrung nach das Umfeld, in das wir mit unseren Erbanlagen hineingestoßen werden, gegenüber diesen die entscheidende Rolle spielen dürfte.

Nicholas, mein künftiger Nachfolger als Inhaber des Majorats von Cheltenham (gesetzt den Fall, der Besitz wäre angesichts dessen, was die Zukunft uns brachte, überhaupt zu halten, erfreute mich fast täglich mit neuen Beweisen für seine persönliche Tapferkeit, seinen zielorientierten Einfallsreichtum und seine verschwenderische Expeditivität – alles Eigenschaften, wie sie nicht typischer für einen Vertreter meines Stammes sein konnten, auch wenn dessen Gene im konkreten Fall nicht direkt dafür verantwortlich waren

Seine Mutter schien das instinktiv ähnlich zu sehen: Ich stellte bei ihr ab und an die gleiche Irritation im Umgang mit Nicholas fest, die sie seinerzeit bei mir an den Tag gelegt hatte. Zu komplex waren für sie – bei allem grundsätzlichen Interesse – manchmal meine Ziele und Unternehmungen geworden, zu hoch schien ihr bisweilen das Risiko angesichts des vordergründig zu erzielenden Gewinns, zu sehr liebte sie mich letztendlich, als dass sie akzeptieren wollte, wenn ich mich in persönliche Gefahr begab.

Wenn also der Kleine mir gleichsam nacheiferte und beispielsweise von einer exponierten Klippe unseres Felsennests die zwölf Meter hinabsprang ins riffige bewegte Meer, hätte sie von mir erwartet, ihn zurückzuhalten – ich aber ließ ihn gewähren. Ich wusste mehr als alles andere, dass ein Mann (und als solcher fühlte sich Nicholas in meiner Nähe bereits) seine Erfahrungen unumgänglich machen musste. Chicago, den ich nach all den Jahren als meinen wirklichen Freund ansah (neben den oberflächlichen Militärkameradschaften, von denen es jede Menge gab) hatte es mir vor dem elementaren Hintergrund des im Outback Großgewordenen bestätigt: „Es gibt künstliche Intelligenz und jede Menge anderer artifizieller Tugenden, aber wir werden niemals virtuellen Mut finden…”

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

Wie rational auch immer mein Kopf die Sache mit Clio ad acta gelegt hatte – es gab noch etwas in mir, das sich weiter mit ihr beschäftigte und mich von ihr träumen machte. Wenn ich die Komtesse im Traum sah, versuchte ich zwar, den nunmehr gebührenden Abstand zu halten, aber meine Hand streckte sich wie von selbst aus und berührte sanft ihre Wange, und so wie das geschah, erwiderte sie meine Zärtlichkeit (denn nur als solche konnte sie meine Annäherung verstehen) und flog geradezu in meine Arme. Und obwohl ich mich wehrte, flüsterte mein Mund ihren jenseitigen Namen: Balaf-Ieku Hvuvu – gar nicht so ästhetisch für diesseitige Ohren, es sei denn, man wusste um die Bedeutung, himmlisch schöne Prinzessin –, worauf sie ohne Zögern antwortete: „Ja, Monseigneur – ?”

CLIO ALEXANDRINE ANDROMÈDE ANNETTE APHRODITE KOMTESSE VON B.:
(als Vision) … und die lasziv-fragend-gehorsame Betonung dieser Anrede, die ursprünglich nur Iadapqap Jirujap Dlodylysuap, dem Herrscher der Spiegelwelt, zukam, bedeutete eine neuerliche Kapitulation unter seinen Willen: unzeitgemäß, aber überwältigend; demütig, aber darin schon wieder selbst besitzergreifend. Ihn, der sich im Schlaf halb aufgerichtet hatte, drückte ich zurück auf sein Lager, beugte mich zu ihm hinab und entledigte ihn seiner Kleidung: Der Magierstrick war zur Hand und wurde ihm angelegt.

Danach postierte sie sich vor mir und zelebrierte eine unendlich langsame Enthüllung, die mich fiebern ließ vor Verlangen danach, dass dieser Zustand ewig dauern möge, aufgespannt zwischen etwas mehr als Hoffnung und etwas weniger als Erfüllung, all dies im diffusen Licht meiner Einbildung, die so viel Wirklichkeit besaß, dass es schmerzte, aber dennoch so viel Realitätsferne, dass der Schmerz zu verkraften war.

Als ich erwachte, war ich ganz davon überzeugt, Clio ein neuerliches Mal besessen zu haben. Dennoch empfand ich einen schalen Geschmack, von dem ich nicht genau wusste, ob er daher rührte, dass ich mich in einem Gelände bewegt hatte, das ich mir selbst versagen wollte, oder daher, dass das Ganze ohnehin nur eine Illusion gewesen war. Ich blieb liegen und dachte, nie wieder meine Arme und Beine regen oder meinen Kopf bewegen zu können. Nur für mich hörbare, träge gleichsam hingehauchte kontemplative Akkorde einer Flamenco-Gitarre schienen mich zu fesseln und mich unter Tonnen von verflossenen Tagen zu begraben.

Viel später hörte ich draußen vor der Tür Nicholas, der auf der Suche nach mir war, und ich erhob mich stöhnend, versuchte meine Berauschung in der Dusche von mir abzuspülen, kleidete mich schließlich sorgsam an und trat ihm vor der Tür meines Zimmers gefasst entgegen: Im Zustand von vorhin sollte er mich nicht zu Gesicht bekommen…

Bevor ich öffnete, versuchte ich in die Zukunft zu blicken. Die Komtesse würde sich mit Dirk von E. zusammentun und dann den Weg allen Fleisches gehen: selbst in der Reife noch sehr attraktiv, aber doch ohne die außergewöhnliche, die himmlische Schönheit der Balaf-Ieku Hvuvu.

111

Niemand vermutete beim informellen Verein „Officers of the Pine Tree” (nach dem Flaggensymbol New Englands bezeichnet, aber von seinen Mitgliedern salopp PTO genannt) mehr als eine Ansammlung reicher Schnösel von der Ostküste, die in der US Army hauptsächlich damit beschäftigt waren, ihre maßgeschneiderten Uniformen auszuführen und mit Dad’s Geld herumzuschmeißen. Die Tarnung war somit perfekt, denn die Wahrheit sah wesentlich anders aus: Jeder einzelne von uns hatte West Point mit der Höchstnote des A+ Degree absolviert, jeder einzelne hatte reale Kampferfahrung – je nach Jahrgang in Panama, Haiti, Somalia, Grenada, Afghanistan oder in den beiden Irak-Kriegen (Vietnam-Veteranen waren allerdings keine mehr darunter). Wir hatten, jeder für sich, das Gefühl, zu wissen, wovon wir sprachen, wenn wir uns über strategische oder taktische oder am Ende auch über politische Themen unterhielten – schließlich hatten die meisten Verwundungen davongetragen oder jedenfalls die Verletzung oder den Tod naher Kameraden mitansehen müssen. Natürlich fragte man sich vor diesem Hintergrund dringend, ob in diesem Staat heute alles so lief, wie es sollte, und man fühlte sich berufen, gegebenenfalls aktiv in das Geschehen einzugreifen.

TRUDY McGUIRE:
Ich stand schon lange in Kontakt mit den PTOs, und so, wie ich Ray Kravcuk die Hilfe von Sir Basil Cheltenham und seiner Frau bei der Akquisition Seiji Sakamotos für das seinerzeitige Weltaufteilungsprojekt verheimlicht (aber damals immerhin noch in seinem Sinne gehandelt) hatte, war ich wieder im Alleingang unterwegs, aber diesmal zum Nachteil des Präsidenten. Ich hatte festgestellt, dass die PTOs keinerlei Respekt vor ihm empfanden, und das, obwohl man seit geraumer Zeit bei der Vereidigung nicht nur auf die Verfassung, sondern auch auf die Person des auf Lebenszeit bestimmten Head of State & Commander-in-Chief eingeschworen wurde – eine ziemlich unnütze Übung, denn diese Typen gehorchten gefühlsmäßig trotzdem nur einem, den sie als echte Führernatur ansahen.

Die wichtigsten Figuren der PTOs waren Lieutenant Colonel Francis Cooke und Major Edward White von der Army, die Commander John Alden und James Fuller von der Navy, Colonel Isaac Billington und Captain John Soule von den Marines sowie Brigadier General Stephen Doty von der Air Force – tja, und natürlich ich selbst, Lieutenant Colonel George Howland, ebenfalls Air Force. Wie man sieht, erstklassige Namen, allesamt „Mayflower Descendants”, was auch für die übrigen Fünfzehn galt, darunter ein Allerton, ein Chilton, ein Hopkins oder ein Winslow.

