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ÜBER DIE GRENZE – Leseprobe 4

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Wiebke Hohmann befand sich im sicheren Abstand zur Konzernzentrale von Volkswagen in Wolfsburg. Sie hatte ein weithin sichtbares Transparent in ihren Händen – darauf war zu lesen:

„Was sagt VW dazu? Eine von den Prokuristinnen hat ein Verhältnis!“

Abgesehen von der etwas holprigen Ausdrucksweise des Transparents waren die Manager (Damen wie Herren) äußerst pikiert, zum einen – wer hatte eine solche Verbindung nicht, und zum anderen – was hatte eine derartige Anschuldigung in der Öffentlichkeit zu suchen. Dem Geheimdienst des Unternehmens (so etwas gab’s tatsächlich) war rasch klar, dass eine frühere Mitarbeiterin, die fristlos gekündigt worden war, für den Eklat verantwortlich war.

Die Agenten bugsierten Wiebke auf das Werksgelände, wo sie in scheinbarer Sicherheit war – in Wahrheit ging es um Folter. Gefolterte Menschen umschreiben ihren Zustand häufig als «lebendig tot» und illustrieren damit, dass sie zwar nicht in körperlicher, aber in psychischer und sozialer Hinsicht zerstört sind. Die Hohmann hatte sich lange nicht erfangen von der Tortur. Sie versprach hoch und heilig, dass sie sich künftig um fremde Belange durchaus nicht zu kümmern hatte.

Im Gegenteil: Genau das würde sie auch weiterhin machen – nur subtiler und ausgeklügelter. Warum sie sich da so hineinkniete? Das hatte mit der Enttäuschung ihres Lebens zu tun – mit der Erfahrung, dass ihr Mann sie nach zehnjähriger Partnerschaft sang- und klanglos verlassen hatte. Sie nannte ihn den „Verräter“ (seine zivile Bezeichnung nahm sie gar nicht mehr in den Mund) und belegte ihn mit den unflätigsten Unterstellungen.

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Wanda spielte (Anmerkung: spielte, neuerdings) die treusorgende Ehefrau und in der Firma den Vamp – sie konnte auch gar nichts anderes evozieren, wenn sie sich noch einen Rest von Selbstachtung bewahren wollte und den Anschein von Oberwasser aufrecht erhielt, der ihr womöglich noch geblieben war. Tschreppl wurde immer rüder – er sagte am Ende gar nichts mehr, spulte nur seinen Partikel herunter.

Schließlich – von heute auf morgen – verlor er sein Interesse an ihr. Tschreppl (so durfte sie am Ende zu ihm sagen, obwohl sie nie was Anderes gesagt hatte) peilte ein neues Opfer an. Sissy Eder konnte locker seine Tochter sein – aber das ist eine andere Geschichte.

Die Maurer war ganz froh, dass es vorbei schien. Bei Tschreppl war die persönliche Passion erloschen, aber gottlob nicht die dienstliche Anerkennung, sonst müsste sie sich einen neuen Job suchen. Im Gegenteil – er teilte für die schwierigsten und gefinkeltsten Aufträge ein. Was ihr nur recht war, denn sie hatte es drauf. Was sie störte – er sah ihr von Stund‘ an niemals in die Augen. Aber sie gewöhnte sich daran.

Jetzt galt es, ihr Verhältnis zu Adam neu zu definieren. Dabei war sie insofern im Vorteil, als Maurer zwar mit seinem unvorsichtigen Gerede verdächtig war, Claus Tschreppl aber vollkommen unverdächtig erschien. Adam hatte den Vorgesetzten der Maurer nur ein einziges Mal anlässlich einer Geburtstagsparty, bei der die jeweiligen Eheleute auch eingeladen waren, kennengelernt und als soignierten, auf Distanz achtenden Herren eingeschätzt. Aber wie konnte man sich täuschen? Wanda ließ ihn komplett im Unklaren.

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Irmgard und Adam hatten aus den unterschiedlichsten Gründen nichts voreinander gehört. Sie waren aus den unterschiedlichsten Motiven äußerst vorsichtig. Sie trauten sich allenfalls zu telefonieren, aber dann „auf freien Feld“, das heißt, sie versuchten, ihre Gespräche in geschossenen Räumen zu vermeiden, was mittels Handy problemlos möglich war.

Dann hatten sie solche Sehnsucht aufeinander, dass sie alles auf eine Karte setzten und sich in Regensburg wiedertrafen. Im „Hotel Orphée“ rührten sie sich nicht vor die Tür, um nur ja nicht aufzufallen – mehr noch, sie dinierten am Zimmer. Jetzt fragt man sich, wieso dieser Aufwand – und die Antwort war: „Die Liebe!“ oder etwas, was sie dafür hielten, zumal sie quasi auf dem Absatz wieder zurückkehren mussten. Mehr als ein kurzes Tête-à-tête ging sich da nicht aus.

Dann hatten Irmgard und Adam jede Menge Zeit nachdenken – bei ihrer Heimfahrt nach Wolfsburg beziehungsweise nach Graz, ein gerütteltes Maß an Stunden. Es ging bei Beiden um nicht mehr ihre als ihre Zukunft!

Bei Beiden ging – abgesehen von den fast unüberwindbaren organisatorischen Schwierigkeiten – es vor allem um die Frage: Konnten sie sich vorstellen, dass Irmgard dauerhaft nach Graz beziehungsweise Adam nach Wolfsburg kommen könnten, abgesehen von den persönlichen und beruflichen Aspekten.

Die Antwort lautete „Nein!“

Das war die klare Erkenntnis der Beiden. Sie mochten sich auch künftig fallweise sehen, gaben sich aber keiner Hoffnung hin, dass es jetzt immer so weiter gehen würde. Wanda hatte einen konkreten Verdacht geschöpft und an Kai nagte der Zweifel, ob an den Vorwürfen, die Wiebke erhob, nicht doch etwas dran sein könnte.