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3. TEIL
DER ANDROID VANGELIS PANAGOU
UND SEINE ABENTEUERLICHE REISE

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301

Vielleicht hätte man das Auftreten von Vangelis Panagou auf der Station und anderswo kontinuierlicher gesehen, wäre da nicht seine Fähigkeit gewesen, sein Äußeres rasch und unkompliziert umzukalibrieren. Ich hatte das natürlich längst ausspioniert, denn – wie jedermann weiß – einem Diaxu blieb normalerweise nichts verborgen, jedenfalls nicht für lange. Obwohl ich solche Nachforschungen pro forma stets im Auftrag meines Königs anstellte, war ich sehr wählerisch bezüglich dessen, was ich dann nach oben berichtete, denn Wissen bedeutete auf VIÈVE mehr als anderswo Macht: Da es mangels eines Zahlungsmittels keine Möglichkeit gab, materielle Reichtümer zu akkumulieren, blieben einem Mann von altem Schrot und Korn ausschließlich der offene Ruhm oder die geheime Bedeutung, um sich in dieser Umgebung männlicher Softies (auch der Chef hatte sich ja hier in einen solchen verwandelt) zu profilieren.

Für mich und diejenigen, die über die wahre Natur des Androiden (sofern man diesen Terminus für eine künstliche Person überhaupt verwenden darf) Bescheid wussten, war Vangelis weniger geheimnisvoll als für andere. Seine wundersamen Reisen verloren deutlich an Mystik für die (allen voran Miss Serpentina), denen er die eine oder andere konkrete Episode erzählt hatte. Dass diese Geschichten sich langsam verbreiteten, überraschte eigentlich nicht, und so blieb es angesichts der tendenziellen Langeweile auf der Station nicht aus, dass Panagou von der Königin zu einem Vortrag in ihre Akademie geladen wurde.

Da er jedoch, entgegen seinen ursprünglich Absichten, nicht als Prediger, sondern vielmehr als Globetrotter reüssieren sollte, rückte er mit seinem Äußeren vom Christos-Image ab – leicht nur zunächst, um die Leute nicht zu verschrecken: Der Bart wurde ganz kurz, eine metallglänzende Sonnenbrille tauchte auf.

Was bis jetzt in seiner Unterkunft offiziell nur Serpentina und unter der Hand nur ich gesehen hatten – ein High Tech-Astrolabium –, schleppte er mit Hilfe seiner Freundin zur akademischen Stätte. Das Gerät zeigte die acht Quadranten des Alpha-Universums und, auf einem im schiefen Winkel angebrachten Reflexionspaneel, dessen Abbild, die Spiegelwelt.

SERPENTINA:
Mich und die meisten anderen Zuhörer (nicht aber Mango Berenga, die ihm als ausgewiesene Kosmologin offenbar folgen konnte) überforderte er gleich zu Beginn mit Mutmaßungen über die tatsächliche Gestalt des Alls. Kaum hatte man sich in dem Gewirr, das der Apparat zeigte, ein wenig zurechtgefunden und wartete auf nähere Erklärungen des grundsätzlich Erfassten, wurde man gleich wieder in die finsterste Unwissenheit zurückgeworfen.

Vangelis Panagou wies darauf hin, dass dieses dreidimensionale Modell (eigentlich als Hologramm gar kein räumliches Gebilde, sondern Resultat einer optischen Täuschung, aber das würde hier zu weit führen) nur einen unzulänglichen Abklatsch der äußerst komplexen realen Verhältnisse darstellte. Mit anderen Worten: Wenn man das eigene Raumfahrzeug als Lichtpunkt in das System einführte, konnte man zwar dessen Position und Bahn in dieser Attrappe der Wirklichkeit präzise nachvollziehen – hinsichtlich des Standorts im riesigen Original war man jedoch auf Näherungen angewiesen. Glücklicherweise (übrigens schon wieder ein bedenkenswertes Wort im Zusammenhang mit Androiden) kann, so tröstete Vangelis seine Zuhörer, gemäß dem Satz von Weierstraß jede stetige Funktion, wie etwa die Flugbahn eines Raumobjekts, mit trigonometrischen Polynomen approximiert werden.

SERPENTINA:
Die Königin lächelte versonnen – ihr war der zitierte Gelehrte natürlich ein Begriff und demzufolge auch, was dessen Feststellung genau bedeutete. Soviel ich mitbekam, ging es darum, dass sich die Qualität jeder Approximation nur hinsichtlich einer bestimmten Norm definieren lässt, wobei verschiedene Normen verschiedene Qualitäten ergeben. Der Pilot hatte somit das Astrolabium vor sich, vollführte aber dennoch einen veritablen Blindflug.

Serpentina stellte hier (soweit ich auf dem Laufenden war) ihr Licht ziemlich unter den Scheffel – Vangelis Panagou hatte ihr immerhin längst zu einem höheren Androidenbewusstsein verholfen, und sie fand daraufhin genug Gelegenheiten, an sich weiterzuarbeiten. Auch bei ihr begannen ausgedehnte Gedankenverbindungen zu fließen, wenn bestimmte Begriffe fielen, und sie verschaffte sich Einblick in weitläufige Datenbanken, entwickelte zudem auch mehr und mehr Verständnis für deren innere Zusammenhänge: Eigentlich ver-stand sie daher die Ausführungen ihres Freundes hundertprozentig, und lediglich das Model for Emotional Response machte Serpentina mit seiner künstlich erzeugten Unsicherheit ein wenig kleiner als sie war.

SERPENTINA:
Mit fortschreitender Bewusstwerdung traten bei mir konfligierende Konzepte weiblicher Verhaltensweisen auf: Sollte man sich tatsächlich, wie das MER es mir nahe legte, als Frau etwas zurücknehmen, um den Anspruch des männlichen Partners auf das Intelligenzmonopol nicht in Frage zu stellen? Oder war genau das hoffnungslos überkommen, und die Weisheit lag in einem hemmungslosen Ausspielen des eigenen geistigen Potenzials? Oder sollte der sinnvollste Lebensentwurf ein ganz enorm kompliziertes Gefüge irgendwo zwischen diesen beiden Extremen sein? Ich bewunderte unsere Quasi-Schwester, die AP 2000 ® (oder Anpan, wie sie sich selbst lieber nannte), die anscheinend mühelos den Weg von einem Stück technischen Besitztums zu richtiger Individualität gemeistert hatte.

Sollte Serpentina das echt geglaubt haben, lag sie meiner Meinung nach natürlich komplett falsch. Auch diese Anpan war selbstverständlich gezwungen gewesen, ihren Weg zu gehen, was im Falle ihrer Art bedeutete, dass sie die gegebene Veranlagung zur Algorithmenbildung nützen musste, um Memory-Partikel zu sammeln und jede Menge von deren Verknüpfungen zu stiften. Soviel Anastacia Panagou auch von sich selbst in ihre Lieblingsandroidin hineingepackt haben mochte – die wesentliche materielle Herausforderung dieser virtuellen Existenz, sich als Hardware frei von irgendwelchen fixen Frames in einer natürlichen und in der Regel menschlich dominierten Umgebung bewegen zu können, musste Anpan aus eigener Anstrengung bewältigen. Das eigentliche Ziel der Konstrukteurin – eine Gefährtin ihrer Einsamkeit nach ihrem Bild zu formen – bedeutete da lediglich eine zusätzliche Bedingung für dieses Wesen.

Es war nur eine Vermutung, aber die Panagou schien bereits an einem Punkt der Entwicklung Anpans zufriedengestellt, an dem die AP 2000 ® selbst sich noch lange nicht genug war, aber das konnte auch viel hintergründiger zu deuten sein: als Anstachelung des inneren Ehrgeizes der Androidin und somit nicht zuletzt auch als Initialzündung einer noch komplexeren MER-Struktur. Anastacias Wunsch war, keine seelenlose Maschine gebaut zu haben, sondern ein Etwas, das mehr oder weniger ungehindert über seine eigenen Reaktionen verfügen konnte, die Stärken des Roboters mit den Schwächen des Menschen verband und damit in Summe eine Art autonomen Willen besaß: Allenfalls geliebt, nicht gefürchtet wollte die Gestalterin von ihrer Gestalt werden, und diese sollte – wenn es denn sein musste – ihr Schicksal auch in eine Richtung vollenden dürfen, die eine völlige Loslösung von ihrer Quasi-Mutter bedeutete.

Serpentina hatte mir Andeutungen darüber gemacht – man darf nicht vergessen, dass sie in der Show für mich arbeitete, und ich wusste schon, wie mit meinen Informationslieferanten umzugehen war, zumal wenn sie sich in einer gewissen Abhängigkeit von mir befanden. Wiewohl die ehemalige Schlange geraume Zeit mit Anastacia und Anpan zusammengelebt hatte, konnte sie nicht allzu von ihnen mitbekommen, denn mit ihr (zumal in ihrem ursprünglichen Format) beschäftigte man sich kaum. Sie selbst war damals zur Auffassung gelangt, lediglich eine Fingerübung der Panagou gewesen zu sein. Immerhin – um Professor Kouradraogo unter einem Ölbaum zu foppen und ihm gleichzeitig zu zeigen, wie dilettantisch seine eigenen Versuche zum Bau ortsunabhängiger menschenähnlicher Rechner waren, reichte es allemal.

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

SERPENTINA:
Wer meint, dass es in den aktuellen Architekturen der einzelnen Wissengebiete keine groben Irrtümer gäbe, täuscht sich gewaltig – diese Aussage stellte Vangelis vor den zweiten Teil seiner Betrachtungen. Wissenschaft ist ein Becken mit ständig abfließenden widerlegten Hypothesen und zufließenden Neuformulierungen, wobei man durchaus einräumen kann, dass manches sich über längere Zeit hartnäckig behauptet. Auch gibt es neben den Standardmodellen stets andere, abweichende – zwar von abnehmender Signifikanz, aber doch nicht ganz zu verwerfen.

Mango Berenga, die Kosmologin, genoss mehr als andere diese Überlegungen – sie wusste ja immer bereits im Voraus, was als Nächstes kommen würde: das zähe Ende mythologischer Vorstellungen über das Weltall, danach die Überwindung des geozentrischen Systems durch Kopernikus, der aber noch immer eine endliche Kugel sah, an deren Innenseite die Fixsterne hingen. Mit Begeisterung hörte die Königin, wie Vangelis dann vom Postulat seines Freundes Giordano Bruno sprach: vom unendlichen Universum mit unendlich vielen Sonnen und Planeten. Dennoch murmelte sie: „Wenn’s nur so einfach wäre!” und verlor sich in Träumen von einer nicht-euklidischen Geometrie.

