Main menu:

KALEIDOSKOP – Leseprobe 1

Kapitel 1

Anneliese Borners Vater, Franz, war, lang vor ihrer Geburt, quasi ein Held wider Willen in der Zeit der Nazi-Herrschaft – im Widerstand, wohlgemerkt, damit das auch jeder und jedem von ihnen klar ist. Obwohl er damals am Beginn seiner diesbezüglichen Aktivitäten noch nicht wusste, wo sich das hinauswachsen würde, naiv wie er war als Sohn eines Mesners. Begonnen hat es einigermaßen harmlos. Geheime Treffen hatte es gegeben – anfangs völlig harmlos…

Aber was war schon harmlos in einer Zeit des nationalsozialistischen Terrors, in der jede und jeder bespitzelt wurde. Prompt wurde Borner eines schönen Tages verhaftet und ins Gestapo-Hauptquartier auf dem Morzinplatz, dem ehemaligen Hotel Metropol, eingeliefert. Dort traf er auf den Stadtinspektor Lothar Dirmhirn, ehemals Funktionär der Stadtleitung der Kommunistischen Partei für Wien, der an seinem Arbeitsplatz – den Städtischen Wasserwerken – eine Betriebszelle errichtet hatte, deren Mitglieder Beiträge zur Unterstützung der Angehörigen verhafteter Genossen leisteten.

In dem Bewusstsein, dass er ohnehin verloren war (es drohte ihm die Todesstrafe), nahm er die Schuld auf sich, und rettete eine Reihe von vornehmlich jüngeren Kollegen vor dem Schafott, darunter auch Borner. Dieser wurde in das sogenannte „Altreich“ expediert, nach Bautzen, wo während der Zeit des Nationalsozialismus waren in der Gemeinde viele politische Gegner, Sozialisten und Kommunisten, aber auch Zeugen Jehovas inhaftiert waren.

Von dieser an sich idyllischen Kreisstadt in Ostsachsen, von der Borner allerdings nichts mitkriegte, kam er direkt an die Ostfront. Hier ging die Initiative endgültig soeben auf die Rote Armee über. Was im Deutschen Reich als „Russland- oder Ostfeldzug“ bezeichnet wurde, hieß in der Sowjetunion – wie übrigens auch im heutigen Russland – „Großer Vaterländischer Krieg“.

Namentlich die Großoffensive der sowjetischen Streitkräfte unter dem Decknamen „Operation Bagration“ (benannt nach dem legendären General Pjotr Iwanowitsch Bagration, der 1812 anlässlich der Kampagnen gegen Napoleon durch einen kühnen Marsch die Vereinigung mit der ersten Westarmee erzwungen hatte) brachte die Entscheidung zugunsten Russlands. Die Unternehmung weitete sich jedoch bald zu einem umfassenden operativen Erfolg der Sowjettruppen aus, die erst Ende August 1944 an der Weichsel, an den Grenzen Ostpreußens und bei Riga vorläufig aufgehalten werden konnten.

Mitten in dieses Tohuwabohu des ungeordneten Rückzugs – das Oberkommando der Wehrmacht (OKW) sprach selbstverständlich von einer taktischen Absetzbewegung, also vom gefechtsmäßigen Lösen vom Feind – war Borner bei der 9. Panzer-Division mit dem Truppenkennzeichen YII (nicht zu verwechseln mit der 9. SS-Panzer-Division der Waffen-SS) gelandet. Sein Kompaniechef, ein Hauptmann namens Michael Kuhn (er legte Wert darauf, dass es sich nicht um die Variante des jüdischen Familiennamens Kohn handelte), machte ihn sofort zu seinem Kompanieschreiber, das ist so eine Art Chefsekretärin der Einheit, „da er lesen und schreiben konnte“, was in der Deutschen Wehrmacht offenbar keine Selbstverständlichkeit darstellte.