TRUDY McGUIRE:
Ich wusste genau, dass sie Frauen als bloße Show Peces für gesellschaftliche Anlässe respektive als Cookies für Aktivitäten fernab der Öffentlichkeit betrachteten. Die betuliche Political Correctness der Streitkräfte nervte sie, und sie mussten sich sehr beherrschen, wenn sie es mit ranggleichen oder gar –hö¬heren Offizierinnen zu tun hatten: die gab es für sie als Befehlshaber in Wirklichkeit gar nicht, ebensowenig wie alle Subjekte, die nicht als WASPs, White Anglosaxon Protestants, durchgehen konnten, und dazu zählten sie natürlich sogar den Präsidenten.

Wenn das auch so war, verstanden wir jedenfalls die Rolle Trudy McGuires ganz anders – mit ihr hatten wir nämlich das große Los gezogen, wenn wir tatsächlich etwas verändern wollten: Sie konnte uns in Washington jede Tür öffnen, im übertragenen wie im wörtlichen Sinn. Niemand verweigerte ihr oder einer Person in ihrer Begleitung den Zutritt oder auch nur die gewünschte Antwort, ganz als ob der Präsident selbst auftrat, und wenn wir Glück hatten, wagte es nicht einmal jemand, uns zu durchsuchen, sodass wir vielleicht sogar an Waffengebrauch bei unseren Plänen denken konnten.

TRUDY McGUIRE:
Für mich waren sie umgekehrt nur Handlanger, da konnten sie so gespreizt tun, wie sie wollten, und noch so edle Pilgrim Fathers’ Family Trees vorweisen. Dort, wo ich und meine Gefährtinnen Amy und Pussy herkommen, nämlich ganz unten, gibt es noch den echten amerikanischen Traum, aber selbst wenn es einem überhaupt gelingt, diesen zu verwirklichen, muss man teuer dafür bezahlen! Ich will nicht urteilen, doch dagegen, was wir drei Freundinnen (und die gute Chuck, die sich schließlich sogar einen Cheltenham geangelt hatte) in das Spiel einsetzen mussten, nahmen sich die größten militärischen Heldentaten der PTO boys bescheiden aus. Wir hatten nämlich zwischendurch etwas verloren, was mir kostbarer als das Leben erscheint – Selbstachtung, Selbstwertgefühl, Stolz und Würde, allesamt Dinge, die nur sehr schwer wiederherzustellen sind! Noch als wir in das Team von Ray Kravcuk aufstiegen und in seinem Kielwasser den höchsten Punkt der Macht erreichten, mussten wir uns ständig künstlich zurücknehmen, damit nicht einer der President’s Men oder gar er selbst sich uns gegenüber weniger schlau vorkommen würde, als er war. Da kam mir (und im Hintergrund Amy und Pussy) zupass, wie uns diese Jungs hier aus der Hand fressen mussten, wollten sie etwas erreichen.

Trudy verstand uns, denke ich, in diesem Punkt falsch. Wir wussten sie nämlich gerade deshalb zu schätzen, weil wir ihren Führungsanspruch nicht zu diskutieren brauchten: So hatten wir es nicht notwendig, einander innerhalb der Gruppe zu konkurrenzieren, was in weiterer Konsequenz zu fruchtlosen Auseinandersetzungen zwischen uns und womöglich sogar zum einen oder anderen Duell geführt hätte. Dass sie, wie sie das gewöhnt war, auch ihre weiblichen Reize einsetzte, und ihre beiden Gefährtinnen sie dabei tatkräftig unterstützten, schadete dabei nicht.

TRUDY McGUIRE:
Wir drei hatten uns bemerkenswert frisch erhalten, dank der körpererhaltenden und –verschönernden Industrie, die wir anders als die Komtesse Clio reichlich in Anspruch nahmen. Dabei legten wir uns jedoch niemals Rechenschaft darüber ab, was die Kerle, die uns nahe genug kommen durften, um die Begegnung intim nennen zu können, empfanden, wenn ihnen die Diskrepanz zwischen Glamour und Disenchantment bewusst wurde. Niemals nämlich hat sich einer von denen öffentlich darüber beschwert, wenn sein Traumbild aus der Nähe betrachtet zwar immer noch attraktiv, aber vielleicht doch ein wenig steril war. Sie gingen dabei in ihre eigene, sprich von den Männern selbst aufgestellte Falle, für die wir Frauen uns (fragt mich nicht, warum) seit jeher bereitwillig als Köder zur Verfügung gestellt haben.

Die Verschwörer (als solche konnte man uns ab einem bestimmten Punkt des Geschehens ohne weiteres bezeichnen) trafen sich normalerweise in Fort McNair in Washington. Dort schien es uns am unverfänglichsten, denn der Stützpunkt war als Headquarter des Army-Districts D.C. ein selbstverständlicher Ort für Begegnungen von Offizieren: Drei von uns taten dort ohnehin Dienst, und die übrigen konnten jederzeit nicht nur die Kameraden unserer Gruppe, sondern auch genug andere Leute kontaktieren, die ihnen als Vorwand dienen würden. Trudy wiederum suchte in ihrer Eigenschaft als Sicherheitsberaterin selbstverständlich die Nähe zum Militär (und, wie ihr viele unterstellten, überhaupt die Tuchfühlung mit den Guys in Tigerstripes oder anderen Regimentals), und so wunderte sich niemand, wenn sie mit uns in einem der Kasinos saß und einen ausgab. Am Ende dieser dates spazierte sie jeweils mit dem einen oder anderen aus der Gruppe die vielleicht zwei Meilen hinüber zur Mall, wo wir das Weiße Haus und andere zentrale Gebäude umkreisten und uns für den Ernstfall orientierten. Natürlich durften wir keine Notizen machen, konnten uns aber alles ausgiebig einprägen, während die McGuire, von vielen 1st oder 2nd Class Celebrities, die dort herumwieselten, gleich erkannt und in Gespräche verwickelt, die Mauer machte, sodass keiner von uns irgendeine verdächtigende Beachtung fand.

TRUDY McGUIRE:
Eines Tages schien es mir so weit. Ich gab das vereinbarte Codewort durch („Gang Bang” war es geworden, nachdem ich meine erste Idee, „Paper Tiger”, aus Sicherheitsgründen verworfen hatte, abgesehen davon, dass der Motivationsgrad der vorwiegend männlichen Beteiligten mit dieser Obszönität ein ungleich höhrer war), meine PTOs mobilisierten die schon lange ausgesuchten Einheiten, teilweise solche, die sie selbst kommandierten, teilweise von Kameraden ausgeliehene. Insgesamt waren vielleicht an die 2000 Mann unterwegs, die mit den bekannten olivgrünen Lastern durch die Hauptstadt rollten. Wie ich erhofft hatte, gab es null Widerstand, denn einerseits war der Überraschungseffekt auf unserer Seite, andererseits gab es keine demokratischen Werte mehr, für die sich irgendwelche Rambos in die Bresche geworfen hätten. Mit mir hatte Ray den Bock zum Gärtner gemacht.

Kravcuk war in meinen Augen ohnedies eine Niete, aber wie sehr, offenbarte sich meinem militärischen Verstand erst jetzt so richtig. Entgegen unseren Befürchtungen, er würde in dieser Situation der Bedrohung Netzwerke mobilisieren, von denen wir keine Ahnung hatten, konnten wir bald Entwarnung geben – er hatte es verabsäumt, sich auch nur irgendeine persönliche, ausschließlich auf ihn selbst hin orientierte Hausmacht zu schaffen, weder in der United Republican & Democratic Party, noch in der Army und ebensowenig in der paramilitärischen Homeland Security Organization. So zurückgezogen er als Mensch lebte, so wenig Freunde besaß er in der Wirtschaft, wo es darauf angekommen wäre, eine Vielzahl von Einladungen anzunehmen, um dort zu sehen und gesehen zu werden.

