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Johannes Themelis

BERENICE
Sir Basil Cheltenhams zweites Leben

Berenice

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Für Bernd

ICH TRÄUME VON NIE DAGEWESENEM
UND SAGE:
WARUM NICHT?
George Bernard Shaw

… JEDER AUTOR,
DER DIESE BEZEICHNUNG VERDIENTE,
MUSSTE IN DER LAGE SEIN, CHARAKTERE ZU ERFINDEN,
DIE INTERESSANTER WAREN,
ALS IRGENDWELCHE LEBENDEN PERSONEN.
John Irving

DER MENSCH ALLEIN WEISS,
DASS ANDERE WISSEN, DASS ER WEISS.
Chicago, Romanfigur

Anmerkung:
In dieser Geschichte wird teilweise
auf Charaktere und Motive zurückgegriffen,
die im Roman „NOSTRANIMA” entwickelt wurden.

1. TEIL

VIÈVE – EINE STATION IM ALL
UND IHRE KONTAKTE ZUR ALTEN ERDE

101

Keyhi Pujvi Giki Foy Holby (sein Name bedeutete so etwas wie Schlangen – Löwe – gestern – heute – morgen) ging mit seinem Tizb’ptouk spazieren, einem ziemlich großen seltsamen Wesen, das am ehesten einem irdischen Schwein ähnlich sah und dort, wo es herstammte, als Haustier gehalten wurde, aber auch noch wild vorkam. Er hatte die Kreatur, die ihm bis auf Brusthöhe reichte und deren stimmliches Repertoire sich von einem angenehmen Brummen bis zu einem bösartigen Kullern erstreckte, aus den Kolonien des Tyrannenreiches mitgebracht.

Die abgelegene Weltraumstation, auf der sie sich befanden, war in Form einer Hohlkugel gestaltet, an deren Wandinnenseite man sich mit Hilfe künstlicher Schwerkraft problemlos fortbewegen konnte. Manche Bereiche der Außenhaut – vor allem dort, wo keine Gebäude standen – waren durchsichtig, und wenn man über diese Stellen hinwegging, wie an diesem Abend Keyhi und sein seltsamer Zerberus, hatte man den Himmel zu Füßen: ein Anblick, der für viele Bewohner des künstlichen Sterns nach wie vor gewöhnungsbedürftig war.

Aber ich erzähle munter darauf los, ohne Rücksicht auf das Verständnis der Leserinnen und Leser: Mein Name ist Sir Basil Cheltenham, und ich darf wohl sagen, dass ich zu meiner Zeit eine große Nummer war und viele Räder gleichzeitig gedreht habe – aber das ist schon lange her. Derzeit befinde ich mich im Gewahrsam (so muss ich das wohl nennen) meiner Therapeutin Berenice, einer sehr eindrucksvollen Frau, die nicht nur die psychologische und psychiatrische Ausbildung westlichen Zuschnitts absolviert hat, sondern als australische Ureinwohnerin – sprechen Sie vor ihr nur ja nicht von Aborigines, sondern von Koori! – auch eine bedeutende Schamanin ihres Volkes ist, eine Walemira Talmai, das ist „die, der das Wissen weitergegeben wurde”.

Da ihr das Geistwesen, dem sie angehört, bei ihrer Initiation einen Quarzkristall in den Kopf gesungen hat als Gabe der Hellsichtigkeit, ein heiliges Feuer in die Brust gesungen hat als Gabe der Außerirdigkeit und ein Luftseil in den Leib gesungen hat als Gabe der mühelosen Überwindung von Distanzen jeglicher Dimension, gibt es eigentlich für jemanden wie mich (den sie natürlich als Patienten bezeichnet und als solchen mit größtem Respekt behandelt, aber in Wahrheit bin ich doch eher etwas wie ihr Gefangener) wenig Spielraum, sie zu hintergehen. Abgesehen davon würde mir das ohnehin schwerfallen, verdanke ich ihr doch viel – sogar mein Leben.

Woher ich weiß, was sich fern von hier auf Keyhis Station zugetragen hat? Nun – einmal Militär, immer Militär: Keyhi ist Soldat wie ich, und wo, wann oder wie immer wir alten Haudegen leben, wir verstehen einander. Vor allem aber haben wir gelernt, die Kommunikationswege offenzuhalten. Wer die Geschichte der NOSTRANIMA kennt, weiß auch von der magischen Kristallkugel, mit deren Hilfe man im Nu weite Reisen machen kann. Der letzte Standort dieses Zauberwerks war ein Sideboard auf meinem Herrensitz Cheltenham House – mein Gott, wie vermisse ich diesen Ort! Aber einerlei, ich bat Berenice, mir das Ding bringen zu lassen, und nachdem sie mir das Ehrenwort abgenommen hatte, es nicht für einen Fluchtversuch zu missbrauchen, erfüllte sie meinen Wunsch.

Nicht bloß einmal tasteten meine Finger über das Eingabefeld, das verlockend fluoreszierte, und dann passierte es eines Tages, dass ich dem Mechanismus zu nahe kam und schon fürchtete, an irgendein Koordinatenkreuz des Raum-Zeit-Gefüges katapultiert zu werden. Stattdessen erschien im Inneren der Kugel das kleine Bild Keyhis, der mir verhalten zulächelte: „Hallo, alter Knabe, wieder einmal was von den Kameraden gehört, von Scipio Africanus, Clausewitz oder einem der anderen Jungs?”

Ich jubelte innerlich. Ohne meinen Eid zu brechen, konnte ich mir wieder eine Menge Kontakte aufbauen – mit einem Mal hatte ich wieder etwas zu tun, war imstande, wenigstens geistig der Enge von Berenices Domizil zu entfliehen, in dem nur sie mit einer Gruppe anderer Koori sowie ihrem amerikanischen Freund Brian Thomson lebte. Dieser war als ehemaliger Master Sergeant der US Marines nicht gerade der standesgemäße Umgang für einen hohen britischen Offizier wie mich und hatte sich außerdem im Fahrwasser seiner Geliebten völlig dem Esoterischen zugewandt. Unter den übrigen Mitbewohnern (die alle ein ungewöhnliches paranormales Potential aufwiesen) gab es lediglich eine belesene Dame, mit der man über Literatur plaudern konnte, aber um den Preis ständiger sexueller Anzüglichkeiten: „Haben Sie nicht Lust, Sir Basil”, fragte sie jeweils dann, wenn unser Gespräch etwas fortgeschritten war, „haben Sie nicht Lust, mit einer furchtbar schwarzen Naturschönheit wie mir auch etwas anderes anzustellen, als bloß zu reden?” Es war aber nicht mehr als Versuchung ohne Erfüllung: in dem Zustand, in dem ich mich befand.

Wenn ich da an früher denke – aber lassen wir das…

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

KEYHI PUJVI GIKI FOY HOLBY:
Ist es nicht erstaunlich, Basil, dass wir so rasch die gleiche Wellenlänge gefunden haben, obwohl wir einander bisher nie persönlich begegnet sind – aber wie du sagst, der gemeinsame Stallgeruch der Armee macht das ohne weiteres möglich. Dieses spezifische Wir-Gefühl überbrückt sogar die Tatsache, dass du aus dem Alpha-Universum bist und ich aus der Spiegelwelt komme.

Das ist es! Das war’s, was ich schon die ganze Zeit erwähnen wollte: Es gab da diese andere Realität, dieses Paralleluniversum, in dem alle Menschen Doppelgänger von uns sind, und mein höchstpersönliches Pendant, der Oberste dort, Tyrann der jenseitigen Völker oder auch Diktator genannt, hatte vor langer Zeit begonnen, unsere hiesige Welt mit seinen Leuten zu unterwandern, bis ich ihm dann eines Tages im ritterlichen Zweikampf das Handwerk legte.

KEYHI PUJVI GIKI FOY HOLBY:
Und ich, wie du weißt, war einer jener Unterwanderer – hatte für meinen Teil den Auftrag, klammheimlich meine Doublette, den Commander dieser Station zu ersetzen, um alles für die spätere Machtübernahme in eurem Universum vorzubereiten. Niemand merkte etwas davon, niemand stellte sich mir in den Weg, aber ich überwarf mich – nicht zuletzt aus Liebe zu meiner späteren Gemahlin Mango Berenga – mit der drüberen Hierarchie. Der Sturz des Diktators gab mir schließlich die Möglichkeit, diese Insel im Nichts in meinen persönlichen Besitz zu bringen und mir hier mein behagliches neues Zuhause zu schaffen. Du solltest nur einmal meine Privatgemächer sehen, Basil: Eine Zimmerflucht, eingerichtet im Stil ländlicher Chateaux des Zweiten Kaiserreichs, und dort trage ich das Outfit eines Gentilhomme jener Zeit – ich habe ja kein Problem, unter den Stilrichtungen irdischer Kulturgeschichte meine Wahl zu treffen, ist doch für mich jede Periode gleich fremdartig gegenüber dort, wo ich herkomme.

Und das Tizb’ptouk, dieses scheußliche Geschöpf?

KEYHI PUJVI GIKI FOY HOLBY:
Das habe ich aus einer Welt, wie du sie dir kaum vorstellen kannst – von einem unserer Kolonialplaneten. Wir drüben sind euch bekanntlich in der Zeitrechnung um rund hundert Jahre voraus und dementsprechend schon viel weiter mit der Besiedlung und Bewirtschaftung unserer näheren kosmischen Umgebung. Übrigens – allein die Tatsache, dass ich dem Tyrannen das Tizb’ptouk nicht schenken wollte, reichte schon, um ihn zu meinem Todfeind zu machen.

Und warum ließ er dich dann nicht liquidieren?

KEYHI PUJVI GIKI FOY HOLBY:
Sehr einfühlsam, mein Freund! Aber ganz einfach: Niemand wagte sich näher als zehn Schritte an das grässliche Vieh heran, das ich ständig bei mir hatte.

Wie war er eigentlich so, euer Diktator?

KEYHI PUJVI GIKI FOY HOLBY:
Also wirklich, Basil, wenn ich nicht genau wüsste, dass du ihn hingeschlachtet hast in eurem aparten Armageddon! Da hättest du nicht kapiert, wen du vor dir hattest? Schau – Iadapqap Jirujap Dlodylysuap, der Augustus Maximus Gregorovius, wie ihr ihn nennt, war brutal – und sensibel, grausam – und liebenswürdig, schlau – und unbedacht, er war vieles und das Gegenteil von vielem. Er bestand aus zwei Gestalten, die synonym zu etwas, wenn schon nicht zueinander waren – vergiss nicht: die vielzitierte Ambiguität…

Viel von dem, was ich heute weiß, hätte ich lieber nie gesehen – aber es führt kein Weg zurück zu jenem paradiesischen Zustand – was ich gesagt habe, ist gesagt – schlimmer noch: was ich getan habe, ist getan – könnte ich nur (wie die Walemira Talmai) die Uhr ein einziges Mal zurückdrehen – aber am Ende ist ohnehin jeder Traum zu lange her – das Leben hat seine Spiralbewegung fortgesetzt, und mein Pendant und Widersacher kehrt nicht zurück.

KEYHI PUJVI GIKI FOY HOLBY:
Lass den Alten, wo er ist! Schließlich sind wir die Herren der Zeit: Das magst du daran erkennen, dass du innerlich von Anbeginn ahntest, es sei dir bestimmt, den Tyrannen zu töten. Ich wiederum bin König dieser Winzigkeit im All und war es demgemäß immer schon, auch als ich noch fern von hier weilte. Komm also lieber im Geist mit mir auf eine Reise, die den einen oder anderen Funken schöner Erinnerungen birgt. Was zählt denn sonst, Basil? Wenn du tausend Schlachten siegreich geschlagen hättest mit tausendmal gefinkelteren Strategien, als sie jener andere Kamerad ausheckte (hieß er nicht Hannibal?) – und hättest nie erfahren, wie es ist, wenn deine Charlene, von der du mir so enthusiastisch vorgeschwärmt hast, unter dem Gewicht deiner Männlichkeit alle Register ihrer Leidenschaft zieht, was bliebe dir dann?

102

Aus dem Lichtpunkt am Monitor ist also wieder ein Bild geworden, Brigitte…

BRIGITTE:
… und ich freue mich darauf, die vertrauten Gesichter wiederzusehen: Berenice, jenes wundersame Wesen, von der Physis zwar menschlich, aber mit unvorstellbaren Geistesgaben ausgestattet. Anastacia Panagou, die geniale Schöpferin von Androiden…

… und Androidinnen…

BRIGITTE:
… und ihre besondere Kreation, die berühmte AP 2000 ®, die einerseits eine perfekte Kopie ihrer Konstrukteurin ist, andererseits aber eine ausgeprägte virtuelle Individualität entwickelt hat…

… oder Charlene Thomson, die ein sehr bewegtes und nach bürgerlichen Maßstäben auch sehr unmoralisches Leben führte, bevor Sir Basil Cheltenham sich in sie verliebte und sie zu seiner zweiten Frau machte – allerdings, rückblickend betrachtet, für eine relativ kurze Zeit, denn sein Kampf mit dem Tyrannen der jenseitigen Völker hatte ihn völlig außer Gefecht gesetzt…

BRIGITTE:
… oder Geneviève Gräfin von B., die lange Jahre in dem Glauben leben musste, von ihrem eigenen Vater geschwängert worden zu sein, bis sich herausstellte, dass dieser längst durch sein Pendant aus dem Spiegeluniversum ersetzt worden war, was bedeutete, dass sie ein zwar merkwürdiges, aber keineswegs inzestuöses Verhältnis gehabt hatte: und vor allem, dass ihr Kind nicht tot, sondern vielmehr in die Alpha-*-Realität verbracht worden war, und dass sie das Mädchen zuletzt wiederbekommen konnte…

… und die Tochter selbst mit ihrer derart entstandenen Doppelidentität: drüben als Balaf-Ieku Hvuvu, die himmlisch schöne Prinzessin, bekannt, hier als Clio Alexandrine Andromède Annette Aphrodite Komtesse von B., drüben die Geliebte des Diktators, hier – nun wir werden sehen…

BRIGITTE:
… und so könnte man sie alle aufzählen, die uns schon einmal begegnet sind, und sie in weiterer Folge konfrontieren mit den Neuzugängen.

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

Übrigens – warum steht wieder mein Name über unserer Geschichte? Hatten wir uns nicht darauf geeinigt, diesmal dich als Autorin auftreten zu lassen?

BRIGITTE:
Dahinter stecken komplizierte Überlegungen. Steht nämlich dein Name da, wird jeder Leser und vor allem jede Leserin sagen: Na bitte, ich hab’s ja gleich gewusst! Du wirst Vorurteile bestätigen, und die Leute werden davon zutiefst befriedigt sein. Bei meinem Namen kommt irgendjemand daher, aller Voraussicht nach eine spitzfindige Frau, und behauptet, hier hätte irgendso ein Chauvi eine mehr oder weniger anstößige Geschichte unter einem weiblichen Pseudonym veröffentlicht.

Aha, und weil erstens von Frauen verfasste erotische Texte mega-in sind und weil es dabei zweitens einen zusätzlichen Reiz bedeutet, dass möglicherweise eine Frau ein männliches Pseudonym benützt, und weil drittens zwar die Frauen gelernt haben, mit männlichen Augen zu schauen, die Männer aber – die das Umgekehrte nie geschafft haben – ständig begierig sind, einen Zipfel echten weiblichen Naturells zu lüpfen…

BRIGITTE:
… und weil ich viertens keine Lust habe, mich in diesem verwirrenden Konglomerat instrumentalisieren zu lassen, lehne ich die offizielle Autorenschaft ab. Diskriminierung durch geistiges Eigentum – nein danke!

Wie einfach wir Männer doch im Vergleich dazu sind!

BRIGITTE:
Weshalb euch die Evolution auch zum Aussterben verurteilt hat! Du wirst schon sehen: Wenn wir in unserer Erzählung dorthin kommen, wo Natalia Petrowna und Verushka Dimitrowa so schön miteinander spielen, müsstest du dir eigentlich selbst von ganzem Herzen wünschen, dass sie ein Kind ihrer Liebe zeugen könnten – ganz ohne dein oder eines anderen Mannes Zutun!

Bevor es aber so weit ist, vor dem endgültigen Verschwinden des männlichen Geschlechts, wirst du nolens volens mit Exemplaren dieser Spezies konfrontiert werden. Und so befindet sich denn unter den statistischen 10,8 Personen, die unsere Kindheit und Jugend geprägt haben und uns unvermeidlich unser Leben lang umringen, der eine oder andere Mann – und jetzt kommt’s: Soweit du auf diesen fixiert bist, soweit du ihn internalisiert hast (zu einer Zeit, als du keinesfalls imstande warst, dich bewusst gegen derlei zu wehren), ist er ein Teil deines Selbst geworden.

BRIGITTE:
Das also soll wohl das Teuflische an der Sache sein – dass die starke Frau, die den männlichen Dämon an einen sicheren Ort verbannt glaubt, auf einer Meta-Ebene wiederum an dessen Gängelband hängt: Messalina eigentlich als Marionette ihres kaiserlichen Hampelmannes Claudius, Lady Macbeth eigentlich als Werkzeug ihres wankelmütigen Gemahls, Lolita eigentlich als Kreatur des ihr völlig verfallenen Humbert Humbert! Ich selbst schließlich als Wachs in deinen Händen, während ich mir selbstverständlich einbilde, es sei genau umgekehrt!

Aber das war keineswegs so – ehedem, als wir gemeinsam schwimmen und tauchen waren, oder damals, als wir unsere Auftritte im Hamburger „Flaubert”-Club absolvierten. Unsere Körper sind vielleicht nicht mehr so gestählt wie damals, aber sonst hat sich nichts geändert, und wenn du willst, kann ich dir das sofort beweisen!

[Grafik 102]

BRIGITTE:
Hast schon Recht, mein Alter, lassen wir’s gut sein. Vergessen wir für den Moment die beiden Universen mit ihrem sensiblen Transitpunkt im Labyrinth unter Cheltenham House, bewacht von meinem Mann Romuald und seinem jenseitigen Pendant Lijaifsxy. Vergessen wir die Erde mit den beiden übriggebliebenen Imperien, dem amerikanischen und dem chinesischen. Vergessen wir auch die Weltraumstation (neuerdings Keyhi Pujvi Giki Foy Holbys Königtum). Seien wir einfach einander eine Weile selbst genug!

Schließlich sollte die komplementäre Ausstattung von Frau und Mann (solange letztere Gattung noch existiert) dafür völlig ausreichen…

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

BRIGITTE:
Geht?s wieder?

Touché! Ich keuchte ein wenig. War wohl ein wenig indisponiert heute, das konnte vorkommen. Aber – ich hatte den vierten Gang eingelegt, das funktioniert in meinem Alter noch. Man kann die ersten Zeichen einer gewissen Materialermüdung ganz gut kaschieren, mit ein klein wenig Routine – ein flüchtiger Gedanke an DDD drängt sich auf, wie sie sich die Kleider vom Leib reißt (wie lange das schon her ist!). Die Atmung beruhigt sich relativ schnell. Wäre ja peinlich, würde man jetzt allzu lang japsend auf dem Rücken liegen. Ablenkungsmanöver – schnell! Bisschen was Geistiges! Nur nicht zulassen, dass analysiert, komparative Verhaltensforschung zwischen dem früheren und dem jetzigen Zustand des Liebhabers betrieben wird, womöglich sogar Vergleiche mit einem anderen gezogen werden – allein: Gedanken sind bekanntlich frei, und gleiches Recht für alle, und vielleicht denkt Brigitte an Leo Di Marconi, wenn sie mit mir schläft, aber okay, solange sie’s nicht rausposaunt, geht es in Ordnung!

Du, Brigitte, haben wir uns mit dem Paralleluniversum nicht auf ein sehr unsicheres, schwer durchargumentierbares Terrain begeben?

BRIGITTE:
Aber nein: Jene Realität ist einfach gleich dieser Realität, aber dennoch ist sie eine andere, eine gespiegelte. Dort existieren Wesen, die Pendants zu solchen dieser Welt sind, doch sie sehen bloß so aus wie die hiesigen Exemplare, haben aber einen ganz anderen Lebenslauf und damit einen ganz anderen Stellenwert. Nur in den seltensten Fällen gibt es auch in den metaphysischen Persönlichkeitsmerkmalen Übereinstimmungen…

… wie etwa beim Tyrannen der jenseitigen Völker und Sir Basil Cheltenham.

BRIGITTE:
Natürlich besteht eine ganze Reihe von Ungereimtheiten, die wir nicht aufzuklären imstande sind, aber die Frustration, die uns selbst oder die kosmologisch versierten Leserinnen und Leser darob befallen könnte, ist genau so müßig wie die enttäuschte Feststellung, dass alles Seiende nicht im Sinne Newton’scher Schöpfungsmechanik funktioniert, sondern eine Menge Spielraum für Anomalien besitzt. Dabei hätte Sir Isaac, der Titan aus Cambridge…

… wo er, um der Wahrheit die Ehre zu geben, oft und oft vor leeren Rängen dozierte, weil niemand mehr sich in der Lage fühlte, seinen Ausführungen zu folgen…

BRIGITTE:
Nun jedenfalls, er hätte ja bereits bei seinen eigenen Arbeiten an der Infinitesimalrechnung erkennen müssen, dass der Wissenschaftler, der sich in Grenzbereiche vorwagt, mit ganz erheblichen Irritationen seiner Alltagsabläufe zu rechnen hat: Anders als zwei und zwei vier ist…

… angeblich …

BRIGITTE:
Landläufig! Anders also ist das Doppelte von Unendlich wieder Unendlich, und die Hälfte von Null ist wieder Null…

… und während wir hoffen, das Gefüge zwischen unserem Universum und seiner Parallelveranstaltung mechanistisch begreifen zu können, müssen wir langsam erkennen, dass wir eigentlich in das letzte unentdeckte Land vordringen…

BRIGITTE:
… unseren eigenen Geist, oder nenn? es unsere Phantasie, oder was auch immer es ist, wo wir alles Denkbare…

… und selbst das Undenkbare in eine Form gießen dürfen, nach der Art eines Künstlers…

BRIGITTE:
… oder einer Künstlerin…

… gewiss, und das heißt eines Schöpfers…

BRIGITTE:
… oder einer Schöpferin…

… oder eines Schöpferpaares, das den streng wissenschaftlich forschenden Physikern/-innen, Astronomen/-innen, Mathematikern/-innen, Philosophen/-innen weit vorauseilt, weil es nichts messen oder beweisen muss.

Es wäre daher gar nicht notwendig, zu fragen, warum die beiden Universen, die später so innig miteinander verschweißt waren (wenn auch mit einer Zeitdifferenz von rund 100 Jahren), zunächst bloß ab und zu aneinander schrammten, sodass es Personen aus der Alpha-Welt nicht möglich war, systematisch und dauerhaft hinüberzugehen – nur der sagenhaften magischen Potenz der Walemira Talmai waren kurzzeitige, aber äußerst instabile Transfers (so etwa der Kontakt Genevièves von B. mit ihrer totgeglaubten Tochter) zu verdanken. Man bräuchte aber auch keinen Gedanken daran zu verschwenden, warum die umgekehrten Aktivitäten – die Besuche jenseitiger Pendants bei uns bis hin zur substanziellen Unterwanderung unserer Seite – doch möglich waren.

BRIGITTE:
Da gab es vielleicht eine bestimmte technologische Überlegenheit, die aus einem Jahrhundert Vorsprung nicht unbeträchtlich gewesen sein mochte.

Schon, aber gleichgültig, was die Gründe waren, ist es gar nicht erst sinnvoll, diese Tatsache zu erklären, sondern man muss sie einfach so stehen lassen!

BRIGITTE:
Und so ist es denn auch der Versuch ziemlich müßig, das Multi-Dilemma der Königin an der Seite Keyhis, Mango Berenga, verstehen zu wollen: dass es auf der jetzigen Erde Spuren von ihr gibt (die von einem der amerikanischen Geheimdienste entdeckt wurden) sowie einen esoterischen Kontakt (mit der Gräfin von B.), während sie selbst 100 Jahre später zwischen ihrem Planeten und der Station pendelte, die schließlich ihre neue Heimat wurde.

Aber es gibt diesen ebenso typischen wie unerfüllbaren Wunsch nach Eindeutigkeit des Denkens und der Sprache in einer Welt, die nicht eindeutig ist, sondern bestenfalls Wahrscheinlichkeiten liefert! Denn das Zeitmaß 100 Jahre (leichthin gebraucht) insinuiert ein geordnetes Nacheinander von Zeitpunkten, das die Kategorisierung eines „Vergangen”, eines „Jetzt” und eines „Zukünftig” erlaubt, während all das nur die Illusion eines notwendigen Alltagsübereinkommens darstellt, an dem der Kosmos beileibe nicht teilnimmt. Was für Geneviève Zukunft ist, kann für Mango durchaus Gegenwart sein, ohne dass das Weltganze aus den Fugen gerät.

