AKIKO YAMAMOTO – Leseprobe 9
25
Lee Stevens hatte eine eigenartige Faszination auf Akiko ausgeübt, die sie sich nicht erklären konnte. Sie war explizit lesbisch, so war es seit ihrer Jugend gewesen, und so war es auch in ihren reiferen Jahren gewesen – da gab es nie den geringsten Zweifel. Bis Lee in Erscheinung trat!
Dabei hätte er sich nicht aus Brighton wegrühren müssen, er hätte sich nur auf den Friedhof bemühen brauchen – wo sich das Familiengrab der Stevens befand. Nur hat es nie jemand der Mühe wertgefunden, ihm das mitzuteilen. Egal – das war sein Problem und das seiner verstorbenen Tochter. Aber auf diese Weise hatte Akiko ihn überhaupt erst kennengelernt.
Lee war eine äußerst imposante Erscheinung. Volles weißes Haar, eine schlanke Gestalt, größer als die Yamamoto (was bei einem Europäer versus einer Japanerin wie sie nicht ungewöhnlich war), aber empfand es im Moment so unabänderlich und endgültig neu. So hatte sie sich einen Vater vor, den sie in Wahrheit nie begegnet war.
Akiko vereinbarte einen Termin untertags mit Lee, was gar nicht so einfach war, denn Sakura ging ihr nicht von der Pelle. Schließlich gelang es aber doch, die Beiden trafen sich „Leone Café“. Dort himmelte Akiko Lee an, aber sagte nichts. Stevens musterte die Yamamoto amüsiert – und schwieg gleichfalls. Akiko hielt es nicht mehr aus. Sie warf sich ihm an den Hals, küsste ihn leidenschaftlich, ohne auf die Blicke der Umstehenden Rücksicht zu nehmen.
Da platzte Sakura in‘s Café. „Was ist denn und hier los!“, herrschte sie Akiko und Agathas Vater an.
„Wonach sieht‘s denn aus: Ich küsse Lee!“. Akiko ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, jetzt, wo sie beschlossen hatte, sich Lee hinzugeben. – „Das wird Dir noch leid tun – viel Spaß bei unserem nächsten Auftritt.“, versetzte Sakura wütend und rauschte hinaus. Die Yamamoto bezweifelte, ob die Partnerin wirklich soweit gehen würde, ihr ernsthaften Schaden zu zufügen. Das Zimmer von Sakura jedenfalls blieb für heute zu.
Lee kaufte sich eine Karte für erste Vorstellung nach dem Streit.
26
Am nächsten Tag flanierte Lee Stevens durch den „Las Vegas Strip“, eine etwa sieben Kilometer lange Straße, die für ihre zahlreichen Casinos, Hotels und das pulsierende Nachtleben bekannt ist. Bei hellem Sonnenschein war die Szenerie weit weniger glamourös als abends und vor allem nachts. Er erwartete nahezu sehnsüchtig auf den Termin mit der Aufführung – der war aber erst in zehn Stunden. Er zog sich angesichts der immer größeren Hitze in sein Zimmer im Hotel „Bellagio“ zurück, wo er sich auf‘s Bett legte und sofort einschlief. Später gönnte er sich einen Imbiss.
Er war schon früh am Ort des Geschehens (in‘s „Light“), viel zu früh, aber er hatte in
seiner Unterkunft nicht mehr ausgehalten. Dort vertrieb er sich mit diversen Jongleuren und Zauberern die Zeit, bis endlich – man glaubt es kaum – Akiko Yamamoto und Sakura Takumi auftraten. Äußerlich hatte sich nichts geändert – aber innerlich war alles anders. Innerlich war Sakura kalt wie ein Eiszapfen, tat nur ihre ausgemachte Pflicht, aber nichts darüber hinaus.
Lee hatte das unbestimmte Gefühl, dass die Partnerin von Akiko diese im Zweifel glatt absaufen ließ, so sehr hatte sie sich entrüstet. Besonders die Tatsache, dass Akiko durch die Augenbinde blind und ohne Hilfe praktisch hilflos war, zumal sie sich kopfüber auf ihren Tauchgang machte. Es gelang ihr trotzdem und unter großen Mühen, allein klarzukommen. Wenn das nur gut ging? Es funktionierte! Was war aber mit den restlichen Performances heute nachts und was war mit den restlichen Performances, die sie in Zukunft bis zum Ende ihres Vertrags noch zu absolvieren hatten?
Da traf es sich gut, dass Lee ein begeisterter Taucher war!
Es war Akiko bis jetzt nicht aufgefallen. Sie hatten auch noch nie darüber gesprochen – warum sollten sie dieses Thema berühren? Sie hatten jedenfalls andere Gegenstände, über sie sich unterhielten. Von Agatha Collins angefangen bis zu der an sich aberwitzigen Entscheidung der Yamamoto, sich Lee an den Hals zu werfen.
Akiko war der Star dieser Show – wer die zweite Geige spielte, war letztlich gleichgültig, ob Sakura oder sonstwer. Das war dem Management völlig klar. Die Chefetage bestand aus eiskalten Geschäftsleuten, die ausschließlich am Profit interessiert waren. Und so war‘s auch: Selbst Akiko war ihnen prinzipiell egal als Person, sie hüteten bloß das Investment.
27
Sakura ließ sich nicht so leicht abschieben, obwohl sie auf verlorenem Posten stand. Sie randalierte und brüllte herum, bis sie die Security Guard umgehend des Saales verwies. Nicht einmal umziehen konnte sie sich – sie stand im Bikini auf der Straße, während ihr ihre Kleidung nachgeworfen wurde. Sie zog sich eilig an und verschwand, nicht ohne den Club zu verfluchen. „Noch sind wir nicht fertig miteinander!“, sagte sie.
Dann war wiederum Ruhe im Etablissement. Lee Stevens trainierte, bis er wieder das Niveau von Sakura erreichte. Aber da ging womöglich mehr. In seinem Speedo war er mit seinem Alter von nahezu Sechzig eine beeindruckende Figur. Er übte unermüdlich, so sehr es seine Kräfte zuließen, und konnte am Ende bis zu zwölf Meter tief tauchen und er schaffte es, bis zu zwölf Minuten unter Wasser zu bleiben – und er hatte den Rekord von Akikos bisheriger Partnerin gebrochen.
Das Management war begeistert! Nicht nur, dass die Tauchkünste des Stars, die für sich schon gefährlich waren, gab es da noch einen alternden Kerl, der sich beweisen wollte. Ohne Rücksicht auf Verluste – die Gefährlichkeit par excellence. Das Damoklesschwert ständigen Scheiterns inklusive Todesbedrohung – das war es, was das Publikum interessierte!
Und Akiko und Lee stellten das glaubhafter dar, als Akiko und Sakura. Ja, sie spielten das bewusst durch, indem Lee zum Schein eine Ohnmacht vortäuschte, Akiko – die bekanntlich kopfüber und blind war – überzeugend einen Exitus mimte.
Das viermal täglich von Montag bis Sonntag, das heißt ununterbrochen!