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Agatha Collins – Die geheimnisvolle Fremde

„Wie bei jedem Genre gilt auch für einen Krimi: Schaffe dir ein Alleinstellungsmerkmal, welches deine Leser und Leserinnen überrascht. Das kann eine besondere Ausgangsidee sein oder ein ausgefallener Ermittler. Oder die Geschichte spielt in einer vergangenen oder zukünftigen Zeit oder an einem speziellen Ort. Auch aktuelle Themen wie Umwelt oder Digitalisierung lassen sich hervorragend in einen Krimi integrieren. Guten Stoff bieten auch reale Verbrechen, auf deren Basis du einen Krimi schreiben kannst.“

Soweit zur Theorie. Agatha Collins und Akiko Yamamoto hatten einen echten Fall, den sie bearbeiten sollten. Es ging um eine junge Dame, namens Xaviera D’Ignacy – sie war auf relativ brutale Weise ermordet worden. Man hatte ihr von hinten die Kehle durchgeschnitten und zusätzlich ihre Zunge entfernt – diese war nirgends aufzufinden. Die Londoner Polizei hatte in dieser Causa die Zähne ausgebissen und rief – widerwillig – das Agentenpaar zu Hilfe.

Den Grund für die Widerwilligkeit hatten Agatha und Akiko rasch umgehend herausgefunden: Es war ordentlich geschlampt worden! Zum Beispiel war eine vaginale Untersuchung unterblieben – die Ermittlungen hatten sich lediglich auf die offensichtliche Wunde am Hals und im Mund beschränkt.

Als erste Maßnahme holten sie einen Vaginalabstrich nach, der keine Ergebnisse brachte, da eine allfällige Vergewaltigung als zehn Tagen zurücklag. Akiko gab nicht auf, und folgerichtig zeigten sich winzige Spuren auf den Schleimhäuten, die auf ein gewaltsames Eindringen schließen ließen. Der Mörder musste also kurz vorher (oder kurz nachher, was besonders grausam war, angesichts der Sauerei) an ihr vergangen haben.

Wie der Killer so ohne weiteres entkommen konnte (immerhin fand der Mord am helllichten Tag statt), blieb zunächst ein Rätsel. Noch dazu in der 9-11 Lower Thames Street, wo die wichtigen Sehenswürdigkeiten der Tower of London, die St Paul’s Cathedral und die Houses of Parliament waren. Agatha und Akiko begannen ihre Nachforschungen in der herrschaftlichen Wohnung, wo noch immer Spuren der Bluttat zu finden waren. Die Polizei hatte das Quartier gründlich auseinandergenommen, wobei auch ein Zuviel des Guten passiert war. Mit einen Wort: Es war nicht viel Verwertbares übrig geblieben.

Xaviera D’Ignacy war für die Ermittlerinnen ein unbeschriebenes Blatt – auf den ersten Blick. Dann entdeckte Akiko, die sich mittlerweile zu einer scharfsinnigen Beobachterin entwickelt hatte, in einem Geheimversteck etwas, das der Staatsgewalt durch die Lappen gegangen war. Es handelte um ein unscheinbares Notizbuch – es enthielt die teilweise brisanten Namen von Politikern sämtlicher Couleurs. Xaviera hatte sich offenbar durch die Politprominenz geschlafen – gerade, dass der Premierminister nicht dabei war. Was nicht ist, konnte noch werden – oder eben nicht, da das rechtzeitig verhindert wurde: Durch den gewaltsamen Tod der Hauptdarstellerin!

Am Leben war die D’Ignacy eine beeindruckende Persönlichkeit – das wussten die Detektivinnen von „Dr. Google“, den sie anfangs befragt hatten. Viel standf nicht in wenigen Dateien, die ihnen zur Verfügung standen. Die Files erwähnten keinen Hinweis auf irgendwelche Prostitutionsgeschichten oder auf sonstiges einschlägige Material, dafür eine kurze Biografie des Inhalts, dass ihre Vorfahren aus Polen stammten, sie selbst wegen ihres Reichtums mit Kusshand die britische Staatsbürgerschaft erhalten. Sie konnte sich selbst erhalten.