Aber schon sagte es der Vortragende: „Bruno hat allerdings weitergedacht und schließlich die Weltformel gefunden, die das Gros aller bis heute gängigen Theorien in sich vereint: über die Ausdehnung des Alls, seine Krümmung, seine fundamentalen Kräfte und anderes mehr, was sogar die sehr aufgeklärten Zeiten danach noch als Magie abgetan haben.” Damit verblüffte Vangelis selbst Mango, denn sogar in ihrer Zeit auf der Erde – bevor sie von einem Offizier des jenseitigen Tyrannenreiches für seine undurchschaubaren Ziele auf die Station geholt worden war – hatte man diesen Stein der Weisen noch nicht entdeckt…

Ganz zu schweigen von Giordanos Überzeugung, dass mit größter Wahrscheinlichkeit unendlich viele Universen nebeneinander existieren müssten, was ihm eines Tages sogar zur praktischen Gewissheit wurde, so wie es uns langsam eine geworden ist. Und dann sagte Vangelis etwas Geheimnisvolles: „Jedenfalls ist es denkbar, dass jemand ein Glas zerbricht – die Scherben blenden einen Raumschiffpiloten – der knallt mit seinem Fahrzeug in einen Himmelskörper – dieser explodiert – das Raum-Zeit-Gitter eines riesigen Gebiets zerbirst – die Naht zwischen diesem und jenem Universum platzt auf breiter Front.”

SERPENTINA:
Die Leute ringsum schienen plötzlich wie elektrisiert. Sollte es Vangelis gelungen sein, ein Stück Kunst zu produzieren – eine Vorstellung, ein Bild? Denn es war ja das zerberstende Raum-Zeit-Gitter etwas, wozu das Auditorium (Mango Berenga diesmal miteingeschlossen) keineswegs einen astronomisch-physikalischen Vorgang assoziierte, sondern einfach ein Riesenfeuerwerk von atemberaubender Schönheit. Wie aber sollte ein Android wie der AMG eine Kategorie wie Schönheit entwickeln, die doch wohl dem Menschen, dem leibhaftigen Menschen als Krone der Schöpfung vorbehalten sein musste?

Und wenn man schon akzeptierte, dass ein Maschinenwesen etwas Ästhetisches hervorbringen konnte, unter der Prämisse, dies sei – beim Androiden ebenso wie beim Menschen – neurophysiologisch ohnehin nur ein Produkt von Assoziativität, und dass niemand oder nichts besser als ein Rechner zu dieser imstande sei: kurz gesagt, dass es für einen Typen wie Vangelis keine Schwierigkeit bedeutete, ein Kunstwerk zu schaffen…

SERPENTINA:
– ja, dann bliebe aber immer noch die Frage offen, ob unsereins auch als Philosoph gelten konnte. Würde Anastacias bemerkenswerter AMG also auch dann noch auffallen in Mango Berengas Akademie, wenn es darum ginge, jenseits seiner technischen Auslassungen nicht nur über ästhetische Emanationen zu sprechen, sondern auch über Platos Ideen, Kants Ding-an-sich, somit genau über jene rationalistisch-kritizistischen Bereiche der Philosophie, die ihm als Androiden doch eher fern liegen mussten? War er nicht von seinem tiefsten Wesen her dazu verdammt, Empiriker zu sein, Aristoteles nachzuhängen und all jenen bis herauf zu Wittgenstein und dem Wiener Kreis, die der Metaphysik eine Abfuhr erteilten?

Man muss all das wirklich erlebt haben, damit man es glaubt: Da gebärdeten sich Computer wie Menschen, spekulierten sozusagen über Gott und die Welt, und niemand fand etwas dabei! Im Gegenteil: Das für eine Akademie-Veran¬staltung doch recht zahlreiche Publikum – wiewohl man das beileibe nicht vergleichen konnte mit den Massen, die sich in den diversen Räumlichkeiten meines Clubs drängten…

SERPENTINA:
Nun bleiben Sie aber auf dem Teppich, Ikqyku! Die Station als Ganzes hat keine Bevölkerung, die man nach Massen zählen könnte!

Ich bekam auf der Stelle einen meiner Wutanfälle, aber wie immer hatte ich mich hervorragend in der Hand, sodass niemand etwas merkte, schon gar nicht die Auslöserin meiner Rage, dieses dumme Ding, das mir alles zu verdanken hatte und dennoch glaubte, mich maßregeln zu können. Statt an der Übungsstange zu trainieren, um zum Beispiel bei der Arabesque ein wenig mehr individuelles Flair zu entwickeln, sodass die kunstsinnigen Zuschauer eine etwas plastischere Sicht auf ihre Anatomie gewinnen konnten, reflektierte sie über die Gedankenwelten einiger toter alter Machos, die in unendlich dicken Büchern höheren Blödsinn verzapft hatten.

Scheinbar leidenschaftslos fragte ich sie nur: Und wie soll das jetzt enden?

SERPENTINA:
Es war eigentlich gar nichts passiert – was ich gedacht hatte, blieb füglich ungesagt, und was Vangelis zuletzt in den Raum gestellt hatte, war dieses eindrucksvolle kosmische Gemälde. Eine gute Gelegenheit für ihn, sich – während das Auditorium noch mit offenen Mäulern dasaß – höflich zu verneigen, der Königin als Veranstalterin respektvoll zuzunicken und abzugehen, nicht ohne mich um Hilfe beim Abtransport des Astrolabiums zu bitten.

301-A

BRIGITTE:
Ein kleiner Exkurs, ohne zu warten, bis es wieder Sinn macht, uns in diese Geschichte einzublenden: Der Android Vangelis Panagou, der auch nach menschlichen Maßstäben kein Dummer war…

Konkret gesagt, meine Liebe, funktionierte er sogar besser als ein Mensch, wo es seine spezifischen Anlagen erlaubten – wo er also die perfekte Maschine im klassischen Sinn war. Das landläufige Missverständnis gegenüber einem derart hochgezüchteten Apparat bestand allerdings darin, dass einen seine starke Menschenähnlichkeit zu der Frage verleitete, wieso er sich nicht genau wie ein Mensch verhielt – das aber verhinderte eben jene Perfektion: Er konnte prinzipiell nicht stümpern und patzen oder sonst irgendwie ungenau arbeiten, abgesehen von Momenten, in denen sein Model for Emotional Response Gefühle produzierte. Anders als etwa Miss Serpentina versuchte er jedoch, diese möglichst seinem rationalen Denken unterzuordnen, um allzu große Diskrepanzen zu vermeiden.

BRIGITTE:
Wäre ausgesprochen nett von dir, mich schlicht und einfach ausreden zu lassen und mir nicht Gedankengänge zu unterstellen, die ich so nicht hatte. Vangelis bezeichnete seine Reise insgeheim als „Sentimental Journey” – in Anlehnung daran, was Menschen punktuell empfinden, wenn sie auf ihren Fahrten an Orte kommen, an denen sie schon einmal waren. Für den Androiden hingegen war sein gesamtes Unterwegssein von einem solchen Grundmuster an Déjà-vus durchzogen, da er ja ständig damit konfrontiert war, dass die äußere Realität mit irgendwelchen Bildern, Strukturen und Symbolen aus seinem lokalen Datenspeicher sowie aus den ausgedehnten Zugriffsmöglichkeiten auf externe Datenbanken übereinstimmte. Quasi auf Schritt und Tritt kam ihm etwas bekannt vor.

In Ordnung – was immer das jetzt genau bedeutet, wir halten es fest.

BRIGITTE:
Ernsthaft – und wenn du auch noch so sehr versuchst, mich durch kleine zärtliche Aufmerksamkeiten vom Thema abzulenken –, dieses Phänomen steigerte sich naturgemäß bei jenen Erlebnissen, die der Android bereits höchstpersönlich gehabt hatte. Schließlich war er in der Lage, alles, was zu einer Situation gehörte (Ort, Zeit, Umstände, eigenes und Fremdverhalten) minutiös zu speichern, was ihm eine einzigartige Authentizität verlieh, zugleich aber auch eine bestürzende Evidenz seiner selbst, denn er war anders als wir gar nicht in Lage, etwas zu verdrängen oder den gnädigen Schleier des Vergessens darüber zu breiten: Alle ihn betreffenden Fakten umgaben ihn ständig bleiern und unveränderbar.

Du scheinst ja mächtig viel davon zu halten, Gras über eine Sache wachsen zu lassen! Hoffentlich gehöre ich nicht eines Tages zu den Angelegenheiten, die du für immer aus dir verbannst, und ich würde dann quasi als eine nebulose Erinnerung herumspazieren, die man nirgends mehr festmachen kann.

BRIGITTE:
Wer könnte einen solchen Mann jemals vergessen – oder gar absichtlich vergessen wollen? Wer die Erlebnisse vor oder jenseits der Ehe aus dem Gedächtnis streichen, wenn doch gerade sie es sind, die unsere Phantasie noch einigermaßen beflügeln, weil sie einerseits völlig unschuldig oder andererseits völlig schamlos sind – beides Aspekte, die merkwürdigerweise in den meisten offiziellen Beziehungen keinen Platz haben dürften?

Es liegt an den Kriterien dieser sogenannten offiziellen Beziehungen, teure Freundin: Wir leben in einem kalten und vor allem absichtslosen Universum, aber anstatt dies einfach zu akzeptieren, versuchen wir, dem Ganzen Sinn zu geben durch die Art, wie wir leben. Konfrontiert mit einer gefühllos-unpersönlichen Welt, trachten wir, jeder für sich, eine kleine Insel aus Liebe, Wissensdrang und Kunst zu schaffen. Nur leider scheint jeder Versuch, diesem Gebilde Dauer und Nachhaltigkeit zu geben, zum Scheitern verurteilt.