BRIGITTE:
Dann gehen wir doch gleich einen Schritt weiter, werfen die Banalität der Existenz (die nach dem großen Stanis?aw Lem bereits zu lange erwiesen ist, als dass man auch nur ein Wort darüber verlieren sollte) über Bord und beschäftigen uns mit der Nicht-Existenz!

Nur immer langsam, meine Liebe – schließlich müssten wir dazu Abgrenzungen zwischen Null-Existenz, imaginärer Existenz und negativer Existenz vornehmen! Wir aber haben eine Geschichte zu erzählen!

BRIGITTE:
Oder auch zwei…

Ihr Frauen müsst immer das letzte Wort haben!

103

Vor jedem chinesisch-amerikanischen Gipfeltreffen tauchten diese hämischen Bilder auf – schlechte Fotomontagen eigentlich, aber was sie ausdrückten, war die innige Freundschaft zwischen der Generalsekretärin der Kommunistischen Partei Chinas, Dan Mai Zheng, und mir, dem Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, Ray Kravcuk. Ich selbst war darauf völlig nackt, Zheng ziemlich dürftig bekleidet.

Das Schöne – jedenfalls für uns beide – war, dass die Unterstellung der Wahrheit entsprach. Eingefädelt hatte unsere Beziehung vor Jahren ein Mitglied des Politbüros der KPCh, der alte Hong Wu Zhijian, der seine damalige Assistentin Dan beauftragt hatte, mit mir (zu jener Zeit noch nicht mehr als CLONSCO – Chief US Armed Forces Liaison Officer to the National Security Council) einen Vertrag auszuhandeln. Tatsache ist, dass Zheng und ich die Aufteilung der Welt zwischen dem Amerikanischen Imperium und dem Chinesischen Reich im Bett vorgenommen hatten. Es gab daher für uns allen Grund, auch bei unseren späteren persönlichen Kontakten als ober¬ste Repräsentanten der zwei Supermächte diese Tradition zu pflegen, zumal ich auch im hohen Amt „in good shape” blieb und Zheng bestens geschult war in allen Belangen asiatischer Liebeskunst – nicht ohne Grund hatten Hongs greise Hände oft und gerne auf ihrem Körper gespielt.

Probleme zwischen beiden Staaten gab es naturgemäß keine mehr – eine Konsequenz der genialen Grenzziehung, die alle neuralgischen Zonen dort zugeordnet hatten, wo sie sich von selbst totliefen, wie etwa der Nahe Osten, den Beijing als neue Kolonialmacht ebenso pragmatisch wie kaltschnäuzig aushungerte, streng nach dem Motto: Einigt euch oder bringt euch unsretwegen gegenseitig um.

In unseren Direktgesprächen – wie gesagt in äußerst angenehmer Horizontallage – ging es daher lediglich um das, was wir in trauter Übereinstimmung „Atmosphärisches” nannten. Unter diesem Rubrum vereinbarten wir von Zeit zu Zeit irgendwelche Drohgebärden, die mal der eine, mal der andere einnehmen sollte zu dem alleinigen Zweck, querdenkende Vasallen des jeweiligen Kontrahenten zu disziplinieren. So wurden ab und an der amerikanische Imperialismus oder die chinesische Gefahr aufgewärmt, um sie als Propagandakeule gegen die eigenen Völker zu verwenden. Wenn im Überschwang der Gefühle einmal in Shanghai die Stars and Stripes öffentlich verbrannten oder in San Francisco eine Teeladung aus China ins Meer gekippt wurde, gab es ein kurzes, von herzlichem Gelächter durchzogenes Gespräch am sogenannten Orangen Telefon, und der Fall war applaniert.

Dann kam jedoch die Zeit, in der sich Berichte darüber häuften, dass im Chinesischen Reich auf öffentlichen Plätzen kunstvoll gestaltete Nachbildungen der Großen Vorsitzenden symbolisch gesteinigt wurden. Ähnliches begab sich im Amerikanischen Imperium: Hier wurden vielerorts lebensgroße Puppen, die mich darstellen sollten, verbrannt. Das Schlimme daran war, dass sich diese Kundgebungen durchaus nicht auf einige periphere Territorien von Grand America oder Groß-China beschränkten, sondern auch in den jeweiligen Kernländern stattfanden. Diese Vorfälle machten Zheng und mich mehr besorgt als alles, was bisher geschehen war, vor allem deshalb, weil es die Doktrin der wechselseitigen Abschreckung unterminierte.

DAN MAI ZHENG:
(an der superabhörgesicherten Geheimleitung) Lai, Dal-ling…

… sie hatte vor langer Zeit meinen Namen lautmalerisch ins Chinesische trans¬poniert: Kau Zhu Lai (oberflächlich über¬setzt, mochte das „Vertrau dem scharlachroten Hügel? bedeuten).

DAN MAI ZHENG:
Lai, was bedeutet das, was wollen die Leute von uns?

Wir kannten einander sehr gut. Ich wusste, dass in ihrem klugen Köpfchen, das selbst in ihrem patriarchalischen Land die männliche Konkurrenz mühelos an die Wand gespielt hatte, die Antwort längst parat war und sie von mir nur noch die Bestätigung ihrer Hypothese hören wollte. Sie hatte sicher Recht: Selbst unsere eigenen Völker, von den Trabanten ganz zu schweigen, durchschauten langsam unsere billigen Manöver und ließen sich durch den gegnerischen Popanz nicht mehr einschüchtern. Insbesondere die Intelligenz richtete sich vielköpfig auf und hinterfragte die bestehenden Strukturen.

DAN MAI ZHENG:
Du sprichst mir aus der Seele, Liebster, aber dennoch: Es ist Frieden, mindestens Ruhe, es herrscht Wohlstand, nahezu jeder in beiden Hemisphären profitiert davon, aber die Stimmung ist schlechter als in den ärgsten Notzeiten. Wird wohl nichts anderes übrig bleiben, als in irgendeiner Ecke der Welt einen Schießkrieg zu beginnen, damit man uns wieder ernst nimmt!

Ich sah den kleinen Schmetterling, der zugleich die mächtigste Frau der Welt war, geradezu vor mir, wie sie das sagte: mit der tiefgründigen Miene, die sie stets aufsetzte, wenn wir ernsthafte Dinge besprachen, die aber von einem Moment zum anderen einem entspannten Lächeln weichen konnte, wenn ich sie – wie meist inmitten von solch dramatischen Exkursen – an intimer Stelle sanft berührte. Nur leider ging das ja nicht hier am Orange Hot Wire.

Zheng (ich hatte übrigens nach wie vor Schwierigkeiten, diesen Laut als weiblichen Vornamen zu akzeptieren, geschweige denn als etwas, das man zärtlich aussprechen konnte) – Darling, fragte ich, stellt sich das womöglich als voreilig heraus, dieser unser Traum von einer Pax Sino-Americana? Wer weiß, was sich weit hinter uns und tief unter uns abspielt: Da denken sie vielleicht ohnehin schon wieder ernsthaft an eine militärische Auseinandersetzung, aber nicht an das Feuerchen, das du vorschlägst, sondern an das ganz große Flammenmeer!

DAN MAI ZHENG:
Und auf meiner Seite wird das einzig und allein auf die Bedrohung zurückgeführt, die von deinem Imperium ausgeht: Euch unterstellen meine Generäle, dass es nicht ernst ist mit der endgültigen und unverrückbaren Grenze, die wir gezogen haben. Für meine Armee seid ihr ein ständiger Albtraum – eine gewaltige Militärmacht mit der Kapazität und, wenn es sein muss, auch dem Willen, jede größere Stadt des chinesischen Kernlandes dem Erdboden gleichzumachen! Ist es wahr, Gebieter meines Herzens – würden sie das über deinen Kopf hinweg tun können?

Sie sind zu allem fähig – mit Sicherheit wälzen sie Pläne zu meiner Neutralisierung!

DAN MAI ZHENG:
Ein hässliches Wort für das, was gemeint ist! Lai, wir müssen uns schnell-stens treffen, ich vergehe vor Sehnsucht nach dir.

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

Vom gleichen Gefühl getrieben, eilte ich ihr entgegen. „Air Force One” landete nicht ganz 24 Stunden später auf der Hauptinsel der Palau-Gruppe, die wir für jene Treffen, die nicht an die große Glocke gehängt werden sollten, ausgewählt und für exterritorial erklärt hatten. Der Jet mit der roten Flagge, dem Zheng den blumigen Titel „Himmelswagen der Großen Tante” gegeben hatte, wartete schon. Unser Bungalow stand bereit. In meinen Armen führte meine Geliebte ihren Gedanken weiter aus.

DAN MAI ZHENG:
Du musst stärker in Richtung Diktatur gehen, Lai! Du musst dich stets aufs Neue selbst an die Spitze der Unzufriedenheit stellen und dir damit den Spielraum schaffen, um alle unliebsamen Geister kurzerhand beseitigen zu können. Bitte, tu es für mich, hör nicht länger auf die Phrasen deiner Gründungsväter, sondern auf die ewigen Gesetze des Machterhalts, wie sie uns Mao Zedong hinterlassen hat!

Ich muss wohl eher skeptisch dreingesehen haben, aber sie ließ nicht locker.

DAN MAI ZHENG:
Weißt du, wie mich das Volk nennt, egal ob bei dir oder bei mir zu Hause? Iron Butterfly sagt der Pizzamann in Omaha und ??? sagt der Koch in Nanjing, und dieselben Begriffe verwenden insgeheim der Secretary of State in Washington oder der Außenminister in Beijing.

Und wie werden sie mich wohl apostrophieren? dachte ich amüsiert (mit einer kleinen Beimischung von Ärger, da ich keinerlei geheimdienstliche Informationen darüber besaß). Ohne die Frage laut zu formulieren, bekam ich die Antwort.

DAN MAI ZHENG:
??? bist für sie, ein Paper Tiger, und du weißt, was sie damit meinen: den Widersinn an sich, die Paradoxie par excellence, den Skandal der Wirklichkeit – einen Softie an der Spitze der Super Power! Sei zu mir zärtlich, Lai, sei zärtlich, bis ich schreie, aber daheim im Weißen Haus zeig ihnen den Herrn, so wie ich es bei mir halte!

Aber die Leute…

DAN MAI ZHENG:
Du musst verstehen, Lai, sie sind nicht wie wir eingeweiht in das Wissen jener kleinen Sekte, die uns von der Existenz eines Paralleluniversums berichtet und damit von jener wesentlich größeren, vielleicht ultimativen Bedrohung, die alle Welt hier – bei dir und bei mir – einigen sollte.

Wir glauben das doch nicht, meine Große Vorsitzende! Oder meinst du im Ernst, wir seien nur Marionetten dieser seltsamen Heiligen, dieser Berenice Talmai, und dieses britischen adeligen Lackaffen Cheltenham?

DAN MAI ZHENG:
Aber du hast doch mit ihnen zusammengearbeitet – mehr oder weniger!

Empfiehlt nicht Mao, sich mit dem Teufel zu verbünden, wenn es den eigenen Zielen dient? Aber im Ernst – ich war komplett weg vom Fenster, und Sir Basil hat mir wieder auf die Beine geholfen: damit auch Hong und dir, denn unser Projekt wurde durch seine Unterstützung plötzlich doch noch umgesetzt. Das heißt aber noch lange nicht, dass man mit der gleichen Besessenheit wie diese Leute an ein Alpha-*-Uni¬versum glauben muss.

DAN MAI ZHENG:
Wir sind uns aber darüber einig – ach, Lai, ich diskutiere so gern mit dir, während ich dich in mir spüre! –, dass wir gezwungen sind, diesen Schwachsinn als Möglichkeit in Betracht zu ziehen! Der alte Hong…

… Spucknapf-Hong, warf ich ein, Erinnerungen heraufbeschwörend…

DAN MAI ZHENG:
Spucknapf-Hong hat mich viele interessante Dinge gelehrt, auch wenn ich dabei über diese unangenehme Angewohnheit ständigen Schleimabsonderns hinwegsehen musste. Er hat mir beispielsweise beigebracht – und hier folgt er, wie man erkennen kann, Buddha –, dass alle Dinge in wechselseitigem Bezug zueinander stehen. Gibt es diesen Bezug nicht, existiert kein Ding: Es ist nur in seiner Interdependenz mit anderen real. Insbesondere gilt das aber auch für die Beziehung zwischen dem menschlichen Bewusstsein und der uns umgebenden Realität. Bestenfalls (ich sage: bestenfalls!) erscheint dieselbe Realität für verschiedene Gehirne verschieden, in jedem Fall aber fehlt den Dingen – den Objekten, wie deine abendländischen Philosophen sagen würden – jegliche Dauerhaftigkeit oder Solidität.

Das heißt nichts anderes, als dass die Phänomene (auch so könnten meine westlichen Denker die Dinge nennen) das Potential besitzen, in einer unendlichen Vielzahl von Variationen zu existieren und sich in unendlich viele Richtungen zu entwickeln.

DAN MAI ZHENG:
Das einmal akzeptiert, wird alles möglich, und mit allem ist zu rechnen! Jetzt aber komm, mächtiger Tiger von jenseits des Meeres, und lass dich nochmals herab auf die Alltagsebene der Dinge, die selbst Buddha zulässt und auf der Mann und Frau sich paaren können, ohne dass sich ein Partner für den anderen in ein nebeliges Trugbild auflöst…

Wir nahmen uns Zeit – das Kostbarste, was wir beide einander schenken konnten, aber dann mussten wir wieder Abschied nehmen. Wieder daheim, kam ich gerade zurecht, als vor den Fenstern des Oval Office eine Bombe explodierte. Der sie hingelegt hatte, war der für die legendären Rosenkulturen des Weißen Hauses zuständige Gärtner (ein US-Bürger chinesischer Abstammung – danke, mein Schmetterling, dass du mir diesen Anlassfall geliefert hast!).

Nun brauchte meine Sicherheitsberaterin Trudy McGuire das Ganze nur noch zu eskalieren: Nicht die Tat eines einzelnen Verrückten durfte es bleiben – er musste vielmehr zum Exponenten eines Netzwerkes stilisiert werden, das sich bereits über das ganze Amerikanische Imperium erstreckte und eben begann, das Zentrum selbst einzuspinnen. Ich unterzeichnete den Präsidentenerlass Nr. 1, der die bürgerlichen Rechte außer Kraft setzte. Auf dieser Basis wurde der Attentäter ohne Gerichtsverfahren hingerichtet, was unmittelbar dazu führte, dass die Provokationen gegen meine Person (auch jene sinnbildlichen) schlagartig aufhörten.

DAN MAI ZHENG:
(wieder am Orangen Telefon) Well done, my emperor! Auch wir haben die symbolischen Steinigungen der Staatspräsidentin unter Todesstrafe gestellt und sofort einige Exekutionen vorgenommen. – Du, ich freue mich schon wieder so darauf, mit dir über diese schlimmen Ereignisse zu sprechen, während du mit mir Liebe machst…

Ich verstand auf einmal, dass die Leere in der asiatischen Philosophie nicht das Nichts, sondern lediglich die Abwesenheit von Autonomie bedeutet.

104

Keyhi hatte schon vor einiger Zeit begonnen, heimlich seine Memoiren zu schreiben. In dem Gefühl, dass kaum jemand in seiner Umgebung – allen voran seine Frau – sich mit diesem Projekt so recht anfreunden konnte, erzählte er niemandem davon. Darüberhinaus achtete er genau darauf, alle seine täglichen Verpflichtungen vollständig zu erfüllen, ehe er sich in sein Arbeitszimmer zurückzog – zu dem, was er mittlerweile als seine eigentliche Berufung ansah. So kam es, dass er oft sehr spät in das eheliche Schlafzimmer fand, wo Mango Berenga sich die Zeit vertrieben hatte, so gut es ging (wobei zu bedenken ist, dass man auf der Station kein Fernsehen kannte!), und schließlich eingeschlafen war.

Manchmal bot sie sich im Schlaf so dar, dass Keyhi zutiefst bedauerte, nicht früher gekommen zu sein: Kurz gesagt, sie sah zum Anbeißen aus, wenn sie die Decke mit einer unbewussten Handbewegung zurückgeschlagen hatte und so im diffusen Licht den einen oder anderen faszinierenden Ausschnitt ihrer Körpergeographie darbot.

In diesem Fall ließ der König seine im Soldatenberuf erworbene und durch sein jetziges Amt verstärkte Zurückhaltung sausen und fiel über sie her. Mango ihrerseits spürte das wohl, machte sich aber dennoch nicht die Mühe, völlig zu erwachen – sie überließ sich einem Gefühl, als ob ein überirdischer Cherub auf sie niederfuhr. Auf diese Art war das jüngere der beiden Kinder, XX, entstanden, während man XY in einem konventionellen Geschlechtsakt en face gezeugt hatte.

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Keyhis Memoiren – in seiner Muttersprache abgefasst und, so weit absehbar, eher ein Roman mit stark autobiographischen Zügen – war ein merkwürdiges Gebilde, schon allein was den Titel betraf. Dieser paraphrasierte nämlich den Namen des Autors:

[Grafik 104]

Ich, der in so weiter Entfernung vor der magischen Kugel saß (dabei meinen Kameraden im Geiste ansah und mich gleichzeitig fragte, wie er es anstellte, mich zu sehen), war offenbar der einzige, der über das literarische Projekt des Königs Bescheid wusste. Meine Distanz erlaubte es mir exklusiv, das Werk eher als Fiktion zu verstehen und nicht ständig zu fordern, dass Keyhi dies alles auch höchstpersönlich erlebt haben sollte, respektive zu glauben, dass jede einzelne Figur, die vorkam, in irgendeiner Realität ganz präzise zu identifizieren sein müsste. Und ich war auch der einzige, dem der Autor das Original vorlesen konnte – hatte ich doch im Rahmen meiner vielfältigen Aktivitäten nicht nur die wichtigsten Sprachen der Erde bis hin zu Arabisch, Hindi und Mandarin erlernt, sondern sogar das Idiom der herrschenden Klasse der Spiegelwelt. Dadurch war ich auch in der Lage, das Wortspiel des Titels zu begreifen.

Dass er Dichtung und Wahrheit vermengte, stand meinem Freund wie jedem anderen Textproduzenten zu, aber es steckte noch ein wenig mehr in seinem Opus, nämlich etwas Außerliterarisches – schließlich gab es eine ausführliche Reminiszenz an seine Kindheit und Jugend im anderen Universum, wenn auch die örtliche wie vor allem die zeitliche Entfernung jenes andere Leben ganz und gar unwirklich hatte werden lassen. Hier sollte es wiedererstehen, ohne dass Keyhi vorerst ernsthaft daran dachte, den gegenwärtigen Personen aus Fleisch und Blut damit Unrecht oder gar weh zu tun.

Die Beschäftigung mit der Vergangenheit ging ihm am Ende natürlich ans Mark. Was selbst in Keyhis harter und unromantischer Sprache verklärt klang, lautete in der Übersetzung etwa so:

Auf der schwankenden Waage meines Herzens maß meine Lust sich mit der Achtung vor mir selbst. Doch ich warf jede Rücksicht hin – auf meinen Stand und meine Stellung, meine Vernunft und meine steile Zukunft in der Klarheit wissenschaftlicher Erkenntnis. Ich wählte, was ich sah, beugte meinen Nacken unter das Joch der Leidenschaft. Schon erglühte ich in neuer, junger Liebe, und das war SIE: Ihre Augen leuchteten sonnenstrahlengleich – Blitze, die das bisher scheinbar dunkle Leben erhellten und mich so ermutigten, die Fesseln ihrer Jungfräulichkeit zu lösen, mich hinzugeben dem unbezeichenbaren Spiel der Beine, Arme, Lippen.

CLIO VON B.:
Romantik im Tyrannenreich der jenseitigen Realität – die gab es auch. Ich habe sie oft erlebt, besonders wenn irgendwelche Leute, gleichgültig welchen Geschlechts, bei meinem Anblick ins Schwärmen gerieten.

Ein Willkommen für die, die man im Paralleluniversum die himmlisch schöne Prinzessin nannte. Sie war mittlerweile ein zweiter wichtiger Kontakt für mich geworden, obwohl die Walemira Talmai gerade diese Beziehung auf das Nachdrücklichste missbilligte und Clios Mutter aufgetragen hatte, die Komtesse auf ihr Schloss in Deutschland mitzunehmen und jedenfalls dafür zu sorgen, dass sie nicht unbemerkt nach England zurückkehrte.

CLIO VON B.:
Genau das tat ich aber, so wie sich nur die Gelegenheit schickte, und an einem Punkt der Einfriedung von Lady Pru?s Anwesen, von dem aus ich Sir Basils Exil gut einsehen konnte, wartete ich geduldig darauf, ihn anzusprechen.

Sie war einer nicht ganz uneingeschränkten Neigung zu mir gefolgt: Tief saß nämlich der Schock, in mir den Doppelgänger ihres despotischen Geliebten aus der Spiegelwelt zu erkennen. Dennoch folgte sie einem Zug ihres Herzens, zumal ich mir schmeicheln durfte, der – zumindest ein wenig – angenehmere Teil unserer seltamen Dualität zu sein.

CLIO VON B.:
Lassen Sie es mich definieren, Monseigneur…

Ich war geschockt, den Titel, der dem Tyrannen drüben zugestanden war, auf mich angewendet zu sehen – geschockt und zugleich geschmeichelt, denn das besitzergreifende Gefühl war plötzlich wieder da: dass, unter welcher Definition auch immer, dieses betörende Wesen mir, dem Sieger von Oilell Guinevere (jenem archaischen Platz in der Vorzeit von Cheltenham House), dem Bezwinger meines Pendants aus der jenseitigen Realität, als Beute zugefallen war.

CLIO VON B.:
… ihm war ich zu Willen, seit meine Pflegeeltern drüben klein beigegeben und mich seinem Drängen überantwortet hatten. Sie hingegen, Monseigneur, liebe ich aus dem Grunde meines Herzens, wie nur eine Tochter ihren Vater lieben kann, wenn er ihre Vorstellung von einer heldenhaften Gestalt erfüllt, die sie umschließt und mit sich reißt, wie kein völlig fremder Mann es je könnte.

Ich schwieg.

Ich schwieg lange.

Die Kleine wurde fiebrig vor Verlangen, mir noch näherzukommen, aber ich schwieg.

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

Keyhi meldete sich energisch. War nicht von seinen Memoiren die Rede gewesen? Wollte er mir nicht aus seinem vergangenen Leben erzählen, statt jetzt tatenlos zusehen zu müssen, wie sich (vielleicht) Ansätze eines zweiten Lebens für mich zart entwickelten.

Ist schon gut, Kamerad, bedeutete ich ihm und packte ihn sorgsam bei seiner Soldatenehre: Unser Kodex gebietet doch, auch auf dem Feld der Liebe niemals zurückzuweichen und keines der sich anbietenden amourösen Duelle zu vermeiden – belach mich nicht, bewein mich nicht, noch verabscheue mich, sondern begreif einfach!

Gesagt getan – er verstand und versprach mir, ein anderes Mal weiter aus seinem Buch vorzulesen: jene Stelle, in der er beschrieb, wie jene Angebetete recht offensichtlich ihre zärtlichen Gefühle für ihn verloren hatte, wie nicht mehr der Glanz des Erkennens und Immer-wieder-Erkennens in ihren Augen lag und jede Wärme aus ihrem Willkommensgruß verschwunden war; wie er selbst versuchte, diese Zeichen zu negieren und dennoch mit ihr zu schlafen; und wie sie die Vereinigung sogar zugelassen hatte, aber aufgrund ihrer automatenhaften Bewegungen zum reinen Fiasko geraten ließ. Er werde mir das schildern, sagte mein Freund – spätestens dann, wenn die Zeit gekommen sei, in der ich wieder allein vor der Kugel säße und ihn anriefe.

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

CLIO VON B.:
Was könnte diese Berenice – sie ist mir unheimlich, Monseigneur! – was könnte sie wirklich mitbekommen: Ich meine, ist sie allwissend oder so etwas? Haben wir denn vor ihr gar keine Chance?

Sie wollte mich damit nur provozieren, wie sich unmittelbar darauf herausstellte, wollte es nur vermeiden, sich mir ganz direkt an den Hals zu werfen, und schützte die Unsicherheit über die Walemira Talmai vor, die sie gar nicht hatte, weil sie besser wusste als ich, was zu tun war.

