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Johannes Themelis
DIE AUFTEILUNG DER WELT
(aus dem 2005 erschienenen Roman NOSTRANIMA)

Zur Einführung: Major Ray Kravcuk, der Chief Liaison Officer to the National Security Council (CLONSCO), wird von drei Damen unterstützt – Trudy, Amy und Pussy. In den Aufgabenkreis des kleinen Teams fällt vor allem die Formulierung von Bedrohungsszenarien für die USA im Horizont der nächsten 25 Jahre. Es geht dabei viel nüchterner zu als unter der Vorgängerin Kravcuks, der Generalin Heather H. Skelton, die in ihre Tätigkeit sogar Features über eine angebliche Spiegelwelt sowie eine in der Zukunft lebende Person einbezog und sich dabei der Unterstützung von vier äußerst merkwürdigen Wissenschaftlern bediente. Was der Major nicht weiß: Trudy arbeitet auch für den geheimnisvollen Sir Basil Cheltenham, den sie über alle wichtigen Vorgänge im CLONSCO-Büro informiert.

Kravcuks Devise hinsichtlich der Langfristszenarien war einfach. Back to Earth! im wahrsten Sinne des Wortes. Nichts mehr über angebliche Angriffe aus einem obskuren Paralleluniversum! Diese seltsame Habilitationsschrift einer nichtexistenten Person – Papierkorb! Finanzierung merkwürdiger akademischer Spinner – gehört der Vergangenheit an (wie gut, dass uns jemand die Mühe abgenommen hat, die Professoren Kouradraogo, Migschitz, Ivanovich und Schreiner zu entsorgen)!

Ray Kravcuks Zukunftsperspektiven befassten sich mit realer Geopolitik. Da waren zuerst die USA selbst, die in zwei bis drei Jahrzehnten durch die Aufnahme Kanadas, Großbritanniens, Australiens und Neuseelands als neue Bundesstaaten der Union gewachsen sein würden, um im Kernland das weiße angelsächsische protestantische Element zu stärken. Weiters dann die diversen Hinterhöfe respektive Armenhäuser des amerikanisch dominierten Territoriums: Lateinamerika, Kontinentaleuropa inklusive der russischen Westprovinzen sowie ein Teil von Afrika – sie alle würden die Anmaßung der Machtzentrale am Potomac River und vor allem die wirtschaftliche Ausbeutung von Menschen und Ressourcen durch die US-Konzerne bereitwilligst akzeptieren: voll Angst vor der allgegenwärtigen gelben Gefahr.

China versprach nämlich in den nächsten zweieinhalb Dezennien eine Wachstumsstory zu bleiben: eine zwar eingedämmte, aber mit einem Prozent pro Jahr noch immer dramatische Bevölkerungszunahme, dadurch bedingt Engpässe bei Nahrungsmitteln, Rohstoffen und Energie sowie bei Grund und Boden schlechthin. Blickte man so lange in die Zukunft, würde die Politik der USA sich nicht mehr auf ein passiv betriebenes Containment der chinesischen Macht beschränken können, sondern mit dem Riesenreich ein geplantes und geordnetes Arrangement suchen müssen. Ray Kravcuks Brainstorming Sessions mit seiner Gruppe ergaben zuletzt ein Hauptszenario, das ich prompt Sir Basil überbrachte.

SIR BASIL:
Trudy – was sie mir brachte, bedeutete neben dem Informationswert auch immer jede Menge Amusement. Vor allem die Art und Weise, wie Kravcuks komplexe und im Prinzip sehr eindrucksvolle Gedankengebäude zustandekamen, mutete mehr als skurril an. Sein Department war nämlich sehr klein, bestand neben ihm und der lieben Trudy (mit Vorliebe lichtblau gekleidet) nur noch aus der lieben Amy (pink) und der lieben Pussy (neongrün). Besonders die beiden Letztgenannten hatte Ray sich wohl nicht so sehr zur Hebung der intellektuellen Kapazität geholt, sondern um ihre Intuition zu nutzen und auch all das, was sie (während sie zu ganz anderem dienlich waren) von ihren hochrangigen politischen Bekannten aufgeschnappt hatten. Für mich bedeutete das Engagement der drei jungen Damen durch CLONSCO eine potentielle Gefahr, die ich allerdings durch die Agentenfunktion Trudys neutralisieren konnte. Ein vielleicht unbedeutendes Detail am Rande: Rays Mitarbeiterinnen mussten blond sein – so blond wie nur möglich.