Sie muss betörend schön gewesen sein (auch das hatten die Beiden gegoogelt) – auf dem Polizeifoto von ihrer Leiche war sie beträchtlich weniger attraktiv, aber wer sollte ihr das verdenken – aber genug der makabren Bemerkungen. Sie suchte und fand zu ihren Lebzeiten eine Beschäftigung, indem sie exklusive Partylocations besuchte, zum Teil auch ihre Wohnung für derartige Anlässe zur Verfügung stellte. Auf diesen Events machte sie sich an Politiker heran.

Dann lud Xaviera sie mit gebührenden Abstand, um sie ein wenig zappeln zu lassen, bis sie ganz scharf waren, in ihre Bleibe ein. Die D’Ignacy ging bei ihren „Einzelterminen“ über kurz oder lang auf‘s Ganze. Das hatten Agatha und Akiko vom „Maior Domus“ erfahren, der eine Treppe unter ihr lebte, was der Polizei komplett entgangen war. Die Ermittlerinnen hatten einen anderem Zugang – wer würde sich um die kleinen Verrichtungen des Alltags kümmern wie Einkaufen, Kochen, Saugen und Wischen et cetera?

Und wie es zu Sache ging, hatten sie ebenfalls vom Maior Domus erfahren, der gelegentlich seine voyeuristischen Gefühle nicht unterdrücken konnte und sich in der Besenkammer versteckte, von aus das Liebesspiel genau zu beobachten war. Es war für Xaviera seit langem vollkommen klar, dass er das machte, und es ihr herzlich gleichgültig. Damit ergab sich eine unerschöpfliche Quelle an Informationen für das privatdetektivische Paar.

Agatha und Akiko waren interessiert an einem Mann, bei dem sie sich eventuell vorstellen konnten, dass er den Mord begannen hatte. Der Typ bevorzugte den Sex ein bisschen rauer – um es einmal milde auszudrücken. Er war Verteidigungsminister (sein Name sei hier verschwiegen), sein Verhalten war im persönlichen Kontakten – besonders bei intimen Beziehungen – eher kriegsministerlich. Aber sei dem sei – sie hatten ihn auf ihrer Karte ganz oben, zumal eine diskrete Umfrage im Umfeld des Politikers ergab, dass dessen Frau bereits Lunte gerochen hatte.

Da die Ermittlerinnen offiziell keine Kenntnis von seiner höchstprivaten Telefonnummer haben konnten, traten sie als zwei Journalistinnen auf, die ein Feature über sein bisheriges Leben für irgendein Boulevardmedium schreiben sollten – Foto inklusive, auf denen er martialisch dreinblickte (dabei er war so richtig gut darin).

„Wir wollen in der nächsten Stunde nicht gestört werden!“, sagte er mit großartiger Miene zu seiner Sekretärin, als sie ihnen Kaffee brachte.

So wollen wir einmal. Er harrte auf die erste Frage. Und die kam unerwartet schnell: „Haben Sie neben her etwas laufen!“, erklärte Agatha. – „Sie meinen, in sexueller Hinsicht?“

Damit hatte der Minister sich gleich vorzeitig verraten – denn man konnte das so verstehen oder anders: Man könnte diese Anspielung auch so interpretieren, dass er es vermied, beruflichen von privaten Interessen streng zu trennen.

„Gehen wir das Sexuelle gleich an! Haben Sie ein Verhältnis?“, fragte Akiko schlau nach. Und der Mann, der er auch war, bestätigte seine außereheliche Beziehung voller Stolz! Damit hatte er sich selbst an‘s Messer geliefert. Nur war ihnen soeben ein potenzieller Verdächtiger bezüglich Mordes an Xaviera D’Ignacy abhanden gekommen – sie waren inzwischen davon überzeugt, dass er zu dieser grausamen Bluttat nicht fähig war.