Er hatte von Anfang an seinen Wunsch und Willen nur wenigen anvertraut und von diesen weitergeben lassen, ohne je zu kontrollieren, was am Ende einer mehr oder weniger langen Informations- und Befehlskette konkret ankam. Auf diese Weise war dem überwiegenden Teil der herrschenden Klasse nicht einmal das bekannt, was den Präsidenten unzweifelhaft auszeichnete: Sein scharfer Verstand, der es ihm ermöglichte, konzeptionell eine Menge zur Arbeit seiner Administration beizutragen. Dass er sich daneben auch der Beratungsdienste von vier Professoren bediente, statt auf die eingespielten und für die Praxis professionell geschulten Stäbe zurückzugreifen, passt in dieses Bild, denn Pascal Kouradraogo, Fritz Schreiner, Pjotr Ivanovich und Larry Migschitz waren weiß Gott nicht die Typen, von denen man einen gottverdammten Second-hand Chopper gekauft hätte. Natürlich war es genial, wie sie sich nach einer langen Durststrecke aufs Neue in Stellung gebracht hatten (nämlich mit dem uralten Trick der weisen Männer, der den potentiellen Opfern suggerierte, dass sie ohne kompetente Hilfe nicht auskommen würden), aber in Wahrheit ging es ihnen, wie alle rund um Ray Kravcuk wussten, er selbst aber offenbar nicht, ausschließlich ums große Absahnen.

TRUDY McGUIRE:
Seinen Humor behielt Ray bis zuletzt. Als wir ihm halfen, seine Sachen zu packen (wie wenig das war und wie anspruchslos er persönlich sein musste, bemerkten Amy, Pussy und ich erst jetzt so richtig), meinte er mit einem sarkastischen Lächeln auf den Lippen: „Nun hast du sie also ganz gekapert, unsere USS America, die Segel sind gerefft, und ich stehe auf der Planke, die weit hinausragt übers Meer, und warte darauf, dass du mir den letzten Schubs gibst, der mich ins haiverseuchte Gewässer befördert!”

Ganz so schlimm wurde es natürlich nicht, denn Trudy hatte präzise Pläne mit ihrem abgehalfterten Chef – wies uns an, ihn nach Palau (dem Ort seiner staatstragenden Sink-the-Lady Dates) zu fliegen, wobei es Dan Mai Zheng überlassen wurde, ihn dort – auf neutralem Boden – weiter zu besuchen oder ihn fürderhin zu ignorieren. Und so startete Air Force One ein allerletztes Mal mit ihrem bisherigen exklusiven Passagier. Einige von uns PTOs standen an der Gangway und salutierten, worauf uns Ray Kravcuk einen abschließenden Rat zurief: „Trauen Sie niemals Blondinen, meine Herren!”

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

TRUDY McGUIRE:
Ich verlor keine Zeit – Continuity, das war ja schon bisher mein Geschäft gewesen. Tatsächlich stellten sich uns auch weiterhin keinerlei Schwierigkeiten entgegen: Die Putsch-Kameraden und meine lieben Freundinnen Amy und Pussy übernahmen die höchsten Staatsämter, unterstützt durch weite Teile der Armed Forces, die uns unaufgefordert ihrer Loyalität versicherten, und am Ende akklamierten mich alle, auf die es ankam (Wahlen waren ein Formalakt geworden, den man noch immer nachholen konnte) einhellig zur neuen Präsidentin.

So undramatisch, wie es hier erzählt wird, geschah es auch, denn wir hatten niemandem Zeit gelassen, sich in irgendwelche Spekulationen zu ergehen. Alle Welt wurde vor vollendete Tatsachen gestellt, und so bewahrheitete sich eindrucksvoll die These unseres alten Professors für Politische Wissenschaften an der Militärakademie: dass nämlich eine Handvoll entschlossener Leute Geschichte schreiben können.

Nun standen einander zwei Frauen auf der obersten Ebene der Weltbühne gegenüber. Prompt meldete sich die chinesische Staats- und Parteiführerin bei unserer First Lady am Orange Wire mit den Worten „Hi, Trudy! Zickenkrieg?”

TRUDY McGUIRE:
Aber nein, Zhengie – Business as usual!

Entgegen der Meinung, dass ein ausschließlich von Frauen regierter Globus besser sein würde als alles Bisherige, ging alles weiter wie gehabt. Was sich ändern sollte, betraf im Wesentlichen nur die Formalitäten: Die beiden Damen würden sich klarerweise nicht mehr auf Palau treffen, aber auch kein neues exterritoriales Gebiet für persönliche Kontakte zu definieren. Vielmehr beschlossen sie, ab und an (wie schon einmal in der Vergangenheit) in Shanghai gemeinsam shoppen zu gehen – oder altenativ dazu in New York, so schwierig das auch werden konnte.

112

Die Eingeweihten kennen ihre Geschichte, die einer steinernen Frau – nein, nicht von Gräfin Geneviève, deren Körper Brigitte immer als marmorgleich beschrieben hat, ist hier die Rede, sondern von einer ganz anderen, die wir von einer Welt ererbt haben, deren größte Hoffnungen und Ideale längst zu Staub zerfallen sind. Die Fischer fingen sie eines Nachmittags in ihrem Netz. Vergeblich hatten sie gehofft, einen reichen Fang zu machen, aber es war nur eine kleine Venus-Statue, die sie da aus dem Hafenbecken von Mandraki zogen. Dann stand sie im Museum, die Formen weich von Jahrhunderten, in denen das Meerwasser sie umspült hatte, als wäre sie aus Wachs gemacht. Als wäre sie, wenn wir Lawrence Durrell folgen, rasch durch eine Flamme gezogen worden, die zwar ihre Konturen verwischt, aber ihre Figur in den Grundzügen unverändert belassen hätte. Selbst diejenigen, die sie nur ein einziges Mal sehen durften, rief sie ständig zurück, wo immer auf der Welt sie sich auch aufhielten.

Eines Tages nun war sie verschwunden, neuerlich verschollen in den oft so unergründlichen Gräben der Zeit, die sie schon einmal für unendlich lange allen Blicken entzogen hatte – aber die Sehnsucht nach ihr blieb. Sie erfasste auch den Centurio Quintus Rubellius Taurus und seine Legionäre, die sich an der antik-exotischen Stripperin Cythera (jener hibernischen Häuptlingstochter, die ihnen mit einigen Schleiern orientalische Erotik vorgaukelte) mehr als sattgesehen und an den Dorfschönen von Clivosum, die sich ihnen gegenüber nicht zimperlich erwiesen, mehr als genug bedient hatten. Es kam für sie die bekannte, in jedem Männerleben immer wieder auftretende Phase, in der seltsamerweise die naheliegende handgreifliche Frauengesellschaft verblasst gegenüber der unerfüllbaren Minne für ein unerreichbares Traumbild. Dieses Begehren hatte ich ihnen eingegeben, als es mir endlich gelungen war, die Deserteure aufzuspüren, lange nach meiner Rückkehr von VIÈVE (meine dortigen Patienten, als Mischlinge zweier Welten an der Abkoppelung der beiden Universen fast zugrundegegangen, waren geheilt und bedurften meiner Hilfe nicht mehr – als einzige von ihnen hatte ich die Komtesse Clio mit nach Hause genommen).

PUBLIUS CORNELIUS SCIPIO AFRICANUS:
Etwas für diese Soldaten, die einmal die Lieblinge Julius Caesars waren, zu tun, war auch Ihre verdammte Pflicht und Schuldigkeit, o Berenice! Schließlich haben ja Sie diese seltsame Legion aus den Tiefen der Vergangenheit hervorgeholt! Ich selbst konnte die kleine Truppe zwar jenen anempfehlen, die ihrer zu bedürfen glaubten, aber mehr zu tun, war mir bedauerlicherweise unmöglich, da ich bei aller Freundschaft zu Basil Cheltenham und dem nun leider verschwundenen Keyhi Pujvi Giki Foy Holby nur noch als Idee existiere – nun, sagen wir, als ein wenig mehr als eine Idee, wenn man mit Giordano Bruno anerkennt, dass die Differenzierung zwischen Praeteritum, Praesens et Futurum nur eine bedingte ist.

Genauer gesehen, mein Freund, bestehen Sie aus einem ebenso einprägsamen wie unvergesslichen Namen (der über die Jahrhunderte hinweg genannt wird, wo Menschen in Chroniken blättern) und einem ansehnlichen Quantum Nachruhm, der davon kündet, dass Sie temporibus illis Ihren nunmehrigen Seelenfreund Hannibal, den größten Feldherrn Ihrer Epoche, besiegten – aber, das wird Ihnen hoffentlich bewusst sein, Ihr Nimbus besteht nicht vielleicht darin, ihn in der Kriegskunst getoppt zu haben, sondern in der kleinlichen Beharrlichkeit, die bekanntlich – wenn auch auf Umwegen – umso sicherer das Ziel erreicht!

