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ÜBER DIE GRENZE – Leseprobe 1

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Er war ein mittelmäßig aussehender Mann. Sie war eine etwas besser aussehende Frau. Er war Buchhalter in einem Unternehmen der Autozulieferbranche (AVL) in Graz. Sie war Prokuristin bei Volkswagen in Wolfsburg. Dass sie dienstlich jemals begegnen würden, war astronomisch klein. Und dennoch fand sie statt – ihre jeweiligen Chefs waren verhindert und sendeten sie nach Wien in das dortige Kontaktbüro der AVL, um einiges zu besprechen (was aber hier nichts zur Sache tut).

Nach der Besprechung, die irrsinnig lange dauerte und während sie sich gegenseitig immer stärkere Avancen machten, gingen sie in‘s nahegelegene „Hotel Central“ in der Wipplingerstraße, wo ihnen zwei Zimmer gemietet worden waren. Nachdem sie sich ein bisschen frisch gemacht hatten, fasste sich Adam Maurer ein Herz.

„Wollen wir gemeinsam etwas essen gehen?“ – Dabei verschlang er Irmgard Krause insgeheim mit seinen Blicken.

Irmgard war mit ihren Blicken wesentlich weniger sorgsam (wie manche Frauen aus Deutschland so sind). Sie sagte, fast etwas aggressiv: „Ja, gerne!“

Sie hatten sich wechselseitig vorweg gegoogelt – da stand ganz deutlich in beiden Fällen „verheiratet mit…“. „… Kai.“ beziehungsweise „… Wanda.“ Das waren die besten Voraussetzungen für ein gelungenes Date – obwohl, es war kein richtiges Date, nur ein Essen. Aber für Adams war es kein einfacher Esstermin – er wollte mehr. Er kannte von seinen früheren Aufenthalten in Wien das „Café Glacis“ – das hatte den Vorzug, dass es im ersten Stock ein Extrazimmer besaß, in dem zu dieser späten Stunde kein Betrieb herrschte.

Sie aßen und sie quatschen. Dann gab es einen kurzen Moment der Ratlosigkeit – sollten sie oder sollten sie nicht. Das war hier die Frage: To be, or not to be?, wie Shakespeare so richtig sagte. Sie dachten kurz an ihre jeweiligen Ehepartner, dann aber übermannte die Lust. Unter ständigen Küssen ging es ab in‘s Hotel. Dort – in Adams Zimmer – rissen sie sich die Kleider vom Leib – im übertragenen Sinne könnte es bedeuten, sich von materiellen Besitztümern zu trennen, um eine größere innere Freiheit zu erlangen. Adam hatte sich mit Kondomen versorgt – wenn das seine Frau Wanda wüsste, dass er sich zu einem Geschäftsevent so etwas eingesteckt hatte, für alle Fälle. Die Krause fand im Gegenteil, dass seine Prophylaxe direkt sympathisch war – ein weiterer Unterschied der Mentalitäten beider Länder, während beide im Endeffekt das Gleiche wollten, nämlich mit jemandem zu schlafen.

Irmgard und Adam schliefen miteinander – und für‘s erste Mal es gar nicht schlecht und zahlreiche weitere Höhepunkte folgten in dieser Nacht. Dabei wurden die Beiden immer besser, je mehr der Abschied drohte. Denn sie mussten am kommenden Tag schon wieder abreisen – die Hoffnung auf ein Wiedersehen war äußerst vage. Dabei ersehnten sie dieses Rendezvous von ganzem Herzen, unabhängig von den Konsequenzen.

2

Zunächst bewegten sie sich weit voneinander weg – acht Stunden Autofahrt netto, mit Pausen sogar zehn Stunden nach Wolfsburg (Irmgard), und dreieinhalb Stunden nach Graz mit kurzer Pinkelpause (Adam).

Die Krause schloss ihren Mann müde und total fertig in die Arme – sie hätte in dieser Situation alles mit ihr geschehen lassen und so gab sie sich ihm hin, lustlos zwar, aber er merkte in der Hitze des Gefechts ohnehin nichts davon. Sie betrachte die Wohnung, ihre gemeinsame Bleibe, und sagte sich: Was soll‘s? Sie hatten es Schulter an Schulter zu etwas gebracht.

Kai Krause war wohlbestallter Beamter beim Städtischen Wasserwerk, das war die sichere Seite der Angelegenheit, und seine Frau, wie gesagt, Prokuristin bei Volkswagen – das war in Zeiten wie diesen die unsichere Perspektive. Die weiblichen Personen wurden im Falle der Kündigung nach wie vor den Männern vorangeschickt.

Und so lebten sie „glücklich und zufrieden“, aber fade dahin. Sie gingen fallweise aus in ein gutbürgerliches Restaurant, nicht zu oft, aus Ersparnisgründen. Zuhause war es viel gemütlicher. Sie gingen niemals zum Tanz, ebenfalls aus Ersparnisgründen – außerdem war Kai kein guter Tänzer. Sie hockten vor der Glotze, was den Vorteil hatte, nicht reden zu müssen.

Irmgard fragte sich schon geraume Zeit, wieso sie den Kerl überhaupt geheiratet hatte, und das Zauberwort war „Sex“ – er konnte immer und überall. Sie ließ sich streckenweise wohlgefallen. Aber bei Adam spürte sie instinktiv, dass „Herz“ dabei war. Sie konnte sich nicht erklären – schon gar nicht, wenn man bedachte, wie kurz ihre Beziehung andauerte.

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Apropos Adam – er kehrte zu Wanda zurück, ein Lied pfeifend, damit es nicht auf den ersten Blick auffiel, dass er ihr neuerlich untreu gewesen war. Er hatte das schon mehrfach gemacht, ohne dass es seiner Angetrauten aufgefallen wäre – sie war eben eine naive Seele. Wenn Adam im Rahmen seiner buchhalterischen Aktivitäten über die Lande zog, offiziell um vor Ort nach dem Rechten zu sehen, inoffiziell hatte er diverse amouröse Affären laufen.

Aber mit Irmgard war es irgendwie anders, so anders…

Er konnte es sich nicht erklären. Das konnte nicht einfach an den Kulturunterschieden liegen – die norddeutsche Gründlichkeit versus das österreichische Laissez-faire. Das wäre zu kurz gegriffen. Die Krause und der Maurer hatten sich schlechterdings in die ihre Andersartigkeit verliebt.

Adam verhielt sich ruhig – nur nicht auffallen, war seine Devise. Vor allem die Besuche rund um Graz wurden seltener und (was die Ladys besonders frustrierte) sein ausschweifendes Nachtleben, das die Damen bis jetzt unterhalten hatte, und das ohne Reue, denn sie wollten ihre regulären Partner gar nicht verlassen. Sie mussten ihre Sexbiografien komplett von A bis Z neu erfinden oder es ganz bleiben lassen. Das konnten sie ihm niemals verzeihen.

Maurer konzentrierte sich auf die Telefonate mit Irmgard, die ungeheueres Ausmaß annahmen. Fast hätte er darüber seinen Posten verloren, aber er riß sich rechtzeitig am Riemen

Maurer konzentrierte sich auf die Telefonate mit Irmgard, die ungeheueres Ausmaß annahmen. Fast hätte er darüber seinen Posten verloren, aber er riß sich rechtzeitig am Riemen. Was sollten all diese Telefonate, er musste sie persönlich sehen! Irmgard stimmte ihm zu. Sie nahmen sich vier Tage Urlaub, ohne ihren jeweiligen Partnern etwas davon zu verraten – sie schützten daheim eine dringende Geschäftsreise vor.