ROMAN NR. 10 – Leseprobe 10
Kapitel 28
Alma und Cynthia waren unzertrennlich. Alma arbeitete bekanntlich in der Kärntner Straße, Cynthia in der Mariahilfer Straße – aber sie konnten es gar nicht erwarten, nach der Arbeit heim in die Dresdner Straße zu kommen. Cynthia hatte ihr Quartier in der Hernalser Hauptstraße nicht völlig aufgegeben, aber als Hauptwohnsitz die andere Adresse gewählt.
Mit Männern waren sie Beide durch, zumal ihr Schicksal ähnlich verlief – in Cynthias Fall war extreme körperliche Gewalt hinzugekommen. Aber auch Almas Erfahrungen mit Mackern waren nicht ohne. Sie hatten jedenfalls mit sich zu tun – sie brauchten keine Kerle. Immerhin waren sie extrem vorsichtig – die Reaktion mit den Kollegen hatte ihnen schon gereicht, obwohl sie gar nicht so schlimm ausgefallen war. Alma und Cynthia gingen in der Öffentlichkeit niemals Hand in Hand, geschweige denn küssten sie einander – das schon gar nicht.
Ihre intimen Erlebnisse machten sie im stillen Kämmerlein – zur Sicherheit, anders als bei Felix Steinfeld, der sich fallweise geoutet hatte, besonders in seinen jungen Jahren, als er noch relativ stolz war über seine Veranlagung. Alma und Cynthia waren von Haus aus ängstlich, was ihre Neigung betraf – Ausnahme war, wie gesagt, der Moment, als sie sich unmittelbar kennengelernt hatten. Da waren sie überwältig worden hinsichtlich ihrer Gefühle.
Dabei gab es bei ihnen ein Auf und Ab der Empfindungen, wie bei jedem heterosexuellen Paar auch. Cynthia störte es zwischenzeitlich gewaltig, wenn sie sah, dass Alma eine leidenschaftliche Fernseherin war, während sie mit ihr reden wollte. Umgekehrt störte es Cynthia, wenn Alma sie nicht auf ihren ausgedehnten Spaziergängen begleiten wollte. Das machte sie rasend –
Aber halt: wegen sowas sollten sich Alma und Cynthia in die Haare geraten? Lächerlich!
Kapitel 29
Nicolas hatte – temporibus illis – an einem Kurs über Butoh („Tanz der Finsternis“), ist ein Tanztheater ohne feste Form, das nach dem Zweiten Weltkrieg in Japan entstand. Es ist auch ein Widerstand „…gegen den bloßen Import der westlichen Moderne in Tanz und Theater“, mit dem Ziel, „…eine neue, zeitgenössische und selbstreflexive japanische Kunst schaffen zu wollen“. Was entstand, lässt sich poetisch umschreiben als „die Entdeckung des dunklen Körpers“.
Dazu – unter Anleitung von Aya Irizuki, der berühmten Butoh-Darstellerin – musste sich Nicolas einer entfremdeten Prozedur unterziehen, die von mühsamer Körperbeherrschung hinführte zum Tanz, der von der Abfolge von Bewegungen, die nach einem durch Musik oder eine andere akustische Äußerung hervorgebrachten Rhythmus ausgeführt wird – weitab vom westlichen Muster entfernt.
Der fremde, verfremdete Körper war weiß geschminkt, großteils nackt, dazu zeigt der Tänzer Verrenkungen und Bewegungen, wie man sie zum Beispiel in einem Ballett wie bei Schwanensee von Pjotr Iljitsch Tschaikowski nie finden würde. Eine solche Darbietung wird zum Spiegel der Zeit, sie wendet sich gegen eine „…grauenerregende artifizielle Harmlosigkeit und Biederkeit“ und bedient sich radikal des Absurden und der Groteske, was Erschrecken und Abwehr beim Zuschauer hervorrufen kann und soll.
Nach langen Bemühungen (und viel Schweiß, der auf dem angekalkten Körper deutlich zu spüren war) wurde Nicolas in die Lage versetzt, den Sinn des Butoh verstehen und danach zu handeln.
Nach der Quasi-Auseinandersetzung mit Zoé wandte er sich mangels anderer Beschäftigung wieder intensiv dem Tanz. Er und Zoé sahen sich kaum, obwohl sie nach wie vor unter einem Dach lebten. Wenn Zoé frühmorgens das Haus verließ, um in Nicolas‘ Firma zu gehen, schlief er noch, und wenn sie spätabends heimkam, war er weiter in Sachen Butoh unterwegs.
Kapitel 30
Nach dem Tanz traf Nicolas regelmäßig auf Felix Steinfeld und Maximilian Klein, das waren die letzten verbliebenen Freunde, die Nicolas in seine Beziehung mit Zoé hinüberretten konnte. Der Rest seines umfangreichen Bekanntenkreises verlor sich mit der Zeit.
Felix, der (mittlerweile) Reiche, und Maximilian, der Dandy (noch immer) hatten für‘s Erste nichts Gemeinsames – aber freundeten sich bald an. Die Klammer stellte Nicolas dar, den sie beide in gewisser Weise verehrten. Diese (sozusagen) Spange wurde durch Erzählungen verstärkt, die Nicolas ihnen auftischte – man könnte auch milder ausdrücken: kredenzte!
Und da gab es einiges zu berichten, was die Beiden in der Form nie erlebt hatten: man denke nur an Nicolas Erlebnis mit dem Modellstehen oder -sitzen, und dass er in der Pause keinen Bademantel oder etwas Vergleichbares angezogen und unbeschwert und unbefangen seinen Kaffee getrunken hatte. Oder aber (was die Freunde besonders interessierte) seine Erfahrungen mit Butoh.
Butoh – er zitierte den Freunden wörtlich, was er bei dem Kurs gelernt hatte – vermeidet eine „…grauenerregende artifizielle Harmlosigkeit und Biederkeit und bedient sich radikal des Absurden und der Groteske, was Erschrecken und Abwehr beim Zuschauer hervorrufen kann und soll“. Felix und Maximilian erstarrten (so unterschiedlich sie waren) zur Salzsäure.
Sie waren perplex ob der Wucht des Butoh, die sich mit keinem westlichen Standards vergleichen ließ. Um noch einmal Aya Irizuki wiederzugeben: „… wenn ich nackt bin, dann würde das Publikum sehen, dass ich nackt bin. Wenn ich aber meinen Körper mit Reismehl bedecke, wäre ich noch immer nackt – aber in der verfremdeten Form“.
Die Freunde staunten – was Vergleichbares hatten sie niemals erlebt…