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KALEIDOSKOP – Leseprobe 3

Kapitel 7

Die Beiden studierten Germanistik und Geschichte an der Universität Wien – kein aufregendes Studium, aber sie waren zusammen, besuchten die gleichen Vorlesungen und Proseminare, aßen in der selben Mensa, hatten die gleichen Zeiten in der Uni-Bibliothek. Da Anneliese und Waltraud nicht unhübsch waren (um es einmal milde auszudrücken) und sich ziemlich offenherzig kleideten, erregten bald das Interesse ihrer männlichen Kollegen (bei den weiblichen war öfter das Wort „Schlampen“ zu hören). Aber sie ließen ohnehin die Kerle auf Granit beißen, hatten nur Augen füreinander. Sie gingen fallweise auf‘s Klo miteinander, aber nicht, um zu pinkeln, sondern um sich Erleichterun in sexueller Hinsicht zu verschaffen. Es war soweit, dass die gesamte Hörerschaft böse auf die Beiden war – dabei hatten sie, nach ihrer Meinung, nichts anderes getan, als zu leben, wie sie wollten. Und anzuziehen, was sie wollten.

Die Lage spitzte sich zu. Einer der Rädelsführer bei den Burschen brachte es auf den Punkt, ganz ungermanistisch: „Ihr verdammten Lesben, Ihr glaubt wohl, dass Ihr etwas Besseres seid!“

Und seine Freundin legte nach: „Und wie Ihr immer gedresst seid, schamlos bis zum Gehtnichtmehr!“

Anneliese und Waltraud waren geschockt. Sie waren sich keiner Schuld bewusst, aber sie traten den Rückzug an. Dann – im stillen Kämmerlein – war wieder alles in Ordnung. Da das Wetter nach wie vor (es war Mitte Oktober) annehmbar war, gingen sie zur Alten Donau schwimmen und vor allem tauchen. Dort fuhren sie an die bewusste Stelle, wo sie sich sofort ihrer Bikinis entledigten (obwohl es frisch war) und waren unter Wasser – da stellte sich heraus, dass es unter der Oberfläche wärmer als darüber. Gleichzeitig fiel ihnen unangenehm auf, dass sie weit von Šobat‘s Weltrekord. Das mochte am Übungsmangel liegen – in letzter Zeit hatten sie die Gewandtheit schleifen lassen. Fazit: Sie kamen nur mehr auf siebzehn Minuten, das würde sich angesichts der Wassertemperatur bis zum Winter auch nicht mehr ändern.

Dafür waren sie auf einen (an sich naheliegenden) Umstand draufgekommen: Die Routine kam je synchroner sich die Zwei bewegten, desto mehr sexuelle Übereinstimmung war drinnen. Anneliese und Waltraud hatten in kürzester Zeit eine derartiges Maß an Simultanetät entwickelt – das sollte ihnen einmal nachmachen, schon gar nicht die Schnösselninnen und Schnösseln vom Germanistischen Institut (das Historische Institut war etwas besser). Aber das war nicht der Punkt, sie waren einfach nur stolz darauf.

Kapitel 8

Der Proseminarsleiter, ein Assistent des Germanistischen Instituts, hatte die Idee, einmal aus dem Publikum Texte vorlesen zu lassen, so vorhanden. Da bot sich Anneliese an – sie hatte genügend Stoff angesammelt. Sie hatte sich total aufgehübscht: Einen Minirock so klein, dass er nur das Nötigste bedeckte, und eine allzu freizügige Bluse – das Make-up konnte sich sehen lassen. Waltraud konnte nicht nachstehen.

Anneliese Borner trug vor:

„1999

Natürlich könnte man behaupten, es handle sich hier um die Geschichte eines toten kleinen Mädchens. Oder um Geschichten von mir und dir und uns und euch. Aber das wäre falsch. Man wird auch nichts vom Heurigen finden, obwohl wir hier in Wien sind. In Wahrheit passiert in diesem Buch formal gar nichts: lediglich zwei Männer, ein Autor und sein potentieller Verleger, sitzen an einem Wochenende in einem Zimmer und studieren einen längeren Text: Die vielzitierte Einheit des Ortes, der Zeit und der Handlung. Und noch andere Arten von Einheit: Der Autor repräsentiert mit seinem Werk die Einheit der ästhetischen Gestaltung (oder wenigstens den Versuch dazu). Den Verleger beseelt die Einheit des Zweifels an der Weltsicht seines Gegenübers. Bei dem, was er liest, fällt ihm auf, dass die Totalität der Welt durch das Bewusstsein eines erlebenden Subjekts gefiltert wird. Aber so einfach ist das auch wieder nicht: Seine editorische Routine lässt ihn diese selektive Totalität als prismatisch gebrochen erkennen, wobei in jedem Bereich des Spektrums unterschiedliche Einheiten der Reflexion auftreten.