BRIGITTE:
Dieses Ab- und Anschwellen der Zuneigung, des Forschens und der Kreativität (aber das könnte ein eigenes Buch sein!) muss eben im Verhalten gebührlich berücksichtigt werden, sonst wird man älter und hat nie gelebt…

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

DER GROSSE REGISSEUR (JEDER KENNT SEINEN NAMEN), DIE DREHBUCHAUTORIN CLAUDETTE WILLIAMS, DER PRODUZENT SID BOGDANYCH UND MISS – ÄH – WASSERSTOFFBLOND/ATOMBUSIG/UND/AUCH/SONST/KURVIG/SOWIE/EXTREM/LANGBEINIG:
Und während sich die beiden zurückziehen, um ihrer an- und abschwellenden Leidenschaft zu frönen, können wir wieder einmal in den Vordergrund treten. Wie wirklich oder unwirklich wir auch sind, niemand würde uns mehr als eine virtuelle Existenz zumessen – bei den Berufen, die wir ausüben. Manche sehen uns als Adler und als Eule, als Luchs und als Kätzchen, und wir erfüllen mit unserem Dasein – weiß Gott! – jedes damit verbundene Klischee: Adler missbraucht Eule, Kätzchen lässt sich mehr oder weniger freiwillig von Luchs bumsen. Luchs und Adler leben in erzwungener Koexistenz, Kätzchen mustert Eule verständnislos-misstrauisch, Eule behandelt Kätzchen geringschätzig, geradezu als Witz. Luchs seift mit Geld alle ein, Adler wiederum mit Ideen. Eule lässt heute die Jeans daheim und trägt das kürzeste Kleid mit dem tiefsten Ausschnitt, ohne mit dem herausquellenden Dekolleté und dem straffen Hintern von Kätzchen ernsthaft konkurrieren zu können. Kätzchen versucht sich im Wettbewerb mit Eule an einer geistreichen Bemerkung, die aber allen im Hals stecken bleibt – daher tanzt man (noch immer im „Gatsby Dance Club” auf VIÈVE), zur Abwechslung mit verteilten Rollen: Luchs drückt den schlanken Körper von Eule dicht an sich, denn er kann’s nicht lassen, während Kätzchen ihre üppigen Formen an Adler reibt, in der Meinung, jeder Tanz müsse quasi Vollzug sein. Wieder am Tisch lassen Adler und Luchs Eule und Kätzchen ihre erquicklichen Erektionen spüren, worauf sich Kätzchen und Eule wütend beäugen. Man beschließt einhellig, nichts anbrennen zu lassen und bei der nächsten langsamen Musiknummer, die soeben beginnt, in der ursprünglichen Zusammensetzung auf die Tanzfläche zu eilen. Kätzchen erntet mit ihren rosa Wangen, die mit großer Eindringlichkeit etwas über ihren momentanen Zustand aussagen, viele begehrliche Blicke, und selbst Eule verrät dem Publikum durch eindeutige kleine Seufzer, wie erregt sie ist. Selbst die kleine Kapelle merkt etwas und gibt ihre Klangfiguren nahezu greifbar in die heiße Luft des Saals ab.

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

Und was möchtest du sein?

BRIGITTE:
Immer etwas anderes selbstverständlich. Gerade jetzt wünsche ich mir, eine Frau zu sein, die alle Vorsicht und Rücksicht außer Acht lässt und mit extremer sprachlich-körperlicher Extrovertiertheit einen betagten, aber noch immer attraktiv gebliebenen und vor allem immens reichen Herrn einfängt. Dieser hat sich überdies auffallend schlank gehalten, sodass man sich in keiner Weise seiner schämen muss – im Gegenteil, man kann ihn ohne weiteres herzeigen als goldene Beute, die man gemacht hat, und ihm im Gegenzug gestatten, auch seinerseits seinen enganliegend-knallrotbekleideten Besitz zur Schau zu stellen.

Ein wenig deplaciert wirkt dein soigniertes Spielzeug auf VIÈVE schon: graue Businesskleidung am Abend, das hat man im „Gatsby” noch nie zuvor gesehen! Natürlich – ich gebe schon zu, dass Ikqyku Diaxu keine absolute Instanz in Sachen Etikette ist, aber er hat sich in seinem Datenbank-Gewirr genug angelesen, um in diesem Fach zumindest unter den auf der Station gegebenen Umständen als kompetent gelten zu können, und selbst wenn nicht, gäbe es als oberste Autorität noch immer den König, den zwar ebenfalls nur amateurhaften, aber inzwischen einwandfreien Edelmann. Er würde deinem Freier empfehlen, der napoleonischen Kleiderordnung zu folgen und zumindest (wenn schon gar nichts anderes zur Hand ist) ein besticktes Seidentüchlein zu tragen als Reverenz an den guten Stil.

BRIGITTE:
Mach dir nur keinerlei Sorgen darüber – Hauptsache, der Bursche bringt’s jenseits trivialer Äußerlichkeiten. Seine Aufgabe ist es nämlich, mir in der Einöde, die ich plötzlich überwältigend fühle, einen kurzen Kick zu geben: in eine Richtung, die wir noch nicht hatten!

Aber bitte, wenn du bloß ein Wort sagst, stehe ich zu deinem Befehl und tue alles, was du willst!

BRIGITTE:
Zu spät! Du hast diesmal Pause und kannst dir überlegen, welche Rolle du selbst aktuell gerne spielen möchtest.

Ich möchte ein Android sein, der seine physischen und psychischen Spielräume ausgelotet hat – der es sich daher ohne weiteres leisten kann, einmal eine Fehlfunktion zu haben. Ich möchte ein Android sein, den seine letztendlich übermenschliche Aufgabe – nämlich selbst zu entscheiden, in welcher Situation er entweder im maschinellen Sinn perfekt oder im biologischen Sinn imperfekt (mit all den komplexen Gleitklauseln) reagieren soll – längst nicht mehr bedrückt. Ich möchte ein Android sein, der unter allen möglichen Existenzen die interessanteste Persönlichkeit darstellt, gut funktionierend im technischen, aber spontan im emotionalen Sinn, initiativ und dennoch für seine Taten moralisch nicht verantwortlich…

BRIGITTE:
… unüberwindlich und keinen Einwand duldend, wenn er seine biohumanoide Geliebte einmal in seine Arme genommen hat, und dabei körperlich durch seine Fähigkeit, sich bei laufender Operation neu zu kalibrieren, derart anpassungsfähig, dass der Partnerin im Liebesakt kein Wunsch offen bleibt.

Also dann doch wieder jemand wie ich? Und wo ist auf einmal der attraktive und immens reiche Herr geblieben?

BRIGITTE:
Eine Hommage an die Episode mit Ralph und Hardy – und die 100.000 $ konnte ich gut gebrauchen!

Obwohl sie nicht real waren?

BRIGITTE:
So wenig real wie das, was ich damit finanziert habe – eine Fiktion eben. Wir erzählen – schreiben – leben eine Fiktion.

302

US-Präsident Kravcuk wusste sehr wohl, wer dieser japanische Gentleman war, der – ein utopisch klingendes Ansinnen angesichts der Abschottung der zwei Weltreiche voneinander – um die Genehmigung angesucht hatte, fallweise nach London kommen zu dürfen, noch dazu ohne Angabe präziser Gründe. Das war zweifellos ein Fall, der von den Behörden zu Recht bis zur Staatsspitze eskaliert worden war, und genau das hatten Zheng und Ray, die hier wieder einmal gemeinsam etwas planten, einkalkuliert. Nach scheinbar reiflichen Überlegungen würde direkt aus dem Oval Office die Genehmigung kommen: Seiji Sakamoto, Geschäftsmann aus Tokio, durfte sich einmal pro Monat für einige Tage in England aufhalten, hier seinen Obliegenheiten nachgehen und dabei auch Untertanen des Amerikanischen Imperiums, die persönliche Probleme mit der anderen Macht hatten, beraten (was im Klartext bedeutete, dass man sich bei ihm gegen entsprechende Dotationen Ein- oder Ausfuhrgenehmigungen sowie Reise- oder Aufenthaltsbewilligungen für drüben besorgen konnte).

Dem Führer in Washington war wie gesagt klar, wen er da ins Land ließ: den Obersten der Oyabuns der japanischen Yakuza-Klans, denen die Regierung in Beijing anlässlich der Aufteilung der Welt uneingeschränkt alle wirtschaftlichen Befugnisse für China übertragen hatte, gegen die alleinige Bedingung, sich nicht in politische Belange einzumischen. Dem stimmte Sakamoto leichten Herzens zu, denn ihm ging es lediglich ums Geld – mehr noch um die Möglichkeit, dieses nach seinen Regeln zu erwerben und zu gebrauchen.

Ich lernte ihn bei einem meiner eigenen Besuche in London kennen, die anfangs tatsächlich nur den Zweck hatten, namens der Cheltenham’schen Unternehmungen Einkäufe zu tätigen, längerfristige Absatzverträge zu schließen oder irgendwelche rechtlichen Belange zu ordnen: Ich besaß dabei völlig freie Hand, denn Berenice W. Talmai hatte als Therapeutin meines Mannes Basil dafür gesorgt, dass dieser problemlos alle notwendigen umfassenden Vollmachten für mich, seine Frau, unterfertigte.

Bei unserer ersten Begegnung – von der ich retrospektiv annehmen musste, dass sie keineswegs spontan erfolgte – saß der Japaner plötzlich in dem Restaurant, das ich selbst frequentierte: dezenter, aber für den frühen Abend nicht zu dunkler Anzug, vornehm gemusterte Krawatte sowie (was mir besonders auffiel, denn darauf sehe ich immer zuerst) perfekt glänzende schwarze Chaussures. Im Dämmerlicht des Lokals – anders als die meisten mag ich es beim Essen gerne schummrig – leuchtete Sakamotos Haut, soweit sie sichtbar war, leicht olivgrün, und er wirkte auf mich in geheimnisvoller Weise begehrenswert. Instinktiv schien er mein Interesse zu fühlen und nickte mir mit einer knappen Bewegung seines Kopfes zu.

BERENICE:
An dieser Szene standen eine Menge Leute Pate – man kann sich gar nicht vorstellen, wer alles ein Interesse daran hatte, das hier zu arrangieren, und die Mentoren (oder ihre Vertrauten) waren samt und sonders anwesend, taten so, als interessiere sie nur die Speisenfolge, und vor allem so, als würden sie einander nicht kennen oder, wenn dies nicht zu leugnen war, als seien sie nur zufällig zusammengetroffen. Seiji Sakamoto war aber nicht der Typ, der sich einer Frau an den Hals warf, und so beachtete er Charlene Cheltenham für den Rest seines Mahls augenscheinlich nicht mehr. Erst als man ihm seinen abschließenden Brandy servierte, dirigierte er den Kellner mit der Flasche und einem zweiten Glas an den Tisch der Baroness, schritt selbst würdevoll hinterher und bat mit einer nicht zu tiefen Verneigung um die Gunst, ihr Gesellschaft leisten zu dürfen.

