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ANASTACIA Zusätzliche Leseprobe

KAPITEL 402

Charlene war zwar kein Leben lang mit mir zusammen gewesen, eher ein halbes bloß oder weniger, aber sie kannte mich gut. Daher war sie auch nicht besonders überrascht, als ich ihr von den Vorgängen im unterirdischen Gewölbe von Agios Philokratos erzählte. „Was man heutzutage so alles innere Einkehr nennt!”, meinte sie nur trocken – und sie war interessiert. Zunächst dachte sie, ich wolle nur darüber reden (wir sprachen neuerdings wieder über alles wie in alten Zeiten, sparten nichts aus), aber dann erfuhr sie, dass ich sie beim nächsten Mal mitnehmen wollte. Sie war dermaßen verblüfft, dass sie unbedacht in ihren heimatlichen Minnesota-Slang verfiel.

LADY CHELTENHAM:
O man, quite a long time I wanna see, what those goddam brats’ve under those stinking cowls!

Aber Darling, ich bitte dich – ich war wirklich ein wenig peinlich berührt, aber Charlene lachte nur. Es war das alte Lachen der Selbstsicherheit, mit der sie damals in Washington mit Hilfe der Begierde einfältiger Männer wie eine heimliche Königin regiert hatte.

LADY CHELTENHAM:
Sprache fein, Sitten locker, wie? Bei uns drüben hat man das offiziell auch so gehalten – zumindest in den höchsten Kreisen, um dem Volk vorzugaukeln, es ginge um Werte und nicht nur um die blanke Macht.

Sie umarmte mich, und mir schien es wie früher, und jedenfalls ganz anders als bei den anderen: eine professionelle Vergangenheit, die nichts dem Zufall anheim stellte, gepaart mit individueller Gegenwart, die sich ohne weiteres auf das Risiko von Gefühlsschwankungen einließ. Genau das, was ich von Anfang an bei ihr geliebt hatte, sogar noch ein wenig verklärt durch ihre Rolle als „Grace Kelly von Gloucestershire” sowie durch das Pflichtbewusstsein, das sie bei der Verwaltung der Cheltenham’schen Güter an den Tag gelegt hatte.

LADY CHELTENHAM:
Gesagt, getan. Diese Evsevia – die ich ihrem Gesicht nach (später sollte ich ja mehr von ihr zu sehen bekommen) als ältliches Mädchen taxierte, obwohl sie vielleicht zehn Jahre jünger war als ich – erwartete mich außerhalb der Klostermauer an der Stelle, die Basil mir genannt hatte, und führte mich durch eine winzige Tür in das Innere des ausgedehnten Komplexes und über eine steile Treppe hinab an unseren Bestimmungsort. Hier brannten Fackeln an den Wänden, und in deren Schein erkannte ich, wie ich von meiner Begleiterin unverhohlen gemustert wurde (wohl um festzustellen, ob es sich hier wirklich nur um einen zusätzlichen Gast oder um ernsthafte Konkurrenz handelte). Die Prüfung schien neutral ausgefallen zu sein, denn sie hüllte mich in eine dunkle Kutte, und dann wurde ich ohne weiteres hinter Stylianos, den ich von förmlicheren Anlässen schon kannte, und Basil platziert. Die übrigen Teilnehmer der Veranstaltung waren indessen ebenfalls erschienen, und alles fieberte dem entgegen, was hier unten bereits eingespielte Routine war.

Umso überraschter dürfte Evsevia gewesen sein, als das Programm nicht so ablief, wie es mehr oder weniger üblich war. Stattdessen wurde sie auf einen Wink des Abtes von zwei Jungmönchen gepackt und stehend an die Wand gefesselt. Ihren Umhang nahm man ihr nicht ab, sondern öffnete ihn bloß. Und sie bekam eine Maske verpasst, die eine hässliche alte Eule darstellte, was in merkwürdiger Weise zu den üppigen Körperformen kontrastierte, die – für Charlene höchst überraschend – weiter unten hervorstachen. Das aber war noch nicht die Demütigung, die Stylianos ihr bereiten wollte, denn bis dahin konnte sie sich noch der Illusion hingeben, sie würde diesmal, selbst hilflos gemacht, angestarrt und wahrscheinlich auch betatscht.

In Wahrheit aber wollte sie ihr Meister in die Rolle einer Zuschauerin verbannen, wobei er mir, wie ich nun langsam begriff, die Rolle eines nützlichen Idioten zugedacht hatte, der seine eigene Frau freundlicherweise für eine Orgie zur Verfügung stellt – oder zwang er mich so dazu, umgehend die Schuld einzulösen, die ich ihm gegenüber im Austausch für seine Loyalität abtragen musste? Allerdings hatte Freund Stylianos nicht mit jener Kombination aus weiblicher Intuition, nüchternem Verstand und tatsächlicher Erfahrung (zusätzlich gewürzt durch ein Quäntchen angelsächsischer Ironie) gerechnet, die Charlene so sehr auszeichnet. Diese hatte, wie sich jetzt zeigte, keineswegs angenommen, sie wäre bloß dazu eingeladen, um ihre persönliche Neugierde zu befriedigen, sondern erkannte als Hauptmotiv die Lüsternheit des Abtes, stellvertretend für die übrige Herrenrunde, wobei sie mich vermutlich nicht wirklich ausklammerte. Dementsprechend waren, ohne dass ich etwas ahnte, Vorbereitungen getroffen worden.