Die Behauptung, man könne nicht mehr schreiben nach Joyce und Thomas Mann und Rilke weise ich zurück. Im Grunde gibt es ohnehin nur eine Handvoll guter Geschichten, die immer von neuem erzählt werden. Man kann auch noch schreiben nach den Katastrophen der Geschichte, selbst der Zeitgeschichte – und nach persönlichen Katastrophen. Sonst würde man wahrscheinlich nicht hatte mehr imstande sein, die eigene Biographie fortzusetzen – was oft ohnehin schon schwer genug fällt.“

Der Assistent war beeindruckt. Er applaudierte und konnte sich nicht einkriegen. Voll Stolz, als hätte er den Text selbst geschrieben. Die Hörerinnen und Hörer waren weniger begeistert. Sie waren eifersüchtig und gelb vor Neid. Und die besonders mißgünstige Kollegin hatte schon wieder etwas an Anneliese‘s Outfit auszusetzen: „Schamlos, sagte ich nur!“ Und zu Waltraud gerichtet: „Das wird Euch noch leidtun!“

Der Assistent bettelte noch mehr von Anneliese zu hören. In Wirklichkeit hatte er nur das Eine im Sinn: „Wenn Du mit mir schläfst, kann ich Dir gute Noten versprechen! Und Waltraud dazu! Wir könnten überhaupt gleich einen Dreier machen!“

Die Mädels überlegten kurz und lehnten dann ab. Der Assistent war zwar jung und gut gebaut (sie hatten sich, fast schon gewerbsmäßig, den Kerl nackt vorgestellt), aber für eine gute Note im Proseminar wollten sie sich nicht verkaufen. Der Mann war arm wie eine Kirchenmaus, und so hatte er sich diese Methode, nämlich eine Nummer zu schieben gegen eine entsprechende Gegenleistung, angewöhnt. Der zu Hilfe gerufene Professor, der Chef des Assistenten, war nach eingehender Betrachtung „der Objekte“ selbst geil geworden.

Kapitel 9

Annelieses Eltern, die Borner‘s, und Waltrauds Eltern, Michael und Emma Wiener (von denen bisher noch nicht die Rede war), beratschlagten gemeinsam mit ihren Kindern die Situation an der Uni genauso, wie die allgemeine Lage: „Ich bin doch nicht blöd!“, sagte Michael (das war kein besonders glücklicher Anfang). „Ihr seid doch Lebsen, wie könnte Ihr mir das antun!“

„Wir sind eben so!“, war die patzige Antwort, vorgebracht durch Anneliese. „Wir sind schließlich großjährig!“

„Aber Ihr lebt von uns! Und die schönen Kleider könnt Ihr Euch aufzeichnen!“, sagte Michael wutentbrannt.

Die Unterhaltung drohte, komplett schief zu laufen. Margaretha, die sich an ihre Zeit mit ihren Galans (nicht vielleicht an ihre Erlebnisse mit Franz) erinnerte, beschwichtige. „Wir sollten eher darüber sprechen, was wir mit dem Assistenten und dem Professor machen!“

„Da hilft nur ein praktikabler Schritt nach vorne: Ihr werdet Euch auf die Geschichtswissenschaft verlegen. Dort sind vielleicht weniger anlassige Personen unterwegs als in der Germanistik!“, sagte Emma – sie wusste nicht, dass die Mädels alles dazu taten, um Aufsehen zu erregen. „Kommen wir auf Eure merkwürdige Veranlagung zurück!“, insistierte Michael. „Was soll daraus werden?“

„Gar nichts! Ich weigere mich, das noch weiter zu diskutieren!“, antwortete Waltraud.

„Ich bin schließlich Dein Vater!“ Was selbstverständlich war, auf Grund der Ähnlichkeit zwischen ihnen beiden (da konnte man sich den DNA-Test sparen).

„So what?“, sagte Waltraud. Ihr war es leid, dasselbe ständig wiederzukauen. Sie stand auf und ging weg. Sie war so wütend auf alles inklusive ihrer Freundin. Sie konnte aber in diesem Fall nicht lange böse sein, denn sie liebte sie sehr. Auch Anneliese empfahl sich, da außer dem Beschluss mit der Geschichtswissenschaft, den sie wohlwollend zur Kenntnis nahmen, in der Sache ihrer Lesbenschaft nichts weitergegangen war – und das war gut so.

Die jeweiligen Eltern blieben mit gemischten Gefühlen zurück. Franz und Margaretha fanden sich mit der Tatsache ab, dass angesichts der Umstände kein Enkelkind zu erwarten war, und auch Emma hatte die Hoffnung aufgegeben, jemals ein Kindeskind im Arm halten zu dürfen. Lediglich Michael hatte ein massives Problem damit – er leugnete standhaft das Vorhandensein homoerotischer Beziehungen, ja er ging sogar soweit, dass er diese als „heilbar“ betrachtete. Dies ohne Rücksicht auf seine eigene Tochter…