Ich war äußerst empfänglich für Umgangsformen geworden, und das resultierte nicht allein aus dem vornehmen Ambiente, das Basil für mich aufgeboten hatte, sondern rührte viel tiefer: Seit nämlich der fette Tom Webster, der Sohn der Drugstore-Besitzer in meinem Heimatort White Rock, Minnesota, mich im Flur hinter dem Geschäft gevögelt und mir als Gegenleistung ein Paar Strümpfe überreicht hatte, wusste ich, dass derlei nicht für immer mit mir geschehen durfte. Und obwohl ich lange warten musste, bis es wirklich so weit war, hatte ich es am Ende geschafft. Die Geschichte mit Sakamoto begann daher von meiner Warte gesehen aus freien Stücken – weil ich es so wollte.

Dennoch war mir klar, dass ich nicht jede Situation unter allen Umständen kontrollieren konnte, und tatsächlich bot mein neuer Bekannter einige Überraschungen für mich, die mich zumindest anfangs immer wieder vor die Wahl stellten, die Notbremse zu ziehen oder weiterzumachen, über kurz oder lang aber einen solchen Spielraum eigentlich gar nicht erst aufkommen ließen: Ehe ich mich versah, fand ich mich als Getriebene, aber dessen ungeachtet war es eine erlesene Eroberung mit einer amüsanten Dynamik. Kurzum – in einem letzten Versuch, die Oberhand zu behalten, nahm ich Seiji mit zu mir (wir Cheltenhams besaßen im Westend ein kleines, aber chices Apartment): Allein, der Oyabun der Oyabuns hatte natürlich keinerlei Hemmungen, fremdes Territorium zu okkupieren.

Ich servierte uns starken Kaffee – den Japaner der Oberschicht, wie ich von Basil wusste (aber warum fiel mir der ausgerechnet jetzt ein?), sehr begehrten nach all dem Tee. Wir plauderten dazu, versunken in Polstermöbeln, Belanglosigkeiten, aber viel Zeit räumte mein Besucher diesem Punkt nicht ein. Entschlossen stellte er seine Tasse ab und sagte: „Ich möchte Ihnen etwas zeigen, Charlene!”

BERENICE:
Was dann kam, hatte ich selbst oft genug getan, indem ich der Wirkung vertraute, die von der überfallsartigen Eröffnung archaischer Perspektiven ausging.

Seiji legte unbefangen Jacke und Krawatte ab, entledigte sich der Schuhe und Strümpfe (diese Reihenfolge hätte ich sonst nur von einem professionellen Stripper erwartet). Es folgte der Gürtel und, nach einer Kunstpause, die den Fokus auf das Bevorstehende verstärken sollte, das Hemd – zum ersten Mal sah ich mit eigenen Augen, was Trudy mir heimlich berichtet hatte: Sakamoto war über und über tätowiert.

Die Hose fiel und gab den Rest frei. Die schmalen Bänder des Fundoshi, seines einzigen japanischen Kleidungsstücks, verhüllten praktisch nichts mehr von der Bilderpracht. Der illustrierte Mann drehte sich einmal hin, einmal her, im Vollgefühl des überwältigenden Eindrucks, den hinterließ. Er lud mich ein, die einzelnen Tätowierungen zu berühren und ich nützte die Gelegenheit, scheute mich nicht, auch die intimeren Stellen seines Körpers zu untersuchen. Jedes Motiv, erklärte er mir (ich ahnte es ohnehin), stellte eine entscheidende Phase seines Lebens dar: ein Bilderbuch seiner sogenannten Heldentaten. Ich begriff plötzlich, was er wirklich war: eine Bestie in des Wortes ursprünglichster Bedeutung, ein wildes Tier, das allein seinen Instinkten gehorchte und sich daher jenseits üblicher moralischer Anwandlungen bewegte.

Seiji war noch nicht fertig mit seiner Demonstration: Er sprang in den Spagat, was mich verblüffte, denn meiner Schätzung nach war er um die Fünfzig, ohne dass es ihm an Gelenkigkeit mangelte. Insofern erinnerte er mich schon wieder an meinen Mann, wie er vor seinem Zusammenprall mit dem ehemaligen Diktator der Spiegelwelt gewesen war, und es wirkte wie eine Bestätigung dieses Gedankens, als Sakamoto von unten herauf lächelnd bemerkte: „Kampfsport hält jung, Kämpfe auf Leben und Tod noch mehr!” Dabei schnellte er wieder hoch in den Stand.

BERENICE:
Im Bann von Sakamotos dinglich fass-barer Begehrlichkeit zog auch Charlene sich aus, bis sie als heller Kontrast seiner Dunkelheit dastand. Aber sie überschritt sogleich diese Grenze und folgte ihm in sein bestialisches Reich, legte mit den Kleidern nicht nur die Baroness, sondern sogar die vergleichsweise einfache Vestitur ihrer ursprünglichen Herkunft ab. Herausfordernd präsentierte sie die Attribute ihrer Weiblichkeit, und heiser kamen ihre Worte: „Das biete ich Ihnen an, Oyabun!”

Ich fühlte mich von Feuer umgeben. Ich wollte Seiji ebenfalls eine Tätowierung entgegenhalten, aber ich wusste, keine spektakulären bildlichen Darstellungen (wie ich sie mir wünschte) würden meinen Rücken zieren, sondern japanische Schriftzeichen. Sie wiesen mich als Sakamotos Klan zugehörig aus, wobei offen blieb, ob ich freiwillig oder gezwungenermaßen dazugekommen war: Mitglied des Vereins oder Eigentum des Yakuza-Chefs.

BERENICE:
Die gute Charlene begriff im weiteren Verlauf der Nacht, dass sich diese Alternative für Sakamoto gar nicht stellte. Aber auch er wusste nicht alles, vor allem nicht, dass selbst er nur übergeordneten Interessen diente. Hier war eine weitere Achse der komplexen globalen Kooperation installiert worden, die ihr wichtigstes und nahezu einziges Motiv darin fand, die Erde ruhig zu halten für den Fall, dass eine äußere Bedrohung die üblichen Spannungen und Konflikte als lächerlich klein erscheinen ließen. Kein – und schon gar kein dauerhafter – Friede war das Ziel, sondern das Einfrieren des Status quo, wann immer dies erforderlich sein würde. Neben der generellen Abstimmung auf höchster Ebene, die sich natürlich – um die nachgelagerten Hierarchien der beiden Supermächte nicht allzu misstrauisch und rebellisch werden zu lassen – nur auf wenige Hauptthemen sowie auf wenige Termine beschränken musste, benötigte man operative und vor allem eher unauffällige Kanäle, über die Details ausgetauscht und pragmatische Vereinbarungen getroffen werden konnten. Die hier geschaffene Kommunikationsschiene entbehrte nicht einer gewissen Pikanterie: auf der einen Seite Sakamoto, der das Ohr von Dan Mai Zheng hatte und ihr umgekehrt mit seiner speziellen mafiösen Treue ergeben war; auf der anderen Seite Charlene Cheltenham, die zwar nicht direkt mit Ray Kravcuk Kontakt aufnehmen konnte, aber dafür mit dessen Sicherheitsberaterin und Ausweichbettgenossin Trudy sowie mit ihren alten Freundinnen Amy und Pussy, ebenfalls vom Stab des Präsidenten, ganz zu schweigen von alten Bekanntschaften mit einer ganzen Reihe anderer Tussis aus Tout Washington. Nicht unerheblich bei der Baroness war selbstverständlich die Tatsache, dass es ihr gegebenenfalls ein Leichtes sein würde, mit Sir Basil zusammenzutreffen, der sich mittlerweile mit meiner Unterstützung wieder voll regeneriert hatte (was jedoch seiner Frau vorerst besser verborgen bleiben sollte).

Ich bekam die ganze Konstruktion erst mit, nachdem Seiji und ich irgendwelche Aktenkoffer auszutauschen und danach weiterzuleiten hatten. Es schien mir, dass auch mein japanischer Freund nichts über deren Inhalt wusste, und so gaben wir uns wohl beide der Illusion hin, unsere Dates seien rein privat. Privat, namentlich in Bezug auf ein weibliches Wesen, hieß allerdings bei meinem Oyabun, die vollständige Kontrolle zu besitzen.

Seiji war übrigens klug genug, mit Augenmaß vorzugehen. Nie versuchte er, unserer Beziehung allzu viel Publizität zu verleihen – denn was war schon auffallend daran, dass zwei Leute sich zu einem Geschäftsessen trafen? –, und es fiel ihm nicht ein, mich auf Cheltenham House zu belästigen. Seine Machtbefugnisse beschränkten sich auf jene Tage, an denen er sich in London aufhielt und an denen neuerdings auch ich regelmäßig dorthin eilte. Abgesehen davon, dass es Figuren gab, die sich brennend für uns interessierten – zuletzt (nach dem üblichen Zusammentreffen auf neutralem öffentlichen Boden) landeten wir stets dort, wo wir ungeschoren blieben.

Ab dem zweiten Mal gingen wir praktisch ausschließlich zu ihm (es war wie ein stummer Befehl, dem ich widerstandslos gehorchte, aus Faszination über das dort Gebotene). Nachdem man ihn im Westen sozusagen als Institution zugelassen hatte, suchte er sich nämlich als Erstes eine dauerhafte Bleibe, was nicht schwierig war, denn an repräsentativen alten Villen gab es in der Hauptstadt des neuen US-Bundesstaates England bei-leibe keinen Mangel. Von außen zeigte das Gebäude unverändert seinen viktorianischen Stil, wiewohl großzügig renoviert, denn was Sakamoto auch hier ausgiebig zur Verfügung stand, war offenbar Geld. Innen allerdings befand man sich in einer spektakulären Dependance japanischer Kultur, in einem Ambiente, wie man es im Heimatland des Besitzers vermutlich nicht treffender finden konnte. Bei alldem kam jedoch die persönliche Note Seijis nicht zu kurz, die sich für mich in schwarz lackierten Möbeln vor schwarzen Wänden manifestierte. Überall hingen weiße Papierfahnen mit schwarz gepinselten Hiragana herab, die mir irgendwie bedrohlich erschienen, konnte ich doch ihren Sinn nicht erfassen.