LADY CHELTENHAM:
Ich hatte tatsächlich Mittel und Wege gefunden, mich schon vorher in dem Gewölbe umzusehen. Die Matrone, die den Abt offiziell bediente, aber aus Missgunst und Intrigensucht auch sein geheimes Leben ausspionierte, war nicht abgeneigt gewesen, mir gegen eine gewisse Summe, die in ihren Kreisen wohl für die Aussteuer einer ihrer Enkelinnen reichen mochte, den Schauplatz finsterer Mysterien zu zeigen. Ich wusste daher, dass ich mich nur hinter Stylianos und Basil unbemerkt davonstehlen musste, um kurze Zeit später in einer Art tiefgelegenem Fenster, das sich aus einem schmalen Gang in den Hauptraum öffnete, wieder zu erscheinen. Das allein schon verschaffte mir (einer Bühne gleich) eine eindeutige Distanz zum Publikum, was Evsevia von Anfang an nicht beschieden gewesen war.

Der Abt und ich als einzige Connaisseure hier genossen, was wir sahen, und Evsevia schien immerhin zu begreifen, was bei dieser bloßen Show anders war als bei ihrem Knochenjob. Die übrigen Tölpel hingegen standen wie erstarrt mit offenen Mäulern und beglotzen Charlenes Nacktheit, die aber durch Accessoires wie lange schwarze Handschuhe, schwarze Seidenstrümpfe und als Tüpfelchen auf dem I ein keckes Strohhütchen begrenzt war. Meine Frau hatte es damit geschafft (nach bester Manier intellektueller Stripperinnen), sich die Meute nicht nur physisch, sondern vor allem mental vom Leib zu halten: Zum ersten Mal waren diese Bauernburschen im geistlichen Gewande nicht mit ihren üblichen archaischen Symbolen konfrontiert, auf die sie sich wie Tiere stürzen konnten – vielmehr sahen sie sich plötzlich zum ersten Mal raffinierten Fetischen gegenüber, die zwar tief in ihrem Inneren etwas auslösten, aber ihre äußere Aktivität lähmten.

LADY CHELTENHAM:
Alles verharrte in gespannter Ruhe –auch ich bewegte mich nicht mehr, kniend und mit dem rechten Arm abgestützt auf meiner kleinen Estrade, denn ich hatte ja nicht die Absicht, mich jener letzten Utensilien auch noch zu begeben. Stylianos bekam Lust auf mich, und auch Basil, das konnte ich selbst auf die Entfernung spüren, während die übrigen nicht einmal in Gedanken wagten, mich zu berühren. Ein erlösendes Wort war gefragt, ein Seufzer vielleicht nur, und der kam tatsächlich von Evsevia, die sich in ihren Fesseln wand und wahrscheinlich nichts anderes im Sinn hatte, als hier zu verschwinden. Ich stand auf, verhüllte mich, bedeutete meinem Mann, sich mir anzuschließen, und wir gingen langsam heim, sprachen von diesem oder jenem Gesichtsausdruck der Novizen sowie von der dichten sexuellen Präsenz des Abtes. Und wir haben in dieser Nacht in unserem Schlafzimmer – ja, auch das, aber vor allem viel gelacht.

Ich hatte geliefert. Abt Stylianos lag in unserem Turnier, wenn es denn eines war, um einige Punkte zurück. Immerhin hatten wir ihm gezeigt, dass auch wir Mittel und Wege kannten, seine Position (respektive die seines gesamten Lebensraums), die er mir so anschaulich zu schildern wusste, zu unterwandern. Am Ende ist wohl auch der Bazillus abendländischer Dekadenz, die sogar Aberglauben, Impulsivität und Mythos als Antriebsfedern menschlicher Aktivität leugnet und jenseits der banalen Allianz aus Macht und Geld nichts mehr anerkennt, äußerst ansteckend und destruktiv.

LADY CHELTENHAM:
Mag sein, dass den Mönchen jetzt, nachdem sie mich gesehen haben, ihre früheren Spielchen langweilig geworden sind: Evsevia erweckt vielleicht nur mehr Gleichgültigkeit und wird nach einigen Routineversuchen, die man noch unternimmt, vom Programm abgesetzt. Der Abt muss seine Masken einmotten, über die Statue des Stiermenschen eine Schutzhülle ziehen lassen und das unterirdische Höhlensystem absperren, sehr zur Freude jener Alten, die genau aufpasst, wo der Schlüssel aufbewahrt wird.

Und mag sein, dass wir jetzt in einer Kultur, wo Sieg im Wettstreit von den Unterlegenen anerkannt wird, endlich beginnen können, dieses Land und damit letztlich ganz CORRIDOR ohne größere Widerstände zu regieren und uns damit unserer eigentlichen Aufgabe, nämlich eine effiziente Pufferzone zwischen den beiden Imperien zu bilden, widmen können. Wie seinerzeit die Knights Hospitallers von Rhodos diesen Verlockungen à la Stylianos über 200 Jahre mehr oder weniger widerstanden und als Fels in einem Meer voller Haie selbst bei ihren Feinden Anerkennung hervorriefen, werden auch wir uns geraume Zeit behaupten – lang genug denke ich, dass niemand behaupten kann, wir seinen hier eine bloße Episode geblieben.

Charlene registrierte einfühlsam, dass ich – sehr untypisch für mich, abgesehen von jener Zeit, als mich das Niederringen des Diktators der Spiegelwelt selbst außer Gefecht gesetzt hatte – offenbar begonnen hatte, meine Ideen zu redimensionieren und lieber wieder mit meiner eigenen Lebensspanne (die zweifellos immer begrenzter wurde) in Einklang zu bringen.

LADY CHELTENHAM:
Und dazu brauchen wir unbedingt Nicholas – denn für dessen künftiges Leben müssen wir mitplanen sowie darüberhinaus für unsere potentiellen Enkel und weiteren Nachfahren, per saecula saeculorum!

Da wurde mir klar, dass sie, ebenso wie ich, insgeheim von einer Art Erbmonarchie träumte.