Meine Hauptsorge war ja mittlerweile, seit ich Clio in der Nähe hatte, dass Berenice die junge Dame entdeckte und postwendend wieder nach Hause zu ihrer gräflichen Mutter expedierte – aber das war völlig unbegründet, belehrte mich die Komtesse, wenn ich nur meine Fähigkeiten, die ich durch meinen Sieg über Iadapqap Jirujap Dlodylysuap erworben hatte (indem diese einfach vom Getöteten auf den Tötenden übergegangen waren), einsetzte. Das Magierkleid des Tyrannen, das in der allgemeinen Verwirrung anlässlich meiner zwanghaften Verbringung auf Lady Pru?s Anwesen und der Verbannung Clios nach Deutschland scheinbar verschwunden war, hatte die Komtesse an sich genommen und mir nun wieder gebracht. Es bestand aus nicht mehr als einem groben Strick, der mittels einer Schlinge um den Hals gelegt wurde und bis zu den Knöcheln herabhing. Bedingung für sein Funktionieren war allerdings, dass der Träger völlig nackt war, was die Komtesse nochmals eindringlich bekräftigte. Sie selbst entledigte sich in einem der entlegeneren Gartenhäuschen des Anwesens, wohin wir uns zurückgezogen hatten, ebenfalls ihrer Kleider, wie sie es drüben bei den geheimnisvollen Riten ihres Magier-Tyrannen gelernt hatte.

Nachdem Clio mir gezeigt hatte, wie ich die zeremonielle Haltung einnehmen musste, entzündete sie zwei Fackeln, deren Flammen sich gegen den grauen Hintergrund des Raumes tiefschwarz abhoben, diametral anders als normales Feuer. Mir standen darob leicht die Haare zu Berge, und auch deshalb, weil mich die von den Bränden wegstiebenden – paradoxerweise hellen – Funken zu umwabern begannen.

Und dann geschah das Wunder. Ich fühlte, wie unter dem glühenden Blick meiner jungen Gefährtin etwas von der alten Energie durch meine Adern strömte.

CLIO VON B.:
Noch reichte diese nicht für eine individuelle Regung, sondern ausschließlich dazu, eine Glocke der Abschirmung über unseren Aufenthaltsort zu legen, der ab sofort für Berenice und ihre Koori-Truppe unantastbar war. Ich konnte nun ungestört dort wohnen, Sir Basil konnte unbeobachtet mit mir zusammensein, und es vermochte, wie es schien, tatsächlich niemand einzutreten, der nicht auf unserer Seite war.

Wer hereinkam, war Chicago (sozusagen der weltliche Anführer der Koori-Gruppe) – stand eines Tages einfach da, mitten in unserem Versteck. Das bedeutete also, dass er nicht beabsichtigte, uns in die Quere zu kommen, aber das war beileibe nicht alles: „Hast du nicht längst bemerkt”, fragte er mich sofort, „dass ich dir als wahrer und treuer Freund ergeben bin?”

Ich wusste es – er war bereit, mir zu folgen, gemeinsam mit Clio, wenn die Fanfaren des Ruhms mich erneut riefen…

105

Durch herrschaftliches Dekret von König Keyhi und Königin Mango wurde auf der Station der Betrieb eines Nachtclubs gestattet, um – wie es in dem Dokument wörtlich hieß – „unseren unterschiedlichen Untertanen gleichermaßen einen Ort der Entspannung und des Vergnügens bereitzustellen?.

Das Volk bestand tatsächlich aus mehreren Ethnien: einmal aus Personen dieses Universums, dann aus Menschen der Parallelwelt (von der man allerdings nichts mehr gehört hatte, seit nebst anderen auch der von hier nächstgelegene Übergang zwischen den beiden Realitäten versiegelt worden war) und schließlich aus einer Gruppe von Lhiks, Pflanzenwesen, die ebenfalls von drüben stammten und hierher emigriert waren. Die rasche Zunahme der Einwohnerzahl auf diesem künstlichen Himmelskörper hatte übrigens längst dazu geführt, dass die Mehrheit schon von Geburt an auf der Station lebte. Mit einem Begriff aus der jenseitigen Sprache nannte man solche Mitbürger Pivlip.

Infolge einer Anomalie im kosmischen Gefüge, die sich, wie jeder weiß, damals beim Andocken beider Universen ergeben hatte, befand sich die Gegend rund um den künstlichen Stern (analog zur angrenzenden Spiegelwelt) in der Zeitrechnung gegenüber dem Rest unserer Realität um ein Jahrhundert voraus, also in der Zukunft. Die meines Wissens einzige Verbindung zurück, vor allem zum Planeten Erde, bestand im telepathischen Kontakt meiner Mutter, der Königin, zu jemandem, den sie Geneviève Gräfin von B. oder kurz Viève nannte. Selbst auf insistierendes Befragen konnte Ihre Majestät jedoch nichts Genaueres über die Art dieser Beziehung aussagen, sprach immer nur von einer Art Seelenwanderung: dass Viève sie selbst vor 100 Jahren und sie wiederum aus der Sicht ihrer seltsamen Partnerin deren Projektion in unser Heute sei.

Diese merkwürdigen Umstände, die allerdings meiner Schwester XX und mir von Kindesbeinen an vertraut waren, hatten unsere Mutter in den Ruf versetzt, außerordentliche mentale Fähigkeiten zu besitzen – und doch lag ihr selbst nichts ferner: Sie war Naturwissenschaftlerin, genauer gesagt Genetikerin, aber auch (da zur Zeit ihrer Ausbildung großer Wert auf duales Expertentum gelegt wurde) Astronomin in der Unterabteilung Kosmologie oder, wie man es jetzt nennt, Astrophilosophie. Unser Vater schwieg zu all dem stets konsequent: ein verschlossener Typ, ursprünglich aus dem anderen Universum kommend und mit einer für uns Kinder noch etwas unübersichtlicheren Biographie. Wäre übrigens nicht uninteressant, diesen Umständen ein wenig auf den Grund zu gehen.

KÖNIGSTOCHTER XX:
Aber XY, würdest du diese alten Geschichten wirklich bis in ihre letzten Winkel ausleuchten wollen?

Was ich jedenfalls noch lieber möchte, ist, in den „King?s & Queen?s Club” zu gehen und die schöne Qixi tanzen zu sehen. Wenn ich dich doch überreden könnte, mich dorthin zu begleiten.

KÖNIGSTOCHTER XX:
Ich weiß sehr wohl, was dieser Ort birgt, aber das heißt noch lange nicht, dass es sich für eine Königstochter schickt, sich dort blicken zu lassen.

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

Der Nachtclub war von einem der Stationsbewohner konzipiert worden, der mit großer Akribie die alten Datenbanken durchgesehen hatte, um Näheres über die mögliche Gestaltung eines solchen Etablissements zu erfahren. Ikqyku Diaxu, der wie der König aus der jenseitigen Realität stammte, war mit seinen Entdeckungen schnurstracks zu unserem Vater gelaufen, zu dem er glaubte, einen guten Draht zu haben (ganz sicher konnte man sich bei Seiner Majestät diesbezüglich allerdings niemals sein!).

Im ungeheuren Informationsmüll, den die elektronischen Speicher der Station enthielten – immerhin war ja stets nur die Kapazität erweitert worden, und nie dachte jemand auch nur im Entferntesten daran, wenigstens selektiv Bestände zu löschen –, hatte Diaxu eine Datei gefunden, in der die Bühne eines derartigen Lokals gut dokumentiert und reich bebildert zu sehen war: ein kreisrundes Plateau inmitten des Zuschauerraums, von oben und bei Bedarf auch von der Seite mit Scheinwerfern zu beleuchten; als Herzstück die drei senkrechten Stangen, an denen die Tänzer ihr gewagtes Spiel treiben konnten.

Meine Schwester war schließlich doch mitgekommen. Als wir unsere Plätze einnahmen und unsere Bestellung aufgaben, rankten sich gerade drei Lhik-Girls – Xiqi aus der älteren sowie Qixi und Lici aus der jüngeren Generation – lasziv an den Stangen hoch. Ihre schlanken Gliedmaßen waren wunder-schön anzusehen, ihre Bewegungen waren für mich äußerst animierend, und auch XX konnte sich, soweit ich feststellte, den Reizen dieser exotischen Wesen nicht entziehen. Ganz oben auf ihren langen Körpern zeigten die drei Tänzerinnen ihre Blöße: in jeder ihrer weit geöffneten, im erregten Zustand feuerroten Blüten war ganz deutlich die üppige Narbe auf dem Griffel zu erkennen. Am Höhepunkt ihrer Show wurden sie von den Männern (jedenfalls soweit es sich ebenfalls um Lhiks handelte) zum Zeichen des Beifalls ausgiebig bestäubt.

Qixi, meine Favoritin unter den Lhik-Akteurinnen, ergriff nach ihrem Auftritt die Initiative und nahm mich in eines der Separées mit. Vielleicht bildete ich es mir nur ein, aber ich hatte das Gefühl (oder wollte es nur zu gerne glauben), dass sie mich gut leiden konnte und daher ohne Hintergedanken einlud. Als wir allein waren und ich ihr Artigkeiten über ihre schlanke Gestalt und ihre entzückende Blüte sagte, begann sie mich jedenfalls mit ihren zweigigen Gliedmaßen zu streicheln – und als ihre Zärtlichkeit nicht ohne Folgen blieb, nahm sie meinen Samen sorgfältig mit ihren Blättern auf. In c’’’’-Flötentönen flüsterte sie mir Dinge ins Ohr, die mich mit Stolz erfüllten.

Es mochte allerdings auch sein, dass es einen bestimmten Grund dafür gegeben hatte, mich wegzulocken. Indessen setzte sich nämlich Ikqyku Diaxu mit einer höflichen Verneigung, die einerseits um Erlaubnis bat, andererseits aber keine Ablehnung zu dulden schien, an XXs Tisch: „Wie hat Ihnen die Show bis jetzt gefallen, Angebetete?”

KÖNIGSTOCHTER XX:
Ich fand’s eigentlich sehr dezent und ästhetisch, und ich bedaure, dem Drängen meines Bruders, ihn hierher zu begleiten, nicht schon früher nachgekommen zu sein.

Diaxu hatte Mühe, nicht laut aufzulachen – dezent, angesichts der rotglühenden primären Geschlechtsteile der Lhik-Damen! Und wie ästhetisch die öffentliche Bestäubung der Tänzerinnen durch die anwesenden Artgenossen war! Ganz zu schweigen von dem, was sich – für XX verborgen – mit ihrem Bruder im Separée abspielte. Die Naivität der Königstochter brachte den Clubmanager auf eine Idee (und deshalb wechselte er auch gleich wie selbstverständlich zum vertraulichen Du): „Wenn du das Gefühl hast, hier eine zutiefst künstlerische Veranstaltung genießen zu können, was stets mein innigst erstrebtes Ziel bei der Organisation dieser Events war und ist, darf ich mich wohl mit dem Vorschlag an dich heranwagen, dass du selbst gelegentlich hier auftrittst und deine wunderbare, auf der ganzen Station sprichwörtliche Geschmeidigkeit zeigst?”

KÖNIGSTOCHTER XX:
Ich würde mich sehr freuen, Diaxu! Ich wüsste nicht, was ich lieber täte, als mich in einem so vornehmen Rahmen zu präsentieren!

Zu seiner ungeheuren Verblüffung hatte sie sofort zugestimmt. Nun galt es nur noch, sie zu überzeugen, dass man den hochgestellten Eltern vorweg nichts sagen, sondern sie einfach überraschen sollte! Bevor Ikqyku ihr auch dieses Zu-geständnis entlockte, überlegte er kurz, welche Konsequenzen er am Ende befürchten musste, aber er verwarf jegliche Skrupel. Seine Begierde, die Königstochter in eine solch kompromittierende Situation zu bringen, war bereits ins Unermessliche gestiegen. Es gab für ihn längst kein Zurück mehr – den Kopf würde es schon nicht kosten! Dabei verließ er sich allerdings ausschließlich auf seine alte Bekanntschaft mit Keyhi – Mango Berenga, genauer gesagt den Furor einer empörten Mutter, vermochte er nicht einzuschätzen.

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

Die Königin hatte nämlich ihr Eigenleben, das sie nicht einmal dem König jemals voll und ganz offenbarte. Wie in Trance unterhielt sie sich manchmal mit sich selbst (oder war es ein Gespräch mit eben jener geheimnisvollen Partnerin auf der zeitversetzten Erde?): „Ich denke an die Abenteuer meiner Jugend, seien es die erlebten, seien es die erträumten. Die Geschwindigkeit der Zeit hatte damals enorm zugenommen. Vor allem auch deshalb, weil die wichtigsten Intentionen im Leben meiner Generation von einer breiten Front des Revisionismus zurückgedrängt wurden: kehrt-marsch in die Vergangenheit – als ob es keinerlei Wert gehabt hätte, was in den 50 Jahren davor an politischen, wirtschaftlichen und sozialen Errungenschaften begründet worden war. Die Agenten der Demontage gingen um, und das Schlimmste daran war: Diese Bewegung hatte eindeutig faschistoide Züge, sie wies kein konsistent-positives Gegenkonzept zum gültigen Paradigma auf, sondern wusste lediglich, was sie nicht sein wollte. Sie wurde verkörpert durch den Kleinbürger, der sich in den Medien jene autoritären Tabubrüche vorspielen ließ, die er selbst aus Feigheit nicht zu begehen wagte, allenfalls in einem fortgeschrittenen Stadium seines Deliriums auf Befehl irgendeines Führers.

Was machte die Kühnheit des Gedankens in Kunst und Wissenschaft sowie in der Gesellschaft schlechthin so verdächtig in den Augen jener, die aus dem Mittelstand stammten und – ständig ihre angeblich labile ökonomische Situation beklagend – den sozialen Abstieg befürchteten, dabei aber einem Lebensstil huldigten, der nicht zu ihnen passte und den sie sich per saldo tatsächlich nicht leisten konnten? Ganz einfach: Sie verwechselten den Sturm mit Anarchie…”

KÖNIGSTOCHTER XX:
Man kann daraus erkennen, wie eintönig für Mango Berenga das Leben auf der Station mittlerweile geworden war. Nicht so sehr der König war ihr langweilig, hoffte sie doch noch immer, er möge seine ausgreifenden Interessen wie früher mit ihr teilen – es war einfach das substanzielle Gefühl von Monotonie.

Wieder einmal ein ehrliches altes Flugzeug zu steuern, wünschte sich die Königin von Herzen. Das Fliegen empfand sie als ein extrem merkwürdiges und deshalb ihrer Situation äußerst angemessenes Handwerk, unabhängig davon, ob man nun selbst ein fliegendes Wesen ist oder sich einer Maschine bedienen muss, wobei es in jedem Fall ungleich leichter fällt, von der Erde in die Luft zu kommen und sich dort oben zu bewegen, als wieder zu landen. Es gibt somit eigentlich nur einen kritischen Punkt, aber der ist dafür äußerst heikel und liegt unglücklicherweise am Ende des ganzen Vorgangs. Der Flug war, so schien es, für Mango eine Metapher für die Erforschung der inneren Struktur eines erzählten Bewusstseins. Er sah gefahrlos aus wie auf einem Simulationswürfel, auf dem man von den Kartenblättern 2 bis 5 jederzeit in die Vergangenheit (1) oder in die Zukunft (6) reisen kann. Gegen Ende stellt sich allerdings heraus, dass dieser Kosmos ein Körper mit durchgängiger Einstülpung ist: Der materielose Schwerpunkt des Würfels lässt einen beispielsweise aus der Vergangenheit nicht mehr zurückkehren, jedenfalls nicht mehr mit der verbliebenen Energie – früher hätte man noch umkehren oder sogar durchstarten und in der Zukunft wieder herauskommen können.

[Grafik 105]

KÖNIGSTOCHTER XX:
Was Wunder, dass wir Kinder einer solchen Mutter entglitten, besonders als wir älter wurden und kaum mehr etwas über uns selbst verlauten ließen, außer wenn man uns direkt ansprach und fragte. Apropos: Mit dem Vater war’s ja nicht besser…

106

BERENICE:
Ich höre, Sie fühlen sich hier nicht wohl, Sir Basil?

Das konnte nur wieder etwas von diesem unsinnigen Gerüchteschrott sein, an dem unsere kleine Gemeinschaft so reich war – hier auf dem Anwesen der verstorbenen Lady Prudence Godalming, das die Koori-Gruppe vor langer Zeit von der früheren Besitzerin usurpiert hatte (in meinen Kreisen wusste jeder, wie es passiert war). Wenn Sie mich fragen, hatten die Leutchen hier einfach zu wenig zu tun: Was hätte da unter normalen Umständen ein Militärbefehlshaber wie ich – gewohnt, die Tage seiner Mannschaft mit intensiven Aktivitäten zu füllen – ausrichten können! Ich hielt mich jedoch von Anfang an eisern im Hintergrund, schürte allenfalls manches Feuerchen und fuhr aus der Sicht der Informationsbeschaffung nicht schlecht dabei – immerhin hätte ich damit selbst dann ein wenig die Kontrolle über die Lage gewonnen, wenn nicht die Komtesse in der Nähe gewesen wäre, die Hüterin neuentdeckter paranormaler Möglichkeiten…

Wer so etwas behauptet, redet Unsinn, Doktor! entgegnete ich der Walemira Talmai mit einer leichten Verneigung. Besonders seit Sie mir freundlicherweise diesen Raum hier zur Verfügung gestellt haben, bin ich rundum zufrieden.

Tatsächlich übte dieser riesige, nahezu leere Saal, in dessen Mitte auf einem erlesenen Teppich lediglich ein prunk-voller Schreibtisch, eine Chaiselongue und ein antikes Bücherbord standen, auf mich eine ungeahnte Faszination aus. An den Wänden, ganz fern dieser meiner gemütlichen Insel, hingen die Gemälde der Godalming’schen Vorfahren, nicht zuletzt auch das jenes letzten Sprosses, der irgendwann einmal von seinem Doppelgänger aus dem Paralleluniversum ersetzt worden war, ohne dass selbst seine Frau etwas merkte.

Ich möchte nicht abschweifen, aber so viel sei gesagt: Man konnte Lady Pru’s Zurückhaltung gegenüber dem Offizier der Britisch-Indischen Armee, mit dem ihre Familie sie verkuppelt hatte und neben dem sie alt geworden war, ohne ihm je wirklich näherzukommen, verstehen: zumal er ja aus Asien Gelüste nach Europa mitbrachte, die ihr mehr als suspekt waren. Der Familiensitz wurde mit orientalischen Bau- und Ausstattungselementen versehen, Personal vom Standort der früheren Garnison importiert, darunter junge Frauen, die aus einem objektiven Blickwinkel eigentlich zu nichts zu gebrauchen waren, wenngleich der Hausherr von ihnen sehr angetan schien. Das Gewisper der angestammten Dienerschaft über angeblich hinter verschlossenen Türen stattfindende Orgien weckte in Lady Pru weniger Abneigung, als vielmehr die Sorge, sie selbst könnte zu irgendeinem Zeitpunkt in derlei Dinge verwickelt werden. Demgemäß machte es für sie keinen erkennbaren Unterschied, als der falsche Lord Godalming an die Stelle des echten trat, setzte er doch dessen obskures Treiben nahtlos fort.

Auch die Halle, die schließlich mir zugefallen war, mochte zu Gottweißwas gedient haben – das sagten mir weniger die monumentalen, den hinduistischen Götterhimmel darstellenden Deckenmalereien, sondern eher die Aura des Raumes. Diese veranlasste mich auch, mit einem gewissen Abstand von den Wänden seidene, vom Plafond bis zum Fußboden reichende Seidenbahnen anbringen zu lassen, die bunt beleuchtet waren und sich mit dem leisesten Luftzug sanft bewegten. Die dahinter nur mehr diffus sichtbare Ahnengalerie schien auf diese Weise zum Leben zu erwachen.

Die Walemira Talmai kam gerne hierher. Anders als gewöhnliche Besucher, denen das Gefühl ihrer Kleinheit auf dem weiten Weg von der Tür bis zum Zentrum großes Unbehagen bereitet hätte, füllte Berenice bewusst und hemmungslos die enorme Kubatur des Raumes mit ihrer exzessiven Präsenz. Sie war gewissermaßen schon vor sich selbst da, und sie war stets noch anwesend, wenn sie mich längst wieder verlassen hatte. Ich genoss diese Erfahrung ganz besonders, sie regte mich an wie erlesener Tee.

Wir tranken übrigens immer diese edle Flüssigkeit, wenn wir beisammensaßen und langwierige Gespräche führten, in denen (anders als außerhalb dieses Saales) die Grenzen unserer Persönlichkeiten verschwammen…

BERENICE:
… oder war es nicht vielmehr so, dass wir – wenigstens für eine kleine Weile – geistig miteinander verschmolzen, denn während ich auf der Metaebene unserer Diskussion stets versuchte, Sie weiter zu therapieren, begannen auch Sie in dieser Situation, das Gleiche mit mir zu tun.

Dabei stellte sich bald heraus, dass Sie, meine Liebe, eigentlich ein äußerst zwiespältiges Verhältnis zu Ihren besonderen Gaben haben.

BERENICE:
Allein Ihre Formulierung, Sir Basil, lässt erkennen, dass Sie die Funktionalität von Magie (ich mag dieses Wort nicht, aber Ihrem Verständnis zuliebe verwende ich es) nicht wahrhaben können. Die Position der Schamanin in meinem Stamm ist mir im Konsens gegeben worden, ausschließlich von Leuten, die bereits an geheime Künste glaubten und daher von mir nicht überzeugt werden mussten. Ich stehe für ein geschlossenes System, das auf keine Weise falsifizierbar ist. Keiner der Gläubigen sieht das gesamte metaphysische Gebäude, das ich verwalte, sondern immer nur einen Teil davon: Selbst wenn es also Widersprüche gäbe, könnten sie vom Einzelnen nicht aufgedeckt werden.

Na schön, Doktor – das wäre jetzt die nüchtern-objektive Analyse der akademisch ausgebildeten westlichen Therapeutin. Aber gerade ich muss daran erinnern, dass es Ihre spezifische subjektive Identität gibt, also die Art, wie Sie selbst sich erleben, und wie andere Sie erlebten angesichts von Phänomenen, die man sich keinesfalls rational erklären kann: etwa meine Rettung vor dem sicheren Tod, indem Sie genau jene drei Wesen sandten, die in diesem Zwischenreich agieren konnten, wo kein Mensch mehr etwas zustande bringen mochte. – Noch etwas Tee, meine Teuerste?

BERENICE:
(lächelt, voll der Erinnerungen ihrer überreichen Persönlichkeit) Gerne, mein Freund! – Oder denken Sie daran, dass ich imstande war, für kurze Zeit einen Berührungspunkt der beiden Universen zu stabilisieren, bevor derartige Nahstellen sich dauerhaft gebildet hatten – übrigens ein klassisches Beispiel für den hermetischen Charakter der Magie, denn vielleicht wäre ja das alles ohne mein Zutun auch passiert, aber jeder von uns war überzeugt, meine übersinnlichen Fähigkeiten hätten es bewirkt. Jedenfalls währte dieser Zustand lange genug, um die Gräfin von B. ihre totgeglaubte Tochter in den Armen halten und einige Worte mit ihr wechseln zu lassen. Übrigens, was hören Sie von der Komtesse Clio?

Ein Cheltenham war nicht so leicht aufs Glatteis zu führen – aber merken wollte ich mir diesen Trick gerne.

BERENICE:
Erzählen Sie mir nur nicht, dass Sie sie bei ihrer Mutter wähnen! Von dieser höre ich nämlich, sie sei verschwunden, die wunderschöne junge Dame …

Sie legte eine kurze Pause ein, um den Begriff, der zugleich eine Beurteilung war, stärker wirken zu lassen: im Vollgefühl ihrer eigenen mächtigen Weiblichkeit, neben deren dunkellodernder Sexualität eine schlanke Beauty von adeliger Hellhäutigkeit schlichtweg verblassen musste. Und dennoch – ich durchschaute zwar, was sie mir sagen wollte, dachte aber daran, dass sie ihren Brian Thomson hatte, den Bruder meiner Frau, der ihr zuliebe die ungeheuren Strapazen der Initiation auf sich genommen hatte, um sie zu besitzen. Ich für meinen Teil begnügte mich damit, an ihr eine interessante Gesprächspartnerin zu besitzen – und ich hoffte, sie desgleichen an mir, denn das, was Brians Weisheit ausmachte (wiewohl ich sie ihm nicht absprechen wollte), mochte ihr doch auf Dauer nicht ganz reichen.