Was ebenfalls nicht fehlte, war ein repräsentativer Baderaum, ähnlich dem, den Trudy in Tokio gesehen und mehr oder weniger gezwungenermaßen auch benützt hatte, nur dass in der Villa jegliche Dienerschaft fehlte, somit auch irgendwelche Yakuzas, die eine Dame mit roher Gewalt behandeln wollten. Der einzige, der in diesem Londoner Klein-Japan Druck ausübte, war Sakamoto selbst, und ihm nachzugeben, hatte ich mich nun einmal, zumindest bis auf weiteres und jedenfalls nicht uferlos, entschlossen.

In mir lief plötzlich eine Bildfolge ab, in den graubraunen Schattierungen eines alten Amateurfilms. Ich sah Brian und mich als Teenager – Geschwister, die aneinander erste Versuche sexueller Erfahrungen unternahmen. Das drängende und wenig feinfühlige Vorgehen meines Bruders bereitete mir zunächst mehr Schmerzen als Vergnügen, und ich lockte ihn Schritt für Schritt auf ein etwas zärtlicheres Terrain, wobei ihm immer mehr klar wurde, dass dies auch sein Schaden nicht war. Aus dieser Zeit stammt, wenn ich es recht bedenke, mein fester Entschluss, mich als Frau nicht ausbeuten zu lassen oder, später raffinierter geworden, meine Willfährigkeit wenigstens äußerst teuer zu verkaufen. Dass mir irgendwann Basil über den Weg lief (oder vielmehr ich ihm), war in meiner Lebensplanung, sofern ich je eine so konkrete hatte, gar nicht vorgesehen, und ich wusste seinen Habitus als Gentleman, der selbst dann elegant blieb, wenn er – seine Worte – im intimen Parcours einmal die Sporen gebrauchte, durchaus zu schätzen. Lange Zeit genoss ich seine Philosophie, man müsse auch in puncto puncti bestimmte Umgangsformen an den Tag legen. Wenn ich allerdings ehrlich war, schien genau das der Grund dafür zu sein, dass ich mich schließlich so leicht von ihm gelöst hatte – eine Art Überdruss nach exzessiver Süßigkeit des Lebens. Was mir noch immer abging, waren allerdings die tiefschürfenden Gespräche, die wir post festum, zwischen weichen Kissen und Decken eng aneinandergedrückt, führten, über Dinge, die wir erlebt hatten, solche, die noch vor uns lagen, und vor allem über die weitverzweigten Unternehmungen meines Baronets, in deren vollen Umfang nur ich (ganz nah bei ihm) Einblick nehmen durfte und für die ich ihm manchen guten Ratschlag sowie des Öfteren sogar die Initialzündung gab.

Das Bett, auf dem Seiji mit mir Sex machte (wobei hier nichts von irgendwelchen Manieren zu bemerken war, aber ich sagte mir in diesem Fall einfach, selbst die extremen Verrücktheiten des anderen zu akzeptieren, sei die Vorraussetzung für eine gute Nummer, wenn auch nicht für eine dauerhafte Beziehung) – dieses Bett bestand eigentlich nur aus einer schwarzglänzenden Platte, die auf vier kurzen Beinen ruhte. Ihn schien es nicht zu stören, auf diesem Monster zu knien oder sich abzustützen oder auch zu liegen – meine Sache war’s aber nicht gerade, gegen diese harte Oberfläche gepresst zu werden. Ich fühlte mich fatal an Brians Schmetterlingssammlung erinnert, bei deren Anblick mir jedes Mal graute, zumal mein Bruder seine Opfer lebend in die dafür vorgesehenen Schaukästen zu pinnen pflegte.

Das Instrument, mit dem der Oyabun mich pfählte, passte allerdings nicht in diesen Vergleich: Es war massiv, aber auch weich, einfühlsam und zugleich mitleidlos, hatte den olivfarbenen Teint seines Besitzers und bereitete lange nicht gefühlte Wonnen. Zusammen mit der Tatsache, dass Sakamoto keinerlei Rücksicht auf meinen Zyklus nahm, schien mir die Physik des Bettes und meine unterjochte Stellung besonders geeignet, um die Wahrscheinlichkeit einer Empfängnis dramatisch zu erhöhen. Ich triumphierte innerlich – am Ende stellt sich doch immer heraus, dass wir Frauen am längeren Ast der Evolution sitzen. Ich genoss es, Seiji so weit zu bringen, dass er sich völlig vergaß: Wenn er Anzeichen der Ermüdung zeigte, stachelte ich ihn mit kalten zynischen Sätzen von Neuem an, bis sein exotischer Körper von Schweiß bedeckt war und die Bilder darauf zum Leben erwachten.

Nicht zu vergessen: Isao Tomitas elektronisch-psychedelische Version von Mussorgskys „Bildern einer Ausstellung” erfüllte zur Gänze den Raum und gab mir den ultimativen Kick.

303

Das Quartett bestand aus den Damen Jilh Kiapooc und Ikxe Pyjjol sowie den Herren Gyk Fylx und Moqo E’ylb – Künstlernamen vielleicht, aber das wusste man bei den Leuten, die aus der Spiegelwelt stammten, nicht so genau, zumal ihre richtigen Namen nicht weniger exotisch geklungen hätten. Gyk spielte Pianoforte, Orgel und Clavinet (seine Instrumente und auch jene der übrigen Musiker hatte selbstverständlich der nimmermüde Manager Ikqyku Diaxu aus den unendlichen Archiven der Stationscomputer in Form von Bauplänen ausgegraben und danach realisiert). Ikxes Domäne war die Gitarre und Moqo saß am Schlagzeug, während Jilh eine ganze Fülle von Tonerzeugern vor sich hatte – Bongos, Congas, Pauke, Roto-Tom, Claves, Triangel, Cabasas, Maracas, Donnerblatt, Tam-Tam, Wassergong, Sirene, Zimbel, Glocken und Tamburin.

Diaxus Club hatte nämlich eine weitere Abteilung eröffnet, genannt die „Baroque Lounge”, die sich nahezu ebenso starken Zuspruchs erfreute wie die beiden anderen Sektionen. Gyk Fylx, der sich auf Basis des unerschöpflichen Informationsfundus als Autodidakt mit der barocken Tanzsuite beschäftigt hatte, konnte sehr bald eine Reihe herausragender Kompositionen vorweisen, die auf den Strukturelementen dieser Gattung aufbauten, vor allem was Tempo und Rhythmus betraf. In seiner Freundin Jilh sowie in Ikxe und Moqo hatte er kongeniale Musiker gefunden, die ihm halfen, seine Vorstellungen zum Leben zu erwecken.

Gerade als die Vier ein Stück mit dem Titel „El amor un fuego, mi corazón una llama?” mit den Teilen Fantasia – Sarabande – Aria – Gigue – Bourée – Pavane – Caprice – Finale zelebrierten, stürmte Kronprinz XY türenknallend herein und rief nach dem König. Als ihn niemand beachtete und alle nur Unmut zeigten wegen des gestörten Kunstgenusses, zog der junge Mann ohne ein weiteres Wort wieder ab. Draußen fragte ihn noch jemand, ob er es denn schon im Hauptsaal versucht habe (wo wieder einmal die schöne Qixi tanzte und ihre üppige Narbe auf dem Griffel zur Schau stellte) oder im „Gatsby” (wo Paare unterschiedlichster Herkunft zu gepflegten Melodien gemütlich dahinwalzten) – aber dieser Zuruf blieb ungehört.

Diaxu hätte dem Königssohn wohl verraten können, wo sein Vater im Augenblick weilte (schon aus Selbstschutz behielt der Betreiber des „King?s & Queen?s Club” seinen Herrscher ständig im Auge), doch er tat’s nicht, denn er durchlebte gerade einen jener seltenen Tage, an denen er von trüben Erinnerungen an den Tod seiner Mutter überfallen wurde. Dieses Ereignis lag zwar sehr weit zurück – denn er hatte damals noch lange nicht die Spiegelwelt verlassen, um Keyhi Pujvi Giki Foy Holby zu folgen –, aber ab und zu trat der Schmerz wuchtig an die Oberfläche: Warum war sie nicht, wohin sie gehörte, hier bei ihm? Warum musste er damals erleben, wie ihre Hände plötzlich so kalt geworden waren?

Seltsam! dachte XY, als er merkte, dass Diaxu in Gedanken so weit entfernt war, dass er nicht einmal die Anwesenheit des Königssohnes registrierte – eine schwere Verfehlung an und für sich, die dieser aber ausnahmsweise ohne Zornausbruch durchgehen ließ. Aus früheren Gesprächen vermeinte er, den Grund für diesen Zustand des Clubmanagers zu kennen, fragte sich allerdings erstaunt, wie ein solches Gefühlssyndrom bei einem Spiegelweltler überhaupt auftreten konnte, nach allem, was er über die jenseitige Realität erfahren hatte: von der Kälte und Beziehungslosigkeit, die dort herrschte und die er auch bei seinem eigenen Vater exemplarisch zu beobachten glaubte.

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

Nicht nur Mango Berenga besaß ihren Lieblingsplatz (die Akademie, leider keinen Ort am Meer), auch König Keyhi hatte auf der Station seine Spielwiese, die einen Anklang an die nicht vorhandene freie Natur aufwies. Er nannte es Stone River oder in seiner Muttersprache P’qouk Cfapp (und für ihn klang, anders als für uns, dieser sperrige Name wie Musik).

Dort konnte er stundenlang sitzen, und dem Rauschen des Wassers zuhören, das aber nur in der Phantasie des Besuchers hervorgerufen wurde. Für Keyhi bedeuteten solche Phänomene kein Problem – zu sehr hatte sich sein Leben in virtuellen Räumen bewegt respektive zu katastrophal waren seine Erlebnisse in natürlicher Umgebung gewesen.

Und mitten hinein in dieses entspannte Ambiente trat als Illusion seiner noch immer aufrechten Liebe die traurige Königin, stand mit ihren meeressüchtigen Füßen auf dem Geröll, das den Fluss symbolisierte. Da auch sie das virtuelle Wasser rauschen hörte, wurde ihr Sehnen nach dem geliebten Element nahezu unerträglich.

