Agatha Collins – Das mexikanische Rätsel
Agatha Collins flog – gemeinsam mit Akiko Yamamoto, ihrer Partnerin – nach Mexiko, um über Einladung des dortigen Polizeiministers die örtlichen Kräfte zu unterstützen. Müßig zu sagen, dass diese nicht begeistert waren – was sollten eine europäische und eine japanische Ermittlerin ihnen am Zeug flicken. Der Empfang war dementsprechend frostig.
Agatha versuchte mit einem kleinen Scherz: „Balancearse al niño juntos!“, sagte sie gebrochenem Spanisch: „Wir werden das Kind gemeinsam schaukeln!“
Das kam bei den Adressaten gar nicht gut an: „Wir sind nicht dazu, um Ihre blöden Bemerkungen anzuhören!“, antworteten sie in geschliffenem Englisch.
„Und wie geht‘s jetzt weiter?“, fragte Agatha. – „Wir machen unser Ding und Sie machen das, wofür unser aller Boss Sie hierher geschafft hat – was auch immer das sein mag!“ – Der Sprecher ließ offenbar eine bestimmte Despektierlichkeit gegen den Polizeiminister erkennen – wahrscheinlich gehörte er ganz einfach nicht derselben Partei an.
Die denkbar schlechtesten Voraussetzungen für eine gedeihliche Zusammenarbeit der Behörden mit den Privatdetektivinnen waren das. Wo unter diesen Umständen beginnen? Ihr Start war zweifellos in Mérida, der Hauptstadt des mexikanischen Bundesstaates Yucatán. Das hatte ihnen die Polizei fairerweise verraten – was sie nicht verraten hatte, war wie gefährlich eine Reise mit dem Auto in‘s 120 Kilometer östlich davon gelegene Chichén Itzá war, besonders in der Nacht.
Was für europäische Verhältnisse als völlig harmlos erscheinen mag, nämlich eine Wegstrecke von eineinhalb Stunden zurückzulegen, die im Handumdrehen abgespult werden konnte, erwies sich in Mexiko als ziemliches Wagnis, mit jeder Menge Schlaglöcher. Und sie kamen in die Dunkelheit hinein. Mangels jeglicher Beleuchtung mussten sie am Straßenrand stehen bleiben.
Als die fremden Taschenlampen auf sie gerichtet wurden, sagte einer drei Banditen frech: „Was haben denn da – zwei einsame Gringas! Jetzt rückt einmal Euer Bargeld heraus, bevor wir Euch vergewaltigen, und dann den Geiern zum Fraß vorwerfen!“
Damit hatten die Verbrecher keinesfalls gerechnet: dass Agatha nicht dastand wie ein Kaninchen vor der Schlange. Sie trat den Ersten in die Weichteile, dass er sich krümmte. Dem Zweiten verdrehte sie das Handgelenk so stark, dass es krachte, und für den Dritten hatte sie den bewährten Griff über, der zum vorübergehenden Systemausfall führte. Akiko musste in der Angelegenheit gar nichts unternehmen. Dafür musste sie dann mit ihrer (die eigentlich dem Dritten gehörende) Taschenlampe vor dem Auto vorangehen, während Agatha chauffierte, um von den Straßenräubern möglichst weit wegzukommen.
Am frühen Morgen hatten sie einen Mordshunger – allein es war noch keiner der zahlreichen Kioske geöffnet. Sie staunten dennoch: Mit einer Fläche von 1547 Hektar ist Chichén Itzá einer der ausgedehntesten Fundorte in Yucatán. Das Zentrum wird von zahlreichen monumentalen Repräsentationsbauten mit religiös-politischem Hintergrund eingenommen, aus denen eine große, weitestgehend erhaltene Stufenpyramide herausragt. Im direkten Umkreis befinden sich Ruinen von Häusern der Oberschicht.
Die Pyramide des Kukulcán (Maya-Wort für Quetzalcoatl), von den spanischen Eroberern auch El Castillo („Burg“, „Festung“) genannt, ist eine Tempelpyramide in der Ruinenstadt. Die Pyramide ist 30 Meter hoch, hat eine Grundkantenlänge von 55 Metern und erhebt sich in neun Pyramidenstufen. Die Treppen an allen vier Seiten umfassen 365 Stufen. Diese Zahl setzt sich wie folgt zusammen: Drei Treppen zählen 91 Stufen und die nördliche Treppe zählt 92, ergibt 365. Dass sich diese Zahl auf die Tage des Jahres bezieht, ist eine Sage, deren Wahrheitsgehalt erst der Überprüfung harrt.
Als erstes kauften sich Agatha und Akiko bei einem der wiedereröffneten Kioske einen Kaffee und ein Sandwich. Dann beratschlagten sie – da ihnen die Polizei weitere Hinweise vorenthalten hatte – ihr ferneres Vorgehen. Der Kiosk-Besitzer mischte sich ohne Bedenken ein.