BERENICE:
Sogenannte Himmel, Sir Basil, wo das wohnt, was wir am meisten anstreben, können tatsächlich sehr langweilig werden. Sie sind damit jedenfalls nicht unähnlich dem abgeschlossenenen Raum, in dem sich ein Magier bewegt: gekennzeichnet durch eine festgefügte Phänomenologie, in der ein Mikrokosmos einem Makrokosmos und jedes Wort oder Symbol einem bestimmten Ding aus der Realität entspricht – ein Zustand, in dem Visionen nicht als Sinnestäuschungen, sondern als Teilhabe an der höheren Einsicht verstanden werden.

Und das soll heißen, Walemira Talmai, dass Sie auch bei mir einiges von dieser Meisterschaft vermuten und meine Hellsichtigkeit mit mir teilen wollen?

BERENICE:
Indem ich Ihnen gleichzeitig anbiete, meine Visionen für Sie zu öffnen, wie wir es in der Vergangenheit schon sehr intensiv gepflogen haben!

Aber warum sie mich dann wohl hier festhielte, fragte ich sie.

BERENICE:
Es tut mir leid, dass meine erste Vermutung, Sie fühlten sich hier nicht wohl, offenbar doch den Tatsachen entspricht. Wenn Sie aber so empfinden, Cheltenham, dann sollten Sie sich vor Augen halten, dass Sie selbst in Ihrer scheinbaren Beschränkung noch immer äußerst privilegiert sind – indem Sie zum Beispiel niemand daran hindert, innere Erfahrungen zu sammeln, womöglich sogar welche übersinnlicher Natur. Und vergessen Sie nicht, Ihr Heilungsprozess zeigt Fortschritte: Ich habe Sie mit gutem Erfolg provoziert, wieder die alte Initiative zu entwickeln, die alte Durchschlagskraft, die alte Fähigkeit, die Welt nicht auf sich beruhen zu lassen!

Mir blieb – bildlich gesprochen, denn einem Gentleman passiert das einfach nicht – der Mund offen. Aber sie setzte noch eins nach.

BERENICE:
Selbst Ihre Libido – wenn Sie gestatten, spreche ich jetzt als jene vielschichtige Person zu Ihnen, die für meine Koori Ärztin, Psychologin, Priesterin, Ratgeberin, Entertainerin, Heilerin und anderes mehr ist – selbst Ihre Libido also sollte wiederkehren, neu erweckt durch die himmlisch schöne Prinzessin, bei deren Anblick kein Mann gleichgültig bleiben kann: Wenn Sie Glück haben, dann laufen Sie ihr über den Weg!

Sie lächelte samtig, und ich musste an mich halten, um nicht ihre Vermutung zu bestätigen (denn mehr als eine solche konnte es meiner Ansicht nicht sein) und die Identität von Clios Versteck preiszugeben.

Statt dessen ging ich in unserem Duell der feinen Klingen zum Angriff über: Darf ich statt dessen nicht meine Libido an Ihnen erproben, mit einem Wort – Darf ich Sie küssen, Madame? Das in einem Tonfall, wie ihn der Herzog von Buckingham gegenüber Königin Anna von Frankreich an den Tag gelegt haben mochte.

BERENICE:
Sie dürfen mich weder küssen noch sonst berühren, solange Sie nicht das Niveau meiner Initiation erreicht haben und mein Geistwesen einem solchen Kontakt zustimmt. Wenn Sie jedoch bereit sind, die vorgeschriebene Distanz zu wahren, dürfen Sie in Anschauung treten.

Sie ging voran in das Beduinenzelt, das ich in einer Ecke des Saales aufgestellt hatte und in dem ich am liebsten die Nacht verbrachte (außer wenn ich Clio besuchte, aber das war aus Sicherheitsgründen vorerst selten der Fall – schließlich wollte ich die Aufmerksamkeit der Koori nicht geradezu auf mein Geheimnis lenken). Sicheren Schrittes betrat die Walemira Talmai das Zelt, in dessen Innerem dicke Teppiche und weiche Kissen dazu einluden, in ein emotionales Nirwana zu versinken. Mit einer Handbewegung wurde ich angewiesen, Platz zu nehmen und es mir bequem zu machen, gerade als ob ich der Gast wäre.

Berenice klatschte und rief damit ihre Dienerin Idunis herbei (wie der Name der Herrin war auch dieser eine bloß ungefähre Transkription aus der eigentlichen, ausdrucksvollen Begriffswelt dieses Volkes: „Tochter der Wüste” bedeutete das Original). Es handelte sich dabei um jene belesene Dame, mit der man sich selbst an diesem Außenposten des australischen Outbacks in England über Hochkultur unterhalten konnte, aber zugleich um jene lebenslustige schwarze Naturschönheit, die einem Abenteuer mit rosigen Männern nicht abgeneigt war, wie sie auch mir gegenüber deutlich zu verstehen gegeben hatte. In dieser Intention hatte sie auch Romuald beglückt, mit dessen Eskapaden ich bereits weidlich beschäftigt gewesen bin und, dessen bin ich ganz gewiss, auch eines Tages wieder sein werde.

Idunis trat hinter Berenice, nicht ohne mir einen vielsagenden Blick zugeworfen zu haben. Sie öffnete die goldenen Agraffen des Umhangs der Walemira Talmai, und dieser glitt herab. Da stand jetzt die Schamanin der Koori, ließ mich die unsichtbaren Insignien ihrer Würde ahnen und das fahle Netzwerk ihrer Stammessymbolik erkennen. So musste es seinerzeit in einer ähnlichen Situation Brian ergangen sein – auch er hatte auf Berenices glänzender Haut Bilder seiner Existenz gesehen so wie ich jetzt: Charlene und mich bei zärtlichen Liebesspielen; meine alte Agentenfreundin Tyra und mich in der absurdesten Situation, die der Geheimdienst überhaupt für jemanden bereithalten konnte (beim sozusagen dienstlichen Koitus vor den Augen eines lüsternen orientalischen Potentaten); und schließlich überfallsartig die Komtesse Clio und mich in einer leiblichen Verstrickung, die in Wirklichkeit noch gar nicht stattgefunden hatte.

Die Walemira Talmai wirkte mit einem Mal viel schlanker als zuvor mit all dem Kleiderkram. Jetzt trug sie nichts als einen reich verzierten Gurt, der unterhalb des Nabels geknotet war, sodass seine breiten Zipfel zwischen ihren Schenkeln herabfielen. Sie ließ sich von allen Seiten sehen: Die weißen Bemalungen an Gesicht und Armen zeigten Punkte, Streifen und ganze Ornamente, auf dem Rücken und den Beinen waren Tierbilder zu erkennen. Mittlerweile hatte Idunis sie auch noch mit einem phantastischen Kopfschmuck aus Papageienfedern in den buntesten Farben ausgestattet – man musste sie als eine wahre Königin ihres Volkes bewundern.

Mein Enthusiasmus ging allerdings – anders als damals jener Brians – nicht so weit, die unsäglichen Prüfungen der Initiation auf mich nehmen zu wollen. Nicht schon wieder, dachte ich, eben erst genesen von dem körperlichen Verfall, den der Kampf auf Leben und Tod mit dem Tyrannen der jenseitigen Realität bei mir ausgelöst hatte. Ich nahm nur dankbar den Hinweis entgegen, dass eine umfassende Persönlichkeit wie Berenice bei aller individuellen Zuneigung nicht einem allein gehören konnte. So – mehr oder weniger spektakulär – endete unsere diesmalige Teestunde.

107

Der spätere chinesische Name ihrer Geburtsstadt Jakutsk war Natalia Petrowna nicht mehr geläufig (und es ist fraglich, ob sie ihn überhaupt je zur Kenntnis genommen hat). Gemäß dem Standard General Agreement oder ?????? (oder für die lokale russische Bevölkerung auch als ???????? ???????-???? ??????? verfügbar), mit dem das Amerikanische Imperium und das Chinesische Reich die bipolare Aufteilung der Welt beschlossen hatten und in dem auch so praktische Dinge wie die Absiedlung Emigrationswilliger vor der endgültigen Abtretung Sibiriens an China geregelt worden waren, hatte die Petrowna für ihre Verschickung nach Moskau optiert. Die ehemalige Metropole der Russischen Föderation war zwar nun nicht viel mehr als das Wladiwostok des Westens, aber verglichen mit der „Perle an der Lena” hatte sie doch etwas mehr zu bieten.

In Jakutsk ließ Natalia ein Temperaturjahresmittel von minus 10° C, ein riesiges Mammut im Paläontologischen Museum sowie ihren stets betrunkenen Ehemann Wassilij Wassilijewitsch Petrow zurück und versuchte, jenes frühere Leben einfach zu verdrängen. Nur ab und an erschien ihr Wasja im Traum – da ließ sie sich unverzüglich auf die Knie nieder und öffnete seinen Hosenbund: was ihr da entgegensprang, war allemal besser als sein vierschrötiges Gesicht und sein alkoholgetränkter Atem. Wenn sie das Gespenst durch ihre Mundakrobatik erleichtert hatte, verschwand es verlässlich, worauf Natalia erwachte und in die Küche rannte, um sich den Mund gründlich zu spülen, obwohl da nichts war als Erinnerung.

Arbeit hatten Natalia und ich, ihre Mitbewohnerin (übrigens: ich heiße Verushka Dimitrowa und stamme ebenfalls aus Fernost), in der Großbäckerei der Kolchose ?????? ?????? („Der Osten ist rot”) gefunden, die zwar bei ihrem heroischen Namen geblieben war, ansonsten aber kapitalistisch agierte und die feinsten Hotels belieferte. Die Qualitätsnormen und die Leistungskriterien waren dementsprechend hoch, und wir verdienten so viel Geld, wie wir es uns früher nicht einmal in unseren kühnsten Träumen hätten ausmalen können.

Wir kauften Kleider, Wäsche und Accesoires in den teuren Geschäften, aber eher, um einander zu gefallen – „Niemals allein für Männer!” war die Parole, die ich (mit ähnlichen Eheerfahrungen wie Natalia gesegnet) ausgegeben hatte. Wiewohl wir einander in Zärtlichkeit zugetan und zudem mittlerweile felsenfest überzeugt waren, kein Mann könne uns vergleichbar wonnevolle Stunden bieten, machten wir doch bestimmte Ausnahmen von meiner Doktrin der Ausgrenzung des anderen Geschlechts.

Da waren einmal die schwachbrüstigen Poeten, mit denen Natalia und ich uns umgaben, um unserem mit dem neuen Wohlstand erwachten Kulturbedürf-nissen Genüge zu tun. Wir genossen es, von den drei Jünglingen wie Göttinnen verehrt und in lyrischen Tiraden verherrlicht zu werden. Dafür durften sich die Herren ein- oder zweimal die Woche im Hause Dimitrowa-Petrowna sattessen, was ihnen aber gar nicht so wichtig war wie der reichlich vorhandene Wodka, den sie sich sonst nicht leisten konnten und der daher an diesen Festtagen ihren Verstand beflügelte. Im Verlauf solcher Abende wurden immer gewagtere Gedichte konzipiert – zu unserem Leidwesen allerdings niemals aufgeschrieben und somit der Nachwelt vorenthalten –, die sich in zunehmendem Maß nicht nur mit der seelischen Schönheit der Gastgeberinnen, sondern auch mit deren physischen Reizen beschäftigten, wobei intimste Details nicht ausgespart blieben. Natalia und ich waren daüber äußerst amüsiert, nicht nur, weil auch wir bei diesen Anlässen immer ein wenig betrunken wurden, sondern auch wegen der Tatsache, dass weder Grigorij (Gri-sha) noch Innokenti (Kesha) noch Nikolai (Kolya) all diese Einzelheiten bis dato hatten sehen, geschweige denn berühren dürfen: Für sie war all das reine Phantasie, die sich am nächsten Morgen in ihrer kalten Studentenbude zusammen mit dem Wodkarausch verflüchtigte. Was im Katzenjammer verblieb, war (soweit wir das wussten) ein wenig Masturbation angesichts einer an die Wand gekritzelten Raute – und wenn sie noch sehr besoffen waren, besorgten sie sich’s untereinander im Kreis herum, während Kolya lallend seinen jüngsten lyrischen Erguss rezitierte:

Natascha, du göttliche Kurtisane*),
ich fülle deine Muschi*) mit der Milch*)
der frommen Denkungsart
und löffle sie dann aus
bis ich benebelt bin
von geiler*) Heiligkeit.

*) Gemilderte Übersetzung
des russischen Originals.

[ 2 Zeilen Durchschuss]

Dann gab es die beiden reichen Binkel, Semion Timoschew, den Verwaltungsdirektor der Roter Osten-Kolchose (der den Hauptteil der Kundenzahlungen illegal abzweigte und folglich in Geld schwamm) sowie seinen deutschen Geschäftspartner und Freund Kai-Hasso von Thybalt, genannt „Der Pascha”, den Chef des Moskauer Hotels K. (der bereits reich geboren war und keine Gelegenheit ausließ, noch ein wenig mehr Kohle zu machen). Diese beiden – als Vorteil schlug zu Buche, um das gleich vorwegzunehmen, dass sie grundsätzlich wenig Zeit hatten und überdies ihre geringe Muße nicht in intensive fixe Beziehungen investieren wollten – waren für Natalias und meine leiblichen Genüsse zuständig, wenn diese einmal eines konkreten männlichen Partners bedurften. Zwar sprachen auch diese Herren dem Wodka zu, aber in Maßen, und im Gegensatz zu Grisha, Kesha und Kolya waren sie außergewöhnlich gepflegt und wohlriechend sowie extrem spendabel. Selbst wenn sie sich manchmal nur einmal im Monat zeigten, versorgten sie uns rund um die Uhr mit allem, was zu unserem täglichen Bedarf zählte, und stellten sich auch immer wieder mit einem neuen Pelz oder einem teuren Schmuckstück ein. Hin und wieder, wenn Bade- oder Segelwetter war, fuhr man zu viert an den Ivankovskoje-Stausee. Wir ehemals armen und von der früheren Kargheit traumatisierten Sibirierinnen waren somit, wie leicht ersichtlich ist, tatsächlich in der angenehmen Lage, unser Einkommen praktisch frei verwenden zu können – und wir legten es fleißig in bleibenden Werten an.

NATALIA PETROWNA:
Verushka, meinst du, ich müsste mich bei Kolya für dieses wunderschöne Gedicht von gestern doch einmal deutlicher erkenntlich zeigen als durch bloßes Anstarrenlassen?

Ich riet ihr dringend ab, in ihrem Enthusiasmus zu weit zu gehen – das Gespinst unserer gemeinsamen und mit der Außenwelt bestehenden Lebensbeziehungen war schließlich unsagbar kompliziert: zu schade, wenn es die mit abgebrochenen Nägeln geschmückten Finger eines dahergelaufenen Poeten für immer zerrissen hätten.

NATALIA PETROWNA:
Du meinst, dass man die Drei erst einmal desinfizieren müsste?

Neinneinnein, meine Liebe, ich meine, du solltest sie weiter auf schmachtender Distanz halten! Ich fragte sie rundheraus, was ihr denn fehlte: War ihr meine einfühlsame Zärtlichkeit nicht genug, oder der nach orientalischem Parfum duftende Schwanz von Semion (und manchmal – die Herren liebten die Abwechslung – jener von Kai-Hasso, den ein Odeur von britischem Eau de Toilette umgab)? Reichte ihr nicht das prickelnde Gefühl, wenn sie, die Blonde, im roten Bikini und ich, die Schwarze, im schneeweißen Badeanzug die Sensation von Dubna waren – und der ganze Stolz unserer beiden Galans?

NATALIA PETROWNA:
Ich wünsche mir nichts sehnlicher als ein Kind! Mit meinem Ehemann musste ich es mir verkneifen, denn ich wollte nicht, dass irgendein Kerl (schon gar nicht so einer wie er) über die Umstände herrscht, unter denen ein so kleines Geschöpf heranwächst. Aber jetzt – wir könnten es gemeinsam großziehen und hätten unsere Freude daran: Wär’s ein Junge, könnte er unser Prinz sein, der unter unserem Einfluss ganz anders wird als alle Männer, die wir kennen, wär’s ein Mädchen, hätten wir eine dritte Gespielin, an deren Entwicklung vom hilfsbedürftigen Würmchen bis zur gleichberechtigten Partnerin in unserem Liebesnest wir Anteil nehmen dürften!

Mir war schon klar: den Drang der Natur konnte niemand aufhalten, und schließlich erschien das, was sie sich da ausmalte, auch mir äußerst verlockend, vor allem da ich mich dabei nicht den Mühen einer eigenen Schwangerschaft und Geburt unterziehen musste. Also widersprach ich Natalia gar nicht, wollte mit ihr beraten, ob sie Semion oder Kai-Hasso als Samenspender verwenden sollte – ich ging davon aus, dass keiner der beiden etwas dagegen haben würde, wenn man sie nur nicht mit irgendwelchen nachhaltigen Forderungen nach Vatergefühlen belästigte.

NATALIA PETROWNA:
Nicht einen von denen, Verushka! Nicht die Gene eines saturierten Connaisseurs möchte ich mit meinen verschmelzen, sondern lieber die eines…

… versoffenen Poeten, ich weiß, ich hab’ so etwas befürchtet…

NATALIA PETROWNA:
Ach bitte, Liebste, ich überlasse ihn dir auch zur Entseuchung, damit du ganz sicher sein kannst, dass er uns nichts einschleppt!

Ich gab endlich nach, aber ich hatte insgeheim ohnehin bereits einen Plan, den ich mir sogar Einiges kosten ließ. Ich quartierte alle drei Dichterlinge in Thybalts Hotel ein: im billigsten Zimmer, aber das war teuer genug. Obwohl ich Kai-Hasso anbot, als Bezahlung etwas ganz Außergewöhnliches für ihn zu tun (ich stellte es seiner Vorstellungskraft anheim, sich etwas auszudenken), ließ er in diesem Punkt nicht mit sich reden – für ihn hatte alles seine Grenzen, und Geschäft war schließlich Geschäft. Mein Kalkül hinsichtlich Grisha, Kesha und Kolya bestand darin, dass sie in dieser zivilisierten Umgebung bald selbst etwas kultivierter werden könnten: sich regelmäßig wuschen, rasierten, die Zähne putzten und was derlei Selbstverständlichkeiten sind, wenn man den Schweinestall einmal hinter sich gelassen hat. Außerdem wurde neue Kleidung besorgt, natürlich in mehrfacher Ausführung für jeden von ihnen, damit sie sich angewöhnten, ihre Garderobe in kürzeren Abständen zu wechseln.

Als Krönung des ganzen Projekts (Natascha staunte nur noch) organisierte ich verschiedene medizinische Tests, denen sich die Drei unterziehen mussten, damit wir auch von dieser Seite möglichst sicher waren. Die Betroffenen selbst konnten sich nicht recht erklären, was da über sie hinwegging, aber mir wollte scheinen, dass sie begannen, es zu genießen.

NATALIA PETROWNA:
Dann kam der große Tag. Ich hatte mir Nikolai ausgewählt – die anderen mochten in der Hoffnung verbleiben, sie kämen später dran oder Verushka würde ebenfalls ihren Teil übernehmen. Wir gingen in eine andere Suite des Hotels, für die meine Freundin mir den Schlüssel überreicht hatte. Ich ließ mir nochmals jene Hymne an mich rezitieren, und aus dieser geistigen Umarmung gingen wir nahtlos in eine handfestere über, an deren Anfang ich Kolya sogar unverhohlen meinen Wunsch offenbarte, ein Kind von ihm zu bekommen, und er schien überglücklich. Als alles vorbei war und ich mich im Bad etwas frisch machte, folge mir der Poet: Wie es schien, hatte er inzwischen kräftig an einer Wodkaflasche gezogen. Er führte schräge Reden, vollführte unheilvolle Gesten (offenbar war Gewalt für ihn ein elementarer Bestandteil der Sexualität), und mir schwante, dass es mit dem vaterlosen Kind nicht so einfach werden würde.

Als Kolya sich an Natascha in einer Weise vergreifen wollte, die ihr nicht behagen konnte – das war ein wichtiger Teil meines Plans, und darum hatte ich auch den Wodka aufs Zimmer stellen lassen –, trat ich hinter der Tür hervor. Ich feuerte zwei oder drei Mal mit meiner Pistole auf ihn, bis er hinfiel und sich in seinem Blut wälzte.

Sanft nahm ich Natalia an den Schultern, drehte sie weg und brachte sie nach Hause. Mit einiger Zärtlichkeit, um sie zu beruhigen, flüsterte ich ihr zu, sie müsste sich nicht ängstigen. Bestimmte Freunde Semion Timoschews, die Kai Hasso, der „Pascha”, diskret in sein Hotel rufen sollte, würden dafür sorgen, dass keine Spur der Ereignisse übrig blieb. Auch hatte man mir zugesichert, die beiden anderen Jünglinge ebenfalls zum Schweigen zu bringen – ich wusste nicht und wollte auch nicht fragen, ob das bedeutete, dass sie ihrem Kameraden in den Tod folgten, oder ob man sie bloß über die Demarkationslinie ins Chinesische Reich verfrachten würde. Im noblen Hotel K. unweit des Kremls konnte man (da hatte sich seit den Zeiten der alten Sowjetunion nichts geändert) alle Arten dieser Dienste problemlos bestellen: Es war nach wie vor eine der Hauptdrehscheiben für jeden illegalen Handel, den man sich nur ausmalen mochte.

NATALIA PETROWNA:
Und das alles wegen eines Kindes!

Du wolltest es so, meine Liebe! Endgültige und unverrückbare Tatsachen kannst du lediglich auf die radikale Tour schaffen!

Natürlich blieb sie innerlich dabei, dass sie sich das so nicht vorgestellt hatte, aber äußerlich resignierte sie und kam mir kein einziges Mal mehr mit Vorwürfen. Wir nahmen unser bisheriges Leben wieder auf, versuchten es jedenfalls, aber es war ohne Poesie, und außerdem schien mir, dass unsere soignierten Freunde sich noch seltener blicken ließen als früher. Das mochte an den Monaten liegen, in denen Natascha nicht zur Verfügung stand, später am Neugeborenen, um das sich bei uns alles drehte. Glücklicherweise hörten die beiden nicht auf, großzügig für uns zu sorgen.

108

„Echwejchs raus!” konnte man dann und wann auf der Station hören. Eines Tages hatte man sie das erste Mal gesehen, angekommen in einem Raumschiff in der Gestalt eines riesigen, eher plumpen Vogels. Sie selbst waren schwanenartige Wesen, die eine Mutation in humanoide Gestalten durchlaufen zu haben schienen: die langen Hälse gab es noch, teilweise auch das Federkleid, die Gesichter aber waren menschenähnlich, die Schwingen hatten sich in Arme und Hände, die Schwimmflossen in Beine verwandelt. An die ursprüngliche Tiergattung erinnerte auch noch ihre Sprache, ein Rauschen, das sich anhörte wie der Flug ihrer Vorfahren: lautmalerisch daher auch die Namen.

Sie hatten sich nicht gerade beliebt gemacht, vor allem wegen ihrer sexuellen Freizügigkeit, und das wollte in meinem und Mangos kleinem Reich schon etwas heißen. Man war ja selbst nicht angekränkelt von irgendwelchen religiös-moralischen Tabus, dafür bürgte schon der wissenschaftliche Charakter meiner Königin, die alles verstehen konnte, sofern es ihr nur vernünftig erklärt wurde. Umgekehrt entsprang die geradezu sprichwörtliche Pedanterie, die das Volk mir, dem König, nachsagte, lediglich meiner anerzogenen militärischen Hölzernheit und hatte beileibe nichts mit Prüderie zu tun.

Was man allerdings auf VIÈVE – diesen Namen hatte Mango Berenga der Station im Gedenken an ihre Seelenwandergefährtin gegeben – überaus missbilligte, war extreme Promiskuität. Zwar galten hier die gleichen Usancen wie auf intergalaktischen Flügen, so vor allem, dass lange Perioden des Nichtstuns verpflichtend mit sexuellen Aktivitäten zu erfüllen waren, die als einzige imstande schienen, tödliche Spannungen und am Ende einen geistigen Verfall zu verhindern: Die Beteiligten suchten sich aber, auch wenn sie einander von vornherein gar nicht kannten, mehr oder wenige fixe Partner dafür. Darüberhinaus hatte die radikale Umgestaltung der Station in Richtung auf dauernden Verbleib der Bewohner (demgemäß gab es mehr Behaglichkeit als je zuvor) zur Bildung auch längerfristiger Lebenspartnerschaften geführt – wir als Königspaar versuchten das jedenfalls vorzuleben, um unserer Gemeinschaft eine gewisse soziale Stabilität zu verleihen.