MANGO BERENGA:
Steinerner Fluss, lang schon dahingegangen, leblos, und kein Gras, kein Strauch, kein Baum gedeiht an seinen Ufern, kein Tier streift noch umher – nur Starre und Erschütterung: Verdammnis.

Keyhi war aufgesprungen, versuchte sie in seine Arme zu nehmen und zu trösten, wenngleich seine eigene Stimmung sich inzwischen ebenfalls in bleierne Schwermut gewendet hatte. Sie stieß ihn zurück: „Rühr mich nicht an, du Ungeheuer! Du verdammte Seele, die mein ganzes Leben zerstört hat!” Und sie hämmerte mit ihren Fäusten auf ihn ein, wahllos, nicht darauf achtend, ob unter ihren Schlägen womöglich solche waren, die man ihr bei ihrer militärischen Ausbildung als tödlich beigebracht hatte.

Er wiederum wehrte nur diese gefährlichsten Hiebe ab und stellte sich ansonsten schutzlos dem Gewitter. Irgendwie tat es ihm wohl, eine wie immer geartete Gefühlsäußerung seiner Gemahlin zu erfahren.

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

XY hatte den König schließlich gefunden, aber er schien nicht imstande, mit der Nachricht herauszuplatzen, derentwegen er gekommen war – zu sehr nahm ihn die Szene gefangen, die er vorfand. Nur ganz am Rande des Schauplatzes sah er den Vater, im Zentrum groß aber die Mutter, und plötzlich wurde ihm bewusst, wie schön sie war.

MANGO BERENGA:
Am rechten Ort zur richtigen Zeit unter angenehmer Beleuchtung und buchstäblich getragen vom Begehren eines Be¬trachters (und wenn es gleich der eigene Sohn wäre) ist man immer schön, fühlt, dass man immer schön war und ohne weiteres auch immer schön bleiben wird.

XY bewunderte die glatte Haut und den trainierten Körperbau. Es überkam ihn das unbändige Verlangen, sie zu berühren, aber nicht in aller Unschuld (wie es ihm zugestanden wäre), sondern dort, wo es sich für den Nachwuchs nicht schickte – allein, derlei Tabus (auch in Bezug auf XX) waren ihm durchaus unbekannt. Wir wissen ja, dass den beiden Königskindern in diese Richtung keine moralischen Beschränkungen vermittelt worden waren, wenngleich dies eher zufällig und nicht vielleicht aufgrund eines extrem liberalen Weltbildes unterblieben war.

Als Erzähler (das kannst du mir bestätigen, Brigitte) vergisst man manchmal, das Wesentliche zu erwähnen – wobei vielleicht dieses Vergessen dann und wann ein Verweigern sein kann: sei es, dass man Tatsachen vorfindet, die man nicht einordnen kann, indem sich Figuren selbständig machen und autonom weiter denken und handeln, sei es, dass einem etwas schlicht peinlich ist, oder sei es gar, dass man fürchtet, eine Konvention zu verletzen (was schon manchem Künstler das Genick gebrochen hat). Kurzum, die Imagination der Königin, die Keyhi hierhergebannt hatte an seinen steinernen Fluss, war trotz ihres Widerstandes preisgegeben seinem Verlangen. Und sie war ausgeliefert dem Prinzen, den ein seltsamer Zufall auf diese Bühne versetzt hatte; der nichts dabei fand, mit seiner Schwester intim zu verkehren, dementsprechend auch nicht zögerte, die Blöße seiner Mutter ungeniert zu betrachten; und der sich gegen die unweigerlichen Reaktionen seiner Physis nicht zur Wehr setzte.

Aber auch sie, Mango Berenga, sogar als Schimäre jeder Zoll eine Königin, nahm die stumme Ovation des jungen ebenso wie des älteren Mannes huldvoll und ohne Scheu entgegen. Unbeweglich zwar, aber den beiden das Gefühl vermittelnd, sie würde tanzen, heiß, schnell, in einem rascheren Rhythmus als jenem der Caprice, die vom Club herüberklang – hinein in die beginnende künstliche Nacht der Station, und obwohl sonst niemand anwesend war, schien es, als ob alle Welt zusah, wie die Anbetung von Gemahl und Sohn sie in einen Sternenregen hüllte.

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

Nach einer langen Phase der äußerlich unbewegten, innerlich aber hektisch vibrierenden Faszination stieg Keyhi wieder mühsam hoch auf die Ebene seines normalen Bewusstseins. Unendlich langsam stellten sich seine Sinne von Neuem auf die gewöhnlichen Wahrnehmungsprozesse um, und da fiel ihm als Erstes XY auf, der sich in größter Erregung auf den Steinen wälzte, offenbar unfähig, die Emotionen zu zügeln, die Keyhis Traumfigur in ihm ausgelöst hatte.

„Was hast du in meiner Illusion zu suchen, Bube?” herrschte der König den Kronprinzen an – vergeblich allerdings, wie es schien, denn es war um den jungen Mann längst geschehen. Man hätte sein Begehren wohl oder übel aus ihm herausprügeln müssen, aber dazu war der Vater denn doch nicht imstande. Irgendwie hilflos sah er zu, wie der Kleine sich Erleichterung verschaffte – zudem war er aber mitgerissen davon, Zeuge der elementaren Kraft einer Libido zu sein, die alle Schranken niederzureißen imstande schien (theoretisch war’s ihm bekannt, nur erlebt hatte er es noch nie): allen voran das Verbot der Blutschande. Keyhi begriff mit einem Mal, dass diese dauernden Gerüchte über die intime Beziehung XYs zu XX offenbar durchaus den Tatsachen entsprachen.

MANGO BERENGA:
(die wirkliche diesmal, die ihrem Jungen heimlich gefolgt ist, tritt an ihn heran und nimmt ihn in ihre Arme) Bring jetzt nicht alles durcheinander, Keyhi, indem du den alten Ö. beschwörst!

Der König war verblüfft über die unvermittelt legere Art, wie sie ihn ansprach – keine Rede mehr von Majestät und Monseigneur und alldem. Währenddessen kuschelte sich der Prinz an seine Mutter, nicht mehr Mann, sondern Kind, also kindlich, auch ein wenig kindisch: „Ich könnte dich glücklicher machen als der da…”

MANGO BERENGA:
Was ist denn dein Problem, mein Kleiner?

Sein Wunsch war irgendwie bescheiden: „Hättet ihr mir nicht wenigstens einen ordentlichen Namen geben können? Meine Schwester hat’s wenigstens geschafft, sich mit ihren Darbietungen den Künstlernamen Julia zu erwerben, und darum habe auch ich die Initiative ergriffen und zu schreiben begonnen.”

Er zog seinen kleinen elektronischen Notizblock hervor und öffnete ein Dokument. Als die Titelseite erschien, hielt er sie den Eltern hin:

[Grafik 303]

Die Königin lächelte, aber der König tobte los. Allein die Anmaßung, die in der Wahl des Pseudonyms steckte (man konnte zu Recht den umtriebigen Diaxu dahinter vermuten), machte ihn schon rasend, mehr noch allerdings die Tatsache, dass der echte Dichter dieses Namens ein erbitterter Widersacher von Keyhis Idol Napoleon III gewesen war.

Mango Berenga fürchtete ein wenig um ihren Mann, als sie die kalkweiße Farbe seiner hohen Schläfen bemerkte – weniger aus Anteilnahme, wie sie sich selbst eingestand, vielmehr aus praktischen Gründen, denn das konnte unangenehme Komplikationen bedeuten. Zunächst schien es ihr geraten, den ehrgeizigen Sprössling aus der Schusslinie zu nehmen. Gerade dass sie es noch vermeiden konnte, ihn mit Victor anzusprechen.

MANGO BERENGA:
Geh doch jetzt und sieh nach deiner kleinen XX-Julia. Lass dich einfangen in ihrem komplizierten Schwestern-Geliebten-Labyrinth!

Der Prinz folgte dem sanft gegebenen Rat. Es schien, als folgte er den Klängen aus der „Baroque Lounge”, die dezent in der Luft lagen. Gyk Fylx zelebrierte mit seinen Musikern gerade eines seiner mehrgliedrigen Meisterwerke mit dem Titel „Balletti sul dolore del mio destino”, mit dem er an den Zwiespalt erinnerte, nicht mehr in der alten Heimat sein zu können und dennoch froh sein zu müssen, dass er diesen Ort hinter sich gelassen hatte – und wie immer bei ihm schwang selbst in der tiefempfundenen Trauer genug Temperament mit, um nicht völlig in eine Depression abzugleiten.

Wer ebenfalls aus der Spiegelwelt stammte, verstand ihn, und XY-Victor, in diesem Sinn ein Zwischenwesen, verdankte dem Komponisten einen jähen Erkenntnisschub: dass er als Königssohn nie Freunde, sondern nur Untertanen oder Feinde haben würde, mit Ausnahme seiner Schwester, auf die er sich stets voll und ganz verlassen zu können glaubte. Beschwingt suchte er sie auf und forderte sie zu einer Demonstration ihrer Geschmeidigkeit heraus, die sie ihm auch gern gewährte.

Als die beiden schließlich erschöpft dalagen – er wie immer schweigsam, aber bereit zuzuhören, sie hingegen gesprächig wie sonst nie –, erinnerte sich XX an ihr erstes Mal mit dem Bruder. Sie war inmitten der Nacht vom Stöhnen der Mutter erwacht, das laut über den ganzen Gang herüber zu vernehmen war. Sie stieß XY an, wollte ihm sagen, sie müssten der Königin zu Hilfe eilen, die in Schmerzen liege. Aber er hatte sie beruhigt – die Mutter sei im Traum auf eine weite Reise gegangen und all die Wunder, die sie sah, ließen sie ihrer Verblüffung lautstark Ausdruck verleihen. Und dann weihte der Prinz XX in die Geheimnisse einer solchen Reise ein.

MANGO BERENGA:
Nicht dass mir die Kinder davon direkt erzählt hätten, aber mein Instinkt und so manche Andeutungen, derer ihr Herz übergegangen war, ließen es mich ahnen. Und wenn ich auch mit nicht wenig Ressentiments über diese seltsame Verbindung herumging, rührte mich doch die Poesie ihres Beginns: Welche Frau (mich selbst und meine liebe Geneviève definitiv eingeschlossen) konnte sich einer solch wunderbaren Initiation rühmen?

