ALICE – Leseprobe 10
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Udo Brinkmann war vier Monate später tatsächlich an‘s Meer gefahren, nach Rhodos, nach Kalathos, um genau zu sein, in die Kathara-Beach, um noch genauer zu sein. Dort wartete Diamandos Taverne mit angeschlossener Pension auf ihn – er hatte ebenda schon mehrfach übernachtet.
Udo schwelgte dort in leiblichen Genüssen: Tsatsiki, ein Joghurtgericht mit Knoblauch, Gurke und Olivenöl – Auberginensalat – Griechischer Salat aus Tomate, Gurke, Paprika, Oliven und Schafskäse – Dolmadakia, mit Reis, Gewürzen und Zwiebeln gefüllte Weinblätter – Fasolada, die griechische Bohnensuppe – Gigantes, große, weiße im Ofen gebackene Bohnen in Tomatensoße – Gemista, mit Reis gefülltes Gemüse, meistens Tomaten, Paprikaschoten, Auberginen oder Zucchini, aber auch Kartoffeln – Bamies in Tomatensoße – Moussaka, ein Auflauf mit frittierten Kartoffelscheiben, Hackfleisch, in Olivenöl gebratenen Auberginen und einer Auflage von beim Überbacken gestockter Béchamelsauce – Pastitsio, ein Nudelauflauf aus Hackfleisch und Makkaroni – Souvlaki, Fleischspieße unterschiedlicher Größe, entweder mit Lamm- oder Schweinefleisch – und so weiter.
Er genoss diese Sinnenfreuden mit ganzer Kraft. Dann legte er sich zu Bett und wie ihm Brauch geworden war – er hielt seinen Atem (in ausgeatmeten Zustand selbstverständlich) minutenlang an, wobei er sich in einen Rausch steigerte, zum Teil auch masturbierte, und immer schneller war die Ekstase. Und kaum, dass er einen Durchgang beendet, kam schon der nächste Turn – bis er erschöpft einschlief.
Am darauffolgenden Morgen war Udo noch immer geschlaucht, aber voller Tatendrang. Nach einem leichten Frühstück ging er an den Strand und warf sich in die Fluten – ein zufällig anwesendes deutsches Ehepaar (offensichtlich ebenfalls Frühaufsteher) mokierte sich über seinen String („Der alte Depp!“, moserten sie). Aber er beachtete die Beiden gar nicht.
Er schwamm weit hinaus, weit genug, dass er den Boden verlor, und dann noch weiter, wo er der Tiefe von vielleicht fünfzehn Metern einen Felsen erblickte, an dem er sich festhalten konnte. Er tat ein Übriges – er klemmte so ein, dass er nicht wieder freikam. Jetzt wurde ihm allmählich bewusst, was er da angestellt hatte. Er schrie um Hilfe, aber außer einem Blubbern kam nichts. Er bekam es direkt mit der Angst zu tun, aber da half gar nichts. Er hatte die Weisheit, das Beste daraus zu machen und immer weiter zu masturbieren, bis das Ende gekommen war.
Udo Brinkmann war Geschichte. Überraschend entdeckte ein anderer Taucher Tage später die Leiche – sie war konserviert, wegen des Salzwassers. Lediglich kleine Fischchen hatten ihr schon gütlich getan.
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Lord Cheltenham war es gelungen, kraft seiner Beziehungen, eine Karte in der ersten Reihe zu ergattern, wo Valentina Lena Sterling (er hatte im Programm ihren vollen Namen erfahren) die Rolle der Desdemona in der Verdi-Oper „Otello“ spielte. Er hing an ihren Lippen – wenn man ganz ehrlich war, sie sang plötzlich nur für ihn. Der übliche frenetische Applaus donnerte aus, wenn immer Valentina auftrat.
Der Lord trug zur Feier des Tages einen Smoking, was ihn komplett anders aussehen ließ, als in dem schlichten Overall. Sie bat ihn in ihre Garderobe, wo sie in seiner Anwesenheit ganz ungeniert sich abschminkte, das opulente Kostüm auszog und in BH und Hös‘chen vor ihm stand. Er wollte ihr diesbezügliche Avancen machen, aber sie sagte schell: „Ich muss Honneurs veranstalten – dazu haben wir im ‚Claridge’s‘ einen Raum reserviert, wo die ganzen Journalisten und Adabeis auf mich warten. Das gehört dazu!“
Sie staffierte sich mit einem „kleinen Schwarzen“ aus und so marschierten Cheltenham und die Diva los – zur Überraschung des Publikums Valentina mit einem neuen Mann an ihrer Seite, der tatsächlich etwas linkisch herumstand angesichts der Prominenz oder Pseudo-Prominenz der Anwesenden. Er passte viel eher in‘s Oberhaus – allerdings hatte sie ihn in einem „Fish ’n’ Chips“-Lokal kennengelernt. Sie wurde nicht recht schlau aus ihm, was ihr Interesse weckte.
Die Überlegungen dazu mussten ohnedies zurückstehen – sie musste sich um die Gäste kümmern, die wegen der großen Sterling und nur wegen ihr gekommen waren. Small Talk war angesagt, aber ihre Befürchtungen und auch ihre Träume blieben außen vor. Small Talk eben!
Valentina konnte das mittlerweile perfekt, das unverbindliche Geschwafel – während dem sie etwas ganz Anderes dachte, und da ging ihr der Lord nicht aus dem Kopf. Sollte mit ihm schlafen, das war hier die entscheidende Frage, die in dem Augenblick beantwortet war, in dem sie gestellt worden war. Valentina sollte, das war sonnenklar.
Bei Cheltenham war das nicht so sicher. Wenn er irgendwelche Flirts gemacht hatte – das würde er wahrscheinlich mit jeder halbnackten Frau so handhaben. Aber sonst war da nichts, außer seinem neuentdeckten Faible für die Musik, aber nur, wenn sie von Valentina vorgetragen wurde. Also galt es für Valentina abzuwarten, bis der heutige Termin vorbei war.
30
Im Falle „Udo Brinkmann“ wurde eine Untersuchung eingeleitet, deren Inhalt war, ob es sich um Eigenverschuldung oder um Fremdverschuldung handelte. Einerseits konnte man sich nicht richtig vorstellen, wie jemand sich dieser Tortur selbst unterziehen sollte und andererseits war niemand in der Nähe gewesen – soweit ersichtlich. Hier galt es anzusetzen – ob vielleicht doch ein anderer Taucher unterwegs gewesen war. Dann hätte man an der Oberfläche gar nichts bemerkt und der andere Froschmann hätte sich klammheimlich unter Wasser davonstehlen können.
Die Ermittlung verlief erwartungsgemäß ergebnislos.
Mit der Zeit entstanden Verschwörungstheorien rund um den Tauchunfall von Udo Brinkmann, die mit der Realität zunehm immer weniger zu tun hatten. So wurde behauptet, dass ein großer fleischfressender Fisch (wie ein Hai) es zuwege gebracht hatte, mittels seines Maules den Felsen so zurechtrücken konnte, um sich später gütlich an seiner Beute zu tun. Der Mensch hatte keine Chance.
Die nächste Annahme lautete auf kleine tektonische Verschiebungen, die so unglücklich verlaufen waren, dass sie den Felsen über Udo hereinstürzen ließen. Die nächste Spekulation war noch abenteuerlicher – sie sprach von Außerirdischen, die angeblich ausgerechnet Udo zum Objekt ihrer Versuche machen wollte.
Nur auf das Naheliegendste waren die Verschwörungstheoretiker nicht gekommen – dass er sich zu Tode gevögelt hatte…