PUBLIUS CORNELIUS SCIPIO AFRICANUS:
Das führt wohl unmittelbar und nicht zum ersten Mal zu der Frage, ob es denn notwendig sei, die Banalität des „normalen” Lebens zu ergänzen um irgendwelchen Überbau. Wenn ich später, nach meinem Leben als militärischer und staatlicher Funktionär, auf meinem Landsitz (dessen Schäbigkeit im Vergleich zum Prunk der Anwesen anderer Patrizier mehr als genug beredet wurde) in einem düsteren Winkel des Hauses den Dreck des rustikalen Tagesablaufs abwusch, hätte wohl kaum jemand in mir den Horror Carthaginis vermutet, der Rom davor bewahrte, ein zweites Mal seit seiner Gründung erobert zu werden. Und dennoch passte jenes Tectum tam sordidum, jenes Pavimentum tam vile jedenfalls besser zu mir als irgendwelche sinnlosen Triumphbögen über rosenbestreuten Straßen!

Die Menschen brauchen vermutlich diese Symbole, diese Gesten, diese Histörchen…

PUBLIUS CORNELIUS SCIPIO AFRICANUS:
Aber dann sollte nicht die Religion oder die Politik sie ihnen liefern, denn anders als die dort entwickelten Modelle kann uns die Kunst die schöneren Möglichkeiten aufzeigen – wie sie eben Hannibal und mich aus der Konfrontation unserer Zeit hinweggehoben hat in ein beschauliches Miteinander, in dem die Sache, um die wir zu Lebzeiten so heftig bemüht waren, längst dialektisch aufgelöst ist in völliger Bedeutungslosigkeit. Rom siegt, Karthago siegt, was wäre anderes geschehen in dieser Weltgegend als Kriege, Kriege und nochmals Kriege, unterbrochen von vorübergehenden Phasen des Friedens, immer dann, wenn eine Macht stark genug war, um die anderen eine Zeitlang in Schach zu halten?

DER GROSSE REGISSEUR:
Stopp! Wenn jemand hier am Set über derlei philosophiert, dann sind dies wohl erwiesenermaßen wir, der Produzent Sid Bogdanych, die Drehbuchautorin Claudette Williams und ich (abgesehen selbstverständlich von der Prärogative des Erzählerpaars), aber doch nicht irgendwelche dahergelaufenen Kommissköpfe!

Selbst in dieser seiner abgehobenen, weltfernen, um nicht zu sagen bloß noch ideellen Existenz war der Africanus verletzt. Was war das für eine regellose Zeit, in der sein Kamerad Cheltenham da lebte? dachte er verbittert in einer Art Rückfall in die einfachen Denkschemata seines stur gedrillten Exercitus Romanus und damit in leichtem Widerspruch zu dem, was er gerade noch selbst ausgeführt hatte.

Lassen Sie die Dinge sich entwickeln, Herrschaften! meinte ich beiläufig. Wer weiß, wie manches avantgardistische Gerede sich in zweitausend Jahren anhört, wenn der Strom menschlichen Denkens einen seiner großen Kreise gezogen hat und dorthin zurückkehrt, wo sein Ausgang war! Ideal wäre wohl, wenn wir einander respektierten, meinetwegen jeder in seinem hermetischen religiösen oder politischen Gebäude (wie etwa ich selbst als Schamanin des Koori-Volkes), aber alle zusammen in einer nicht-hermetischen Wirklichkeit, in der man nicht so ungestraft wie daheim behaupten dürfte, Dinge zu sehen, die nicht da sind, oder Motive vorzuschützen, die sich jeder Diskussion entziehen.

Bereits wie wir hier stehen – Scipio, hin- und hergerissen zwischen dem Anerkennen und der Leugnung seiner eigenen öffentlichen Größe; Claudette im Zwiespalt ihrer Rolle als erfahrene und erfolgreiche Drehbuchautorin und zugleich als Gelegenheitsbraut für Männer, die sich ihr kraft ihres bloßen Geschlechtes überlegen fühlen und sie instrumentalisieren; Sid Bogdanych, der sich, um es endlich einmal klar auszusprechen, ständig zwischen Euphorie und Depression bewegt, ohne je Abstufungen zwischen diesen Extremen gefunden zu haben – wiewohl es ihm noch immer gelungen ist, uns ein einigermaßen unverfängliches Alltagsgesicht zu zeigen; unser großer Regisseur, über den in diesem Zusammenhang eigentlich nichts mehr gesagt werden muss; und schließlich ich selbst, die ich spätestens seit meiner Initiation versuchen musste, mich gleichzeitig in äußerster Einfaltung und weitläufigster Ausfaltung zu bewegen –, bereits wie wir also hier stehen, bleibt uns ja nichts als der kleinste gemeinsame Nenner, und der ist womöglich noch viel kümmerlicher, als man annimmt. Selbst das elementare Menschsein als solches ist ja nicht einmal unbestritten als Gleichsein oder Gleichberechtigtsein auf niedrigstem Niveau.

PUBLIUS CORNELIUS SCIPIO AFRICANUS:
Magna me voluptas subit contemplantem enuntiationes tuas, o Domina Berenice, Ihre Überlegungen befriedigen mich zutiefst! Wie wäre wohl die Historia Mundi verlaufen, hätten wir Römer uns stärker dem Müßiggang der Philosophie hingegeben? Aber diese Spekulation greift zu kurz, denn selbst die Danaer, die wir zu unserer Blütezeit nur noch als bramarbasierende Weicheier einstufen konnten, haben ja in früheren Saecula nicht gezögert, zu den Waffen zu greifen.

DER GROSSE REGISSEUR:
(übergeht die Bemerkung des Generals) Aber Madame, wer würde nicht auch als männlicher Weißer (oder Kaukasier oder wie zum Teufel sonst ich mich korrekt ausdrücken sollte) ihre beachtliche schwarze Schönheit anerkennen, mehr noch: wenn er Ihnen gegenübertritt, eigentlich ohne Ansehen Ihrer Hautfarbe von Ihrer Person als solcher überwältigt sein. Es gibt ihn also nicht nur notgedrungen, diesen gemeinsamen Nenner zwischen uns allen, sondern er ist in Wahrheit gar nicht so klein!

PUBLIUS CORNELIUS SCIPIO AFRICANUS:
(achtet nicht des großen Regisseurs) Voll Stolz möchte ich Sie darauf hinweisen, wie mittlerweile die kleine Schar des Quintus Rubellius Taurus sich, von Sehnsucht getrieben (und ebenso von meinem Wunsch angespornt, sie meinem Kameraden Cheltenham doch noch zuzuführen), aufgemacht hat, um in der alten Zeit auf die alte Art ihr Ziel zu erreichen: zunächst natürlich Rhodus, wo die kleine Venus zuletzt gesehen worden ist. Vom Fretum Gallicum ziehen sie – der Centurio wieder unangefochten voran, denn nun brauchen die Legionäre sein strategisches und taktisches Geschick, um den Weg zu finden – auf den gut gepflasterten Straßen des Imperiums zunächst nach Mogontiacum, dann direkt nach Süden, bis sie auf der Via Cassia „die Stadt” erreichen, in der sie sich das letzte Mal aufgehalten hatten, nachdem Caesars Würfel gefallen waren. Aber sie bleiben nicht – Romas Verlockungen, von denen sie früher so intensiv geträumt haben, können sie nicht mehr halten, und sie marschieren weiter – auf der Via Appia nach Brundisium. Dort suchen sie ein Schiff, das sie nach Dyrrhachium bringt, dem Ausgangspunkt der Via Egnatia, der sie (mit Itinera iusta von 16.500 und dazwischen freiwillig eingeschalteten Itinera magna von 26.500 passus) bis an den Bosphorus folgen können.

113

Max Dobrowolny (oder wer immer sich hinter dieser Agenten-Vita verbarg) und der Freiherr Dirk von E. (der ebenfalls zumindest eine zusätzliche Identität beanspruchte, nämlich als Schriftsteller das Pseudonym Ditta von Teesheim) waren ein Paar, jedenfalls gelegentlich, jedenfalls in dem Sinn, dass sie einander, wann immer sie sich trafen (und das ergab sich von Zeit zu Zeit), nicht nur im Sinne einer Männerfreundschaft vom Typ Winnetou und Old Shatterhand, sondern auch physisch zugeneigt waren. Begonnen hatte das als Gag meines kongenialen Partners, des großen Regisseurs, der die beiden in einer bestimmten Szene, die nun schon geraume Zeit zurückliegt, in eine romantische Umarmung à la Eichendorff und Friedrich von Schlegel verstrickte – auf der Terrasse vor dem E.’schen Schloss, im milden Abendschein, die Gedanken ebenso süß wie melancholisch jener blau¬en Blume zugewandt, die hinter dem Horizont blüht.

