Main menu:

BERENICE

Sir Basil Cheltenhams zweites Leben

1. TEIL: VIÈVE – EINE STATION IM ALL UND IHRE KONTAKTE ZUR ALTEN ERDE

101

Keyhi Pujvi Giki Foy Holby (sein Name bedeutete so etwas wie Schlangen – Löwe – gestern – heute – morgen) ging mit seinem Tizb’ptouk spazieren, einem ziemlich großen seltsamen Wesen, das am ehesten einem irdischen Schwein ähnlich sah und dort, wo es herstammte, als Haustier gehalten wurde, aber auch noch wild vorkam. Er hatte die Kreatur, die ihm bis auf Brusthöhe reichte und deren stimmliches Repertoire sich von einem angenehmen Brummen bis zu einem bösartigen Kullern erstreckte, aus den Kolonien des Tyrannenreiches mitgebracht.

Die abgelegene Weltraumstation, auf der sie sich befanden, war in Form einer Hohlkugel gestaltet, an deren Wandinnenseite man sich mithilfe künstlicher Schwerkraft problemlos fortbewegen konnte. Manche Bereiche der Außenhaut – vor allem dort, wo keine Gebäude standen – waren durchsichtig, und wenn man über diese Stellen hinwegging wie an diesem Abend Keyhi und sein seltsamer Zerberus, hatte man den Himmel zu Füßen: ein Anblick, der für viele Bewohner des künstlichen Sterns nach wie vor gewöhnungsbedürftig war.

Aber ich erzähle munter darauflos, ohne Rücksicht auf das Verständnis der Leserinnen und Leser: Mein Name ist Sir Basil Cheltenham und ich darf wohl sagen, dass ich zu meiner Zeit eine große Nummer war und viele Räder gleichzeitig gedreht habe – aber das ist schon lange her. Derzeit befinde ich mich im Gewahrsam (so muss ich das wohl nennen) meiner Therapeutin Berenice, einer sehr eindrucksvollen Frau, die nicht nur die psychologische und psychiatrische Ausbildung westlichen Zuschnitts absolviert hat, sondern als australische Ureinwohnerin – sprechen Sie vor ihr nur ja nicht von Aborigines, sondern von Koori! – auch eine bedeutende Schamanin ihres Volkes ist, eine Walemira Talmai, das ist „die, der das Wissen weitergegeben wurde“.

Da ihr das Geistwesen, dem sie angehört, bei ihrer Initiation einen Quarzkristall in den Kopf gesungen hat als Gabe der Hellsichtigkeit, ein heiliges Feuer in die Brust gesungen hat als Gabe der Losgelöstheit von der Erde und ein Luftseil in den Leib gesungen hat als Gabe der mühelosen Überwindung von Distanzen jeglicher Dimension, gibt es eigentlich für jemanden wie mich (den sie natürlich als Patienten bezeichnet und als solchen mit größtem Respekt behandelt, aber in Wahrheit bin ich doch eher etwas wie ihr Gefangener) wenig Spielraum, sie zu hintergehen. Abgesehen davon würde mir das ohnehin schwerfallen, verdanke ich ihr doch viel – sogar mein Leben.

Woher ich weiß, was sich fern von hier auf Keyhis Station zugetragen hat? Nun – einmal Militär, immer Militär: Keyhi ist Soldat wie ich, und wo, wann oder wie auch immer wir alten Haudegen leben, wir verstehen einander. Vor allem aber haben wir gelernt, die Kommunikationswege offenzuhalten. Wer die Geschichte der NOSTRANIMA kennt, weiß auch von der magischen Kristallkugel, mit deren Hilfe man im Nu weite Reisen machen kann. Der letzte Standort dieses Zauberwerks war ein Sideboard auf meinem Herrensitz Cheltenham House – mein Gott, wie vermisse ich diesen Ort! Aber einerlei, ich bat Berenice, mir das Ding bringen zu lassen, und nachdem sie mir das Ehrenwort abgenommen hatte, es nicht für einen Fluchtversuch zu missbrauchen, erfüllte sie meinen Wunsch.

Nicht bloß einmal tasteten meine Finger über das Eingabefeld, das verlockend fluoreszierte, und dann passierte es eines Tages, dass ich dem Mechanismus zu nahe kam und schon fürchtete, an irgendein Koordinatenkreuz des Raum-Zeit-Gefüges katapultiert zu werden. Stattdessen erschien im Inneren der Kugel das kleine Bild Keyhis, der mir verhalten zulächelte: „Hallo, alter Knabe, wieder einmal was von den Kameraden gehört, von Scipio Africanus, Clausewitz oder einem der anderen Jungs?“

Ich jubelte innerlich. Ohne meinen Eid zu brechen, konnte ich mir wieder eine Menge Kontakte aufbauen – mit einem Mal hatte ich wieder etwas zu tun, war imstande, wenigstens geistig der Enge von Berenices Domizil zu entfliehen, in dem nur sie mit einer Gruppe anderer Koori sowie ihrem amerikanischen Freund Brian Thomson lebte. Dieser war als ehemaliger Master Sergeant der US Marines nicht gerade der standesgemäße Umgang für einen hohen britischen Offizier wie mich und hatte sich außerdem im Fahrwasser seiner Geliebten völlig dem Esoterischen zugewandt. Unter den übrigen Mitbewohnern (die alle ein ungewöhnliches, paranormales Potenzial aufwiesen) gab es lediglich eine belesene Dame, mit der man über Literatur plaudern konnte, aber um den Preis ständiger sexueller Anzüglichkeiten. „Haben Sie nicht Lust, Sir Basil“, fragte sie jeweils dann, wenn unser Gespräch etwas fortgeschritten war, „haben Sie nicht Lust, mit einer furchtbar schwarzen Naturschönheit wie mir auch etwas anderes anzustellen, als bloß zu reden?“ Es war aber nicht mehr als eine Versuchung ohne Erfüllung – in dem Zustand, in dem ich mich befand.

