ALICE – Leseprobe 4
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Die pensionierte Sängerin, die Alice unterrichtete, ging von den Tonleitern zur Harmonielehre über.
„Was bedeutet Tonumfang?“, fragte sie. – „Der Tonumfang beschreibt die Bandbreite der Töne, die du singen kannst – vom tiefsten bis zum höchsten. Indem du ihn erweiterst, kannst du ohne Probleme höher und tiefer singen.“, antwortete Alice – sie hatte ihre Lektion gelernt.
„Was ist das Timbre einer Stimme?“ – „Das Timbre ist die Klangfarbe der Stimme, die jedem Sänger seine eigene stimmliche Persönlichkeit verleiht.“
„Was ist eine Stimmlage?“ – „Sie bezeichnet den Bereich der Stimme, der durch einen bestimmten Umfang der Tonhöhe gekennzeichnet ist.“
„Aber was bedeutet es eigentlich, die eigene Stimme zu ‚platzieren‘?“ – „Kurz gesagt: Eine platzierte Stimme ist eine, die mit einer speziellen Stimmtechnik produziert wird. Sie klingt frei, kräftig und ungezwungen. Dabei wird die Stimme so genutzt, dass sie in den sogenannten Resonanzräumen des Gesichts entsteht. Das sind Bereiche wie die Mundhöhle, die Nase und die Stirn, die den Klang der Stimme verstärken und ihr Fülle verleihen.“
Die Lehrerin ging daraufhin zu praktischen Übungen über, und zwar mit Giuseppe Verdis Oper „Il Trovatore“, die erste Arie der Leonora – „Ich hoffe, dass Du ausreichend Italienisch sprichst?“
„Versi di prece ed umile,
qual d’uom che prega Iddio:
in quella ripeteasi un nome,
il nome mio!
Corsi al veron sollecita…
Egli era, egli era desso!
Gioia provai che agl’angeli
solo è provar concesso!
Al cor, al guardo estatico
la terra un ciel sembrò!“
Die Sängerin war beeindruckt – „Für eine Anfängerin ganz ordentlich!“
11
Valentina war – zusammen mit ihrem neuen Tattoo – in das Hotel Sacher in Wien zurückgekehrt. Dort traf sie sich mit Alice, die bereits sehnsüchtig auf sie wartete, um ihr mitzuteilen, dass der Vater Mutter und Tochter die ganze Zeit „unverwandt“ anblickte. Sie beschlossen, ihn auf neutralem Ort (nämlich im Café Glacis) zur Rede zu stellen. Das Café Glacis war insofern günstig, als es in ersten Stock ein Separee hatte, das die Laufkundschaft nicht frequentierte.
Dort saßen sie Drei scheinbar traulich zusammen – aber der Inhalt des Gespräch war ganz und gar nicht traulich. Valentina und Alice warfen Udo auf Verdacht hin die Verletzung ihrer körperlichen Integrität vor.
„Und dass Du meine körperliche Integrität verletzt hast“, warf der Vater der Tochter vor, „indem Du mich verführtest -“ – weiter kam er nicht. Valentina sich in‘s Zeug: „Was höre ich da – Du hast Deinen Vater verführt! Dann war das Alles nur Lug‘ und Trug!“
Valentina stand wortlos auf und verließ das Lokal.
Vater und Tochter blieben allein zurück. Die Gelegenheit war günstig – die Serviererin hatte soeben neuen Kaffee gebracht und war wieder verschwunden. Udo und Alice schienen komplett wahnsinnig zu sein.
„Ich war schon immer scharf darauf, es an einem öffentlichen Platz zu machen!“, sagte er atemlos. – „Nur zu – ich habe ebensolche Empfindungen!“
Und dann hatten sie Sex coram publico, das heißt, nicht so ganz – aber es hätte ja jemand vorbeikommen können. Das war eine vollständig neue Erfahrung, die sie da bewirkten – und was das Angenehmste war, es blieb in der Familie!
12
Valentina Lena Sterling war in Brasilien unterwegs, um auch dort „den Markt“ zu erschließen – sie sang im „Theatro Municipal do Rio de Janeiro“ die Rolle der Wirtin Madeleine (später Frau von Latour) in „Le postillon de Lonjumeau“ von Adolphe Adam. Es wurde der mittlerweile fast schon gewohnte Triumph!
Es wurde ihr langsam selbst unheimlich – sie schob allerdings derartige Überlegungen weit von sich. Triumph war Triumph!
„Wos wiegt‘s, des hot’s!“, pflegte ihre Großmutter aus der Steiermark stets zu sagen und: „Ob oana reich is oder net, ob oana gescheit is oder net, am bestn is er draun, er red sou wia er kaun!“
Valentina hatte eben eine wunderschöne strahlende Stimme! Und tat ein Übriges, sie weiterzuentwickeln, übte, wann immer sie dazukam, wenn sie nicht gerade Vorstellung hatte. Und sie durfte sich durchaus attraktiv nennen, wie es berufsbedingt fast ein Muss war. Ihr langes schwarzes Haar krönte ihre Erscheinung, ebenmäßiges Gesicht war auch nicht ohne. Ihr makelloser Körper durch zahlreiche Besuche im Fitness-Studio geprägt – allerdings schaumgebremst, mit Rücksicht auf ihr Organ.
Der „Playboy“ war bereits mehrfach an Valentina bezüglich Nacktfotos herangetreten, in allen Ehren – nichts Aufdringliches, aber dennoch hüllenlos. Sie hatte bis dato stets abgelehnt, nicht aus Prüderie, sondern aus Geschäftssinn – sie wollte den Preis hinauftreiben für ihre Blöße. Und dabei hatte die Redaktion noch gar nicht ihr süßes kleines Tattoo gesehen.
Ihre größte Leidenschaft war aber der Gesang.