Das war der Ausgangspunkt, ein kurzer Augenblick eigentlich nur, bevor eine prosaische Glocke zum Abendbrot rief und damit den Bann brach – und noch vom Speisezimmer weg enteilte Max bereits wieder nach Amerika, indem er der Einladung von Trudy McGuire Folge leistete: Aber das ist ja sattsam bekannt. Jedenfalls kam er wieder, getrieben von den angenehmen Gefühlen einer einsamen Nacht in seinem Hotelzimmer in Washington, nachdem er die damalige Sicherheitsberaterin des Präsidenten weggeschickt hatte, hochgradig verärgert über deren kaltschnäuzige Äußerungen.

Er wollte es einfach wissen, wollte ergründen, ob da mehr gewesen war als eine Aufwallung poetischer Gemüter, und er machte diese Probe aufs Exempel in dem Bewusstsein, dass seine bisherigen Liebesbeziehungen (ausschließlich mit Frauen) ihn nicht unbefriedigt zurückgelassen hatten, also keine Verirrung eines an sich homosexuell Orientierten gewesen waren, sondern dass er einfach diese andere Polarität nicht schlechtweg ausschließen mochte. Was er allemal begreifen lernte, wenn er mit Dirk schlief, war die Tatsache, dass ein gut gepflegter, wenn auch nicht hinreißend gebauter menschlicher Leib immer seinen Reiz ausübt, unabhängig vom Geschlecht der betreffenden Person.

Als alter Zyniker (der ein Filmproduzent wie ich von Berufs wegen in hohem Maße sein muss) hatte ich natürlich dazu mein Sprüchlein parat, das ohnehin schon jeder kennt und das auf Max genauso zutraf wie auf eine Menge bekannter Größen aus unserer Branche: Schwul leben, ohne schwul zu sein – zumindest zeit- oder streckenweise. Man brauchte da nicht lange herumzuanalysieren: Wer ununterbrochen in eine neue Rolle schlüpft und sich den manchmal recht verstiegenen Anordnungen des Scripts zur Verbiegung und Verdrehung der eigenen Person unterwirft, der schließt am Ende nichts mehr aus und kann im allerschlimmsten Fall nicht mehr sagen, wer oder was er wirklich ist.

DREHBUCHAUTORIN CLAUDETTE WILLIAMS:
Da würde ich aber an deiner Stelle gleich den sagen wir einmal normalen Homosexuellen Abbitte leisten, die so sind, wie sie sind, und ein ganz gewöhnliches Leben zu führen versuchen – was ähnlich leicht oder schwer wäre wie bei den Heteros, gäbe es da nicht jene schmerzlichen gesellschaftlichen und vor allem religiösen Ressentiments!

Ja klar, ich stelle mit aller gebotenen Political Correctness fest, dass ich mit meinen Aussagen niemanden diskriminieren wollte, weder Mann noch Frau respektive weder Frau noch Mann! Aber ich versuche eben gerade herauszuarbeiten, dass wir hier von etwas anderem reden, zumal das Agentenleben – zumindest wie es Dobrowolny betrieb – viel mit Schauspielerei gemein hat.

DREHBUCHAUTORIN CLAUDETTE WILLIAMS:
Max war überhaupt von allen Männern, die ich kenne, am besten dran, besser noch sogar meiner Meinung nach als der legendäre Romuald, selbst dann, wenn er einmal weder Partnerin noch Partner besaß: Kaum lag er nämlich abends im Bett, begrüßte ihn sein lebenslanger Freund und Gefährte – er hatte keinen Namen für ihn, darum werde ich ihn wohl oder übel Schwanz respektive, ein wenig vornehmer, Penis nennen müssen. Die Intensität seiner Empfindungen, wenn er ihn anfasste, überstieg ziemlich sicher jene bei so manchen Fremd-Körperkontakten, denn die Geschichten, die sie gemeinsam erlebten, bevor sie beide sanft entschlummerten, zählten zu den spannendsten und beglückendsten, die man sich nur vorstellen konnte – schließlich war ihrer Phantasie in dieser Situation keine Grenze gesetzt.

Er war eben im Prinzip ein nicht unkomplizierter Bursche, unser Philologe. Vertraut mit den diversen Charakteren der archetypischen ebenso wie der psychologisierenden Romanliteratur, stellte er sich unverzagt seiner Verworrenheit, pflegte sie, zelebrierte sie geradezu, denn wer nicht wollte, musste sich ja weder mit ihm noch mit den reichen Falten seines Wesens beschäftigen.

DREHBUCHAUTORIN CLAUDETTE WILLIAMS:
Wer sich aber darauf einließ, wie etwa – außer Dirk – seine nominelle Schwester und faktische Ehefrau Sissy Dobrowolny, geborene Laura de Dubois, dem wurde niemals langweilig mit ihm, der in Sekundenschnelle vom einfühlsamen Liebhaber zum derben Macho avancieren konnte, wobei nicht leicht jemand imstande war zu sagen, welche dieser Rollen der Realität näherkam oder ob es überhaupt bei keiner der beiden einen direkten Bezug zu Maxens innerer Wirklichkeit gab. Laura, die ihm hierin glich (immerhin war sie dereinst von der unerbittlichen und sadistischen Bandenführerin stante pede in das Fach der mausgrauen und anpassungsfähigen Assistentin Franz-Josef Kloybers gewechselt, wobei ihr dieses Genre zusätzliche Würze bei der Tarnung ihres Agentenjobs bedeutete), genoss sichtlich seine Nähe, die sich allerdings berufsbedingt nur ab und an ergab, wenn auch viel öfter als seine tête-à-têtes mit dem Freiherrn von E., der übrigens meiner Erinnerung nach nicht einmal wusste, dass Dobrowolny verheiratet war.

Jedenfalls kam es bei dem einen oder anderen Treffen vor, dass Dirk statt der erwarteten blauen Romanze (mit Vorlesen neuer selbstverfasster Texte zwischen reichlichem Geschmuse) sein blaues Wunder erlebte, wenn Max ihn nämlich – unwillig, seine Zeit für irgendeine Art Vorspiel zu verschwenden – nicht herzte und küsste, sondern ans Fenster drängte, der noblen Beinkleider entledigte und ungezwungen fickte, wobei er ihn mit dem zweifelhaften Kosenamen, den die verblichene Freifrau von E. ihrem Sohn gegeben hatte, anfeuerte und zugleich den Pferdenarren in ihm höhnte: „Galopp, Boysie, Galopp!”

Zwar nahm sich der Freiherr, der in solchen Situationen quasi auf einer Ebene seine elementaren Körperreaktionen erlebte, auf einer anderen jedoch nüchtern denken konnte, regelmäßig vor, bei nächster Gelegenheit auch einmal dieses Überraschungsmoment zu nutzen, aber wenn es so weit war, wenn also sein Freund seidenweich daherkam, mit dem Bedürfnis, sein Haupt auf eine verständnisvolle Schulter zu legen, wurde Dirk immer schwach, und sein angeborenes Phlegma verhinderte, dass er sich revanchierte – ja, er kam nicht einmal so weit, festzustellen, ob er überhaupt die Kapazität besaß, Gleiches mit Gleichem zu vergelten.

DREHBUCHAUTORIN CLAUDETTE WILLIAMS:
Das werden wohl die Momente gewesen sein, da er sich nach den ihm wesentlich übersichtlicher erscheinenden Beziehungen zum anderen Geschlecht zurückzusehnen begann, wenngleich er übersah, dass er damit nur die rein technische Seite der Angelegenheit beleuchtete – offenbar eine Hinterlassenschaft der Echwejchs, die ihn niemals mit etwas anderem konfrontiert hatten, als mit ihrer mehr oder weniger subtilen Sexualgymnastik.