Das sogenannte Hauptszenario hatte es wirklich in sich. Um zu verhindern, dass China sich in Form eines Verzweiflungsaktes all das holte, was es so dringend brauchte, mussten die USA partiell zurückweichen und dem Kontrahenten freiwillig eine bestimmte Quote der Weltressourcen abtreten.

Nehmen wir als Beispiel das Erdöl. Mehr und mehr, so Ray, würden die Schlitzaugen von diesem Rohstoff brauchen und nicht mehr aus den ihnen heute zugänglichen Quellen decken können. Daher die Idee, Amerika aus den Reserven des ostpazifischen und des atlantischen Raums zu versorgen und China à la longue den Mittleren Osten zu überlassen. Es versteht sich jedoch von selbst, dass dies kein Geschenk ohne Hintergedanken sein sollte – im gleichen Moment würde Peking ja plötzlich die Verantwortung dafür haben, in dieser Region Ruhe zu schaffen und zu halten, wozu man aus heutiger Sicht nur gratulieren konnte.

SIR BASIL:
Wie beim Erdöl wurden im Kravcuk-Szenario auch alle anderen Aspekte der finalen Aufteilung der Erde diskutiert: Trinkwasser, industrielle Kapazitäten, Fischereizonen, Bergbaugebiete, landwirtschaftlich nutzbare Flächen – und last but not least natürlich Menschen, Menschen in großen Zahlen, Arbeitskräfte, Konsumenten, Soldaten. Konsequent zu Ende gedacht, bedeutete das nichts anderes, als aus der Oberfläche des Globus ein so großes Stück herauszuschneiden, dass die Chinesen damit mehr als zufrieden sein konnten – eine Idee, die dem Selbstverständnis des Reichs der Mitte sehr entgegenkommen musste. Ray und seine Blondinen zogen entschlossen diese mögliche Grenzlinie zwischen den beiden Kolossen und definierten zugleich an diversen Stellen mögliche Verhandlungspakete, die später noch detailliert zu klären waren.

Der Limes (in Anlehnung an das altrömische Vorbild, aber diesen Begriff würde man dem offiziellen Washington, allen voran dem Präsidenten, erst erläutern müssen), dieser Limes also begann am Nordpol, verlief von dort genau auf dem 75. Meridian und sodann entlang des Ural-Gebirges (Sibirien hatten wir ohne Umschweife als neues Siedlungsgebiet für die chinesischen Massen reserviert). Danach markierte Kravcuks Rotstift den Ural-Fluss und weiter – unbeeinsprucht – die Nordküste des Kaspischen Meeres bis zur Wolgamündung. Dann allerdings brach die erste Diskussion los (über den Wert der Brückenkopffunktion der Türkei versus die Probleme, die man sich damit aufhalsen würde), wobei wir uns darauf einigten, das Land ebenso wie Georgien und Armenien vorerst bei Amerika zu belassen, aber verhandlungsbereit zu bleiben.