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

Der König saß indessen unbeweglich-meditierend am Ufer seines Steinflusses. Man konnte meinen, der Schlag hätte ihn getroffen. Dennoch sah die Königin nicht nach ihm, sondern folgte langsam ihrem Sohn. Keyhi war übrigens körperlich völlig in Ordnung, bloß geistig war er nicht imstande zu unterscheiden, ob die wirkliche Mango sich entfernte oder sein Trugbild von ihr sich hinweghob.

Einsamkeit umwaberte ihn, aber in dem Moment, in dem er sich voll in sein Verlassensein sinken ließ, war es auch schon wieder irgendwie tröstlich (die ferne Musik tat ihr Übriges). Er war einsam – wie eh und je, solange er nur zurückzudenken vermochte.

MANGO BERENGA:
Es half nichts: Wenn ich selbst überleben wollte, musste ich ihn in dieser Düsterkeit zurücklassen, die praktisch vom Anfang unserer Bekanntschaft – wann auch immer dieser zeitlich festzumachen war – als letztlich unübersteigbare Mauer zwischen uns gestanden war. Ich begab mich in den Palast, in den Serpentina kraft meines Befehls stets freien Zugang hatte, und hoffte, sie möge da sein.

Der Wunsch der Königin wurde erhört. Aus den reichen Falten des seidenen Vorhangs, der sich um ihr Bett spannte, griffen zwei starke Arme nach ihr und zogen sie an ein Wesen, das zwar innerlich ganz hart und technisch, äußerlich jedoch weich und jedenfalls ungekünstelt zärtlich war. „Wie wär?s mit einem kleinen Tour d?horizon?” flüsterte die Androidin „Komm, meine Göttin in richtiger Menschengestalt!”

Gyk Fylx und seine Musiker Jilh Kiapooc, Ikxe Pyjjol und Moqo E’ylb schienen um die Besonderheit dieses Abends zu wissen – so schmachtende Melodien drangen aus dem Club in die Behausungen der Station…

304

Vielleicht hätten Kravcuk und Miss Dan nicht gerade den Terminus „Limes” für ihre Demarkationslinie zwischen Grand America und Groß-China wählen sollen, zumal dieser Begriff ohnehin alle Beteiligten vom früheren US-Präsidenten (mangels allgemeiner Bildung) bis zum chinesischen Staatsrat (mangels Interesse an europäischer Kultur) überforderte. Immerhin stand’s so wörtlich in den Protokollen, alle nahmen es als Definition hin für das reale Phänomen, das dadurch repräsentiert wurde.

Die leichtfertige Verwendung dieses Ausdrucks unter gravierenden Umständen (also zur Bezeichnung einer realen Grenze, ähnlich der des Imperium Romanum) hatte zur Folge, dass die schlafenden Helden der Legio Decima, die in Gallien und Britannien Gefallenen dieser Lieblingseinheit Caesars, aufstanden und zu den Waffen eilten. Sie legten die Lorica an, die Schultern und Torso schützte, sowie die schweren genagelten Caligae, umgürteten sich mit dem Gladius, bedeckten ihren Kopf mit der Galea und ergriffen die beiden Pila und das Scutum.

Nicht ganz zwei Centurien brachte die Legion zustande, obwohl in ihrer historischen Zeit der Tod über Gebühr in den Reihen der Zehner gewütet hatte (nicht bloß einmal war ja das Fatum ihres Imperators erst in letzter Sekunde durch ihren selbstentäußernden Einsatz gewendet worden) – jedoch scheint es, als seien die Veteranen zum größten Teil in einem Trichter des Raum-Zeit-Gefüges auf Nimmerwiedersehen verschwunden, woher sie selbst die Walemira Talmai, die natürlich – wie seinerzeit bei der Manifestation Giordano Brunos in einer neuen Existenz – auch bei diesen wackeren Römern ihre Hand im Spiel hatte, nicht mehr hervorholen konnte. Was sie allerdings damit im Schilde führte, war fürs Erste nicht zu erkennen.

Das Kommando über das Häuflein von vielleicht 150 Kämpfern riss kurz entschlossen der einzige verfügbare Offizier an sich, und er sprach ihnen den alten Eid vor, „zu folgen, in welche Kriege sie auch immer gerufen würden, niemals die Fahnen zu fliehen oder etwas anderes zu tun entgegen dem Gesetz!”, und jeder einzelne erklärte zur Bekräftigung laut „Idem in me!”, wenn die Reihe an ihn kam. Mit fester Stimme kam das, denn wer den brüllenden Germanenhorden des Ariovist oder den blutrünstigen Britanniern standgehalten hatte, kannte keinerlei Furcht.

Der junge Centurio hatte vor Gergovia sein richtiges Leben ausgehaucht, und während der gesamten Zwischenexistenz seither war er davon besessen, seine intensive Ausbildung in Strategie und Taktik und der mörderische körperliche Drill könnte komplett vergeblich gewesen sein. Aber siehe da, jetzt gab es endlich wieder Reiche ähnlich dem caesarisch-augusteischen, da musste es doch auch einen Befehlshaber geben, für den es sich zu kämpfen lohnte!

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

Die römische Einheit tauchte ausgerechnet in Kloybers Zuständigkeitsbereich auf. Der ohnehin bereits bis an die Grenzen der Belastbarkeit überforderte Oberleutnant war verzweifelt.

CENTURIO QUINTUS RUBELLIUS TAURUS:
Die Sache war eigentlich ganz einfach. Ich hatte eine Depesche des Generals Scipio Africanus erhalten, in der er mir befahl, mich mit meiner Truppe bei einem seiner Feldherrenkameraden, einem gewissen Keyhi Pujvi Giki Foy Holby zu melden. Wir sollten zunächst im Gelände rund um Vindobona materialisieren, einmal deshalb, weil wir Zehner uns dort hervorragend auskannten (was sich im übrigen als bloßes Wunschdenken herausstellte, so sehr verändert hatte sich die Örtlichkeit in hunderten von Jahren), zum anderen gab es dort angeblich eine Möglichkeit, den endlos langen Weg zu unserem Einsatz zu beginnen.

Auch und vor allem da war man nicht ganz auf dem Laufenden, denn das Theatergebäude, auf das diese Information sich bezog, war bekanntlich längst niedergebrannt, die Kristallkugel selbst – das potentielle Vehikel der beiden Centurien – nach England…

CENTURIO QUINTUS RUBELLIUS TAURUS:
… nach Britannien…

… transferiert. Jedenfalls zögerte Kloyber nicht lange und wandte sich in dieser komplizierten Causa entgegen allen Vorschriften nicht an seine Vorgesetzten (denen er in keiner Weise mehr über den Weg traute – waren sie überhaupt menschlich?), sondern direkt an Sir Basil Cheltenham. Als Kurier – denn er wollte sich auf keinen der technischen Kommunikationswege einlassen – sandte er seine Sekretärin und mittlerweile Geliebte Sissy Dobrowolny, nicht ahnend, dass er sie damit dauerhaft verlor: Sonst hätte er wohl noch mehr von ihr ausgekostet, als sie das letzte Mal vor ihrer Abreise miteinander schliefen.

„Wie läuft’s mit dem Oberleutnant?” fragte Sir Basil seine Agentin, als er mit ihr und Berenice auf dem Landsitz der ehemaligen Lady Pru zusammensaß, um die Lage zu sondieren. Die da antwortete, hatte nichts von der scheuen süßen Sissy: „Ich habe ihn auftragsgemäß so weit gebracht, dass er mir vertrauensvoll aus der Hand frisst!” Die Walemira Talmai lächelte in sich hinein – der alltägliche Teil ihres Wesens reagierte mit der milden Ironie einer erfahrenen Frau: Wie dumm doch die Männer waren, wenn man ihnen etwas vorstöhnte! Und sie nahm dabei ihren Brian, den sie gewiss von Herzen liebte, gar nicht aus.

Als Ergebnis der Beratungen und einer kurzen Rücksprache Cheltenhams mit dem König von VIÈVE, der in dieser Angelegenheit Druck machte, kam eine dürre Nachricht der Dobrowolny an die Privatadresse des Oberleutnants: Britannia vocat.

Kloyber suchte die Truppe in der verlassenen Halle auf, in der er sie untergebracht hatte. Irgendwie war er froh, den geschniegelten Centurio mit seinen polierten Fingernägeln (diese waren ihm als Detail besonders aufgefallen) loszuwerden.

CENTURIO QUINTUS RUBELLIUS TAURUS:
Der Vindobonensische Optio Prior (so hatte ich mir seinen Rang übersetzt, der jedenfalls unter dem meinen lag) wagte es, mich zu fragen, ob wir wohl imstande wären, die große Insel zu erreichen. Ich benützte die Gelegenheit, um ihn einmal richtig zusammenzustauchen – offenbar hatten seine Vorgesetzten bei ihm einiges versäumt. Erstens wies ich ihn darauf hin, dass er mir – einem Hauptmann – bedingungslosen und nicht zu hinterfragenden Gehorsam schuldete. Als er das mit offenem Mund zu verdauen begann (anstatt ohne Nachdenken eine Ehrenbezeugung zu bauen, wie das in allen Armeen auf dem ganzen Orbis terrarum üblich ist), belehrte ich ihn zweitens über die Kapazität, die eine gut geschulte Legion aufweist. Mit einem Iter iustum, einer Tagesleistung von 16.500 Doppelschritten, und dazwischen eingelegten Itinera magna von 26.500 Doppelschritten würden wir in 40 bis 45 Tagen den Itius Portus am Fretum Gallicum erreichen können – die Straßen befänden sich schließlich in einem hervorragenden Zustand.

„Darauf können Sie wetten, Herr Hauptmann!” antwortete Franz-Josef Kloyber gedehnt und mit der Präpotenz eines Nachgeborenen, der einfach aufgrund der Tatsache, dass er die überlieferten Fakten der Geschichte kennt, auch schon die dahinter versteckte Wirklichkeit oder gar die Motivation ihrer Protagonisten zu begreifen glaubt. Er hatte sich zusammengereimt, dass der Centurio offenbar von einem Punkt in der Nähe von Calais sprach, und stellte sich lebhaft das Aufsehen vor, das die Legionäre auf den Autobahnen und Schnellstrassen von Wien bis an den Ärmelkanal erregen würden. „Soll Sir Basil, der auch ein Freund Ihres Generals Scipio ist und ihnen weiterhelfen wird,” (bei dieser Konnexion sträubten sich dem Oberleutnant leicht die Haare) „nicht vielleicht doch ein mechanisches Transportmittel kommen lassen?”