Ein Schwerenöter zweifellos, der auch mit seiner Sekretärin ein Techtelmechtel (sozusagen zum Drüberstreuen) laufen hatte – und das parallel zur Liebschaft mit Xaviera, nicht zu vergessen, dass er auch seine Ehepartnerin regelmäßig bediente. Diese wusste natürlich längst von seiner Liebschaft und auch von seiner Beziehung zu seiner Mitarbeiterin und wer weiß, was er noch für kurzfristige Romanzen hatte, von denen sie nichts wusste. Sie ließ sich das gerne gefallen, denn wenn er sie in die Arme nahm, war alles vergessen und sie durchlebte – nicht achtend seiner Filouhaftigkeit – ungeheure Wonnen.

Ein Sexbesessener! Denn natürlich mussten Agatha und Akiko den Behörden melden, dass hier ein gewisses Sicherheitsrisiko bestand – und zwar wegen der Hurerei des Betreffenden. Der Prime Minister entließ den Missetäter umgehend – er wollte den Delinquenten schon ewig loswerden, und zwar aus rein persönlichen Gründen: Der Minister hatte auch mit der Frau des Regierungschefs angebandelt, und was das Schlimmste war – sie war flüchtigen Liaison nicht abgeneigt. Sie wollte auch erleben, was ihr Xaviera, die sie privat kannte (bevor ihre Freundin so grausam starb), erzählte – von den Wonnen!

Aber wir schweifen ab – Tatsache ist, dass Agatha und Akiko im Moment ohne jeden Verdächtigen dastanden, denn die Übrigen aus dem „Freundeskreis“ waren mehr oder weniger starke Weicheier, denen ein bestialischer Mord nicht zuzutrauen war. Die Auftraggeber von der Londoner Polizei rieben sich sicherheitshalber schon die Hände über den Misserfolg des Agentenpaares. Zu oft hatten sie zugesehen, wie die Beiden den Ruhm einheimsten, während sie bestenfalls die Drecksarbeit ausführen mussten.

Agatha Collins und Akiko Yamamoto nahmen einen gewaltigen Anlauf. Sie listeten noch einmal auf, was sie bislang an Erkenntnissen gewonnen hatten. Und das war nicht gerade viel: Da war einmal der Fakt des Mordes an Xaviera, fest und unverrückbar. Und dass sie sich überflüssigerweise auf die Spur mit dem Minister verbissen – und dass war‘s dann.

Akiko hatte eine Idee, die von Agatha (bei aller Liebe, die sie hegten) von vornherein als völlig verrückt eingestuft wurde.

Akiko sagte: „Jetzt lass‘ mir doch die Gelegenheit, meinen Einfall – der mir überdies im Schlaf gekommen ist – genauer ausführen. Im Zentrum steht eine frustrierte Frau, nämlich jeder Frau, deren Ehemann sich eine Affäre mit Xaviera angefangen hatte und die das nicht so einfach hinnehmen wollte!“

Agatha sprang auf den Zug auf: „Und die in abgrundtiefen Hass, auch vor drastischen Maßnahmen – wie Mord – nicht zurückschreckte!“

Jetzt war sie wieder da, die Einigkeit in den Argumenten, die sie beide so auszeichnete und die zum Gelingen dieses Projekt (nämlich, dass ein Team von Privatdetektiven manchmal schlauer war, als die Polizei) beitrug – ihre Karriere steht und fällt mit den Resultaten, während die Beamten weiter Dienst tun, so als, ob der Erfolg gleichgültig war. Legen wir es einfach zu den Akten, war die stehende Redewendung.

Nun galt es, bei den Gesponsinnen der Politprominenz anzusetzen!