Leicht verunsichert zeichneten wir einfach eine Gerade von Zypern zum Golf von Guinea: es würde noch eine Menge Recherche bedeuten, hier Klarheit zu schaffen, aber wir hatten dafür – angesichts unseres 25-Jahres-Horizonts auch noch genügend Zeit (Israel zum Beispiel war letztlich in strategischer Hinsicht viel zu teuer, hatte aber eine hervorragende Lobby in der politischen Kaste der USA). Ohne Probleme umrundeten wir das Kap der Guten Hoffnung und Madagaskar (wäre nett, wenn man die Insel haben könnte!) und landeten auf Diego Garcia mitten im Indischen Ozean. Von diesem Punkt weg eröffneten sich drei sehr divergente Ansätze, nämlich 1. die Grenze unter Inanspruchnahme der südostasiatischen Inselstaaten und Japans geradewegs in Richtung Nordosten bis zu den Alëuten zu ziehen und dann der Datumsgrenze zurück zum Nordpol zu folgen; 2. sie genau nach Osten zwischen Australien und Neuguinea hindurch bis in den Raum Samoa und von dort wieder direkt zum Pol verlaufen zu lassen; 3. einen sehr schwer argumentierbaren Mittelweg zu gehen.

Ray neigte dazu (und so beschlossen wir das auch), den Chinesen das ersehnte Taiwan auf dem Tablett zu servieren, aber auch die Japse loszuwerden, die früher oder später doch Schwierigkeiten machen und sich zur asiatischen Sache hingezogen fühlen würden – auf die übrigen Territorien kam es uns dann gar nicht mehr so genau an. Bloße Verhandlungstaktik würde das am Ende sein: einige der großen Sunda-Inseln oder die Philippinen zu nehmen, wenn China sich nicht darauf versteifte – warum nicht?

SIR BASIL:
Der nächste Schritt war ein großer und überstieg an und für sich die Kompetenz eines Majors bei weitem. Meine Vermutung war (und so hätte ich es anstelle von Kravcuks Vorgesetzten auch gemacht), sie schickten ihn ohne Deckung los, und für den Fall eines Scheiterns seiner Mission oder auch nur der leisesten Indiskretion würde es ihn allein den Kopf kosten – niemand sonst hätte etwas davon gewusst, am allerwenigsten die politische Führung: sorry, Freunde, der Alleingang einer niedrigen Charge.

Ray war nicht naiv genug, um das als Fait accompli zu schlucken. Obwohl ihm klar war, dass er sich als Department Head der Verantwortung nicht ganz würde entziehen können, versuchte er doch, seinen Kopf irgendwie aus der Schlinge zu halten, und so ging vorerst ich nach Peking. Mein Gesprächspartner dort war Hong Wu Zhijian, der Leiter des zentralen Planungsstabes der chinesischen Regierung, so zumindest übersetzte Miss Dan Mai Zheng den Namen der Organisation, der im Original sicher so ähnlich wie „Das Fischen in den Strömen der Zukunft? lautete.

Ich kam mit den beiden gut weiter – ihre Sicht der Dinge war auf dieser unserer Ebene bemerkenswert ähnlich, und ich nahm ohne Ressentiments zur Kenntnis, dass es natürlich im Detail abweichende Vorstellungen der anderen Seite über die Grenzziehung gab. Diesbezüglich legten wir unsere Karten nicht auf den Tisch, zumal wir uns darüber einig waren, dass man den politischen Instanzen beider Länder noch genügend Verhandlungsspielraum lassen müsste. Leise Zweifel hegten wir allerdings übereinstimmend hinsichtlich des Willens unserer jeweiligen obersten Führer, diesen wirklich großen Wurf zu kontrahieren und dann konsequent umzusetzen.

SIR BASIL:
Als mich Trudy, abweichend von unserem sonstigen Informations-Geber-Nehmer-Schema um meine Meinung dazu fragte (und mich ausnahmsweise in einer bereitwilligen Stimmung vorfand, um darüber zu reden), musste ich etwas weiter ausholen. Ich kannte natürlich das Gremium hinter dem US-Präsidenten, das entsprechend der momentanen Lobbying-Konstellation die wahren Entscheidungen fällte, und ich hatte auch gewisse Vorstellungen von den entsprechenden Verhältnissen in Peking, die man sich durchaus nicht so einfach ausmalen sollte, wie dies üblicherweise geschieht. Die beiden in Wahrheit vertragschließenden Gruppierungen mussten vom Charme des Kravcuk-Entwurfs äußerst beeindruckt sein – waren sie aber bereit, ihn wirklich in der erforderlichen Großzügigkeit durchzuziehen? Konnten sie (und hier waren die presbyterianischen Fundamentalisten in Washington wesentlich anfälliger als die agnostischen Pragmatiker in China) der Versuchung widerstehen, unsinnige Propagandaschlachten zu führen, die ein derart diskretes Vorhaben gründlich zum Scheitern verurteilen würden? Und als letzte, ganz entscheidende Frage: Würde man je in der Lage sein, nüchtern und ohne innere Emotionen für den jeweils anderen den Verbündeten-Schreck zu spielen, um die beiden Blöcke endgültig und unwiderruflich zu amalgamieren? Wer sonst als ein neuerlich atombombendrohendes Amerika konnte Japan dauerhaft in die Arme Chinas treiben, wer außer die realistische Drohung von wahren Menschenfluten konnte die europäischen Verbündeten der USA disziplinieren?