Wie auch immer, er verkürzte für sich die Mann-Frau-Relation darauf, dass von Natur aus jener der Penetrator und diese die Penetrierte sei, und sicher wäre – auf Basis dieser Attitüde – Max eines schönen Tages zum Teufel gejagt worden, hätte Dirk dann nicht wieder plötzlich solche Lust verspürt, diesem erfahrenen, wenn auch in seiner Zunft als verschroben abgestempelten Literaturwissenschaftler seine kurzen, aber prägnanten Werke vorzutragen. Dobrowolny war es ja gewesen, der den Freiherrn davon abgebracht hatte, sich für sprachliche Miniaturen von wenigen Seiten (für die jeweils ein imponierender Titel rasch gefunden war) zu schämen. Er riet ihm bekanntlich im Gegenteil dazu, diese Auslassungen als sein ureigenstes Genre zu pflegen – mehr noch, wenn er je den Wunsch verspürte, ein umfangreicheres Opus vorzulegen, sollte es ihm ein Leichtes sein, aus vielen Bruchstücken ein einheitlich scheinendes Ganzes zu kleistern.

Demnach zog er wieder einmal den schon etwas abgelegenen Text mit dem vielversprechenden Titel „Der Herr der Stuten” hervor (in dem es darum ging, dass ein Gebieter seine Untertanen in die Freiheit entlässt, und diese trauern ihm nach, obwohl er sie sehr, manchmal auch extrem sadistisch gequält hat). Was ursprünglich als großer Roman geplant gewesen war, aber bis jetzt gerade 55 Zeilen aufwies, wurde auf einmal zum Quäntchen einer sprachlichen Miniaturensammlung umfunktioniert, die der Freiherr mit dem Oberbegriff „Finalismus” herausbringen wollte – und wie es seine Art war, sah er Ditta von Teesheims neues Werk nicht nur auf Deutsch erfolgreich, sondern auch bereits in eine Reihe anderer Sprachen übersetzt: Finalism, Finalisme, Finalismo, ????????, ???????? und nicht zuletzt auch in das Idiom der Echwjechs, von dem er ein wenig mitbekommen hatte, als die Schwanenhalsigen sein Anwesen beherrschten und ihn selbst als Gefangenen hielten: Wsich’che (dies ohne zu wissen, ob der Begriff tatsächlich in dem von ihm intendierten Sinn gebräuchlich war).

DREHBUCHAUTORIN CLAUDETTE WILLIAMS:
Max bestärkte ihn bei diesem Plan, den Dirk japsend darlegte, noch erschöpft von einer heißen Szene, in der wieder einmal er, wiewohl selbst passionierter Reiter, der Zugerittene war.

Dobrowolny entrierte sogar, während er mit einer von heimlichem Sarkasmus geprägten Geste über den blanken Schädel seines Freundes strich, die Idee, das Nachwort zu diesem Buch zu verfassen – damit nicht nur Kompetenz an sich, sondern auch seine besondere Affinität zu Dirk bekundend (denn wer sich hinter „Ditta von Teesheim” verbarg, würde man im Fall einer tatsächlichen Veröffentlichung schon durchsickern lassen, vor allem, um Leserschichten zu erschließen, die zwar den Freiherrn, nicht aber die pseudonyme Dame kannten).

DREHBUCHAUTORIN CLAUDETTE WILLIAMS:
Im Nu war Max weit fort mit seinen Gedanken. Er griff sich an sein bestes Stück (nennen Sie es meinetwegen, wie Sie wollen) – seine bevorzugte Denkhaltung, wie wir mittlerweile begriffen haben, besonders wenn er sich unbeobachtet fühlte und bisweilen (wie eben jetzt) sogar in Gegenwart anderer, was nicht unwesentlich zu seinem desaströsen Ruf beitrug.

Finalismus, so formulierte er bei sich, beschreibt den intellektuellen Zustand einer Gesellschaft, die sich bis an den Rand ihrer Möglichkeiten fortbewegt hat, unabhängig von den Voraussetzungen, die durch ihre Herrschaftsverhältnisse definiert sind. Es kann eine Despotie sein, deren Autoritätsfigur sich plötzlich verweigert (wie in der Skizze mit dem Herrn der Stuten), oder eine Demokratie, deren vom Volk gleichwohl legitimierte Funktionäre nicht mehr weiter wissen…

Aber da unterbrach Dirk von E. das, was aus seiner Sicht als lähmende Stille erschien: „Vielleicht sollte ich ja wenigstens einige dieser Kabinettstückchen geschrieben haben, bevor du dich an eine wissenschaftliche Umrahmung machst!” Sprach’s und zog sich schmollend zurück. Max sah ihm unverwandt nach – er blieb, wie wir wissen, nicht allein zurück.

114

Du, Brigitte, denkst du, ein Erzählerpaar, das in einer Geschichte miteinander Liebe macht, sollte dies den Leserinnen und Lesern ausführlich beschreiben?

BRIGITTE:
Wenn es ohnedies öffentlich geschieht, wie damals im „Flaubert”, spricht nichts dagegen. Auch sonst finde ich Andeutungen darüber, dass wir es schon ab und an mitten im Erzählstrom getan haben, in Ordnung. Wenn wir beide allerdings ganz intim sind, ganz für uns, dann möchte ich die Details ehrlich gestanden eher für mich behalten…

… es sei denn, Duweißtschonwer…

BRIGITTE:
… der richtige Autor …

… würde uns dazu zwingen – mit dem Hinweis, bei ihm gäbe es keine Privatheit der Figuren.

BRIGITTE:
Würde er dies aber tun, käme das empfindliche Gleichgewicht, das ihn außerhalb dieses Textes hält (was er offensichtlich zu beabsichtigen scheint), ins Wanken, denn sowie er hier persönlich auftritt, ist er selbst zur Figur geworden und muss seine Rolle unverzüglich an eine Art Über-Ich abtreten, bis womöglich auch dieses wieder der Versuchung erliegt, sich zu outen, und so weiter und so fort.

Aber das hatten wir ja schon, als wir über Duweißtschonwen diskutierten, insbesondere über die Frage, ob er wohl affirmativ oder kritisch zu seinem Text eingestellt sei und was dementsprechend das Koordinatensystem ausmachte, in dem wir beide uns bewegen, und wir erkannten, dass die hier geltende Erzählperspektive so facettenreich sein musste wie die legendäre, auf einer Kugeloberfläche ausgetragene Schachpartie, die Anpan, die Androidin AP 2000 ®, so hervorragend beherrscht, weil ihr technisch-räumliches Vorstellungsvermögen für ein Spiel im Spiel perfekt geeignet ist…

BRIGITTE:
… wobei sie allerdings stets davon überzeugt bleiben muss, dass es sich eben bloß um ein Spiel (also bestenfalls ein Modell der Wirklichkeit handelt), denn wenn sie nur im Geringsten annehmen müsste, die Realität selbst enthielte derlei Paradoxien und Inkonsequenzen, würden ihre Schaltkreise recht ordentlich zu glühen beginnen.

Anders als unsere entsprechenden Gehirnpartien! Denn wie die Zerlegung der Autorenrolle in unterschiedlich geartete und von der Handlung unterschiedlich weit entfernte Charaktere zeigt, sind wir ja tatsächlich imstande, die extremsten Standpunkte einzunehmen (und damit, nebenbei gesagt, die Leserin und den Leser oft ziemlich ratlos zu lassen). Schreibend kann ich jederzeit aus diesem alten Körper zurücksteigen in mein Ich von fünfzehn oder sechzehn Jahren, zurück zu den ersten Annäherungsversuchen bei dir, aber ich bin jung, ohne die späteren Erfahrungen zu entbehren, und daher sehr erfolgreich bei dir…

BRIGITTE:
… was du auch ohne diesen Kunstgriff warst…

Lass doch, ich möchte nicht jene konkrete Vergangenheit nochmals Revue passieren lassen, sondern mir eine alternative Vergangenheit ausdenken.

BRIGITTE:
???

Ich sehe dich vor mir – ein Mädchen meines damaligen Alters, aber von einer Frivolität, die du in Wahrheit nicht hattest, selbst in den pikantesten Situationen deines Lebens, ob mit mir oder ohne mich. Ich sehe dich, wie du neben mir im Auto meines Vaters sitzt (das ich mir ohne zu fragen genommen habe und in dem ich ohne Führerschein herumkutschiere). Wir halten am Flussufer, und ich beginne dich eingehend zu betrachten: Deine unbedeckten Knie (die Röcke waren damals kurz, selbst bei sehr behüteten jungen Damen), deine halb entblößten Schenkel, die geradezu hineinzuführen scheinen in die Seligkeit. Und – ja! – du schiebst den Saum deines Kleides noch weiter hinauf, sodass ich nur noch mit meiner Hand der deinen folgen muss.

BRIGITTE:
Aber was ist daran erfunden – ganz genau so hat es sich ja abgespielt!