Der bisherige Kanzlist war kürzlich gefallen, wie überhaupt der Tod reiche Beute unter den ursprünglich 180 Soldaten gehalten hatte. Borner kam gerade recht, um seinen eigenen Verlegungsbefehl mit der Order zu seiner endgültigen Liquidierung „bei nächstem Einsatz“ zu lesen. Den zu verbrennen bereitete ihm höllisch Spaß – makaber eigentlich, aber es war Krieg, und da schien kein Ding unmöglich. Nicht auszudenken, wenn es statt dem Schreiberling zufällig jemanden ande-ren erwischt hätte, und wenn der dem Kompaniechef Meldung gemacht hätte. So ging es gut – in dem allgemeinen Chaos wurden korrekte Abwicklungen „ziemlich schnuppe“

Und dann begann die sogenannte Ardennenoffensive, in der massive Streitkräfte in den Westen verlegt wurden. Ein letztes Aufbäumen vor den endgültigen Zusammenbruch.

Die Offensive endete als totales Desaster – Franz geriet wie 100.000nde Soldaten in amerikanische Kriegsgefangenschaft, und zwar in Büderich. Die offizielle Bezeichnung des Lagers lautete „Prisoner of War Temporary Enclosures“ (PWTE). Dort verbrachte er so recht und schlecht ein volles Jahr, in dem er unter freiem Himmel sein Dasein fristete – immerhin war er in Westeuropa, und damit jedenfalls besser als es den Kameraden in Russland erging. Dann büxte er aus und schlug sich von Rheinland-Pfalz nach Wien durch, wobei ihm seine mittlerweile gewonnenen Kenntnisse aus dem Kriegshandwerk zu Hilfe kamen.

Kapitel 2

Anneliese Borners Mutter, Margaretha, war ausgebildete Mozart-Sängerin, der eine heimische (vielleicht sogar internationale) Karriere bevorstand. Sie hatte eine wunderschöne Stimme, lupenrein – sie reichte bis h‘‘. Sie hatte bis jetzt „nur“ im Kirchenchor gesungen. Ihr Chorleiter dort war sowas von begeistert und schwärmte in den höchsten Tönen von ihr. Jedenfalls bis sie sich einbildete, sich in den armen Schlucker verlieben zu müssen, der in den Städtischen Wasserwerken arbeitete. Die Familie war entsetzt, ob des Abstiegs, als Tochter eines Stadtbaumeisters.

Margaretha aber setzte ihren Kopf durch. Es wurde mit Pomp und Gloria geheiratet, sodass den ärmlichen Eltern des Bräutigams sozusagen die Spucke wegblieb. Und kurz nach der Hochzeit kam der Krieg. Margaretha arbeitete in einer Parfümerie am Alsergrund, um ihr Leben zu finanzieren – ihre eigenen Eltern ihrerseits um was anzuschnorren, kam ihr nicht in den Sinn. Und ihre hochnäsigen Schwestern und Brüder um was zu bitten, kam schon gar nicht in Frage.

Die Flitterwochen waren nur kurz und durch die genannten Umstände, die Anneliese Borners Mutter erst jetzt in der vollen Tragweite erfasste, nur desaströs. Man musste sich das nur vorstellen – sieben Jahre Krieg (die Gefangenschaft inklusive), und kein Lebenszeichen von ihren nunmehrigen Mann. Er hatte nach der Matura hochfliegende Pläne gewälzt, wollte Architekt werden, aber die Arbeitslosigkeit, die die Wirtschaftslage beherrschte, machte ihm einen Strich durch die Rechnung und so blieb ihm nur seine Tätigkeit bei den Wasserwerken als Ausweg – er musste überhaupt froh sein, dass er diesen Job hatte. Und diesen hatte er auf‘s Spiel gesetzt.

Margaretha werkelte in der Parfümerie – und wenn sich die Gelegenheit ergab und ein Kunde besonders elegant war, konnte sie sich dazu herablassen, ihn zu erhören. Sie war eine bildhübsche Frau (ebenso ihr bezaubernder Mann, aber der war nicht da), sodass sich mit der Zeit eine männliche Fangemeinde bildete. Dabei war sie durchaus wählerisch, sie konnte sich die Kandidaten genau anschauen – wem sie ihre Muschi schenkte, blieb ihre ureigenste Sache. Das Herz war exklusiv Franz‘ vorbehalten, so komisch das klingt – sie liebte nur ihn!