In dieser Plauderstunde habe ich sehr viel von Sir Basil gelernt, und ich bereute es weniger denn je, zu ihm übergelaufen zu sein. Sollte es irgendwann zu einer Neuauflage des Gesprächs mit Mr. Hong und der reizenden Miss Dan (die mich anlässlich meines nächsten China-Besuchs auf einen Einkaufsbummel durch die luxuriösen Läden von Uptown Shanghai einlud) kommen, hätte ich nunmehr einiges an Themen aufzuwarten. Vielleicht irritiert mich dann auch die Tatsache weniger, dass „Nennen-Sie-mich-Zhijian? ununterbrochen knapp an mir vorbei in den Spucknapf zielte.

Und wer weiß, gestattete ich mir einen weiteren Gedanken, der für viele nicht in einen attraktiven Blondkopf passte, vielleicht konnte ich Major Kravcuk eines Tages mit bemerkenswerten Ergebnissen ausbooten. Cheltenham würde es gefallen, und ich konnte sicher damit rechnen, dass er mir jede Unterstützung dabei gab.

SIR BASIL:
Mir kam das alles äußerst gelegen: Die angestrebte Weltordnung fand meinen Geschmack. Sie machte Sinn. Sie behinderte meine sonstigen Pläne nicht – im Gegenteil, ich würde insgeheim dabei mitmischen und dort, wo es mir nötig schien, einige Parameter fixieren können: Trudy hatte sich ausgezeichnet profiliert und versprach eine ganz außerordentliche Investition zu werden, nicht zuletzt deshalb, weil sie sich auch in diesen subtilen Sphären der Diplomatie nicht zu gut dafür war, ihre weiblichen Attribute gezielt einzusetzen. So etwa anlässlich einer Vorfühlmission bei Seiji Sakamoto, der zu jenem Dutzend Männer zählte, die hinter verschlossenen Türen die Geschicke Japans lenkten: Ich hatte Trudy zu dieser Reise geraten und ihr empfohlen, gegenüber ihrem Chef nicht viel Aufhebens zu machen. Für die Verwirklichung des Großen Plans ebenso wie ihrer persönlichen Interessen würde es entscheidend sein, Sakamoto und seine Runde von Anfang an positiv zu stimmen. Meine Frau Charlene und ich gaben Trudy Deckung – offiziell besuchte sie für eine knappe Woche ihre alten Freunde in Europa (Kravcuk war hellauf begeistert und bat sie, mich bei der Gelegenheit ein wenig auszuhorchen), in Wahrheit reiste sie schon wieder nach Fernost: 12½ Stunden hin, 12½ Stunden zurück und dazwischen etwas mehr als 24 Stunden Aufenthalt mussten eigentlich reichen.

Seiji Sakamoto empfing mich in seinem Penthouse im 30. Stock eines firmeneigenen Hochhauses. Der Raum, in den ich von zwei schwarzgekleideten Yakuza-Kriegern geführt wurde, entpuppte sich als riesiges Badezimmer mit einer monströsen Wanne aus Marmor, direkt an die Fensterfront grenzend, sodass man das Gefühl haben musste, über der Bucht von Tokio zu schweben.