IKQYKU DIAXU:
Wenn man etwas Abwechslung wollte, ohne seine feste Beziehung zu gefährden, ging man eben in meinen Club, sei es weil man ohnehin eine bestimmte körperliche Distanz zu den Geschehnissen auf der Bühne wahren wollte, oder sei es gerade zu dem Zweck, eine Übertretung zu begehen, aber eben heimlich in einem der Separées. Auch Paare kamen natürlich – solche, die zusammengehörten und sich einfach amüsierten (vielleicht auch ihren sexuellen Appetit anregen und dann gemeinsam mit nach Hause nehmen wollten), aber auch solche, die in den verschwiegenen Räumen ihren Seitensprung absolvierten. Was immer die Königin und den König bewogen haben mochte, der Gründung dieses Etablissements zuzustimmen – sämtliche Motive der späteren Besucher hatten sie sicher nicht vorhersehen können.

Ich für meinen Teil wollte einfach deinem Club die Freiheit des Angebots geben – vom harmlosen Umgang untereinander über erotische Phantasien bis hin zu konkreten sexuellen Aktivitäten sollte alles möglich sein. Jedem das Seine, mein Freund Diaxu! Wir wissen wohl um die höchst unterschiedlichen Gelüste unserer Untertanen und denken damit umgehen zu können! Was ich allerdings nicht zu tolerieren beabsichtige, ist jede Form der Gewaltanwendung gegen den Willen des Partners.

IKQYKU DIAXU:
(beiseite) Gerade da aber hatte Keyhi seinen höchstpersönlichen Schwachpunkt, wie man in der Spiegelwelt vielerorts munkelte. Gerüchte vielleicht nur, genährt durch irgendwelche Kreaturen aus seiner Umgebung (nicht, dass Sie vielleicht jetzt glauben, durch mich!), aber wer den König näher kannte, auch von früher her, wusste, dass er ein Mann war, der sich unter bestimmten Umständen einfach holte, was er begehrte – gegen jede Missbilligung. Da konnte sein Opfer ohne weiteres jemand sein, der ihm ohnehin zugetan war, aber für Keyhi bedeutete Liebe oft zu wenig – aus weiß welchen unerquicklichen früheren Erlebnissen heraus –, und in solchen Fällen brauchte er die Hürde des Widerstandes, die er ungestüm überrannte.

Ja, so sind wir Könige, Herr Diaxu! Die Monstrosität ist uns in die Wiege gelegt, und selbst wenn nicht von Anfang an klar abzusehen ist, dass wir einmal einen Thron besteigen werden: Die Monstrosität ist schon in uns als notwendiges Prärequisit der künftigen Würde!

IKQYKU DIAXU:
(erstarrt)

Ich mache wohlgemerkt Witze, mein Guter, und versuche dich, der du zu maßlosen Übertreibungen neigst, zu persiflieren.

IKQYKU DIAXU:
Und wer hat, mit Verlaub, die jetzige Königin – als sie noch eine kleine unbedeutende Wissenschaftlerin aus dem für uns feindlichen Universum war, der man bestimmte Informationen entreißen wollte – wie eine Sklavin gehalten? Wer hat sie, der mit Hilfe von Psychopharmaka und anderen subtilen Behandlungsmethoden das Bewusstsein ihrer spezifischen Realität geraubt worden war, sexuell missbraucht (um die Dinge endlich einmal beim Namen zu nennen)? Glaubst du im Ernst, deine später vorgenommenen Veränderungen in unser aller Lebensdisposition und vor allem die Tatsache, dass du Mango Berenga am Ende zur Frau genommen hast, ändert etwas daran, dass sie ein Dasein führt, das nicht im Entferntesten das ihre ist, sondern ein von dir gestaltetes?

Ich setzte mich. Langsam, antwortete ich gefährlich leise, werde auch ich alt – in jeder Beziehung: was die Belastbarkeit betrifft… und die Toleranz… auch die Toleranz… Diaxu, da kannst du grinsen wie du willst. Noch ist dir nichts geschehen, obwohl du mich auf allen Linien herausforderst, aber ob das wohl immer so bleiben wird (worauf du zu spekulieren scheinst)? Fürchte jedenfalls den Tag, an dem du die Grenze überschreitest, die ich im Geiste längst rings um dich gezogen habe!

IKQYKU DIAXU:
(verneigt sich, geht in gebeugter Haltung rückwärts Richtung Türe; dann mit einem Kratzfuß, immer noch unübersehbar sarkastisch) Gewiss, Monseigneur!

Endlich hatte ich Ruhe von ihm, dachte ich – da besaß er doch glatt die Stirn, nochmals den Kopf bei der Türe hereinzustecken.

IKQYKU DIAXU:
Und was unternehmen wir jetzt wegen dieses Geflügels?

Raus! brüllte ich.

Es war ein Spiel zwischen uns, auch ein Spiel, aber im Grunde war es ernst und unerbittlich. Ich wusste genau, dass meine formale Legitimation, hier auf VIÈVE zu herrschen, nicht um so vieles größer war als jene Diaxus. Als Commander unserer ehemaligen jenseitigen Armee stand ich bloß einen Rang über ihm, der ebenfalls Offizier gewesen war. Ich hatte dieses Thema sogar schon einmal offen angesprochen, da ich nicht wollte, dass es zwischen uns dahinschwelte, aber er beruhigte mich (scheinheilig oder nicht, wer wollte das schon beurteilen). Zwei Argumente führte er für mich (und damit gegen sich) ins Treffen: Einmal die Tatsache, dass ich dem Diktator mutig – unter Einsatz von Leib und Leben – die Stirn geboten und ihn damit erst so richtig in die Arme Sir Basils getrieben hatte, wo er sein Verderben fand. Faktum war weiters, dass der Umbau dieses seltsamen künstlichen Sterns zu dem, was die Station heute ausmachte, eindeutig mein Verdienst war. „Und daher, Monseigneur”, pflegte Diaxu zu schleimen, „gebührt Dero Majestät der Lorbeer!”

109

Sir Percy Blakeney, ein Nachfahre des berühmt-berüchtigten Scarlet Pimpernel, hatte von seinen Eltern aus einer Laune heraus wiederum diesen über 200 Jahre hinweg in seiner Dynastie verpönten Vornamen erhalten. Er war ein Jugendfreund Cheltenhams, wenn man das so nennen kann: Es ist nämlich nicht wirklich Freundschaft, was da in den Eliteschulen und –universitäten Englands als Keim der späteren Old Boys Networks gezüchtet wird, eher eine Art Geschäftsbeziehung, durchaus adäquat jenem nüchternen Verhältnis, das dort sogar Eltern und Kinder miteinander pflegen.

SIR PERCY:
Erinnerst du dich noch, wie wir die Welt verändern wollten?

??? (so leicht ließ sich Sir Basil nicht in ein Gespräch verwickeln, schon gar nicht, wenn er in seinem Preferred Club saß und in Ruhe in sich selbst versinken wollte, weil Berenice ihn endlich einmal für einen Nachmittag aus ihrer Obhut entlassen hatte – selbstverständlich nicht, ohne mich, seinen Koori-Freund hinter ihm herzuschicken, mit dem Auftrag, ihn unauffällig zu überwachen, was allerdings angesichts meiner Hautfarbe in den exklusiveren Zirkel Londons nicht ganz einfach war).

SIR PERCY:
Und hast du in diese Richtung etwas unternommen?

???

SIR PERCY:
Ich schon – besuch mich doch gelegentlich, und ich zeige dir alles.

Sir Basil war neugierig, keine Frage. Da war doch glatt einer, der wie er selbst das Bedürfnis verspürte, Großes in Bewegung zu setzen… aber natürlich wollte er Percy nicht gleich offenbaren, dass er seinerseits keineswegs in der Theorie steckengeblieben war – für seine alten Kommilitonen gab es ja nur den Cheltenham, der eine eher langweilige Militärkarriere durchlaufen hatte (die einen bei der Royal Army gleichwohl nach Asien, in die USA und in diverse arabische Länder hatte führen können).

Einerlei – er war naturgemäß aufs Äußerste gespannt, Näheres zu erfahren. Dessenungeachtet versetzte er bloß lakonisch: „Ich bekomme nicht so viel Ausgang, daher muss ich mir meine Zeit genau einteilen!” (Percy sah dabei aus, als müsste er auf der Stelle loslachen – Basil merkte es deutlich). Da spielte er doch den Unbedarften, der unter Kuratel stand, obwohl er insgeheim längst das Gefühl hatte, sich wieder freispielen zu können, wenn er es nur geschickt anstellte.

SIR PERCY:
Dann verwende doch wenigstens einen deiner kostbaren Freigänge für mich – ich bitte dich!

Cheltenham freute sich diebisch: Wie in alten Zeiten war es ihm gelungen, den Gegner schon beim ersten Schlagabtausch ins Hintertreffen zu bringen, ohne dass dieser überhaupt etwas davon merkte. Percys sarkastisch-gönnerhafter Ton ließ klar den tödlichen Fehler erkennen, den er im Begriff war zu begehen – nämlich Basil zu unterschätzen.

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

Cheltenham zeigte keine Eile. Als er aber vor Percys abgelegenem Landsitz in Northumberland erschien, geschah es überraschend (und, nebenbei bemerkt, in meinem heimlichen Beisein, mit Billigung Berenices, die ebenfalls wissen wollte, was dort lief). Die Wachen, die ständig den Park umrundeten und Sir Basil aufgriffen, waren üble Gorillas, die nicht einmal ein ordentliches Englisch verstanden, geschweige denn sprachen. Gott allein weiß, dachte unser Baronet, in welchem Winkel der Erde ihr Herr sie aufgelesen haben mochte – er vermutete, dass sie Jakuten waren (womit Percy, das musste man neidlos anerkennen, eine kluge Wahl getroffen hatte, denn mangels Rückkehrmöglichkeit ins feindliche Chinesische Reich blieb ihnen gar keine andere Wahl als treue Ergebenheit).

Als Sir Basil unsanft vom Anwesen weggewiesen werden sollte, protestierte er heftig und verlangte, vor den „Chef? gebracht zu werden – und da kam dieser auch schon raschen Schrittes, alarmiert durch den Burschen, der im Keller des Hauptgebäudes vor einer ganzen Galerie von Bildschirmen saß und auf diese Weise den Vorfall mitbekommen hatte. Elegant war er anzusehen, der Deszendent Scarlet Pimpernels, fast asketisch hätte man ihn nennen können, schlank und schwarz gekleidet, das von der hohen fliehenden Stirn zurückgekämmte Haar in einem Schwänzchen auslaufend. So überrascht er auch sein mochte und so wenig ihm der spontane Besuch möglicherweise in den Kram passte – anmerken ließ er sich nichts, begrüßte seinen Gast herzlich und bat ihn hinein. Brandy wurde gereicht.

SIR PERCY:
Ursprünglich habe ich hier an einem Computer-Programm gearbeitet, mit dem schlagartig alle Aufzeichnungen über sämtliche Besitztümer dieser Welt zu löschen waren: alle Konten, Depots, Schuldenstände, grundbücherliche Eintragungen und anderes mehr sollten nichtig werden.

Cheltenham sah fasziniert das verräterische Funkeln in Percys Augen. Einer jener Wahnsinnigen! dachte er bei sich: Der eine hält sich für den Messias, der andere für Robin Hood. „Und?” fragte er laut, „wann ist es so weit?”

SIR PERCY:
Zu kompliziert! Falscher Ansatz, ganz falscher Ansatz! Weißt du auch, warum? Zu viele Dominosteine müssen in der richtigen Reihenfolge kippen, um das komplette Desaster zu erzeugen – das hat keinerlei Reiz, denn die Betroffenen würden nicht einmal wissen, wie ihnen geschieht…

„… vor allem aber, wenn sie es ahnten, mein lieber Percy, und in globalem Einverständnis einfach so täten, als sei überhaupt nichts geschehen, würde dein vernichtender Schlag völlig ins Leere gehen!”

Der entgeisterte Blick Blakeneys sprach Bände: Offenbar war er wie schon dereinst nicht gewohnt, mit einem schärferen Verstand als seinem eigenen konfrontiert zu werden. Dialektik war schließlich schon damals an der Universität nie seine Stärke gewesen, hingegen lagen seine Fähigkeiten eher auf dem Gebiet enormer Gedächtnisleistungen, einer gewissen Beharrlichkeit und einer Reihe diabolischer Assoziationen, die er jederzeit abrufen und mit denen er jede Banalität in eine geheimnisvolle Aura kleiden konnte. Plötzlich ging Sir Basil ein Licht auf: Die Jakuten waren vielleicht gar nicht Percys Beschützer, sondern seine Bewacher im Auftrag jemandes ganz anderen.

„Was hörst du übrigens von Miss Dan?” schoss er aufs Geratewohl seine Frage ab. Er spielte darauf an, dass die heutige Grosse Vorsitzende einst ein Gastsemester in England verbracht hatte, wo sie zufällig den beiden Herren (als Mitgliedern einer akademischen Prüfungskommission) begegnet war.

SIR PERCY:
Hab sie einige Zeit nicht gesehen, alter Junge!

Also doch jedenfalls lange nach der Universitätszeit! Blakeney war auf den plumpen Trick hereingefallen und hatte seine wahre Connection verraten!

Aber auch Sir Basil war eindeutig aus seiner Deckung hervorgekommen. Nun konnte er sich nicht mehr weigern, alles zu erfahren und musste sich damit an Percys Schicksal in einer Weise binden, wie er es eigentlich so direkt nicht beabsichtigt hatte. Er erkannte dadurch aber auch, wie sehr die Walemira Talmai schon wieder im Hintergrund die Fäden zog, denn er war im Nu in eine Rolle gedrängt, aus der es nur schwer ein Entrinnen gab – wenn überhaupt, dann mit Berenices Hilfe.

Percys PLAN A trug den Titel MULTIPLICATION: Er beabsichtigte, sich in die Zentralcomputer der wichtigsten Notenbanken der Welt einzuhacken: die Passwörter waren längst geknackt. Dort wollte er die Refinanzierungslinien der Geschäftsbanken mit einem Schlag vervierfachen, was umgehend eine Hyperinflation auslösen würde. Natürlich, führte Sir Percy aus, müssten die Weltfinanzkapitäne ziemlich bald merken, was gespielt wurde (das machte einen Teil des Reizes aus!), aber nicht das Geringste dagegen unternehmen können, denn je mehr sie um sich schlügen, desto rascher, tiefer und sicherer würden sie in die Katastrophe hineinschlittern. Das neugeschaffene Geldvolumen musste sich in ganz kurzer Zeit im Wirtschaftskreislauf verteilen, dergestalt, dass eine ungeheure und nicht befriedigbare Nachfrage nach Gütern und Leistungen entstünde, in deren inflationären Strudel jegliche sinnvolle und zielgerichtete Aktivität ihren Sinn verlöre.

PLAN B (GREAT DECLINE) war ebenfalls nicht uninteressant. Percy hatte bereits einen Feldversuch organisiert, in einer nicht näher bezeichneten englischen Grafschaft. Ziel war es, durch das Lancieren schlechter Nachrichten Verweigerungshaltungen bei den unselbständig Beschäftigten respektive privaten Haushalten zu bewirken, die einen massiven Einbruch der wirtschaftlichen Aktivität zur Folge hätten. Die Stoßrichtungen waren: möglichst wenig zu arbeiten, als Folge möglichst wenig zu verdienen, vor allem aber möglichst viel zu sparen. Cheltenham besaß ausreichend Phantasie, um sich auszumalen, was es für seine eigene Gutsherrschaft, die nun – wie man hörte vorbildlich – von Charlene verwaltet wurde, bedeuten müsste, wenn diese nihilistische Philosophie um sich griff. Er hing ein wenig diesem Gedanken nach, doch sein Gegenüber war bereits einen wesentlichen Schritt weiter.

SIR PERCY:
(geheimnisvoll) Und PLAN C nennt sich PANDORA?S BOX und ist bereits voll angelaufen!

Aber davon wollte er Cheltenham nichts verraten – noch nicht, wie er betonte, bis er die Verlässlichkeit seines alten Freundes auf die Probe gestellt hatte, worin auch immer eine solche bestehen konnte. Was er allerdings nicht ahnte, war, dass die Überlegungen seines Gastes aufgrund des eher vordergründigen Projektnamens einerseits und infolge einer sehr ausgeprägten Fixierung Basils auf ein bestimmtes Thema andererseits bereits begonnen hatten, in die richtige Richtung zu galoppieren.

SIR PERCY:
(verbindlich lächelnd, was in seltsamem Gegensatz dazu steht, dass er das Gespräch seinerseits völlig zum Erliegen gebracht hat, aber bei PANDORA’S BOX übermannt ihn immer wieder die Bewunderung für seine eigene Genialität) Ich war natürlich nicht der Lowbrow, als den mich mein lieber Freund hinstellen wollte. Meine Informationsketten reichten ganz nah an ihn heran, wie Plan C deutlich beweist. Dieser besteht in einem neuerlichen Öffnen des anderen Universums (dessen Existenz mir entgegen Basils Meinung bekannt war) an Stellen, die für die Administratoren Romuald und Lijaifsxy (ebenfalls keine No-Names für mich) nicht kontrollierbar waren, anders als der Übergang im Labyrinth unter Cheltenham House (auch von diesem wusste ich seit langem).

110

Die Königstochter als Tänzerin im Club – Mango (die korrekte Wissenschaftlerin) war irritiert, aber Keyhi (selbst ein nüchterner Typ, der allerdings wusste, dass es, auch wenn’s schwerfiel, für eine Herrschaft nichts Besseres gab als Volksverbundenheit) vermochte seine Frau zu beruhigen: „Wenn eine potenzielle Thronfolgerin so bezaubernd ist, musst du sie herzeigen, denn die Leute werden sie lieben um ihrer Reize willen. Wenn du sie (guten Gewissens, denn sie macht was her) nackt präsentieren kannst, dann tu auch das – je unverhüllter das Volk die künftige Königin sieht, desto mehr wird es bereitwillig an die überirdische Magie glauben, die angeblich mit dieser Position verbunden ist.”

KÖNIGIN MANGO:
Dann wäre es ja eigentlich sinnvoll, wenn auch ich –

Der König unterbrach sie mit dem breiten Lächeln, das bei ihm so selten war: „Eine wirklich ansprechende Vorstellung!” Unwillkürlich musste er an ihre unscheinbare Gestalt in der schmucklosen Uniform, unter der sie die olivgrüne ärarische Unterwäsche trug, denken – welch attraktive Frau und souveräne Herrscherin war aus der kleinen Biologin geworden! So selbstsicher war sie jedenfalls mittlerweile, dass sie einen Auftritt im Vergnügungstempel zumindest erwog…

KÖNIGIN MANGO:
… wenn das stimmt, was Ihr sagt, Monseigneur, und es zum Frommen der Dynastie ist!

Damit war das Lächeln auch schon wieder von seinem Gesicht verschwunden. Er perhorreszierte den Ehrentitel des Tyrannen der jenseitigen Völker – dieser war für ihn mit jedem nur erdenklichen Tabu belastet und zugleich mit soviel Abscheu gegenüber dem früheren Herrn befrachtet, dass er nur mit Mühe an sich halten konnte. Er hatte es jedoch noch nie über sich gebracht, Mango zu sagen, wie sehr er sich darüber ärgerte, und er tat es auch diesmal nicht.

Er bekräftigte statt dessen nochmals, dass er gegen Auftritte der Damen des Königshauses im „King?s & Queen?s” nicht das Geringste einzuwenden hatte – ob dies voll und ganz der Wahrheit entsprach (also auch für die Ältere der beiden galt), möchte ich doch ein wenig bezweifeln. Selbst mir als dem Manager des Clubs, dem noch mehr Prominenz nur angenehm sein konnte, war nicht ganz klar, was Keyhi mit solchen Aussagen bezweckte. Früher, in den alten Zeiten, da wusste ich fast alles über ihn, aber jetzt war vieles anders geworden – gerade noch als äußerste Rückversicherung für meine persönliche Integrität konnte ich auf ihn zählen. Im Klartext: Ganz fallen lassen würde mich der König keineswegs, aber die Königin anzusprechen und ihr einen Full Nude Live Show Act (übrigens wieder einmal eines meiner sprachlichen Fundstücke aus dem nahezu unendlichen Datenmüllarchiv der Station) vorzuschlagen, konnte mich unversehens in ein unangenehmes Exil befördern.

Ohnedies überlegte es sich die Berenga, und nach reiflichem Hin und Her in ihrem Inneren beschloss sie, in puncto physischer weiblicher Ausstrahlung nicht mit ihrer Tochter in Konkurrenz zu treten: den Fehler ihrer irdischen Schwester im Geiste würde sie nicht wiederholen. Geneviève Gräfin von B. hatte bekanntlich nicht einsehen wollen, dass die Schönheit der Komtesse Clio einfach unüberbietbar war. Hier bei uns verhielt es sich zwar nicht ganz so extrem, aber jünger und dementsprechend knuspriger war die kleine XX allemal.

KÖNIGIN MANGO:
In diesen Tagen besann ich mich wieder stärker meiner Wissenschaft, und zwar nicht nur privat, wie ich es bisher auf der Station gehandhabt hatte, sondern sozusagen im öffentlichen Interesse. Ich ließ an einer freien Stelle unseres Himmelskörpers einen steinernen Bogen errichten, danach bat ich die Lhiks, für die Begrünung des Bauwerks und seiner Umgebung zu sorgen, einerseits um dem Ort ein freundliches Ambiente zu verleihen, andererseits um zu gewährleisten, dass man, hier verweilend, nicht durch den Anblick des Weltraums zu den eigenen Füßen irritiert wurde: eine Akademie im Miniaturformat war geboren. Mein König – als ich ihn bat, nun auch das Dekret über diese Stiftung gemeinsam mit mir zu unterzeichnen, wie ich es für ihn bei der Clubgründung getan hatte – winkte ab: „Lassen wir doch die Dinge sich erst einmal entwickeln!” brummte er kaum vernehmlich.

Den allgemeinen Umständen, also dem mangelnden Bedarf an praktischer und technologischer Wissensvermittlung entsprechend, wurde das Schwergewicht der Vorlesungen einerseits auf historisierende Darstellungen der philosophischen Klassik (beginnend mit Aristoteles und Kant) gelegt, andererseits auf das Philososphieren über die eigene aktuelle Situation. Mango Berenga eröffnete den Reigen mit einer gedanklichen Paraphrase: „Was kann man wissen, was soll man tun, was darf man hoffen auf VIÈVE?”

Auch ich wurde eingeladen – die Auswahl an derart spezifischem kreativen Personal war auf der Station, wie man sich vorstellen kann, nicht eben groß. Mein Vortrag trug den schlichten Titel „Meine Philosophie heißt Sex”, und die Gute ließ es durchgehen, schließlich hatte auch sie Interesse an einigermaßen zufriedenstellenden Hörerzahlen. Für die konnte ich allerdings garantieren, denn es erschienen alle, die sonst bei den Vorstellungen im Club zu sehen waren, unter dem akademischen Bogen. Ich gab ihnen mit einer dezenten, aber eindeutigen Handbewegung zu verstehen, dass sie sich hier gefälligst benehmen sollten, und alles lief ruhig ab. Anschließend bot ich allen an, den Abend in meinem Etablissement ausklingen zu lassen.

Der symbolische Preis, den sie zu zahlen hatten, war: ein gerütteltes Maß an Theorie über sich ergehen zu lassen. Aber wie passt das wirklich zusammen – Körper und Philosophie? Gibt es womöglich einen Ausschluss des Körpers aus dem philosophischen Diskurs, den man gemeinhin im Kontext von Bewusstsein oder Geist sieht? Allenfalls in der sogenannten postmodernen Philosophie finden wir eine gewisse Wahrnehmung des Körpers, aber weit entfernt vom Körper-Hype unseres Alltags. Was allerdings medial als Körper verkauft wird, ist natürlich ein manipuliertes Etwas, das mit einem ursprünglichen Begriff von Körperlichkeit nichts zu tun hat. Es gibt Körpernormen, es gibt bestimmte Regulationen und Produktionen von Körpern – und zwar deshalb, weil die Machtdispositive direkt an die biologische Sphäre angeschaltet werden, ja angeschaltet werden müssen: insbesondere an jene physiologischen Prozesse, die in uns Empfindungen und Lüste transportieren. Der sexuelle Aspekt des Körpers hat seine Alternativen – Körper bei der Arbeit, in der Ausbildung, beim Militär, in der Medizin und so weiter – in der Öffentlichkeit verdrängt: wie gesagt in einer idealisierten Form, die einer Mehrheit von uns bescheinigt, unzulänglich zu sein, etwas erreichen zu müssen, was wir nicht erreichen können.