Und es galt, nicht gleich mit der Tür in‘s Haus zu fallen – so à la „Haben Sie eine Dame auf dem Gewissen, die mit Ihrem Mann geschlafen hat?“

Nein, das forderte ein gewisses Fingerspitzengefühl, ein gewisses Etwas, im Französischen mit „je ne sais quoi“ übersetzt, was bedeutet, dass das nicht so einfach zu erklären war.

Sie nahmen mit „ je ne sais quoi“ die Angetrauten vor – aber stellten fest, dass Keine von denen zu einem Mord fähig gewesen wäre. Die Eine war lesbisch, wie sie den Ermittlerinnen unter dem Siegel strengster Verschwiegenheit mitgeteilt hatte – sie war nur bei ihrem Mann, dem Agrarminister, aus Bequemlichkeit geblieben. Nicht vergessen durfte werden, dass nur er ihr den Luxus, den sie gewohnt war, bieten konnte – während alle ihre queeren Geschlechtspartnerinnen arm wie die sprichwörtlichen Kirchenmäuse waren.

Eine Andere war ganz froh, dass ihr Mann, der Präsident des „Supreme Court of the United Kingdom“, sie nicht anrührte – ihr gruselte regelmäßig, wenn es soweit war. Er stank gewaltig aus dem Mund und in den darunter befindlichen Regionen. Sie kam sich vor wie eine Hure, aber die war darauf gedrillt, das auszuhalten (wie es in ihrem Inneren aussah, ging niemand etwas an beziehungsweise interessierte sich auch niemand dafür). Auch da war für Agatha und Akiko Fehlanzeige.

Wieder Eine andere lebte ihr Leben ganz normal mit einem Mann als Randfigur, obwohl er Bildungsminister war. Zuhause hatte er allerdings nichts zu melden – auch diese Kandidatin für den Mord fiel aus. Bei den übrigen Prätendentinnen war es dasselbe – wiederum ein Flop nach dem anderen.

Die Beiden waren ratlos – sollten sie sich wirklich die Blöße geben und zum ersten Mal in ihrer Laufbahn als Privatdetektive klein beigeben und ihre Mission als gescheitert betrachten?

Als Akiko die Unterlagen, die sie getreulich aufbewahrten, noch einmal durchsah, fiel ihr auf, dass sie gleich bei ersten Dame (der Lesbe) etwas Entscheidendes nicht beachtet hatten. Und das war, was man sozusagen die sekundäre oder tertiäre Ableitung – so genau war‘s nicht, um sich drauf festzulegen – bezeichnen könnte. Es ging im Prinzip darum, dass ein homoerotisches Flittchen plötzlich hochgradig verdächtig erschien.

Es stellte sich heraus, dass die D’Ignacy eines abends nicht mit der sonst üblichen Politprominenz in‘s Bett gehen wollte, sondern mit einer einfachen Frau aus dem Volk. Diese war betörend schön – sowie sie selbst, sie konnten Zwillinge sein – und hatte ihre Aufmerksamkeit erregt: Einmal mit ihrem Ebenbild herummachen, war für sie ein Muss!

Dieser einmalige lesbische Seitensprung (übrigens der erste und einzige in ihrem Werdegang) wurde ihr zum Verhängnis, indem die Geliebte der Frau rasend vor Eifersucht Xaviera umbrachte, und zwar auf erwähnte bestialische Art – die Zunge herauszuschneiden war besonders brutal, zumal sie zu diesem Zeitpunkt noch gelebt hatte. Sie sollte offenbar von ihrer Eroberung nicht berichten!

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Agatha Collins und Akiko Yamamoto waren wie erschlagen. Sie waren offenbar mit ihren ursprünglichen Vermutungen völlig falsch gelegen, hatten überflüssigerweise eine Beinahe-Regierungskrise ausgelöst und auch sonst einiges durcheinander gebracht. Am Ende hatten sie doch noch die Kurve gekratzt…