Baden Sie mit mir, meine Liebe, lud mich mein Gastgeber ein, entspannen Sie sich etwas von der anstrengenden Reise. Als ich etwas zögerte (obwohl mir sein Angebot in diesem Moment tatsächlich als sehr verlockend erschien), bezog er dies auf die martialischen Tätowierungen, die seinen gesamten Körper, ausgenommen Gesicht und Hände, bedeckten und die mir, wie er vermutete, etwas Angst einjagten. Das ist weiter nichts, meinte er leichthin, nur die Insignien, die mich als Oyabun meines Klans ausweisen, im Prinzip ist es ein Bilderbuch meiner sogenannten Heldentaten.

Ich schreckte mich in Wirklichkeit gar nicht (was hätte mich nach meinen Erfahrungen mit den Absonderlichkeiten neurotischer amerikanischer Politiker noch abstoßen sollen?), sondern legte ungeniert ab, wie wir Pfadfinderinnen es tun, wenn es ans Schwimmen geht: die erste Runde hatte ich für mich entschieden. Allerdings hatte Seiji-San noch mehr auf Lager. Die beiden Yakuzas, die mir interessiert zugesehen hatten, ohne mich deswegen in Verlegenheit bringen zu können, traten, als ich in der Wanne saß, mit einigen raschen Schritten heran, packten mich von hinten und drehten mir die Arme auf den Rücken. Für wen arbeiten Sie? fragte mich ein weiter gut aufgelegter Sakamoto lächelnd.

SIR BASIL:
Trudy hätte nicht besser reagieren können, wenn sie von Anfang an in meine Schule gegangen wäre und nicht erst seit relativ kurzer Zeit unter meinen Fittichen stand. Sie verbiss ihren Schmerz und lächelte zurück: Ihre Gorillas lassen mich auf der Stelle los und ich verrate Ihnen, wie Sie vom Objekt zum Subjekt eines gewaltigen Deals werden können, Big Sak! Und – nachdem er die beiden wütenden Männer mit einer Handbewegung aus dem Raum gewiesen hatte – entwickelte sie ihm das auf unser aller restliche Lebenszeit ausgelegte Weltaufteilungsmodell.

So wie ich es Sakamoto gegenüber tat, hatte Sir Basil die Sache nicht präzisiert, aber ich glaubte ihn genau verstanden zu haben. Noch gab es zur Zeit dieses Gesprächs jenseits der ideologischen Bindungen ein Wettrennen zwischen Japan und China um die Vorherrschaft in Asien. Noch wäre jeder japanische Premier gestürzt worden, hätte er diese Fiktion nicht aufrechterhalten, obwohl man genau wusste, dass die Sache für Tokio längst verloren war. Zu stark war der Konkurrent bereits auf politisch-militärischen Gebiet geworden, und dass er auch wirtschaftlich überholen würde, war eine Frage der Zeit. Ich stellte Sakamoto für sein Land die Alternativen vor Augen, entweder ein schäbiger Außenposten des amerikanischen Imperiums zu werden oder als intellektueller und finanzpolitischer Fokus des chinesischen Teils der Erde zu reüssieren. Ich kehrte körperlich unversehrt (nur gebadet) und mit einem positiven Bescheid nach England zurück.

Weiter in Washington behielt ich die Causa Japan selbstverständlich für mich. Das fiel insofern nicht weiter auf, als Rays Truppe (plötzlich ihrerseits mit einem Back-to-Earth-Befehl konfrontiert) den Auftrag bekommen hatte, eine aktuelle Analyse der allgemeinen Wirtschaftslage durchzuführen und auf deren Basis die finanziellen Möglichkeiten der USA für eine ganze Reihe politisch-militärischer Eingriffe im Mittleren Osten zu evaluieren. Bei meiner Ankunft war Kravcuk noch immer außer sich über so viel Unsinn, sah er doch jede Beeinträchtigung seines Lieblingsprojekts als persönliche Beleidigung an. Amy und Pussy hatten alle Hände voll zu tun, um seine Laune wieder zu heben – die beiden erzählten mir, dass er sogar, wenn sie gerade auf der Couch im persönlichen Bereich seiner Büroräume besonders nett zu ihm waren, mittendrin aufsprang und brüllte: Diese Idioten, jeder Dollar, den sie dort hineinstecken, ist verschwendet! Und: Längst könnten chinesische Truppen und Kader beginnen, sich mit den Verhältnissen am Persischen Golf auseinanderzusetzen – es würde uns keinen müden Cent mehr kosten, im Gegenteil, wenn sie sich das nötige Geld am westlichen Kapitalmarkt besorgen müssten, könnten wir noch daran verdienen!