Somit – schoss ich meinen letzten argumentativen Pfeil ab – benötigen wir Sublimationsinstrumente, die uns zu unverfänglichen Beobachtern sexueller Ideale machen. Das ist meine Philosophie, die Philosophie des „King?s & Queen?s Club”, der noch dazu (diese Bemerkung ließ ich mir auf der Zunge zergehen) die Option bietet, die gezeigten Kunstfiguren im Separée ohne Eingehen einer individuellen Beziehung benützen zu können!

KÖNIGIN MANGO:
Ich war auf dem Sprung, ihm das Gesicht zu zerkratzen – hier auf seriösem Boden wollte er insinuieren, man könne die Artistinnen seines Etablissements samt und sonders nicht nur optisch, sondern auch physisch konsumieren! Noch dazu, da eine davon unsere XX war! Aber meine Empörung ging unter: Diskussion fand keine statt, denn das Publikum entwich in Richtung von Diaxus Tempel. So unterblieb auch meine einzige sachliche Anmerkung zu seinem Referat: meine Kritik daran, dass er dem König und mir politische Manipulation als Motiv für die Errichtung des Clubs unterstellte – während ihn selbst angeblich bei der Durchführung des Projekts nur die lautersten Absichten geleitet hatten.

Im Weggehen bemerkte ich noch, wie wütend die Königin war – das schien mir nicht ungefährlich, denn ich hatte im Moment weder die Zeit noch die Möglichkeit, sie zu beschwichtigen.

KÖNIGIN MANGO:
Bereits wenige Tage später wurde ich noch viel zorniger, als ich lernte, dass der Sexismus auf der Station nicht auf den Club beschränkt blieb. Es fanden sich nämlich welche, die das studentische Leben an der Akademie ein wenig in Schwung bringen wollten. Als man mir zutrug, dass ohne mein Wissen und vor allem ohne meine Zustimmung eine Wahl zur Miss Endless Thigh of the College stattgefunden hatte, bei der die Teilnehmerinnen viel Bein unter einer weißen Tüllwolke zu zeigen hatten, traf mich fast der Schlag. Die Philosophie Ikqyku Diaxus holt einen überall ein, beschwerte ich mich bei meinem königlichen Gemahl – aber vergeblich, denn der war höchstpersönlich in der Jury gesessen und allem Anschein nach äußerst enthusiasmiert von all den Strümpfen und Strumpfbändern und dunkel hervorleuchtenden Oberschenkelstückchen!

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

Immerhin: die Sache mit der Echwejch-Frau als Vortragender an der Akademie hatte sich Mango Berenga selbst eingebrockt! Pachwajch zu einem Referat einzuladen, war schließlich ihre ureigene Idee gewesen – nicht zuletzt, um Weltoffenheit zu demonstrieren –, und sie hatte niemanden um Rat gefragt, am wenigsten mich, der beileibe etwas dazu zu sagen hatte, aus intimer Kenntnis dieser Exotin. Wie weich sich ihr Gefieder anfühlte, wie zart die dazwischen freiliegende nackte Haut: Wenn ich nur an sie dachte, durchflossen mich früher in dieser Intensität nie gekannte Wonnegefühle!

Ja, ich hätte Ihre Majestät darüber aufklären können, dass die Geflügeltruppe quasi ständig unter erotischem Strom stand. Pachwajch brauchte mir bloß die Hand aufzulegen, und Katarakte sexueller Ekstasen gingen über mich hinweg – umgekehrt war sie selbst ebenso empfänglich für sensible Berührungen, wand sich in Verrenkungen ihres schlanken Leibes.

Keineswegs überraschend war für mich daher das Thema von Pachwajchs Referat: „Sexualfeindliche Mythen, von außen betrachtet”.

KÖNIGIN MANGO:
Ich hörte fast atemlos zu. Fasziniert, eigentlich wie verzaubert fühlte ich mich, so sehr nahmen mich die Gedanken der Gastrednerin gefangen. Tage danach noch las ich immer und immer wieder, was mein elektronisches Aufzeichnungsgerät auf dem Display zeigte.

„Aussagen über die Sexualität werden in der Mehrzahl der Gesellschaften im allgemeinen mit biologischen Vorgaben begründet, als nicht hinterfragungsfähig klassifiziert und solcherart mit einem naturgesetzlichen Charakter ausgestattet: Freie Sexualität wird damit unmöglich. Wahr ist aber vielmehr, dass biologische Prämissen der Sexualität unhaltbar sind, insofern es sich dabei um soziales Verhalten handelt, das wie jedes andere interaktive Gebaren nicht angeboren ist, sondern erlernt wird. Bei den meisten – auf eine Art mechanistische Ausweglosigkeit des Trieblebens abgestellten – Theorien handelt es sich folglich um Mythen! Mythen, die in vielen Sozietäten bisher eine erotische Revolution nachhaltig verhindert haben!

Diese Sexualmythen differenzieren normalerweise sehr stark zwischen den Geschlechtern, wobei konsequenterweise behauptet wird, dass das Sexualverhalten jedes einzelnen Geschlechts ebenso determiniert sei wie das allgemeine. Bei Ihnen hier…”

KÖNIGIN MANGO:
Zum ersten Mal erlebte ich, wie jemand aus der Echwejch-Gruppe (der man unsererseits offiziell mit gönnerhafter Toleranz, unterschwellig jedoch mit erheblichen Ressentiments begegnete) seinerseits bewusst und in aller Deutlichkeit sein Anderssein, und zwar im Sinne von Überlegenheit, hervorkehrte.

„Bei Ihnen hier fällt auf, dass vor allem die Frauen durch jene Mythenbildung in eine eher passive Rolle abgedrängt werden: Frauen sollen mutmaßlich weniger Trieb als Männer haben, ihre sexuellen Interessen, heißt es weiter, würden überdies auf eine stabile Liebesbeziehung abzielen, womit im weiblichen Geschlechtsleben die außerordentlich wichtige experimentelle Komponente ausgeblendet wird. Folgerichtig gibt es für Frauen dann tatsächlich weniger sexuelle Autonomie – Anpassungssexualität kann naturgemäß niemals als Sprungbrett für lustbezogenes Verhalten dienen!

Der offene Umgang der Frau mit der eigenen Sexualität setzt definitiv – und ich darf Sie jetzt an den spezifischen Erfahrungen der Geschlechtsgenossinnen meiner Gattung teilhaben lassen – persönliche Autonomie voraus. Im Klartext: wir definieren uns nicht durch das Begehren des Partners, sondern durch eigene Lust! Dazu einige Prärequisiten…

? Selbstliebe und Selbstachtung
? Eigene Liebesfähigkeit
? Frühe, aber auch permanent fortgesetzte Liebeserfahrungen

… und eine Reihe von Kompetenzen…

? Fähigkeit zur Herstellung von Nähe
? Körperliche Einlassungsbereitschaft
? Selbständige Lebensgestaltung
? Routinierte Konfliktlösung

… insgesamt ein hochsensibles Konstrukt, das weder rein willentlich noch rein emotional herzustellen ist. Hier stehen Sie, so weit ich es beurteilen kann, ziemlich am Beginn Ihres Weges!”

KÖNIGIN MANGO:
Daraufhin gab es Unruhe unter dem akademischen Bogen: Die bildungshungrigen Damen fühlten sich desavouiert, die männlichen Chauvinisten provoziert durch eine krasse Außenseiterin. Ich hingegen ging still davon – meine Gedanken kreisten um die theoretische Erklärung, die ich plötzlich greifbar in meinen Händen hielt für alle bisher nur unbewusst empfundenen Probleme mit meinem König… und allen möglichen Alternativen vor ihm, zu ihm und nach ihm.

111

Der kleine, etwas rundliche Oberleutnant Franz-Josef Kloyber vom Heeresnachrichtenamt in Wien, den alle mehr oder weniger offen verspotteten, weil er immer und überall Verschwörungen witterte, gefiel Sir Basil – schließlich wusste dieser es besser: Es gab tatsächlich immer und überall Verschwörungen. Ob das, was Kloyber da und dort entdeckte, wirklich in die Kompetenz seiner Dienststelle fiel oder eher in die des Abwehramtes, wollte er gar nicht entscheiden. Niemand und nichts, befahl er sich selbst, würde ihn von derlei Spuren abbringen können. Was er beispielsweise in seiner bürokratischen Sprache mit der Signatur 000 (für „Welt”) – 112 (für „Großbritannien”) – 421 (für „Subversive Aktionen von privater Seite”) bezeichnete, war Percys PLAN C, der – anders als die beiden anderen Vorhaben des Scarlet Pimpernel–Nachkommen – angeblich bereits voll angelaufen war.

Eines Tages wandte sich der Oberleutnant an seine mausgraue Sekretärin: „Fräulein Dobrowolny” (Sissy war ihr Vorname, aber den wagte er nicht zu benützen) „ich bräucht? Sie für einen Abend als Eskort?. Aber bitte, es wär? halt ein sehr eleganter Anlass.” – und schon biss er sich auf die Lippen: Hatte er das Mauerblümchen jetzt beleidigt? Aber nein, sie hatte ihn schon verstanden, denn sie war nicht wiederzuerkennen, als sie sich in der Babenberger Straße trafen (er kam direkt vom Dienst, war im Amt aus der Uniform in den Smoking gestiegen). Sie hatte den Nachmittag mit seiner Erlaubnis frei genommen, und das Ergebnis konnte sich sehen lassen: Abendkleid unter dem Pelz, extravagant geschminkt, toll frisiert! Apropos – ein wenig in Sorge war sie schon, nein, nicht wegen des Einsatzes, sondern wegen ihrer Haarpracht, denn es herrschte an diesem Abend dichtes Schneetreiben.

Ihr Begleiter bat sie, kurz in einen Haus-eingang zu treten, während er ein Taxi anhielt (befehlsgewohnt wie er war, dauerte das keine zwei Minuten). Im Auto entschuldigte er sich, dass er sie nicht zu Hause abgeholt hatte, wie es sich gehörte.

SISSY DOBROWOLNY:
Hab? schon verstanden, Herr Oberleu–

– es ist wegen der Tarnung, hatte sie sagen wollen, aber zu dieser zählte auch, dass er heute als Zivilist gelten wollte und ihr daher mit einer – für das wache Auge des Chauffeurs – zärtlich scheinenden Handbewegung die Lippen verschloss. „Nenn’ mich Franzl”, flüsterte er ihr zu, indem er tat, als wolle er an ihrem Ohrläppchen knabbern, wonach ihm ohnehin mächtig der Sinn stand, seit sich das hässliche Entlein in einen ansehnlichen Schwan verwandelt hatte. Sie erwiderte seine Zärtlichkeit.

SISSY DOBROWOLNY:
(raunend) Ich heiße Sissy…

Und er: „Ich weiß…”

Dann ließ er sich von ihrer Metamorphose erzählen (im Grunde war?s eine grobe Unhöflichkeit, aber das merkte sie in ihrer Naivität nicht). Ihre beste Freundin, so stellte sich heraus, hatte Sissy schon lange überreden wollen, etwas für ihr Äußeres zu tun, und nun, da diese endlich Bereitschaft dafür zeigte, wurden für sie Kleider- und Wäscheschränke sowie der Kosmetikkoffer geöffnet, und das Verschönerungswerk nahm seinen Lauf.

Der wackere Oberleutnant fand endlich seine Manieren wieder, und um etwas gutzumachen, setzte er gleich noch mehr als vielleicht notwendig drauf. „Ich begehr’ dich!” sagte er rundheraus: „Fühl’ nur, wie mein Herz rast!” Und er führte ihre Hand ebendort hin – mit eiserner Disziplin, muss man sagen, denn am liebsten hätte er ihre zarten Finger, deren Anmut ihm noch nie zuvor aufgefallen war, ganz woanders ruhen lassen (der Taxifahrer setzte mittlerweile ein breites Grinsen auf).

Sissy wusste natürlich nicht so genau, was im Inneren eines Oberleutnants ablief, aber ihre Vermutung, er würde im Grunde genauso ticken wie jeder andere heterosexuell veranlagte Mann, war sicher goldrichtig. Schon begnügte er sich nicht mehr mit dem Erstaunlichen, das er sah, dachte bereits einen Schritt weiter und wollte unter der veränderten Hülle verführerische Nacktheit erkennen, die nur auf ihn zu warten schien, aber an dieser Stelle wurde er eingebremst.

SISSY DOBROWOLNY:
Es ist nicht ganz falsch, was du dir da gerade zusammenreimst, Franzl, aber erwart’ bitte nicht zuviel auf einmal!

Plötzlich überkam den Offizier bodenloses Misstrauen – alles so glatt, so klar: die perfekt erfundene Vita einer Agentin! Welche unscheinbare Vertragsbedienstete würde sich wirklich in Blitzesschnelle in eine mondäne Dame verwandeln können und praktisch im selben Atemzug hinter den äußerlich ausgesandten Reizen die Verheißung weiterer und vor allem abgründiger Sinnenfreuden aufblitzen lassen? Das alles noch dazu für einen mäßig großen dicklichen Mann, dem lediglich die militärische Charge und der darübergestülpte Abendanzug Halt verliehen!

Gehörte sie der US Defense Intelligence Agency (DIA) an, dem militärischen Pendant der CIA?

Mit einem Mal war der feixende Taxifahrer vergessen, dessen Blicke via Rückspiegel ebenfalls in dieses Schwarz des Haars, der Augen, der Robe und des Nerzes versanken, die alle zusammen das strahlende Dekollete zu umrahmten. Franz-Josef Kloyber war schon wieder weit fort – und die Bilanz seiner Überlegungen war irgendwie niederschmetternd.

Sicher, die Amis ließen die einzelnen von ihnen abhängigen Länder pro forma weiterwursteln, wie diese es immer getan hatten: Zu groß wäre der Aufwand gewesen, eine Harmonisierung oder sogar eine völlige Gleichschaltung aller Territorien des US-Imperiums durchzusetzen (in Washington war das längst durchkalkuliert worden). Die Kommandostrukturen jedoch – da war er sich ganz sicher – hatte man ganz oben mit jenen der Hegemonialmacht vernetzt. Zwar gab es noch die Regierung in Wien und das österreichische Bundesheer und innerhalb dessen das Nachrichtenamt und dort ihn selbst, aber seine Berichte landeten vermutlich in letzter Konsequenz unbeachtet in einem amerikanischen Geheimdienst-Archiv. Wenn es allerdings der fernen Zentrale eines Tages um etwas besonders Wichtiges ginge, würden sie ohne Zweifel jemanden schicken, um die Sache ernsthaft in die Hand zu nehmen!

War das Sissy? – Aber die war doch längst da! Wozu hätte man die exorbitanten Fähigkeiten einer Spezialagentin blockieren sollen, indem sie nichts anderes zu tun hatte, als Kloybers Konzepte über diverse Konspirationstheorien abzutippen?

Oder hatte er tatsächlich seinen Finger zufällig immer auf die Hot Spots der geheimdienstlichen Szene gelegt? War das, was er als bedrohlich empfand, aber noch immer irgendwie als besondere Eigenschaft seiner Heimatstadt zu erklären suchte (als einer Drehscheibe für derlei Aktivitäten), nur die Spitze eines Eisberges von Horrorszenarien? War man schon vor so langer Zeit auf ihn aufmerksam geworden, dass Sissy – oder wie immer sie wirklich heißen mochte – ihn schon beruflich begleitete, seit er überhaupt zurückdenken konnte? Versuchte man, auf diese unauffällige Weise, indem man ihn nämlich als Gesamtperson manipulierte, ohne dass es ihm überhaupt bewusst wurde, seine Erkenntnisse abzuschöpfen?

Der Gedanke faszinierte ihn, und nun nahm er auch wieder Sissys Schönheit wahr. Egal, auch wenn sie es nur ihrer Rolle zuliebe tat – tun musste: Er würde sie besitzen! „Would you eventually, always providing this evening develops in a satisfying way, go to bed with me?” fragte er.

SISSY DOBROWOLNY:
Aber Franzl, weil ich den ganzen Flitter auf mir hab’, darfst’ doch nicht gleich glauben, aus mir wär’ rundherum eine vornehme Dame g’worden, die perfekt Englisch kann und so.

Er war keineswegs überzeugt. Dessen-ungeachtet beugte er sich über seine Begleiterin und küsste sie leidenschaftlich. Er war nun fest entschlossen, sich zu holen, was er innerlich längst begehrt hatte!

SISSY DOBROWOLNY:
Vorsicht, Franzl, wir müssen noch unter die Leut’!

Er verstärkte sein Drängen. Das Geplänkel wogte hin und her, bis der Chauffeur den Herrschaften meldete, man wäre vor der Britischen Botschaft angelangt. Vom Auto zum Eingang (außer Hörweite) noch einmal ein verzweifelter Versuch des Oberleutnants, jetzt mit totaler Offenheit: „Du bist hoffentlich keine US-Agentin?”

Sie konnte wahrheitsgemäß leugnen (unschuldig und naiv), denn sie lieferte ihre Informationen ausschließlich an Sir Basil, seit dieser sich langsam wieder im geheimdienstlichen Geschäft etabliert hatte, nicht zuletzt um einen ausgewogenen Wissenstand der beiden Supermächte zu gewährleisten. Die Kontakte der obersten politischen Spitzen, von denen er wohl wusste, schienen ihm dieses Ziel nur unzulänglich zu garantieren.

Beim Empfangspult der Botschaft nannte Franz-Josef Kloyber seinen und Sissy Dobrowolnys Namen, und sie durften passieren. Kaum hatten sie dem Mann am Tresen, der ihnen beiden äußerst seltsam erschienen war, den Rücken gekehrt, als dieser schon mit malt-getränkter Stimme in ein Mikrofon an seinem Kragen sprach: „Thy bloody-goddam coople is heere, Seer Bayzeele!” So kam es, dass sich an der Flügeltüre zum Festsaal sofort zwei feierlich gekleidete Menschen um das ankommende Pärchen kümmerten: „Sir Basil Cheltenham”, stellte sich der Herr selbst vor, und seine Dame als „Clio Alexandrine Andromède Annette Aphrodite Countess B., my beloved niece.”

„First Lieutenant Franz-Josef Kloyber and Miss Elizabeth Dobrowolny, my assistant!” konterte unser Nachrichtenmann.

„Miss Dobrowolny”, sagte Sir Basil versonnen: „I don?t know why, but the words of W. B. Yeats flow through my mind in this very moment: And the great water sighed for love…”

SISSY DOBROWOLNY:
(scheinbar zögernd) … and the wind sighed too…

„Ganz genau, meine Liebe!” Cheltenham wechselte ins Deutsche, was ihn, obwohl er es natürlich beherrschte, große innere Überwindung zu kosten schien. „Ich erinnere mich jetzt an Ihren Namen! Wie geht es übrigens Ihrem Bruder?”

SISSY DOBROWOLNY:
Der Max – wissen?S, er jagt halt immer weiter seiner verrückten Idee nach –

„Tun wir das nicht alle?” antwortete Sir Basil souverän: „Übrigens, wenn Sie Max treffen, übermitteln Sie ihm meine Grüße – ich würde ihn ganz gern wiedersehen, um mit ihm weiter über seine Theorie zu diskutieren.” Und beiläufig zu Franz-Josef gewandt, der inzwischen von der himmlisch schönen Begleiterin Cheltenhams mit ihrem Lächeln in Schach gehalten worden war, sagte er: „Wir sehen uns noch, mein Freund! Ich melde mich!”

Schon war er mit seiner angeblichen Nichte im Gedränge der übrigen Gäste verschwunden. Dem Oberleutnant stand der Mund offen, und er erregte damit sichtlich Mitleid.

SISSY DOBROWOLNY:
Du Franzl, wir sollten jetzt geh?n, glaub? ich. Komm? mit zu mir, da gibt?s einiges, was ich dir zeigen kann…

Das erste – was sie ihm sofort zeigte – war ein Zettel, den die überirdische Dame…

SISSY DOBROWOLNY:
… wie eine richtige Fee schaut’s aus…

… ihr beim Abschied zugesteckt hatte: Hier erfuhr man, wie Sir Basil gegebenenfalls zu kontaktieren war.

Sissys Wohnung, in die sie ihn mitnahm, war an sich dazu angetan, seine Zweifel an ihrer wahren Identität zu zerstreuen: Vorstadt, Althaus, zweiter Stock ohne Lift, Küchendünste auf den Gängen und im Stiegenhaus, eine mittelbraune Eingangstür. Drinnen eine gediegene Ein¬richtung – sie bestätigte es ihm: Es war unverändert, wie sie es von ihren Eltern übernommen hatte. Äußerlich freundlich, innerlich misstrauisch fragte der Oberleutnant: „Und wo sind die Eltern?”

Die Auskunft, sie seien beide bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen, machte die Gastgeberin in seinen Augen sofort wieder verdächtig: Was gäbe es Besseres für die künstliche Biographie einer Agentin als Eltern, die man nicht herzeigen musste, und wie leicht konnte man zu einem toten kinderlosen Ehepaar, das in den amtlichen Registern tatsächlich existierte, mittels gefälschter Dokumente eine echt aussehende Tochter erschaffen!

Sissy war weiter unbeirrt (oder spielte jedenfalls überzeugend die Naive), bot ihrem Gast ein Glas Veltliner an…

SISSY DOBROWOLNY:
Nichts Besonderes, Franzl, von ganz droben im Weinviertel, wo meine Familie herstammt und wo der Boden und die magere Sonn’ nur mehr ein bissel was Säuerliches hervorbringen – gut zu einem kräftigen Essen allerdings.

Bei dieser Erwähnung fühlte Kloyber plötzlich, dass er einen Riesenhunger hatte, und die gute Sissy wärmte ihm etwas Gemüsesuppe und reichte ihm danach eine Portion Szegediner Gulyas vom Tag davor (das ohnehin, je länger es steht, desto schärfer und damit besser wird, wie sie ihm erklärte). Die Dobrowolny selbst aß nichts – wollte angeblich auf ihre Linie achten, da wäre eine so üppige Mahlzeit so spät abends eine grobe Sünde gewesen.

SISSY DOBROWOLNY:
Du weißt ja eh, dass wir Frauen uns mehr halten müssen, weil ihr Männer seid immer so kritisch und gleich dahin, bei den vielen schlanken Fotomodellen, die immer jung und begehrenswert bleiben.

Und außerdem, dachte der Bewirtete, wäre diese Enthaltsamkeit eine ideale Ausrede, wenn sie mich vergiften wollte – aber ein wenig paranoid kam er sich langsam schon vor, denn es schmeckte ihm in Wirklichkeit sehr gut. Als Dessert stürzte er sich auf die nette Sissy, und man darf sagen, sie hielt, was seine Träume versprochen hatten. Einmal bereit sich hinzugeben, hieß für eine Frau jenes Schlages, den sie zu verkörpern hatte, dies bedingungslos und umfassend zu tun. Der Oberleutnant versank ganz tief in ihr, vergaß sogar für diesmal, wie pummelig er war, und in seinem vorerst letzten hellen Moment, bevor sein Verstand endlich ausschaltete, begann er ihre Existenz zu glauben, wie er sie sah.

112

Wäre schön, wenn wir uns die Station VIÈVE einmal aus der Nähe ansehen könnten.

ERZÄHLER:
Aber das können wir, Brigitte! Es steht uns frei, mal innerhalb, mal außerhalb unserer Geschichte zu stehen. Wenn wir wollen, können wir auf unserem Beob-achtungsposten verweilen und bloß zusehen, wie diese kleinen possierlichen Figuren über ihre jeweiligen Sphären krabbeln. Wenn wir allerdings den Drang verspüren, feine Klamotten anzuziehen und tanzen zu gehen (denn seit unserer Jugend sind wir es gewöhnt, uns zu diesem Zweck ein wenig herauszuputzen), dann wäre es auch möglich, diesen Gelüsten im „King’s & Queen’s Club” in Keyhis und Mangos Reich nachzugeben.

Aber dabei handelt es sich doch mehr um einen Erotikschuppen, wo man einerseits nicht selbst tanzen kann (es sei denn, man stiege auf die Bühne und stellte sich zur Schau) und sich andererseits auch nicht besonders zu kleiden braucht.

