KALEIDOSKOP – Leseprobe 17
Kapitel 49
Anneliese und Waltraud waren unterdessen in Wien gelandet. Julian Lennard hatte es sich nicht nehmen lassen, die Beiden vom Flughafen abzuholen. Er erstattete gleich einmal den ersten Bericht, an dem Beide nur wenig interessiert waren (im Nachhall an soeben vergangene Urlaubsfreuden) – sie ließen sich nur nichts anmerken, machten an den richtigen Stellen „Oh, nicht die Möglichkeit!“ und „Bei was für einer Gelegenheit?“. Und sie kamen zu dem Schluss, dass alles in Ordnung war.
Frisch machen und dann ging‘s ab in‘s Büro – Julian wartete so lang im Vorzimmer der Damen. Er war pikiert, wagte aber nicht, etwas zu sagen. Frau Dr. Borner wurde gleich zum Rapport bestellt – der Einfachheit halber nahm sie prompt Frau Dr. Wiener und Herrn Lennard mit zum Generaldirektor.
„Ich sehe, dass Sie sich Verstärkung mitgebracht haben!“, sagte Obergott süffisant. – „Ich wollte nur, dass Sie die Leistungen von Herrn Lennard während unserer Abwesenheit direkt zum Ausdruck bringen!“ Julian blühte förmlich auf.
„Und wie war der Urlaub?“, erkundigte sich der General pro forma. Er erwartete sich keine Antwort auf seine Frage. Nicht so mit Waltraud: Sie schilderte eindringlich, dass sie besonders beim Tauchen sexuell erregt worden waren.
„So genau wollen wir es gar nicht wissen!“, warf Anneliese ein. – „Doch, das interessiert mich!“, war die Antwort des Generals. – „Stellen Sie sich vor, ich hatte sogar einen Orgasmus! Warum sollen nur die Männer ihre erotischen Erfahrungen austauschen!“, beharrte Waltraud auf ihrem Standpunkt.
„Okay – warum ist das so?“, sagte der Vorgesetzte – da kam die Sekretärin herein unterbrach das spannende Thema mit dem Hinweis, dass der nächste Termin anstand. Die Drei verabschiedeten sich umgehend…
„Was ist Dir da eingefallen, dass Du den obersten Chef mit derlei Dingen zuschüttest!“, stellte Anneliese wütend fest. „Ich hätte gute Lust, Dir eine offizielle Verwarnung zukommen zu lassen. Das wäre dann in Deinem Dienstakt vermerkt als Schlechtpunkt, den Du nie wieder loswirst!“
Julian stand wie ein begossener Pudel dabei, während sie in ihre Abteilung zurückkehrten. Dabei hatte er im Prinzip nicht das Geringste mit der Sache zu tun – er litt nur still mit Waltraud, seiner Angebeteten.
Kapitel 50
Ein lange geplantes Referat am Historischen Institut der Uni Wien, mit der Waltraud die Versöhnung zu Anneliese herbeiführen wollte, fand ohne die Hauptfigur statt – zur großen Frustration der Vortragenden. Fast wollte sie den Termin absagen, allein das wagte sie doch nicht – die Einladungen waren verschickt, das Sujet war attraktiv genug, um zahlreiche Zuhörerinnen und Zuhörer anzulocken. Waltraud brachte nicht über sich, die Erwartungen zu enttäuschen, und so hielt sie die Abhandlung dennoch, aber sie war anfangs nicht mit Herzen dabei. Allerdings redete sie sich zunehmend warm und kam richtig in Fahrt dabei.
„Biedermeier – oder Vormärz
Als Assoziation zum Schubert–Jahr: Der Komponist des Forellen–Quintetts ist zugleich der Titan der h–Moll–Symphonie (besser bekannt als „Unvollendete“). Man soll niemals den Fehler begehen, Menschen zu unterschätzen. Vielleicht steht der Mitbürger, der heute scheinbar teilnahmslos durch 500 Fernsehprogramme surft, eines Tages auf und verändert die Welt.