Er ist schon ein großer Stratege, sagte Pussy leise zu mir – aber ein lausiger Liebhaber, flüsterte Amy ergänzend, während ich Ray schreien hörte: Das ist die Antwort, die man ihnen geben müsste, und dazu ist keinerlei Research notwendig, nur ein einziges Blatt gottverdammtes Papier, auf dem ein einziges gottverdammtes Wort steht.

Nichtsdestoweniger war er gezwungen, weit mehr als ein Blatt abzuliefern und dafür jede Menge Research-Arbeit aufzuwenden, und das alles rasch. Dessenungeachtet half uns, als wir uns darüber machten, unsere Routine. Wären unsere Auftraggeber belesener gewesen, hätten wir einen denkbar schlechten Stand gehabt. So aber konnte man ihnen eine Menge Allgemeinplätze, verpackt in einige griffige Phrasen, hinwerfen. Ich schrieb gleich mit:

Wir leben in einer Zeit, in der die paralysierten Investoren dem Markt so lange Liquidität entziehen, bis sie in diesem gigantischen Roulette die neuen Spielbedingungen zu kennen glauben und ihre Chips wieder zu setzen beginnen. Was spricht im Moment dagegen, dass dies bald der Fall sein wird?
1. Massive Überbewertung der Aktien – eine Phase ähnlich starker Unterbewertung sollte folgen.
2. Ungeheure Verschuldung sämtlicher wichtiger Volkswirtschaften – wenig Spielraum für Ausgaben, die einen Aufschwung alimentieren könnten.
3. Dies gilt für die Verbraucher… – die disponiblen Einkommen stagnieren vorerst.
4. … und für die Unternehmen – ehrgeizige Investitionsprojekte haben vorerst keine Perspektive.
5. Spürbare Eingriffe des Staates sind kaum zu erwarten – man ist höherenorts mit seiner Weisheit am Ende.

Fazit: Es ist das Szenario einer umfassenden Deflation!

SIR BASIL:
Und womit bekämpft man diese Situation (die den Machthabern in Washington ohnehin wohlbekannt war) am wirkungsvollsten? Natürlich mit einem Krieg! Kein Wunder, dass plötzlich niemand etwas vom Kravcuk-Projekt hören wollte, das mehr oder weniger eine unaufgeregte Begradigung von Grenzlinien und damit die automatische Selbstauflösung von Konfliktherden zum Ziel hatte. Was man im Moment von Rays Braintrust brauchte, war wissenschaftlich erzeugtes Grünes Licht für ein oder zwei heiße Auseinandersetzungen, um die Wirtschaft selbst anzukurbeln oder jedenfalls die Inflation wiederzubeleben und damit wenigstens eine Scheinkonjunktur zu produzieren. Arme Trudy – in was war sie da hineingeraten? Wann konnte sie (und wann konnte ich durch sie) wieder damit rechnen, Hong und Dan sowie vielleicht auch Sakamoto mit neuen Vorschlägen zu besuchen?

Sir Basil gab mir einen Rat, mit dem wir jedwede Anfrage vorerst zumindest verbal zufriedenstellen konnten. Antworten Sie, sagte er mir am Telefon (selbst bei unverschlüsselter Leitung würde niemand den Sinn seiner Worte deuten können): Wer sich als Erster diesem neuen Szenario stellt und konsequent handelt, hat schon gewonnen!