ERZÄHLER:
Nicht doch – mittlerweile hat der rührige Ikqyku Diaxu bereits eine Ausweitung seines Etablissements vorgenommen: Es gibt einen zweiten Saal, genannt „The Gatsby Dance Club”, der nichts von der intimen Atmosphäre des ersten hat, sondern monumental gestaltet ist (die Vorlage fand sich abermals in den Tiefen des stationseigenen Datenarchivs). Dort wird gepflegte Musik gespielt, und die Damen zeigen von ihrer nackten Haut nicht mehr, als gesellschaftlich gerade noch sanktioniert ist.

Was wir Frauen (ich sage das, weil auch ich bereits in einem eleganten, schulterfreien Kleid in deinen Armen dahinschwebe) allerdings in dem einen wie dem anderen Ambiente bezwecken, mag vielleicht ein und dasselbe sein. Insbesondere die Anwesenheit der geilen Echwejchs deutet darauf hin, dass selbst die vornehme Umgebung nicht die Entstehung ähnlich schlüpfriger Affären hintanhält, wie sie für den Bereich jenseits der dicken doppelten Flügeltüre charakteristisch ist. Aber auch die anderen Tänzerinnen und Tänzer scheinen es gewohnt zu sein, je nach Tageslaune zwischen „K & Q” und „Gatsby” hin und her zu wechseln. Man sieht heute auf dieser Seite die Königstochter mit ihrem Bruder, beide für diesmal majestätisch gewandet, während XX doch drüben eine akklamierter Nacktstar ist. Man sieht die Lhik-Damen, die bei ihrer Bühnendarbietung purpurrot glühen, herüben in züchtigem Blassrosa, und ihre männlichen Artgenossen streuen hier keinen Samen aus. Nur diese Miss Serpentina, von der wir noch einiges hören werden, würde man im „Gatsby” vergeblich suchen.

ERZÄHLER:
Wenn wir uns schon entschlossen haben, an dieser Stelle in die Geschichte, die du gerade so anschaulich machst, einzutreten, dann können wir natürlich auch unsere alten Bekannten aus der Filmbranche herzitieren, den großen Regisseur mit seiner Drehbuchautorin und langjährigen Nebenfrau Claudette Williams, die wiederum den Filmproduzenten Sid Bogdanych (dessen uneheliche Tochter und möglicherweise inzestuöse Gelegenheitsgeliebte sie ist) mitbringt – und dieser erscheint seinerseits mit einem der vielen Mädels, die sich ihm bedenkenlos auf seiner Besetzungscouch dargeboten haben und von denen er die wenigsten zu echten Stars befördert hat.

Kein Problem – ich bin beileibe nicht konservativ oder gar prüde…

ERZÄHLER:
… man erinnert sich in diesem Zusammenhang an unsere gemeinsamen Auftritte im Hamburger „Flaubert”-Club, wo öffentlicher Geschlechtsverkehr unser Job war…

… aber dennoch die Frage: Gibt es denn keine normalen Menschen mehr?

ERZÄHLER:
Die Waffenbrüderschaft zwischen Genie und Wahnsinn verhindert das. Es ist, als ob du fragen würdest, wo denn die berühmten Enden des Kreises einander berühren! Die Leute lieben, haben aber dabei keinerlei Beziehung, andere wieder sind eng verbunden, lieben aber nicht.

DER GROSSE REGISSEUR (JEDER KENNT SEINEN NAMEN), DIE DREHBUCHAUTORIN CLAUDETTE WILLIAMS, DER PRODUZENT SID BOGDANYCH UND MISS – ÄH – WASSERSTOFFBLOND/ATOMBUSIG/UND/AUCH/SONST/KURVIG/SOWIE/EXTREM/LANGBEINIG:
(in der Nähe tanzend) Hallo, Freunde, auch wieder einmal im Lande?

Sie tun so, als ob sie schon lange hier herumtingelten und wir eben erst dazugekommen wären!

ERZÄHLER:
Das müssen sie doch, Brigitte! Den Figuren einer Geschichte bleibt – wenn sie zuallererst in diese hineingestoßen werden – gar nichts anderes übrig, als gleich mitzuspielen. Erst viel später vielleicht, wenn sie sich umgesehen und zurechtgefunden haben, entdecken sie ein wenig Platz für eigene Ideen und Aktivitäten.

DER GROSSE REGISSEUR:
(immer mit bestimmten Ahnungen konfrontiert, wer er wirklich sei) Ich denke, wer uns geschaffen hat, wird uns auch irgendwie mögen und sich freuen, dass wir in einer Neuauflage wieder dabei sind!

He, Leute, was sollen diese tiefschürfenden Erörterungen – sind wir nicht heute da, um uns zu amüsieren in dieser wunderschönen Salle de balle?

ERZÄHLER:
Diesmal hält Diaxu im „Gatsby” sogar eine Besonderheit bereit: Eine Sängerin, die sowohl die Flötenarien der Lhik-Musik als auch die gutturalen Gesänge der Menschen des jenseitigen Universums beherrscht. Sichtbar wird sie inmitten eines üppigen Blüten- und Blätterhorizonts, den unsichtbare dienst¬bare Geister vor ihrem Auftritt flugs errichteten.

Sie singt die schreckliche Moritat vom Tyrannen Iadapqap Jirujap Dlodylysuap, der alles wollte und alles verlor:

Lolaj Dop?qilaj Joj?ylui
Xo Byjukup Zau?apxij Dfylui,
Kyjok Oliq O?u Dlodylysuap
Mlio?qoloi Iadapqap Jirujap.

If?qol Ody Oq Uvu Safdu Fod?iqap,
Nyp?qlojy Oruqa O?uap Dfylu?iqap.

Qelik?kap Pamolv?p Po Immofi?viq,
Mymafap Nau?fuviq Xo Oy Killi?viq.
Xouk?xo Xoqafuq Iddlop?puykoj
Ix I Akusolpu Mlym?ylquy?koj.

If?qol Ody Oq Uvu Safdu Fod?iqap,
Nyp?qlojy Oruqa O?uap Dfylu?iqap.

Und das Gleiche anschließend in der Stimmlage c’’’’, unter heftiger emotionaler Bewegung des Publikums. Vor allem die Lhiks sind außer Rand und Band, da sie ihre eigene Sprache hören:

Liliz Cis*filiz Zizy*lii
Xi Cyzikis Zii*isxiz Cfylii,
Kyzik Ilif Ii Cli*cyly*siis
Xlii*filii Iicis*fis Zirizis.

Iffil Icy If Ivi Sifci Ficifis,
Cys*flizy Irifi I*iis Cfyli*ifis.

Filikkis Sixil*vs Si Ix*xifivif,
Xyxifis Cii*fivif Xi Iy Killivif.
Xiik*xi Xifi*fif Ic*clissi*ykiz
Ix I Ikisilsi Xly*xylfi*ykiz.

Iffil Icy If Ivi Sifci Ficifis,
Cys*flizy Irifi I*iis Cfyli*ifis.

Danach nochmals eine Steigerung – eine der Echwejch-Frauen! Diaxu kennt sie bereits sehr gut (und wir wissen, was das bei ihm normalerweise bedeutet: von oben bis unten, von außen und innen). Es ist Pachwajch, die den Vortrag in der Akademie gehalten hat. Jetzt allerdings ist sie kaum wiederzuerkennen, so mondän gestaltet sich ihr Auftritt.

ERZÄHLER:
Sie besitzt einen bemerkenswert langen Hals, was unter den Echwejchs als besonderes Schönheitsideal gilt, und ist daher als Sängerin geradezu prädestiniert. „Meine Damen und Herren”, kann man den Maitre de Plaisir vernehmen, nachdem er um Aufmerksamkeit gebeten hat, „lassen sie sich von einem Schwanengesang verzaubern!” Der riesige Raum wird völlig abgedunkelt, bis auf einen silbrigen Lichtkegel, in den die Künstlerin glitzernd hineintritt.

Nicht nur die ansässigen Personen, auch wir – die wir von weit her kommen, teilweise sogar von außerhalb dieser Geschichte – sind total gefangengenommen. Die Singsprache des Echwejch-Volkes ist nämlich völlig anders geartet als die Sprechsprache: nicht die vielen Js und CHs, nicht diese ans Flügelrauschen erinnernden, eher unangenehmen Tonfolgen, sondern betörend klingende Vokale und Vokalskalen.

So-a a-a-i mi-is
Nisna-i-e e-is
So-a a-a-i mi-is
Oi-e oi-is nie-e-es
E-in a-uo ne-ao-ennes
E-in a-uo ne-ao-ennes
Io sne-ises eo-o
Io sne-ises eo-o
A-un o-eo a-ess
O-u sua a-inn-ne
So-a a-a-i mi-is
O-ea oa-onne eo-o
A-ia-a–––––––––––––a

Pachwajch singt sicher nicht vom Diktator der jenseitigen Realität, sondern bringt etwas aus den Tiefen unseres eigenen Universums zu uns. Ich verstehe zwar kein Wort, bin aber überzeugt, sie berichtet von den Glückseligkeiten des kleinen Todes, und wie berauschend es wäre, an dieser Stelle gleich den Übergang ins allgemeine Vergessen zu suchen. Wir sind plötzlich sicher, dass wir dieser Musik überall hin folgen würden, sogar in den eigenen Untergang. Welch gefährliches Geschöpf!

In die Stille nach dem Lied hört man jemanden summen und sagen: „Das klingt wie ??????????? aus der Heimat meiner Mutter!”– aber niemand beachtet ihn.

DER GROSSE REGISSEUR (JEDER KENNT SEINEN NAMEN), DIE DREHBUCHAUTORIN CLAUDETTE WILLIAMS, DER PRODUZENT SID BOGDANYCH UND MISS – ÄH! – WASSERSTOFFBLOND/ATOMBUSIG/UND/AUCH/SONST/KURVIG/SOWIE/EXTREM/LANGBEINIG:
Wir sind bereits in der Hölle, wohin also sollten wir dieser Melodie noch folgen?

Die anwesenden Echwejchs lächeln. Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft auf der Station erkennt der eine oder andere Bewohner von VIÈVE, dass dieses Lächeln böse ist.

113

Ich sah die Szene quasi auf zwei Ebenen: Einmal mit dem geschulten Blick der Drehbuchautorin, die alles schon beim Zusehen in einzelne Takes zerlegt, versehen mit allen technischen Anmerkungen, daneben aber mit den Augen einer Frau wie jeder anderen, der sich in besonderer Weise die futuristisch anmutende Poesie des Geschehens erschließt.

Bevor nämlich seine Konstrukteurin (respektive Quasi-Mutter und auch fallweise Bettgefährtin) Anastacia Panagou den Androiden AMG auf dessen besonderen Wunsch sowie auf Fürsprache ihres Freundes Giordano Bruno in die Wanderjahre entließ, sollte ein ziviler Name für den Maschinenmenschen gefunden werden. Dem AMG selbst schwebte etwas Spektakuläres vor – in Anlehnung an sein natürliches Vorbild (und an das zugehörige Pendant) wollte er sich Augustus Basil Cheltenham-McGregor nennen. Bruno, der dem Androiden auf der soliden Grundlage genialer Panagou’ scher Hard- und Software vieles von seinen eigenen ungeahnten Fähigkeiten vermittelt hatte, riet ihm allerdings davon ab: „Bleib bescheiden, mein Junge, und versuch, mit einem unbekannten Namen Karriere zu machen statt unentwegt Assoziationen zu den in zwei Universen berühmten und ebenso berüchtigten Symbolfiguren auszulösen!”

Von jemandem, der die String-Theorie Jahrhunderte vor dem wissenschaftlichen Mainstream formuliert hatte und mit Hilfe seiner revolutionären Erkenntnisse weithin durch Raum und Zeit gekommen war, hatte ein solcher Einwand Gewicht. Anastacia schien ihrem Giorduzzo, wie sie ihn zärtlich nannte, dafür unendlich dankbar zu sein. Sie fürchtete nämlich, ihr AMG könnte unschuldigerweise die Bewunderung oder den Hass oder eine Menge sonstiger problematischer Gefühle, die man Sir Basil und dem ehemaligen Tyrannen der Spiegelwelt allerorts entgegenbrachte, auf sich ziehen: Einerseits erwuchs daraus die Gefahr, dass ihr Geschöpf in prahlerischen Größenwahn verfiele, andererseits konnten sich jene Emotionen womöglich zu einer Existenzbedrohung für den Androiden auswachsen. Sie empfahl daher dem AMG, den ehrlichen Namen der Panagous anzunehmen und verlieh ihm zusätzlich den Vornamen ihres Vaters, Vangelis. Zusätzlich erinnerte sie ihn in ihrer Besorgnis, dass sie ihm – wie vielen höherentwickelten virtuellen Organismen ihrer Produktion – die Kompetenz verliehen hatte, sein Erscheinungsbild selbständig zu rekalibrieren. Falls man sich ihm daher aufgrund seiner faszinierenden Ähnlichkeit zu jenen öffentlichen Persönlichkeiten auf die Fersen heften würde, könnte er sich damit ganz leicht solchen Nachstellungen entziehen.

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

Man kann nicht genau sagen, auf welche Weise Vangelis Panagou reiste – das war sein und seines geistigen Ziehvaters Bruno kleines Geheimnis. Vermuten lässt sich aber wohl, dass etwas von der Technologie im Spiel war, die auch in der NOSTRANIMA steckte. Unter den vielen Orten, die der Android besuchte, war auch das kleine Reich des Königs Keyhi und der Königin Mango. Was mochte nicht alles vorgefallen sein zwischen seinem Aufbruch von Cheltenham House und dem Tag, an dem er VIÈVE betrat (das war übrigens kurz vor dem Gesangsauftritt Pachwajchs, den er schon miterlebte: Er war es ja gewesen, der am Ende der Darbietung respektlos summte und das Echwejch-Lied mit Musik aus Anastacias Heimat verglich).

Jedenfalls erschien er auf der Station als eine Art Prediger – immerhin sollte das sein Aussehen insinuieren, denn er hatte sich selbst die asketische Gestalt und das schmale bärtige Antlitz eines Christos Pantokrator gegeben. Man nahm allerdings dennoch nicht allzu viel Notiz von ihm auf VIÈVE, denn schließlich hatten die Bewohner schon kuriosere Gestalten gesehen. Viele waren es also jeweils nicht, die ihm zuhörten, wenn er sich irgendwo aufpflanzte und dozierte, aber was er verkündete, erregte doch ein gewisses, wenn auch begrenztes Aufsehen: „Religion sollte sein – Aufdeckung von Abhängigkeiten und deren Bekämpfung!”

KÖNIG KEYHI:
Allerdings konnte man mit seiner Botschaft hierorts nicht wirklich viel anfangen. Politisch (insofern jede Religion auch gesellschaftlich relevant ist im Kontext ihrer Zeit) gab es keinen Anknüpfungspunkt: Wer sollte schon extreme Abhängigkeit empfinden gegenüber einem Monarchen, der im Gewand eines Gentilhomme aus Louis Napoléon Bonapartes Deuxième Empire herumlief und im Prinzip niemandem etwas zuleide tat? Auch sozial war’s nicht nachzuvollziehen – wir hatten hier alles, was wir brauchten, aber auch nicht mehr, sodass man nicht behaupten konnte, wir lebten im Überfluss und müssten dafür Buße tun. Blieb tatsächlich der rein metaphysische Ansatz der Angelegenheit – aber auch dieser prallte an der prosaischen Natur meines Völkchens ab. Wenn es welche gab, die schon früher nicht bloß reine Soldaten, Techniker oder Wissenschaftler gewesen waren, konnten sie auf dieser Station, die keinem der seinerzeitigen Ziele mehr verpflichtet war, ohne Gewissensbisse ihrer Philosophie der bescheidenen Sinnenfreude frönen.

Das bedeutete insgesamt, dass Vangelis sehr viel Zeit zum Spazierengehen hatte, und auf diese Weise dauerte es gar nicht lange, bis er einer sehr merkwürdigen Gestalt begegnete. Sie ähnelte primär einer missglückten Schlange, wies aber daneben auch seltsam geformte menschliche Körperteile auf. Als der Android sie das nächste Mal sah, absolvierte sie gerade ihren Auftritt auf der Showbühne von Ikqyku Diaxus Etablissement, das sich im Lauf der Zeit zu einem der wichtigsten Kommunikationszentren der Station entwickelt hatte. Der geschäftstüchtige Besitzer war inzwischen durchaus geneigt, auch die eine oder andere Abnormität zu zeigen – er hatte festgestellt, dass sich selbst dafür ein zwar kleines, aber nicht minder interessiertes Publikum fand.

Nachdem sich die Person als Miss Serpentina vorgestellt hatte, fragte Vangelis wie aus der Pistole geschossen: „Die Schlange der Panagou, wie ich vermute?”

Diese erholte sich ganz rasch von ihrem Schock: „Dann verbirgt sich hinter Ihrem Pseudonym wohl der Android AMG?” konterte sie. Wie er an ihr hatte sie an ihm die elektronische Ursprungssiegelung erkannt, die Anastacia ihren Geschöpfen mitgab, um sie jederzeit von irgendwelchen Plagiaten unterscheiden zu können.

KÖNIG KEYHI:
Was der Neuankömmling nicht wissen konnte – Miss Serpentina genoss auf VIÈVE ein hohes (wenn auch etwas reserviertes) Ansehen, und das kam so: Ursprünglich war das Reptil von der Androidin Anpan vorgeblich als eine Art Maskottchen für Mango Berenga hiergelassen worden. Ich ahnte natürlich, dass dies hauptsächlich aus Misstrauen mir gegenüber geschah, denn so harmlos wie sie schien, mochte die Schlange wohl nicht sein: Sie lag meistens einfach faul herum, ohne besonders aufzufallen, konnte aber bei einem Angriff auf ihre neue Herrin blitzartig zu deren Schutz aktiviert werden. Dennoch führte ich mit diesem Wesen sogar gepflegte Unter¬haltungen, denn wenn sie auch keine riesigen Datenverarbeitungskapazitäten besaß, war sie doch mit dem kulturellen Standardwissen ausgestattet. Bei ihren Studien der Sprache der Spiegelwelt stand ich ihr dann und wann zur Verfügung: Es amüsierte mich ungemein, als sie damit begann, unseren großen Philosophen Ilkyfx Qyekvoo im Original zu lesen. Mehr noch belustigte mich ihr Traum, zur verführerischen Kopie einer Menschenfrau zu mutieren und einen der Männer von VIÈVE (womöglich sogar mich selbst) zu betören – indes brachten ihre Kalibrierungs¬versuche durchwegs monströse Ergebnisse. Entsprechend unglaubwürdig erschien uns allen ihre Behauptung, den Lhiks hafte – möglicherweise ohne dass es ihnen bewusst war – eine böse Magie an, und dennoch lag sie damit völlig richtig: Das Projekt „Späte Rache” des Tyrannen der jenseitigen Völker, das mir bis dato unbekannt geblieben war, sah nämlich vor, Lic und seine Freunde unbehelligt emigrieren zu lassen, ihnen aber einen Zauber mitzugeben, der sie zum richtigen Zeitpunkt derartig wuchern ließ, dass sämtliches Leben auf der Station erstickt worden wäre. Aufgrund der Warnungen der Schlange wurden die Lhiks rechtzeitig von diesem Fluch geheilt, und so kam es, dass wir Miss Serpentina nicht mehr und nicht weniger verdankten als unser Leben.

Zwischen der Schlange und Vangelis entwickelte sich eine richtige Romanze, nachdem er ihr, seiner Quasi-Schwester, geholfen hatte, sich endgültig in die humanoide Gestalt einer jungen Dame zu verwandeln – seine diesbezüglichen Möglichkeiten waren eben ungleich größer als ihre, und so wurde ihr allersehnlichster Wunsch erfüllt. Was sie allerdings danach erst langsam zu begreifen begann, war die Kapazität zur Höherentwicklung, die er ihr zusammen mit dem ausgeweiteten Körpervolumen verliehen hatte. Sie sah sich in den Stand versetzt, exzessiv zu lernen, das heißt eine Vielzahl neuer Synapsen zu bilden, deren Repertoire ihr zu wesentlich größerer Menschenähnlichkeit verhalf, als sie je zu hoffen gewagt hatte.

Befremdet registrierte Vangelis in diesem Zusammenhang die Gefühle überschwänglicher Dankbarkeit, die ihm plötzlich entgegenschlugen und die weit über das sachlich-technische Kommunikationsniveau hinausgingen, das zwischen den beiden bis vor kurzem geherrscht hatte. Bei sich selbst stellte er – ebenfalls zunächst eher unangenehm berührt – fest, dass er die Kleine sehr schön fand. Aus irgendwelchen Tiefen seines Speichers für menschliche Standardphrasen holte er eine ihm passend erscheinende Plattitüde hervor: „Bist du aber süß!”

Serpentina war über das Glücksgefühl, das sie deshalb durchschwebte, vielleicht noch mehr irritiert. Sie, die jegliche Aufmerksamkeit bis jetzt nur durch Unangepasstheit und beißenden Zynismus sowie durch ihren schockierenden Anblick zu erregen gewusst hatte, wurde plötzlich wegen ihrer Wohlgestalt positiv bewertet. Ihr adaptiertes Model for Emotional Response hatte noch bei weitem nicht genug Training gehabt, um diese Situation zu bewältigen.

Da aber konnte sie ihr Quasi-Bruder trösten: Auch sein eigenes MER, an der Person der Konstrukteurin selbst geschult und durch eine ausgedehnte Bildungsreise routiniert gemacht, wurde mit dem aktuellen Zustand nicht recht fertig. Dies vor allem deshalb, weil in der Grundkonzeption des Programms die simulierten Gefühlsbeziehungen mit Menschen und nicht solche mit anderen Androiden angelegt waren. Was Vangelis und Serpentina erlebten, könnte man daher eine massive Rückkopplung nennen.

KÖNIG KEYHI:
Man könnte auch einfach sagen, dass Vangelis plötzlich intensive Erektionen hatte, wenn er die Kleine auch nur ansah. Vergessen schien auf einmal die Predigerpose. Diaxu, der für mich nebenbei auch ein wenig als Spitzel tätig war und den ich – trotz aller Dankbarkeit für unsere Errettung – schon vor geraumer Zeit auf die Umtriebe dieser Miss Serpentina und neuerdings auch auf jene ihres neuen Freundes angesetzt hatte, berichtete mir von diesen Szenen: dass sie ihm an den Hosenlatz fasste und erfühlte, was sich dort vorzuwölben begann, und dass sie ihrerseits seine Hände an ihre in Alarmbereitschaft getretenen Geschlechtsmerkmale führte. Wir staunten.

114

Lady Charlene, die Baroness Cheltenham, verwaltete das Gut ihres Mannes vorbildlich. Nicht dass sie ihre Sachwalterschaft über Sir Basil aktiv betrieben hatte, aber sie empfand jetzt eine große Distanz zu dem einst Geliebten und genoss es, fürderhin nicht mehr eng an ihn gebunden zu leben. Außerdem hielt sie aus ihrer Sicht den Zustand, in dem sie ihn seinerzeit bei Dr. Berenice W. Talmai zurückgelassen hatte, für endgültig und hatte keine Ahnung, welche umfangreichen Aktivitäten er mittlerweile schon wieder entfaltete. Die administrative Herausforderung des Anwesens wurde ihr dadurch erleichtert, dass das Hauspersonal sie seit dem ersten Tag über alles verehrte, vornehmlich aber die Männer in den Schlüsselpositionen des Wirtschaftsbetriebes ihr bedingungslos zu Füssen lagen.

Ob es nun der Gesamtbetriebsführer, der Technische Leiter, dem wieder die Spartenverantwortlichen für Saatgut, Gemüse- und Obstbau unterstanden, oder der Kaufmännische Direktor waren – sie träumten geradezu von ihr, allerdings auf den unterschiedlichsten Stufen der Sozialisation: Während einer sich allen Finessen des distanzierten Minnedienstes hingab (wobei der Gipfel der Sehnsucht in einem gepflegten Abendessen zu zweit bestand), mochte der andere sich einfach wünschen, dass die Chefin eines Tages die Beine für ihn breit machte (ohne sich darüber klar zu sein, wie wenig absurd dieses Begehren in Charlenes früherem Leben in Washington gewesen wäre).

Aber all das war ohnehin nur graue Theorie – der Geist des wirklichen Hausherrn schwebte nach wie vor durch Cheltenham House, durch Werkstätten und Arbeitsräume sowie über das freie Land hinweg und bildete für seine Frau einen Schutzpanzer, durch den sie zwar fordern konnte, aber nichts geben musste, nicht einmal das letzte Glied des kleinen Fingers ihrer linken Hand.