Am Beginn des Biedermeier war die Kriegsmüdigkeit nach dem Sieg über Napoleon. Relativ bereitwillig ließen die Völker Europas eine Restauration der alten Ordnung zu: besser irgendwelche Regeln als die Zügellosigkeit der Revolution, die so viele Opfer gefordert hatte, dass darunter die Ziele der Aufklärung und die Ideale von Freiheit / Gleichheit / Brüderlichkeit verschüttet worden waren.
1815 noch konstituierte sich die antiliberale „Heilige Allianz“ der Siegermächte. Die konkrete Umsetzung ihrer Doktrin in Österreich erfolgte durch die „Karlsbader Beschlüsse“, deren Grundsätze sich gegen jeglichen geistig–politischen Spielraum richteten. Personifiziert wurde diese Politik durch Metternich, der 1821 österreichischer Innenminister wurde.
In genau diesen Jahren aber – um nur die plakativsten Momente herauszugreifen – formulierte Savigny den Grundsatz des Rechtes, das nicht gemacht wird, sondern vom Volk ausgeht; forderte der Engländer Owen die Gründung kleiner, nach kommunistischen Prinzipien lebender Gemeinden; wurden in Deutschland Karl Marx und Friedrich Engels geboren; wird die schon erwähnte Schubert–Symphonie geschaffen, deren Klänge die erst wesentlich später von der Psychoanalyse definierten seelischen Syndrome einer extremen inneren Komplexität des Menschen künstlerisch vorwegnehmen und damit weit über das hinausragen, was sich Metternichs Zensoren träumen ließen.
So geht es dann weiter in einer bemerkenswerten Dualität öffentlicher Repression, die das Individuum in ein idyllisch–dümmliches Biedermeier verbannen wollte, und privat initiierter Entfaltung des Geisteslebens, die eine durchaus revolutionäre („vormärzliche“) Sprengkraft aufwies. Es reicht vielleicht, einige Schlaglichter auf die Fülle des Geschehens zu setzen:
Die „öffentliche“ Linie: 1825 Niederschlagung des Dekabristen–Aufstands in Russland – 1830 Unruhen in Braunschweig, Göttingen, Sachsen und Kurhessen, die erfolglos blieben und damit weniger glücklich als die Juli–Revolution in Paris, die schon eineinhalb Jahrzehnte vor den anderen Ländern das Ende des Feudalismus einläutete – 1835 Verbot der liberalen Schriften des „Jungen Deutschland“ – 1837 Rücknahme der Verfassung in Hannover – 1839 Chartisten–Aufstand in England unterdrückt – 1844 Weber–Aufstand in Schlesien niedergeworfen.
Zu all dem parallel die „private“ Linie: In dieser Periode wirkt noch Hegel, der Vorvater der Dialektik, Wilhelm Weitling beschreibt „die Menschheit wie sie ist und wie sie sein sollte“, der englische Philosoph Bentham postuliert das oft zitierte „größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl“, John Stuart Mill verfasst sein „System der deduktiven und induktiven Logik“, dessen konsequenter Empirismus sich dem Pathos der bloßen Ideologie entgegenstellt – und der Satz vom „Sein, das das Bewusstsein bestimmt“ wird geprägt. In dieser Periode lebt noch der Schweizer Pädagoge Pestalozzi, der die Entfaltung der Anlagen eines Menschen über den Erwerb von Wissen stellt, Joseph de Lafayette gründet den Verein der Menschenrechte, der erste Arbeiter – Bildungsverein wird in Deutschland gegründet, zugleich gibt es die ersten Ansätze der später weithin in Europa verbreiteten Institution der Volkshochschule. In diese Zeit fallen nicht zuletzt die Geburtsdaten der deutschen Frauenrechtlerin Auguste Schmidt und der österreichischen Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner – beides Persönlichkeiten, deren Wirken besonders weit in die Zukunft vorausgewiesen hat (insofern ihre Ziele bis in die heutige Zeit nicht vollständig verwirklicht sind).