Da trügt dich deine Erinnerung, meine Liebe, denn gar so bereitwillig hast du mich nämlich nicht ’rangelassen, und als ich mir endlich selbst meinen Weg gebahnt hatte, war da diese lästige Strumpfhose und dann noch der biedere weiße Slip.

BRIGITTE:
Und was, bitte sehr, geschieht in deiner alternativen Phantasie?

Ganz einfach – es stellt sich heraus, dass du einzig und allein einen winzigen roséfarbenen Tanga anhast…

BRIGITTE:
Etwas, das es damals gar nicht zu kaufen gab – es sei denn, in einem Laden für Nutten-Outfit!

Sag ich ja, dass dem Erzähler einer Geschichte alles möglich ist. Denn genausowenig war es damals üblich, sich die Schamhaare zu trimmen, und dennoch bist du in meiner Vorstellung dort unten nackt bis auf einen süßen kleinen Landing Strip, den ich umgehend untersuche, nachdem ich den dünnen Stoff deines G-Strings herabgezogen habe. Wie zart und weich und wohlriechend das alles ist! Wie willkommen ich mich fühle, als ich mich auf den zurückgestellten Sitzen, so gut es geht, neben dir ausstrecke…

BRIGITTE:
(lässt sich mitreißen) Und wie schnuckelig du aussiehst, als ich auch dir aus den Kleidern helfe, nicht achtend, ob da vielleicht jemand an uns vorbeikommen und uns beobachten kann. Einerlei – Duweißtschonwem, der uns auf jeden Fall zusieht (und der gedacht hat, er kann uns vor sich hertreiben), zeigen wir es jetzt. Denn ich bin nicht, wie es in Wirklichkeit war, schockiert, als ich deinen Penis das erste Mal sehe, sondern greife ungeniert zu und halte ihn in meiner Hand wie einen lange vertrauten Gegenstand.

Also ich weiß nicht – Gegenstand?!

BRIGITTE:
Pardon, ich vergesse glatt, wie persönlich das Verhältnis von euch Männern zu eurer Rute ist! Aber wenn du weitermachen möchtest – ich jedenfalls will! – wirst du mir wohl oder übel ein wenig Verfügungsgewalt über das bewusste Objekt übertragen müssen, vor allem es mir aber freistellen, wie ich mein eigenes Verhältnis dazu definiere!

Bei unserem ersten Mal (in unserer Erzählung genau wie in der damaligen Realität alle möglichen Klischees bedienend, aber weniger tollpatschig als dort), geht es diesmal hoch her: Nach langen Küssen, die unsere Lust aufeinander fieberhaft gesteigert haben, kommen wir zum Wesentlichen. Im leicht diffusen Licht, das durch die getönten Fensterscheiben dringt, sehe ich das langgestreckte Tal vor mir liegen, und vorbei an den seitlichen Erhebungen wandere ich darauf zu. Mein Blick fällt auf eine Knospe, die sich mir in den Weg stellt und leise zittert, als sie, während ich mich zu ihr hinabbeuge, den leisen Hauch meines Atems fühlt, und sie gibt sich meinem Rhythmus hin, öffnet sich ganz, als wollte sie einen Sonnenstrahl begrüßen.

BRIGITTE:
Ein Stöhnen, ein Schrei der Erlösung. Dann nur noch Stille, Reglosigkeit, tief befriedigte Ruhe.

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

BRIGITTE:
Fast scheint es mir, als habe ich mich niemals auf eine reale Situation so intensiv eingelassen wie auf diesen unseren (jetzt gemeinsamen) Traum.

Letztlich ist es auch – mit einem gewissen zeitlichen Abstand jedenfalls – nicht mehr so entscheidend, ob wir in echten oder in erdachten Reminiszenzen schwelgen, denn beides spielt sich nur mehr in den großen, der Außenwelt abgekehrten Bereichen unseres Bewusstseins ab – physiologisch ist es sogar sicher von gleicher Qualität. Welche Konsequenzen sich für die gegenwärtige Situation ergeben sollten, in der Geschehnisse erinnert, aus dem Rückblick neu adaptiert oder völlig neu erfunden werden, ist wohl die entscheidendere Frage an dieser Stelle.

BRIGITTE:
Und du meinst, diesem Duweißtschonwem sei das jetzt unangenehm, dass wir beide (wiewohl natürlich im Vergleich zum übrigen Personal sozusagen Figuren erster Ordnung) uns mit diesem Extempore in eklatanter Weise selbständig gemacht haben, während er – vielleicht? hoffentlich? – einem Konzept, wenn nicht gar einem ausgefeilten Masterplan folgt, bei dessen Verwirklichung er nichts weniger brauchen kann als die allzu große Autonomie der Belegschaft!

Aber die muss er einfach fallweise zulassen, selbst wenn er dabei einiges riskiert. Ich stelle mir diesen Duweißtschonwen als eine – pardon für den Vergleich! – Spinne vor, die in Nullkommanichts ihr kompliziertes Netz webt, aber wenn dieses fertig ist, kommt die Beute angeflogen, fängt sich darin und zerstört damit die Harmonie des Gebildes. Genau das aber ist dessen Zweck!

115

Niun-Meoa wurde von manchen seit jeher vergöttert: Er (oder sie oder es, das konnte man nicht mit Sicherheit sagen, da es sich um eine Lebensform mit vorwiegend geistiger und nur marginaler physischer Manifestation handelte, und daher wird es besser sein, fortan als Pronomen für ihn oder sie oder es „?” zu verwenden, was zugleich die treffendste Übersetzung von ?s Namen in die irdische Begriffswelt darstellt), ? also war dementsprechend daran gewöhnt, niemandem je etwas zu geben, sondern stets nur zu nehmen, was ihm gefiel. Als Basis dessen suggerierte ? den Normalsterblichen, derer ? sich fallweise bediente, sie seien im Dienste einer höheren Sache unterwegs, und die meisten waren – so wenig ich das auch nachvollziehen kann – glücklich dabei.

PRODUZENT SID BOGDANYCH:
Spekulationen über Niun-Meoas Eigenschaften wurden allerdings sonder Zahl angestellt, zumindest von jenen, die Spuren von ?s Dasein registriert oder womöglich mit ? selbst Kontakt gehabt hatten. Gerade die Tatsache aber, dass ? keine konkrete Gestalt nach unserem landläufigen Verständnis besaß, sondern fallweise in dem einen oder anderen Format auftrat, eröffnete natürlich eine Fülle von Interpretationen, deren Verfechter jeder für sich felsenfest überzeugt war, die seine sei die richtige. Hejchwejch, der Stammvater der Echwejchs, hätte wahrscheinlich am besten darüber Auskunft geben können, denn er war ja intensiv mit Niun-Meoa in Berührung gekommen, als ? versuchte, das schwanenartige Tier künstlich zum Humanoiden zu mutieren und damit einige zehntausend Jahre Evolution abzukürzen, in denen das vielleicht ohnehin geschehen wäre. Für Hejchwejch ging das Experiment – in dessen Verlauf unter anderem sein Federkleid gewaltsam entfernt wur¬de – bekanntlich letal aus, nicht aber für seine Rasse als solche, die nach ?s Lerneffekt mit dem bedauernswerten Versuchskaninchen tatsächlich eine sprunghafte Höherentwicklung durchmachte.

Dennoch kann all das nicht als erwiesen gelten, denn wir haben davon nicht mehr als das Zeugnis von König Keyhi Pujvi Giki Foy Holbys Leibwächter, der seine Informationen kurz vor seinem Tod in aller Eile und dementsprechend unvollständig weitergegeben hat. Wer sagt denn, dass Niun-Meoa nicht doch bloß das höchste Wesen der Echwejch-Religion ist, also vom Standpunkt der wissenschaftlichen Metaphysik, Abteilung Theologie, eine Mystifikation (real lediglich im frommen Bewusstsein, ähnlich den geisterhaften Ahnen der Koori); und wer sagt denn, dass Hejchwejch nicht einfach Stifter oder Prophet dieses Glaubens war, der – wie es oft kommen mag – von der gnadenlosen Hand hartnäckiger Agnostiker den Märtyrertod erlitt; und wer sagt denn, dass die schwanenhalsige Priesterklasse nicht die eigentlichen Drahtzieher seines Kults (und damit Nutznießer ihres eigenen Dogmengebäudes) waren?