Äußerlich war Charlenes Typ ein völlig anderer geworden. Nach dem künstlichen Stil als sexuelles Spielzeug eines infantil gebliebenen Senators und der etwas verklärten Anschauung ihrer Person während der schönen Jahre mit Sir Basil war nun sie selbst zum Vorschein gekommen, die einfach bedenkenlos sagte und tat, was sie bewegte. Besonders eindringlich war für die Leute auf dem Gut, die ihr Leben auf sie hin zu orientieren hatten, Charlenes ungeheure Präsenz: Schlanker geworden, erschien sie niemals mehr in den Landadelsklamotten von früher, sondern immer nur in mondänen hauchdünnen Fähnchen – selbst wenn sie über die Felder und durch die Plantagen ging, und es schien allen, als würde die rohe Natur sich vor ihr teilen, damit sie unbehelligt ihre Schönheit durch jedes Dickicht tragen konnte. Der Troubadour in der Führungsmannschaft brachte es auf den Punkt: „Eine Orchidee am Haselstrauch!”

Umso leichter transzendierte sie aus Hain und Flur unmittelbar in das Ambiente der Salons, gerade so, als wäre die Blätterwand, durch die sie eintrat, identisch mit einem Spiegel, durch dessen Rahmen sie auf der anderen Seite wieder erschien. Was allerdings bei ihren mehr oder weniger regelmäßigen Besuchen in London geschah, die sie stets allein absolvierte, enthielt sie vollständig der Wahrnehmung ihrer lokalen Verehrerschaft vor. Sie hatte weiß Gott am eigenen Leib erfahren, was Preis und Wert ihres Geschlechts bedeuten konnten – dementsprechend war es ihr in ihrer normalen Umgebung wesentlich, allseits zu suggerieren, dass sie keinesfalls zu haben sei. Nur nicht wieder auf diesen brutalen Markt zurück, von dem Cheltenhams Entschlossenheit sie geholt hatte!

CHARLENE CHELTENHAM:
Eigentlich sollte ich ihm dafür ewig dankbar sein und ihn für immer lieben… und ich liebe ihn ohnesdies nach wie vor… das nimmt auch kaum Wunder, wenn man sich seine überwältigende Persönlichkeit vor Augen führt, die natürlich weiterbesteht, so sehr seine konkrete Existenz auch abgebaut haben mag… natürlich liebe ich ihn… zugleich liebe ich ihn aber nicht.

Ihr Freund in London, Ziel ihrer unregelmäßigen Besuche, mit denen sie eher ihr körperliches als ihr seelische Verlangen stillte, war – nein, keine Angst, es war keineswegs der in der Damenwelt omnipräsente Romuald, der von seinem Vater eine kräftige und nimmermüde Geheimwaffe geerbt hatte, vor der so manche stolze Frau kapitulieren musste. Verrätst du uns, mit wem du die Zeit in der Hauptstadt verbringst, wenn du deine Geschäfte dort erledigt hast?

CHARLENE CHELTENHAM:
Sicher nicht, Leo – das soll mein Geheimnis bleiben. Und nun entschuldigen Sie mich – ab hier ist es privat!

Diese Abfuhr hätte ich mir in früheren Interviews von den Objekten meiner Berichterstattung wahrlich nicht bieten lassen. Jetzt aber, da Leo Di Marconi – man erinnert sich vielleicht noch ein wenig an mich – drüben in den Staaten keinen Job mehr findet und als Gelegenheitsjournalist durch Europa tingelt, ist alles anders: Ich muss so etwas wie eben glatt hinunterschlucken, muss damit leben, dass die alte Chuck, ihres Zeichens langjährige Polithure (so weit reicht ja unsere Bekanntschaft zurück) mich von oben herab behandelt und mir sogar verbietet, sie wie früher zu duzen.

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

Um die sogenannten Hausgäste ihres Anwesens kümmerte sich die Baroness herzlich wenig, am wenigsten, wie wir wissen, um jenen Romuald, der an demselben vornehmen Schutzpanzer, mit dem Sir Basil seine Frau umgeben hatte, abprallte wie ich. Für Charlene war er nicht mehr als ein besserer Zollbeamter an der Grenze zum Alpha-*-Universum, obwohl theoretisch viel mehr Macht in seine Hand gegeben war. Er tat dem Augenschein nach nichts – jedenfalls nichts Produktives. Er bewohnte einen Teil des Labyrinths, den er sich hatte umbauen lassen, mit überraschender Einfühlsamkeit, muss man einräumen, denn er achtete darauf, dass jene wundersame unterirdische Welt (in der man sich in Gedanken selbst begegnen konnte sowie seinen Ängsten und Freuden, Niederlagen und Triumphen) nicht zerstört wurde. Daneben benutzte er aber auch die Fazilitäten von Cheltenham House, wobei er sich als Hauptzeitvertreib interessanterweise eine Mätresse aus der jenseitigen Realität nahm: Diese hatte ihm sein Doppelgänger, Freund und Amtsbruder Lyjaifsxy zugeführt – es handelte sich dabei um die Agentin (oder Ex-Agentin, wer weiß?) Fialuo Xlot alias Nancy Long, die vor Zeiten den braven Filiberto Dallabona ein wenig aus der Fassung gebracht hatte.

Man sieht, dass Romuald nicht wirklich darauf angewiesen war, um jemandes Gunst zu buhlen, aber auch die anderen externen Bewohner von Cheltenham House, allen voran natürlich Giordano Bruno und Anastacia Panagou, schienen sich eine persönliche Zuwendung der Hausherrin nicht zu erwarten. Ihnen allen reichte völlig die Bequemlichkeit, die der Herrensitz mit all seinen Gütern zu bieten imstande war, nicht zuletzt durch die geschäftliche Umtriebigkeit der Verwalterin. Diese hatte aber neben ihrer Arbeit (und nicht zu vergessen den gelegentlichen Abstechern nach London) ein Hobby, das sie persönlich sehr erfüllte und sie auch deshalb innerlich sehr befriedigte, weil es eines jener besonderen Projekte gewesen war, die sie und ihr Mann gemeinsam verfolgten. Es handelte sich um die die Ausgestaltung einer der beiden Kapellen des Anwesens – der größeren, die man schon lange ihres sakralen Zwecks entkleidet hatte – mit neu zu schaffenden Statuen, im Sinne einer Transformation des alten Gemäuers in einen völlig neuen Kunstraum.

Dazu hatte man sich der Fähigkeiten des bekannten amerikanischen Bildhauers Cyprian Bishop verpflichtet, der angesichts der – wie er immer betonte – für ihn unerquicklich gewordenen Situation im US-Kernland nur zu gerne seine Aktivitäten in die Provinz…

CHARLENE CHELTENHAM:
Sir Basil würde indigniert die rechte Augenbraue hochziehen, wenn er dieses Synonym für sein Good Old England vernehmen müsste!

… dann also meinetwegen nach England verlagerte. Dafür (und nicht zuletzt selbstverständlich auch für ein stattliches und vor allem für die nächste Zukunft monatlich auszuzahlendes Honorar) ließ er dem Auftraggeberpaar bei der Wahl der Sujets freie Hand.

Cheltenham hatte es dabei mit den Aufklärern, und wer ihn näher kannte, wusste auch um die subtile Ironie, die ihn eine religiöse Kultstätte mit antiklerikalen Figuren bestücken ließ. Charlene selbst hatte damit weniger Vergnügen (sie tendierte mehr zu einem quasi steinernen Fotoalbum, das Menschen aus ihrer gemeinsamen Zeit darstellen sollte), aber wie so oft ließ sie Basil seinen Willen. Allerdings war bis zum Abgang des Baronets in die Obhut der Walemira Talmai noch nicht viel geschehen: Lediglich ein lebensgroßes expressionistisches Monument von Francis „Wissen ist Macht” Bacon stand vorerst in der sonst leeren Kapelle.

Charlene stoppte weitere Arbeiten Bishops in diese Richtung und unterbreitete ihm ihre neuen Vorschläge, als da waren: erstens Sir Basil selbst, Sherman Yellowhawk, Murky Wolf, aber auch Margharita Sanchez-Barzon und Trudy McGuire.

CHARLENE CHELTENHAM:
So weit fürs Erste. Ich versorgte Cyprian mit Fotos – Ganzkörperbilder, Porträts, en face, en profil, von links, von rechts. Dazu Informationsmaterial, in dem charakterliche Eigenschaften der Ausgewählten beschrieben wurden. Der Bildhauer ging an die Arbeit, nicht ohne sich die Bemerkung zu erlauben, dass er lieber mich… und das am liebsten naturalistisch (Sie wissen, was ich meine!)… Aber ich hielt ihn mit einem scharfen Satz auf Distanz, wie jeden hier vor Ort.

Bishop konnte es gar nicht fassen – das war keine Amerikanerin mehr! Es fehlte ihr bereits zur Gänze die laute Überschwenglichkeit, mit der man einander drüben begegnet, selbst in Zeiten wie diesen. Na schön, dachte er resignierend, das ist der Preis für ein gut gepolstertes Exil!

115

Um etwas bei seiner Frau gutzumachen – er kriegte natürlich mit, wieviel ihr die Akademie bedeutete – und um das mittlerweile entstandene öffentliche Gerede, warum denn der König diese Institution (außer in puncto „endless thigh”) demonstrativ negiere, zu bremsen, hielt auch Keyhi Pujvi Giki Foy Holby seine Vorlesung.

Da ich – entgegen seinen Prophezeiungen für unsere Beziehung – nicht nur mit mir selbst beschäftigt war, setzte ich mich weiterhin regelmäßig vor die Kristallkugel, um mit meinem Kameraden Kontakt zu halten. Auf diese Weise war mir Keyhis Referat zugänglich, und ich bemerkte, dass ich darin auf unausgesprochene Weise vorkam.

Sein Ansatz erwies sich auf bemerkenswerte Art intellektuell, sodass die Königin als Zuhörerin mächtig stolz auf ihn war. Sie realisierte (übrigens nicht zum ersten Mal), dass er sein wissenschaftliches Licht gerne unter den Scheffel seines Pragmatismus stellte. Natürlich brauchte er sich seiner operativen Erfolge durchaus nicht zu schämen – die anerkannte aber ohnedies jeder hier, denn dass das Leben auf dieser Station für sie alle so, wie sie es prinzipiell durchaus schätzten, möglich war, konnte der König als sein ureigenstes Verdienst verbuchen. Dennoch war er jeglicher formellen Ehrung überaus abhold, und weil zu jeder Hochschultätigkeit dieses ständige Evaluieren und Dem-anderen-die-Honneurs-Erweisen offenbar unumgänglich dazugehörte, sah er seinen Platz nicht primär an der Akademie.

In seiner Vorlesung versuchte er eine äußerst merkwürdige, aber dafür umso interessantere Katalogisierung von Menschen mit Hilfe einer Matrix konformistisch / nonkonformistisch versus inaktiv / aktiv und fand, darauf aufbauend, zu einer sehr persönlichen Befüllung der Felder mit Charakteren.

[Grafik 115-a]

KEYHI PUJVI GIKI FOY HOLBY:
(1) Gehen wir einmal davon aus, dass in unserem ganzen Universum, ja womöglich sogar in allen erdenklichen Universen die Tendenz der Mehrheit der vernunftbegabten Wesen dahingeht, mit Verstand und Gefühl möglichst rund um jenen Ort zu siedeln, der jeweils als normal empfunden wird, und gehen wir weiters davon aus, dass die Grundausstattung eines solchen Ortes von Himmelskörper zu Himmelskörper beziehungsweise selbst von Universum zu Universum gar nicht so verschieden ist, wie man uns vielleicht glauben lassen möchte, dann wäre alle Welt relativ konformistisch.
(2) Gehen wir nun des weiteren davon aus – und das sollte doch wahrlich niemanden von uns überraschen –, dass Konformisten sich in einer zum Konformismus neigenden Realität recht bequem einrichten können, so dürfen wir sie wohl entsprechend ihrer individuellen Motorik (ich darf mit Ihrer Erlaubnis diesen Begriff sowohl im traditionell-körperli¬chen als auch in einem neuartig-geisti¬gen Kontext gebrauchen) differenzieren…

Mango Berenga, so malte ich es mir aus, hing besonders an dieser Stelle an seinen Lippen – sie erlebte ihn neu! Hinter dem langweiligen Praktiker war tatsächlich ein imposanter Theoretiker verborgen! – Na-ja – vielleicht bestand das alles lediglich aus Lesefrüchten, aber warten wir’s ab…

KEYHI PUJVI GIKI FOY HOLBY:
Konformisten stehen also auf Basis dieser ihrer persönlichen Ausstattung zwei Wege offen, jener der aktiven und jener der passiven (oder besser gesagt inaktiven) Lebensführung.
(3) Am leichtesten fällt die Definition der aktiven Konformisten, nennen wir sie vielleicht Rationalisten oder Ökonomen – es handelt sich um die weitaus größte Gruppe in der Gesellschaft, da die Zahl ihrer Mitglieder jedenfalls größer sein muss als die Summe der drei anderen, soll das System nicht kippen. Wir sprechen von denjenigen, die eine Sozietät physisch am Laufen halten, oder, anders ausgedrückt, von jenen, die eine erkennbare und zumindest halbwegs messbare Wertschöpfung erbringen. Sie werden als Produktivkräfte nicht wirklich geschätzt, wenn auch unbedingt benötigt.
(4) Die Definition der inaktiven Konformisten fällt ungleich schwerer, wobei uns klar zu sein hat, dass der Terminus „inaktiv” sich auf Tätigkeiten im Sinne rationaler gesellschaftlicher Zielsetzungen bezieht und nicht besagen soll, dass diese Leute im Wortsinn „nichts tun“. Ich neige dazu, diese Gruppe als kalkulierte Esoteriker zu bezeichnen, also Personen, die sich in ihrer nach außen erkennbaren Sprach- und Symbolsetzung als metaphysisch verstanden wissen wollen, die metaphysischen Inhalte aber keineswegs internalisiert haben. Als typische Berufsgruppen finden wir hier zum Beispiel Therapeuten oder Priester der verschienenen Glaubensrichtungen. Angehörige dieses Segments sind in der Regel die Lieblinge der Herrschenden, da sie – wenn nicht anders, dann aus Eigennutz – die wichtigsten Stützen jeder etablierten sozialen Hierarchie darstellen.

„Nicht zu vergessen: die Könige selbst!” ertönte ein Zwischenruf.

KEYHI PUJVI GIKI FOY HOLBY:
(grimmig lächelnd) Ja, auch die Könige – ausgenommen jene, die ihrem Volk eine Heimat geschaffen haben!
(5) Nonkonformisten sind selten, aktive noch seltener als inaktive. Das Zusammentreffen von Nonkonformismus und (wie gesagt) gesellschaftlich relevanter Inaktivität in einer Persönlichkeit führt dazu, dass die Träger dieser Kombination in Sonderanstalten weggeschlossen werden. Man will sie nicht um sich haben, ihrer stummen Anklage gegen das für sie so unerhebliche Gemeinwohl entgehen. Immer wieder gibt es Bestrebungen, sie überhaupt kurzerhand zu beseitigen, wobei die entsprechenden Diskussionen zumeist auf einem Niveau geführt werden, als ginge es dabei um die Entsorgung von Müll.
(6) Die ganz winzige Zahl aktiver Nonkonformisten – von einer Gruppe zu sprechen, wäre schon allein deshalb absurd, weil es sich implizit um Einzelgänger handelt – ist durch außerordentlich plakative öffentliche Auftritte, etwa als Messias oder wenigstens als Religionsgründer, geprägt. Von Zeit zu Zeit schafft es einer von ihnen, die Gesellschaft in ihren Grundfesten zu erschüttern und umzukrempeln. Diese beginnt aber sofort, die Person als solche oder deren Doktrin zu assimilieren, was auch in der überwiegenden Zahl der Fälle gelingt (wenn schon nicht zu Lebzeiten des Betreffenden, dann nach seinem Tod), indem sich nämlich knallharte Manager des Übersinnlichen aus dem Feld der kalkulierten Esoteriker der Idee bemächtigen.

Worauf wollte er hinaus? Ich war mehr als fasziniert von seinen Ausführungen, aber auch die Königin – so vermutete ich jedenfalls stark – bewunderte ihn sehr und wünschte sich vermutlich nichts inniger, als ihn prompt an sich zu drücken. Und er, der bei aller zur Schau getragenen Korrektheit (auch an der Beziehungsfront) abgebrühte Stratege bekam sofort, selbst wenn er sich gerade auf seinen Vortrag konzentrierte, diese Rückkopplung zwischen ihrem Verstand und ihrer Physis mit, und während er dort unter dem Bogen stand und vortrug und fühlte, wie seine Frau ihn bereits mit ihren Blicken auszog, hoffte er, diesen Moment hinüberzuretten in eine baldige Situation von Zweisamkeit. Das Dreieck, dieses Triangulum erotico-mysticum, das ihn innerlich stets begleitete, seit er es zum ersten Mal gesehen hatte, stand ihm schon deutlich vor Augen und führte ihn durch alle weiteren Phasen seiner Argumentation – es lenkte ihn nicht ab, ihm Gegenteil: Es verhalf ihm zu außergewöhnlicher Klarheit.

[Grafik 115-b]

KEYHI PUJVI GIKI FOY HOLBY:
(7) In der letztgenannten Gruppe gibt es aber auch noch sonderbare Originale, die höchstens mit einer Frequenz von einigen hundert Jahren auftreten und überhaupt alle Kategorien sprengen: Ich verleihe diesen den Gattungsbegriff DON QUIJOTE, der für alle Kundigen selbsterklärend ist. Denen, die damit auf kurzem Weg nichts anfangen können, möchte ich ein Bild zu skizzieren – von einem, der vielleicht gerade jetzt, da die Zeit wieder reif ist, im Universum existiert und die Anforderungen eines solchen singulären aktiven Nonkonformisten erfüllt.

Ich sah gebannt in die Kristallkugel, glaubte zu wissen, wen er meinte – aber vielleicht meinte er auch jemand ganz anderen, denn wenn auch die Zeit vielleicht reif war, mussten wir doch alle zur Kenntnis nehmen, dass landauf landab Doppelgänger lebten, seien es solche aus der Spiegelwelt (die wie Keyhi bei der neuerlichen Abschottung der beiden Universen hier herüben geblieben oder die trotz der strengen Grenzziehung danach noch illegal eingesickert waren) oder solche künstlichen Ursprungs (Maschinenmenschen aus der Produktion Anastacia Panagous und anderer Androidenbauer). Wer weiß also, wen der König wirklich im Auge hatte…

Rein gefühlsmäßig – ohne den geringsten Beweis – erschien es mir, als ob in seinem Vortrag die eigenen Überlegungen in den Hintergrund traten und Zitate überhandnahmen.

KEYHI PUJVI GIKI FOY HOLBY:
(8) Es könnte jemand sein, der einen ganz unmöglichen Traum träumt, dem es nichts ausmacht, gegen einen unbesiegbaren Feind zu kämpfen, der jeden unsäglichen Kummer auf sich nimmt und selbst dort vorrückt, wo die Tapfersten geflohen sind. Es könnte jemand sein, der stets weiter versucht, den Konventionen, und seien sie rechtlich noch so gut abgesichert, entgegenzutreten, der seine Liebe zum Außerordentlichen nicht erkalten lässt und noch mit bleischwer müdem Arm nach dem romantischen, dem unerreichbaren Stern greift. Es könnte jemand sein, den die Schwäche des Körpers nicht schert, den Wunden nicht kümmern, der immer wieder aufsteht, so oft er auch fällt…

Wehe dem Bösen! flüsterte ich und wartete auf das Echo…

KEYHI PUJVI GIKI FOY HOLBY:
Es könnte jemand sein, dessen Wappenspruch lautet „Wehe dem Bösen!“, und was er bekämpfen möchte, ist die langweilige Gleichförmigkeit, die kitschige Eintracht, die brutale Gleichschaltung und die süßliche Harmonie. Es könnte jemand sein, der unter Fanfarenklängen in Richtung Unsterblichkeit zieht, begleitet von einem treuen Freund und einer angebeteten Geliebten. Es könnte jemand sein, der den Ruf des Schicksals vernimmt und der geht, um sich vom Sturm der Fährnisse forttragen zu lassen, wohin auch immer ihn dieser bringen mag…

Ruhm! flüsterte ich…

KEYHI PUJVI GIKI FOY HOLBY:
Ruhm heißt der Weg, den ich geh’!

Mit diesem letzten Satz, zumal in der Ich-Form, ließ er das Publikum verständnislos zurück. Er eilte zu seiner Königin, nahm ihren Arm, führte sie hinweg, vermied quälende Diskussionen, die ihn noch länger davon abgehalten hätten, ihr nahe zu sein: verschenkte damit in einem Atemzug seine neuerworbenen wissenschaftlichen Lorbeeren. Auch Mango Berenga vergaß, was sie dem Ansehen ihrer Institution schuldig war. Während sie sich in der Abgeschiedenheit des Schlafgemachs ihrem König hingab (und diesmal jedenfalls voll bewusst!), dachte sie – bevor sie vom Allegro Furioso ihrer Gefühle fortgerissen wurde – an ihre Kinder, die sie noch niemals hatte zum Besuch der Akademie animieren können.

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

Bereits in früher Jugend, als XX und XY im Elternhaus – dem recht geräumigen Empire-Palais – relativ abgeschlossen und für sich gelebt hatten, stellten sie ihre ersten körperlichen Erkundigungen aneinander an, und diese gingen ihnen über alles. Sie trieben es bis ins Erwachsenenalter hinein ohne Scheu miteinander, denn niemand hatte ihnen gegenüber je sexuelle Beziehungen zwischen Geschwistern tabuisiert.

Später trat die Intensität ihres Verhältnisses zwischenzeitlich etwas in den Hintergrund, als nämlich XY begann, sich viel mehr außerhalb dieses Elysiums umzutun und seine Schwester allenfalls als Alibi mitzuschleppen – sie war’s keineswegs leid, denn sie gönnte ihm seine kleinen Vergnügungen: wusste genau, dass zwischen ihnen eine Verbindung bestand, die ohnehin niemand zerreißen konnte.

Dann allerdings, als XX so expressiv im „King’s & Queen’s” zu sehen war, begehrte ihr Bruder sie wieder heftig, und sie – gleichmütig gegen jede seiner Eskapaden – verweigerte sich ihm nicht. Auch sie hatte irgendwie das Gefühl, ihre aufreizende Performance müsse sich doch irgendwie konkreter fortsetzen und dürfe nicht eine Beziehung auf Distanz zwischen Akteurin und Zuschauern bleiben – und da war XY ihr lieber als ein anderer: Es gab ja inzwischen verständlicherweise eine lange Reihe von Interessenten, die mit der hochgestellten jungen Dame ins Detail gehen wollten. Der Club-Manager führte diese Liste verständlicherweise an, aber er als vielleicht chancenreichster familienfremder Kandidat vermied es bewusst, diesen seinen Wunsch auch nur zu äußern, weil er den Schmelz der Jungfräulichkeit, der über jenen Auftritten lag und – verdammt! – das eigentliche Flair ausmachte, nicht zerstören wollte.

So kam es, dass gleichzeitig, während Mutter und Vater ihre Nachtmusik mit einem milden Adagio auslaufen ließen, bei Tochter und Sohn ein Dacapo Affetuoso anhob, eine wild-verwegene Körperverwicklung, weil XX den Prinzen mit einer ihrer offenherzigen Tanzpositionen (ersonnen natürlich von Diaxu) herausgefordert hatte.

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

Von jener Parallelveranstaltung wusste der König natürlich nichts. Als Mango eingeschlafen war (nur aus ihrem Traum heraus hörte er sie Zitate aus seinem Vortrag murmeln), erhob er sich, aufgewühlt durch die Ereignisse des Tages in elementarer Wachheit, warf sich lediglich einen weiten Umhang über die erhitzte, nach seiner Frau duftende Blöße und trat hinaus aus dem Chateau, wo er das stets aufmerksame Tizb’ptouk nicht erst zu rufen brauchte.

Einige wenige Untertanen, die ebenfalls noch so spät unterwegs waren, um auf einem freien Feld der Außenhaut ihres künstlichen Himmelskörpers die Sterne zu ihren Füßen zu betrachten, hörten Keyhi Pujvi Giki Foy Holby mit dem scheußlichen Geschöpf sprechen. Sie hätten schwören mögen, dass er vom wohligen Gefühl einer in diesem Augenblick tiefempfundenen Einsamkeit erzählte.

Was sie nicht ahnten, war, dass das Tizb’ptouk ihn verstehen konnte…