ALICE – Leseprobe 2
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Ja, die männliche Kapazität – anders als weibliche Ausdauer war sie durchaus überschaubar. Während die weibliche Persistenz womöglich mehrere Durchgänge en suite vertragen konnte – man denke nur an die spezifischen Fähigkeiten der Prostitution (wie sich die armen Huren dabei fühlten, bleibe dahingestellt).
Egal, wir müssen das nicht vertiefen. Fest steht nur, dass Alice befreit war von dem Zwang der ständigen Bereitschaft, noch etwas erleben zu sollen, und der Skepsis, etwas erleben zu müssen, was sie in Wahrheit gar nicht wollte – nun war es ein für alle Mal geschehen. Punkt und aus – es erübrigte sich jede weitere Debatte.
Was ihr mehr Sorgen machte, war ihr Vater. Sie konnte sich vorstellen, welche Skrupel er empfand, mit seiner Tochter Sex gehabt zu haben. Dabei deutete sie persönlich in diesen Moment nicht als Bestandteil einer Vater-Tochter-Beziehung, als das, was es war, nämlich als Bestandteil einer Beziehungskiste zwischen Geliebter und Geliebtem. Schön war es! Zumindest in ihren Augen!
Warum konnte er (mutmaßlich) nicht dasselbe erleben wie sie! Das war eben so! Ein unüberbrückbaresn Hindernis! Alice hatte es jedenfalls genossen – und wie sich hinterher herausstellte, mit einigem Vergnügen!
Und dann gingen es wieder in die mehr oder weniger fade Maloche, wobei im Falle Alices der Frust nicht allzu stark war – sie konnte sich nicht beklagen. Auf die internationale Karriere hatte sie bewusst verzichtet – kleinere Brötchen auf Grund des Hierbleibens waren dementsprechend angesagt. Nicht vergleichbar war Udos Desillusionierung mit seiner Arbeit, und diese nahm noch zu.
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Valentina Lena Sterling ließ nicht wirklich in den Bemühungen locker, Alice auf ihre Seite zu ziehen. Dabei berücksichtigtes sie nicht, was zwischen Vater und Tochter mittlerweile passiert – sie konnte es nicht wissen, weil Alice eisern geschwiegen hatte. Sonst hätte Valentina nämlich einen hysterischen Anfall bekommen, wenn ihr dieser inzestuöse Umstand bekannt geworden wäre.
Alice und ihre Mutter saßen im Café Mozart, nachmittags (Valentina hatte am Vortag Vorstellung gehabt und war dementsprechend spät aufgestanden) bei Kuchen und Kaffee, und plauderten über den Erfolg, den Valentina beim Publikum eingefahren hatte – das Internet tobte bereits über die tolle Aufführung. Alice zollte ihr Respekt!
Und darauf wechselte Valentina abrupt das Thema: „Dein Vater hat mich nie verstanden in einem Punkt: Wenn ich zum Beispiel von Puccinis ‚Tosca’ heimgekehrt bin, aufgewühlt durch eine Liebesszene mit Cavaradossi, wollte er ganz normal mit mir reden – das geht in der Situation erst nach einer Phase der Abkühlung. Und wenn Udo persönlich anwesend war, während ich abgekämpft von Verdis ‚Don Carlos’, wo ich die Elisabetta di Valois gespielt habe, in die Garderobe kam und eine Zeitlang gar nichts sagen wollte, war er ungehalten. Er hatte ja seinen Beifall bekundet, und das war‘s dann wohl.
Dabei musste er wissen (so glaubte ich jedenfalls), dass man das nicht so einfach spielen konnte, ohne seine Seele hineinzulegen und das wenigstens für kurze Periode wahr werden zu lassen. Er hatte das nicht ganz unberechtigte Gefühl, dass da mehr war, zwischen Cavaradossi und mir (die Kuss-Szene) und zwischen Don Carlos und mir, während ich ihn weggestoßen habe – aber halbherzig.
Das ist das Schwierige an der Beziehung zwischen einem Nicht-Schauspieler, wie Udo, und einer Schauspielerin, wie mir, dass ein bisschen Toleranz gegenüber den Bedürfnissen der ‚Action‘, die manchmal bis zur Selbstverleugnung reicht, erforderlich ist.“
Nach dieser langen Darstellung lehnte sie sich zurück, um einen Schluck Kaffee zu trinken. Alice sah sie nachdenklich an und dachte sich ihren Teil: wo sie recht hatte, hatte sie recht. Udo Brinkmann war ein Armleuchter. Ihre Mutter hatte zurecht schneiden lassen.
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Alice hatte einen richtigen Großauftrag (jedenfalls für ihre Verhältnisse) bekommen. Es handelte sich um die Errichtung einer kompletten Siedlung mitten in der Stadt. Es bedeutete, dass sie sich das grundsätzliche Design erst überlegen musste. Sie wählte eine futuristische Variante, die gewagt war, aber nicht unästhetisch.
Da war kein gerades Element, schon an den Außenhüllen der Gebäude. Wichtig war es Alice, dass zumindest die Fenster an den Fassaden von den Bewohnern frei gestaltet werden durften. Dazu kamen Bäume und Sträucher auf den Balkonen und Dachterrassen – eine grüne Oase im sonst grauen Umfeld des fünften Bezirks.
Das mit vielen bunten Farben verzierte Styling hob sich angenehmen von der Tristesse der Umgebung ab. Und es gab einen „Dorfplatz“, auf dem sich (hoffentlich) das gesellschaftliche Leben der Siedlung abspielen sollte. Ein Einkaufszentrum und zahlreiche Geschäfte ergänzten das Angebot.
Alice arbeitete praktisch rund um die Uhr an ihren Auftrag (das war sie von ihrem Studium her gewöhnt) – was sie allerdings nicht gewöhnt war, das waren die zahlreichen Rückfragen von Professionisten wegen jeder Kleinigkeit. Der ausführende Baumeister war inkompetent – ob des Volumens des Vorhabens, aber das war es nicht allein. Es handelte um eine Sache von Korruption, dass dieser spezifische Mann es werden musste – es war zum Verzweifeln!
Und so blieb alles und noch mehr an Alice hängen. Sie konnte sich keinen Fauxpas leisen, wenn sie je wieder an eine Order dieser Größenordnung herankommen wollte. Es war eine Chance, die so rasch nicht wieder auftauchen würde – wenn überhaupt.
Um es kurz zu machen: das Projekt wurde ein voller Erfolg, und zwar in der Planung und auch in der Ausführung! Es wurde auch international sehr beachtet!
Allerdings – der materielle Überhang (wenn man das so nennen wollte) war überaus bescheiden. Alice hatte zuviel an Arbeit hineingebuttert, davon eine Menge kostenlos, damit die Sache nicht auf der Strecke blieb. Das sagte sie aber nie jemanden, dass es nicht publik wurde.
Udo Brinkmann war im höchsten Grade eifersüchtig auf seine Tochter – nach dem Stichwort: Warum sie und ich nicht! Valentina Lena Sterling, die sich gerade in New York aufhielt, wo sie an der Met mit „Lulu“ von Alban Berg brillierte, gratulierte Alice am Telefon herzlich! Sie hatte aus internationalen Zeitungen davon erfahren.