Und dann kam das Jahr 1848: Februar–Revolution in Paris – selbst das Regime des sogenannten Bürger–Königs Louis Philippe ist dem Volk zu restriktiv; März–Revolution in Deutschland und Österreich – die Karlsbader Beschlüsse werden abgeschafft, Metternich flieht nach London; Oktober–Revolution in Österreich – Kaiser Ferdinand dankt zugunsten des jungen Franz Joseph ab, neben anderen Maßnahmen wird als wesentliches feudales Relikt die bäuerliche Untertänigkeit abgeschafft, ungarische und tschechische Erhebungen gegen die Habsburger können in weiterer Folge nur mit Mühe eingedämmt werden. Es war als ob man 30 Jahre lang den Deckel auf dem Kochtopf niedergehalten hätte – was letztlich vergeblich bleiben muss.
Geschichte ist unwiederholbar. Neue sozio–ökonomische Grundlagen, neue Denk– und Sprachschemata machen jede Zeit unverwechselbar. Dessenungeachtet leben auch wir in einer Epoche, an deren Ende der Deckel in die Luft fliegen wird.“
Der frenetische Applaus, den Dr. Waltraud Wiener am Ende des Vortrags erhielt, wurde gleich wieder überschattet durch die Abwesenheit Dr. Anneliese Borners…
Kapitel 51
Anneliese war verschlossen wie eine Auster. Sie sah Waltraud gar mehr an.
Waltraud bettelte und flehte – das war der erste ernsthafte Riss in ihrer Beziehung. Das wollte sie sich auf keinen Fall zuschieben lassen, aber Anneliese blieb hart. In ihrer Verzweiflung griff Waltraud zu einem letzten Mittel: sie kroch zu Kreuze und versprach, alles mit sich machen zu lassen.
„Okay, dann mach’ mir eine Butoh-Nummer!“, sagte Anneliese. Waltraud hatte keine Ahnung von Butoh.
„Jetzt ist früher Nachmittag – bis heute Abend hast den Fall bearbeitet! Wie Du das anstellst, bleibt Dir überlassen! Ich warne Dich vorweg schon: Wenn Du versagst, sind wir geschieden Leute!“, drohte Anneliese ihr. Dabei konnte sie sich das Lachen kaum verbeißen – denn natürlich meinte sie es nicht so gravierend, wie es klang. Waltraud recherchierte im Internet, was es wohl mit diesem Butoh auf sich hatte – sie entblödete sich nicht, Kollegen und Kolleginnen zu fragen, was es mit dieser Tanzform auf sich hatte. Denn dass es sich hier um eine Tanzform hatten ihre Ermittlungen bereits ergeben.
Waltraud hatte langsam einen ungefähren Begriff davon, was Butoh bedeutete? Nämlich „Tanz der Finsternis“, „Entdeckung des dunklen Körpers“ – eine eigene, ketzerische Verarbeitung japanischer Traditionen. Jetzt galt es, abends das, was sie theoretisch gelernt hatte, mit Anneliese als einziges Publikum zu performen. Anneliese war schweigsam und unerbittlich – sie schaute und hörte aber aufmerksam zu.
Waltraud war mit einem roten Mantel bekleidet, der sie vollständig einhüllte. Ihr Gesicht war mit einer weißen japanischen Maske ausgestattet. Sie hockte am Boden – lange Zeit passierte gar nichts. Nach geraumer Weile streckte sie ein Bein zur Seite und man erkannte, dass sie unter dem Umhang offenbar nichts anhatte. Sie richtete sich auf, nahm langsam die Maske ab und warf ihr Gewand gemächlich zur Seite und da sah, dass sie wirklich komplett nackt war. Und das vollzog sich adagio – adagissimo. Waltraud hatte ihren Mund weit geöffnet, wie zu einem Schrei…
Der Anblick entlockte Anneliese ein Kreischen: „Bravo – bravissimo!“
Das Eis war gebrochen.