Wenn ich da an früher denke – aber lassen wir das …

KEYHI PUJVI GIKI FOY HOLBY:
Ist es nicht erstaunlich, Basil, dass wir so rasch die gleiche Wellenlänge gefunden haben, obwohl wir einander bisher nie persönlich begegnet sind? Aber wie du sagst, der gemeinsame Stallgeruch der Armee macht das ohne Weiteres möglich. Dieses spezifische Wir-Gefühl überbrückt sogar die Tatsache, dass du aus dem Alpha-Universum bist und ich aus der Spiegelwelt komme.

Das ist es! Das war’s, was ich schon die ganze Zeit erwähnen wollte: Es gab da diese andere Realität, dieses Paralleluniversum, in dem alle Menschen Doppelgänger von uns sind, und mein persönliches Pendant, der Oberste dort, Tyrann der jenseitigen Völker oder auch Diktator genannt, hatte vor langer Zeit begonnen, unsere hiesige Welt mit seinen Leuten zu unterwandern, bis ich ihm dann eines Tages im ritterlichen Zweikampf das Handwerk legte.

KEYHI PUJVI GIKI FOY HOLBY:
Und ich, wie du weißt, war einer jener Unterwanderer – hatte für meinen Teil den Auftrag, klammheimlich meine Doublette, den Commander dieser Station, zu ersetzen, um alles für die spätere Machtübernahme in eurem Universum vorzubereiten. Niemand merkte etwas davon, niemand stellte sich mir in den Weg, aber ich überwarf mich – nicht zuletzt aus Liebe zu meiner späteren Gemahlin Mango Berenga – mit der Hierarchie drüben. Der Sturz des Diktators gab mir schließlich die Möglichkeit, diese Insel im Nichts in meinen persönlichen Besitz zu bringen und mir hier mein behagliches neues Zuhause zu schaffen. Du solltest nur einmal meine Privatgemächer sehen, Basil: Eine Zimmerflucht, eingerichtet im Stil ländlicher Châteaus des Zweiten Kaiserreichs, und dort trage ich das Outfit eines Gentilhomme jener Zeit – ich habe ja kein Problem, unter den Stilrichtungen irdischer Kulturgeschichte meine Wahl zu treffen, ist doch für mich jede Periode gleich fremdartig gegenüber dem, wo ich herkomme.

Und das Tizb’ptouk, dieses scheußliche Geschöpf?

KEYHI PUJVI GIKI FOY HOLBY:
Das habe ich aus einer Welt, wie du sie dir kaum vorstellen kannst – von einem unserer
Kolonialplaneten. Wir drüben sind euch bekanntlich in der Zeitrechnung um rund hundert Jahre voraus und dementsprechend schon viel weiter mit der Besiedlung und Bewirtschaftung unserer näheren kosmischen Umgebung. Übrigens: Allein die Tatsache, dass ich dem Tyrannen das Tizb’ptouk nicht schenken wollte, reichte schon, um ihn zu meinem Todfeind zu machen.

Und warum ließ er dich dann nicht liquidieren?

KEYHI PUJVI GIKI FOY HOLBY:
Sehr einfühlsam, mein Freund! Aber ganz einfach: Niemand wagte sich näher als zehn Schritte an das grässliche Vieh heran, das ich ständig bei mir hatte.

Wie war er eigentlich so, euer Diktator?

KEYHI PUJVI GIKI FOY HOLBY:
Also wirklich, Basil, wenn ich nicht genau wüsste, dass du ihn hingeschlachtet hast in eurem aparten Armageddon! Da hättest du nicht kapiert, wen du vor dir hattest? Schau, Iadapqap Jirujap Dlodylysuap, oder Augustus Maximus Gregorovius, wie ihr ihn nennt, war brutal – und sensibel, grausam – und liebenswürdig, schlau – und unbedacht, er war vieles – und das Gegenteil von vielem. Er bestand aus zwei Gestalten, die synonym zu etwas, wenn schon nicht zueinander waren – vergiss nicht: die viel zitierte Ambiguität …

Viel von dem, was ich heute weiß, hätte ich lieber nie gesehen, aber es führt kein Weg zurück zu jenem paradiesischen Zustand – was ich gesagt habe, ist gesagt, schlimmer noch: Was ich getan habe, ist getan. Könnte ich nur (wie die Walemira Talmai) die Uhr ein einziges Mal zurückdrehen, aber am Ende ist ohnehin jeder Traum zu lange her, das Leben hat seine Spiralbewegung fortgesetzt und mein Pendant und Widersacher kehrt nicht zurück.

KEYHI PUJVI GIKI FOY HOLBY:
Lass den Alten, wo er ist! Schließlich sind wir die Herren der Zeit: Das magst du daran erkennen, dass du innerlich von Anbeginn ahntest, es sei dir bestimmt, den Tyrannen zu töten. Ich wiederum bin König dieser Winzigkeit im All und war es demgemäß immer schon, auch als ich noch fern von hier weilte. Komm also lieber im Geist mit mir auf eine Reise, die den einen oder anderen Funken schöner Erinnerungen birgt. Was zählt denn sonst, Basil? Wenn du tausend Schlachten siegreich geschlagen hättest mit tausendmal gefinkelteren Strategien, als sie jener andere Kamerad ausheckte (hieß er nicht Hannibal?), doch nie erfahren hättest, wie es ist, wenn deine Charlene, von der du mir so enthusiastisch vorgeschwärmt hast, unter dem Gewicht deiner Männlichkeit alle Register ihrer Leidenschaft zieht, was bliebe dir dann?