Sie hatten noch vor dem Krieg ein kleines Häuschen in Floridsdorf, am Mühlschüttel, erworben, wobei Margaretha streng trennte, in ihre gemeinsame Bleibe hatten nur sie beide Zutritt. Andererseits traten fallweise gefährliche Situationen ein, wenn Margaretha bei ihren Galans zu Besuch war und wenn sich das Verhältnis als nicht so harmlos darstellte wie sie sie geplant hatte. Einmal kam es wirklich zu einer bedrohlichen Lage, als nämlich einer der Typen einen Blow Job forderte, was sie definitiv ausgeschlossen hatte. Er zwang sie dazu und sie ließ ihm seinen Willen.

Das war vielleicht eine Enttäuschung für sie: Wie hatte sie sich demütigen lassen, für ein klein wenig Spaß. Und dann – sie erwartet einen Vorteil für sich, ein winziges Geschenk. So aber kam sie sich richtig benützt vor!

Kapitel 3

Und dann war der Kriegt vorbei. Wien wurde in vier Besatzungszonen unterteilt: Floridsdorf lag im sowjetischen Sektor, der Alsergrund, wohin Margaretha zur Arbeit musste, lag hingegen im amerikanischen Sektor. Die Floridsdorfer Brücke, umbenannt in Malinowski-Brücke (nach dem Oberkommandierenden der 2. Ukrainischen Front, welche Wien von Norden her erobert hatte), war durch die Kriegshandlungen zerstört worden. Sie war zunächst nur ein Fußgängersteg – erst im Frühjahr 1946 wurde die Fahrbahn wiederhergestellt. Relativ mühsam war daher die Reise von einem Bezirk in den nächsten – abgesehen von den Grenzkontrollen von einem Sektor in den anderen.

Margaretha überlebte die Avancen der fremden Soldaten nur, indem sie sich in Sack und Asche kleidete – die Galane waren samt und sonders dahin. Und dann kam Franz wieder heim – sie fielen sich um den Hals, und nach einer gründlichen Reinigung seinerseits schliefen sie miteinander. Margaretha hatte keinerlei schlechtes Gewissen – womöglich war er ihr auch nicht treu gewesen, dachte sie. Sie hatte irgendwoher erfahren, dass es tingelnde Bordelle gab, die von einer Frontlinie zur nächsten unterwegs waren. Oder hatte er sich eine Krankenschwester angelacht, so fesch wie er war – besonders die norddeutschen Damen konnten dem österreichischen (pardon ostmärkischen) Charme nichts entgegensetzen. Aber egal – sie hatten sich, und schon beim ersten Mal klappte mit einem Kind.

Und das war Anneliese Borner!

Sie umhegten das kleine Ding von Anfang an – sie war auch wirklich süß. Was Franz von Anfang an störte, war, dass Margaretha, sowie das Mädchen auf der Welt war, sich ihm verweigerte. Sie legte das Kind sicherheitshalber (so könnte man es am besten ausdrücken) zwischen sie beide in‘s Bett, wo sie es küsste – und Franz ging leer aus. Er machte gute Miene zum bösen Spiel, zumal er der Kleinen auch zugetan war. Margaretha genügte die Zuneigung Annelieses vollauf – sie stillte das Kind, mochte wohl auch an den einen oder anderen Galan denken, der sich über ihre Brüste hergemacht hatte.

Geduld – Margaretha würde eines Tages schon wieder zugänglicher werden, wenn sie ihrerseits die Lust überkam. Allein – es war noch nicht so weit. Leise Zweifel beschlichen ihn, ob sie wieder die Alte werden würde. Wir können nicht in den Kopf der Dame hineinschauen, aber ist gewiss: Sie war unbefriedigt – ob sie jetzt von Romeo und Julia träumte, oder von Samson und Delila, wir wissen es nicht und ob sie jetzt plötzlich von Franz erwartete, was sie von den bisherigen Typen (die er nicht kannte) nicht zu wünschen gewagt hätte.

Egal, er liebte Anneliese von ganzem Herzen – und Margaretha ließ es zu, dass er sich mit dem Säugling beschäftigte.