„Haben Sie schon das Neueste gehört – in der Kukulcán-Pyramide wurde offenbar ein Kapitalverbrechen begangen. Überall Blut, und nicht zu knapp – nur die Leiche fehlte. Die hat sich davongemacht!“, sagte er respektlos. „Wenn Sie sich die Sache einmal anschauen wollen, ich führe Sie gerne zum Tatort. Wir müssen nur abwarten, bis meine Frau den Laden übernehmen kann!“
Da die Beiden momentan nichts zu tun hatten (in Ermangelung weiter Informationen), konnten sie sich den Ort des Verbrechens gerne einmal anschauen – dabei waren sie in Wirklichkeit schon längst drinnen. Es ging nämlich genau um jene Vorfälle, die sich in der Pyramide abspielten – da hatten sie instinktiv den richtigen Riecher gehabt.
Und sie erlebte noch eine Überraschung: Der Mann, der beschiedene Kiosk-Besitzer Agustín, war in Wahrheit – und das zeigte sich, als sie in Innere des Bauwerks vorgedrungen waren – der Hohepriesters der Maya, der ihnen im vollen Ornat entgegentrat. Diese Amtstracht bestand aus einem Kopfschmuck, Brustpanzer, Schürze, Zepter und dem rituellen Schmuck. Sein Name war Aj Koo Yuumilawoll (Mutiger Besitzer deiner Seele).
Weder wussten Agatha und Akiko, wie es (balanerweise) die Verwandlung von Agustín zu Aj Koo so ohne weiteres vonstatten gegangen war, noch wussten sie grundsätzlich über den Glauben der Maya Bescheid. Aus Sicht der Maya war das Blut Sitz der Seele und Lebenskraft, die Seele selbst stellte man sich jedoch luft- oder rauchförmig vor – etwa in Form einer Atemseele. Daher fing man das gewonnene Blut durch Papierstreifen auf, die man anschließend verbrannte.
Zum Thema „Menschenopfer“: Die Maya haben vor Kriegen, bei Dürren und bei Hungersnöten diese dargebracht. Diese Opfer sind durch entsprechende Skelettfunde in sogenannten Cenotes (Opferbrunnen) und in Überlieferungen belegt. Nach indianischen Legenden sollen bei der Weihe eines Tempels der Maya mehrere Tausend Menschen zu einem „Ball“ verknotet und die Tempeltreppe hinabgestoßen worden sein. Das frühere Bild, dass die Maya friedfertiger als die Azteken seien, ist daher grundfalsch. Durch neuere Forschungsergebnisse, insbesondere seit der Entzifferung der Schrift, wurde dies jedoch relativiert.
Aj Koo Yuumilawoll gestand ohne Weiteres ein, dass er den Mord begangen und die Leiche in einer solchen Cenote geworfen hatte – allerdings nicht als Tötung schlechthin, sondern mit allen Insignien eines Vorgangs ausgestattet – namentlich mit dem Auffangen des Blutes als Akt des Glaubens. Damit sollten die Götter Jahr für Jahr zufriedengestellt werden. Bis zum heutigen Tag hatten die Gläubigen (die echten Gläubigen, die insgeheim noch immer der alten Lehre anhingen), auch niemals Anstoß daran genommen, dass jedes Jahr Einer beziehungsweise EIne von ihnen sich dieser ehrenvollen Aufgabe unterziehen musste – und sterben!
Bis sich die Polizeibehörde einmischte, mit Unterstützung sogar von zwei Privatdetektivinnen. Da ging gar nichts mehr, die alte Ordnung drohte sich aufzulösen – und da hatte Aj Koo Yuumilawoll persönlich eingegriffen und die zwei Ermittlerinnen durch Telepathie eingeladen zu kommen und seine Argumente anzuhören.
Und mit Erfolg!
Agathe und Akiko schlichen sich heimlich fort, ohne mit dem Polizeiminister in Mexico City noch ein Wort zu wechseln. Sie flogen zum Anschein nach Europa – tatsächlich aber kamen sie in die Kukulcán-Pyramide, um von dem Hohepriester in die Geheimnisse der Maya-Kultur eingeweiht zu werden, die im Untergrund noch immer am Leben war.
Sie blieben ein volles Jahr. Sie wurden mit allem versorgt. Und sie lernten. Bis es wieder Zeit war, um ein Opfer zu bringen – diesmal eine junge Frau, die freudestrahlend zustimmte. Alle Versuche der Beiden zu aufzuhalten waren vergeblich – zu groß war ihre Todessehnsucht und Sehnsucht, den Göttern gleich wiedergeboren zu werden.
„Ihr könnt sie nicht aufhalten!“, sagte Aj Koo Yuumilawoll streng…