Als erwiesen kann gelten, dass ?s Wohnsitz – der naturgemäß schwer zu lokalisieren war, aber nehmen wir ihn einmal als jenen Ort an, wo ? in sich zu ruhen pflegte – in einem von der Erde aus gesehen sehr weit entfernten Raumsegment lag, aber im gleichen Sonnensystem wie der Heimatplanet der Echwejchs. Der jeweilige Hohepriester dieses Volkes dünkte sich exklusiv im Besitz des Wissens um die höchsten und letzten Dinge, daher beschäftigte er sich auch niemals mit der Frage, ob eine Persönlichkeit wie ? womöglich aus der emotionalen Sphäre reinen Glaubens, in der ? als Galionsfigur diente, auch hinüberragte in jene andere – rationale – Sphäre akademischer Religionsbetrachtung, wie sie Chicago dereinst so trefflich umrissen hat: das Substrat von Gottsein.

Vielleicht war ja Niun-Meoa einfach der Walemira Talmai ähnlich, von der wir auch nur wissen, wie sie uns hier und jetzt entgegentritt, und keineswegs, in welchem Format sie sich in höheren Dimensionen bewegt, und eigentlich hat sich niemand von uns jemals ernsthafte Gedanken darüber gemacht. Jedenfalls wäre man bei ihr nie auf die Idee gekommen, sie wegen ihrer speziellen Fähigkeiten als Gottheit zu verehren, und in derselben Weise, denke ich, sollte man Niun-Meoa nicht zum Allmächtigen stilisieren. Die besondere Ausstattung ?s bestand nämlich darin, dass ? einen von uns aus gesehen höhergradigen Raum, nämlich R4, beherrschte.

PRODUZENT SID BOGDANYCH:
? ist wahrscheinlich am besten zu verstehen, wenn man ihn mit einem Menschen unserer Dimensionalität vergleicht, den man seinerseits an den Möglichkeiten einer flächigen Kreatur misst. Klarerweise wäre dieser in der Lage, derartige Flächengeschöpfe völlig zu durchschauen und vor allem zu manipulieren. So müsste er beispielsweise bloß eines von zwei Dreiecken aus deren gemeinsamer Lebensebene herausnehmen und in eine andere, räumlich versetzte Ebene transferieren: Dann würden die beiden einander nie mehr begegnen, was ihnen doch in ihrer Welt jederzeit freistünde. Genau das kann Niun-Meoa mit unsereinem tun, indem ? uns aus unserem Heimatraum entfernt und in einen ganz anderen, entlang der vierten Dimension verschobenen 3D-Raum wieder einfügt. Aus diesem Grund muss ? uns natürlich als ebenso schwer begreifbar erscheinen, wie wir es für ein 2D-Individuum wären.

Wenn ich mich in ?s Lage versetze, denke ich, er müsse sich seit Beginn seiner Existenz stets einsam gefühlt haben, denn wenn man sich gleich eine Realität vorstellen könnte, die für ?s Gegebenheiten wie geschaffen wäre, so ist es zwar nicht selbstverständlich, dass ? dort allein lebte, aber nur wenn das der Fall war, dann versteht man in gewisser Weise, dass ? andere Wesen zum Vergnügen benützte, offenbar nicht angekränkelt von irgendwelchen ethischen Bedenken.

Wir, die künstlerisch tätig sind, wie du als Produzent und ich als Regisseur…

PRODUZENT SID BOGDANYCH:
… als großer Regisseur!

Vielen Dank! Wir also, die folgerichtig mit virtuellen Phänomenen eher vertraut sind als der Durchschnitt, mögen ja noch mit so etwas wie Niun-Meoa umgehen können, aber in den Alltagswelten der Normalbürger wirkt derlei doch extrem verstörend.

PRODUZENT SID BOGDANYCH:
Und unsere Kultur neigt daher dazu, dem angeblich Absoluten und Endlosen relative und begrenzte irdische Eigenschaften zuzuweisen, die das Verständnis von nicht oder jedenfalls nicht einfach beschreibbaren Phänomenen erleichtern helfen.

Zum Beispiel Wut…

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

PRODUZENT SID BOGDANYCH:
Niun-Meoa war nämlich äußerst wütend, denn ? war mit den Echwejchs des bislang liebsten Spielzeugs beraubt worden, das ? sich mit großem Aufwand gestaltet hatte – durch die Anmaßung einer gar nicht so besonders gut ausgestatteten, gar nicht so achtunggebietenden Rasse, genannt Menschen. Nach ?s Erkenntnis handelte es sich dabei körperlich um recht kümmerliche dreidimensional-endliche Figuren, und als eigentliche Missetäterin beim Echwejch-Desaster hatte ? eine Anastacia Panagou identifiziert, die sich mit einer ganzen Reihe virtueller Gestalten umgab, die sie offenbar selbst konstruiert hatte und deren Struktur ? aus bestimmten Gründen nur allzu bekannt war. ? beschloss daher, diese Dame im Auge zu behalten, um zu verhindern, dass sie ihm noch näher rückte – vielleicht sogar allzu nahe kam. Zu diesem Zweck wählte ? ein ihm unverfänglich scheinendes Format und begab sich auf die Erde, einen in ?s Anschauung eher mickrigen Planeten. Dort angekommen, stellte er allerdings zu seinem nicht geringen Entsetzen fest, dass es sogar viele Exemplare jener Gattung gab, die sehr wohl höhere Dimensionen entlang zu denken vermochten, oder sogar zu handeln, wie etwa diese Walemira Talmai oder dieser Giordano Bruno.

Aber damit wurde für Niun-Meoa selbst die Frage akut, was ? war? Deinen Vergleich mit uns und den Flächenwesen in Ehren, doch würde das ja quasi bedeuten, ? wäre von einer höheren Warte betrachtet nichts anderes als wir 3Ds, bloß eben ein 4D.

PRODUZENT SID BOGDANYCH:
Das scheint mir irgendwie exakt ?s Problem: Für ? war bei 4D Schluss (ebenso wie für die überwältigende Mehrheit von uns bei 3D), und als ? erstmals mit jemandem konfrontiert war, dem die gesamte Palette von Dimensionen – manche sprechen von zehn, andere von noch mehr – offenstand, schaffte ? zwar einschlägige Interpretationen, aber in Wahrheit half ? das nicht weiter. Niun-Meoa reagierte wie jedes andere Individuum gleich welcher Ausprägung – ? versuchte, das was nicht in sein Weltbild passte, zu eliminieren, und das gelang ? bei Anastacias geliebtem Giorduzzo, da dieser aufhörte, sich zu wehren, müde geworden von den Fährnissen seiner zweiten Existenz. In diesem Fall konnte auch Berenice nicht helfen – oder vielmehr, sie vermied das bewusst, um Brunos Entschluss zu respektieren.

Aber was unternahm Niun-Meoa gegen die anderen?

PRODUZENT SID BOGDANYCH:
Der Walemira Talmai selbst konnte ? grundsätzlich nichts anhaben, dank der Gaben, die ihr die geisterhaften Ahnen verliehen hatten. Sie war ? ohnehin immer einen Schritt voraus, und so beschränkte sie sich darauf, ?s Attacken so nebenher abzuwehren, als ob sie es mit einem lästigen Insekt zu tun hatte. Sie war darauf bedacht, ? nicht ernsthaft zu insultieren, denn sie hatte eigentlich Mitleid mit ?. Wer immer aus ihrer Umgebung von ? wusste und ? für ebenso gefährlich hielt wie die seinerzeitigen Invasoren aus der Spiegelwelt, den korrigierte sie milde lächelnd: Um Niun-Meoas aggressives Geflügel mit Machwajch an der Spitze zu besiegen, habe es ihrer Hilfe gar nicht bedurft. Und das Argument, dass durch die Hinrichtung der Schwanenherrscherin immerhin die Abkoppelung des Paralleluniversums ausgelöst worden sei (mit all den dramatischen Konsequenzen, von denen wir erfahren haben), verwies Berenice energisch ins Reich der Phantasie – die beiden Ereignisse hätten außer einer zufälligen zeitlichen Koinzidenz nichts miteinander gemein.

Und hat ? nun etwas Konkretes gegen Anastacia unternommen?

PRODUZENT SID BOGDANYCH:
Die Panagou stand ganz oben auf ?s Abschussliste und musste, ohne es selbst zu ahnen, mehrfach gerettet werden. Immerhin hatten Niun-Meoas Recherchen ergeben, dass sie imstande schien, ? zu analysieren, zu verstehen und womöglich den entscheidenden Punkt zu finden – die einzige Stelle, an der ? durch 3Ds verwundbar war.

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