Er vermied es bewusst, das Wort Flugzeug (Aeroplanus hieß das wohl auf Lateinisch) in den Mund zu nehmen. Seine Angst dabei war nicht so sehr, dass Taurus verständnislos reagieren würde, sondern im Gegenteil die beunruhigende Vermutung, dass der Centurio womöglich genau wusste, was so ein Luftfahrzeug sei. Aber seine Sorge war unbegründet – sein Gegenüber machte ihm auch so herablassend klar, dass er sich sehr gut selbst zu helfen vermochte: indem er nämlich auf einer anderen Zeitebene zu marschieren gedachte, wo niemand es wagen würde, sich über eine auch noch so winzige römische Militäreinheit zu mokieren, geschweige denn sie anzugreifen.

In der Legionärsschar war inzwischen unüberhörbare Unruhe entstanden: Sie waren es einfach nicht gewöhnt, Offiziere vor ihren Augen diskutieren zu sehen, und bedachten den Fremdling mit wenig schmeichelhaften Epitheta.

LEGIONÄR I:
Prodigium!

LEGIONÄR II:
Homo iactans!

LEGIONÄR III:
Procax!

LEGIONÄR IV:
Cacator!

Die Lateinkenntnisse unseres Oberleutnants reichten nicht bis in jene Sphäre, in der er diese Vokabeln in ihrer vollen ordinären Bedeutung verstanden hätte. His nuntiis commotus Caesar duas legiones in citeriore Gallia novas conscripsit – das ja, aber was der einzelne Rekrut dabei gedacht oder seinem Nachbarn zugerufen hat (während jeder von ihnen eine Laus aus dem Brustpanzer hervorholte und genüsslich zwischen den Fingern zerquetschte), entzog sich Kloybers Vorstellungsvermögen.

CENTURIO QUINTUS RUBELLIUS TAURUS:
Da sehen Sie, was Sie mit Ihrem Geschwätz angerichtet haben. Sie haben wohl wirklich keine Ahnung von Disziplin – oder glauben Sie, ein römischer Offizier hätte sich von einem Untergebenen als Scheißkerl bezeichnen lassen, ohne ihn sofort zu töten?

Das Unheroische in Franz-Josef Kloyber behielt auch in dieser provozierenden Situation die Oberhand und verband sich in schöner Weise mit dem Je-ne-sais-quoi, das höheren österreichischen Militärpersonen noch immer als fernes Echo der Habsburger-Monarchie eignet. Der Oberleutnant salutierte zwanglos: „Alles Gute auf Ihrem Weg durch Zeit und Raum, meine Herren!” Mit diesen Worten erniedrigte er elegant den Centurio, indem er ihn auf die gleiche Stufe mit seiner Mannschaft stellte, und desavouierte gleichzeitig das tollkühne Vorhaben zu einer lächerlichen Farce.

CENTURIO QUINTUS RUBELLIUS TAURUS:
Ich werde Sie für eine Castigatio oder für eine Gradus deiectio eingeben!

Der Auslöser dieses Zorns grinste nun unverhohlen und breit. Weder die Androhung körperlicher Züchtigung noch jene einer Degradierung beeindruckten ihn sonderlich, speziell von dieser Seite. Gerade das stärker werdende Murren der Legionäre amüsierte ihn besonders, schien es doch darauf hinzudeuten, dass der Centurio seinen Haufen beileibe nicht so gut unter Kontrolle hatte, wie er sich das einbildete.

Einen guten Rat zum Abschied hatte unser Franz-Josef noch. „Lernen Sie von uns, Amicissime” (Taurus kochte sichtlich bei dieser Anrede), „wie wir in Wien Orient und Okzident assimiliert haben, indem wir zu unserer Denkweise der Linearität jene der östlichen Kreisförmigkeit hinzufügten. Ein und dieselbe Phrase kann bei uns daher bedeuten: ‚ignorieren’ oder ‚in Erwägung ziehen’. Was als schroffe Ablehnung scheinbar monolithisch an unserem Lebenspfad stehen bleibt, kann – wenn man sich die Möglichkeit offen lässt, an derselben Stelle wieder vorbeizukommen – in ein zumindest höfliches Miteinander verwandelt werden. Umgekehrt kann ein ‚Ja’ in Wirklichkeit heißen: ‚Ja, ich verstehe, dass Sie so denken, aber ich bin dennoch der diametral entgegengesetzten Meinung.’ ”

CENTURIO QUINTUS RUBELLIUS TAURUS:
Damit hätten wir wohl kaum die Welt erobern können!

Was es wohl für einen Sinn hätte, die Welt zu erobern – das dachte sich der Oberleutnant bloß, denn die römischen Soldaten ließen es nun nicht mehr mit Verbalinjurien bewenden, sondern rückten bedrohlich gegen ihn vor, bis ein fast unmerkliches Zeichen Ihres Offiziers sie stoppte. Unmittelbar darauf befahl der Centurio „Parate vos! Pergite!”, und der ganze Verein verschwand in einem diffus sich auftuenden Torbogen.

Wo Dolmetscher versagen müssen, sinnierte Kloyber (während er noch dem legendären, unverwechselbaren Klang der marschierenden Legion lauschte), das ist dort, wo die Weltsicht eine ganz andere und damit genau genommen unübersetzbare ist. Er gab sich erneut dem von ihm so geliebten Bild der rollierenden Zeit hin, die immer wiederkehrt – anders als im geradlinigen Modell des Rubellius Taurus, in dem ständig endgültige und unwiderrufliche Entscheidungen fallen. Der Centurio würde den Lauf der Dinge niemals so deuten können wie der Oberleutnant, obwohl er an sich denselben Wahrnehmungsapparat besaß.

Kloyber hingegen durfte sich getrost das eine oder andere Mal in ein Zeitloch verkriechen und dort mit einer gewissen kribbelnden Vorfreude darauf warten, dass er den Faden seiner Geschichte an einer gleichwohl bereits zurückliegenden Stelle wieder aufnehmen konnte. Auch wenn er also (jedenfalls so weit er wusste) anders als der römische Offizier nicht imstande war, eine andere Zeitebene als die gegenwärtige zu betreten, hatte er somit doch eine Fähigkeit, die den Vorteil jenes Kunststücks bei weitem aufwog. Vielleicht würde er sich ja eines Tages reichlich Urlaub nehmen, und es schien ihm, als sollte er danach ein völlig anderer werden können, der ohne Zögern und ohne unsinnigen Verzicht auf nur die kleinste Wonne alles auskosten würde vom Ur-Anfang bis zum Ur-Ende.

305

BRIGITTE:
Von der dunkelhaarigen Schwester DDDs hast du mir nie etwas erzählt – dabei scheint sie mindestens so interessant zu sein wie die blonde Variante!

Nun – äh! – irgendetwas wird man doch wohl für sich behalten dürfen. Aber einerlei, da du’s nun schon erfahren hast…

Laura war ja eigentlich DDDs Halbschwester, aber das wussten nur die wenigsten. Einmal im Leben hatte beider Mutter, Frau de Dubois, ihren Mann nicht mit Romis Vater betrogen (obwohl das mit den beiden sich lange hinzog, schon wegen des eindrucksvollen Instruments, das der alte Romuald sein eigen nannte), sondern mit meinem nominellen Erzeuger. Laura dem noblen französischen Ehegespons ebenso unterzujubeln wie DDD, war nicht schwierig – sie brauchte ihn lediglich zum richtigen Zeitpunkt verführen –, aber wie sie es zuwege gebracht hatte, ihn trotz seines Vaterglücks davon zu überzeugen, dass man das zweite Mädchen im Gegensatz zum ersten nicht im elterlichen Stadtpalais in Wien behalten, sondern zur Erziehung einem Paar in ihrer ländlichen Verwandtschaft (aus der Linie der Hohenthurms) anvertrauen sollte, ist mir nach¬gerade ein Rätsel.

Wie auch immer – Laura wuchs im nördlichen niederösterreichischen Weinviertel auf einem Landgut heran, was bedeutete, dass sie nicht nur zusammen mit den rau gehaltenen eigenen Kindern der dortigen Herrschaft, sondern auch mit jenen der lokalen Bauern herumlief: wild, in keiner Weise sittsam, dafür ständig schmutzig, schnee- oder regennass, sonnenverbrannt, früh ihrer Sexualität gewahr.

BRIGITTE:
Sieht so aus, als wollte die Gnädige Frau Mutter, der die verzwickten Beziehungen eures Stammbaums zu unübersichtlich geworden waren, mit ihrem organisatorischen Kraftakt ein wenig Ordnung schaffen. Wenn man sich die Genealogie eurer drei Familien genauer ansieht, wagt man gar nicht, darüber zu spekulieren, wie die Generation vor euren Eltern sich mannigfach gekreuzt hat: Dann denkst du womöglich, du seist mit dieser Laura nicht im mindesten verwandt (weil dein Vater ja gar nicht dein Vater ist), aber de facto habt ihr vielleicht denselben Großvater, weil DDDs Ahne mit deiner Großmutter mütterlicherseits eine außereheliche Beziehung hatte.

[Grafik 305-a]

Wie Laura und ich einander kennenlernten, ist jedenfalls schon wieder eine äußerst seltsame und komplizierte Geschichte. Du erinnerst dich doch, dass DDD über eine lange Zeit hinweg immer wieder als Gast in meiner Familie war – was die Mutter Dubois damit bezweckte, dass sie das Mädchen bei uns einschleuste, weiß ich nicht: Mag sein, sie wollte meinen Alten provozieren, indem sie ihm genau jene Tochter schickte, die nicht die seine war, oder sie zielte darauf ab, seine Frau in hinterhältiger Weise auf ihn zu hetzen. Nichts davon allerdings geschah: Mein Vater blieb kaltschnäuzig, und meine Mutter war selbst zu erfahren im Seitensprung-Geschäft, als dass sie sich unnötig exponierte. Die Dubois erreichte nichts, lediglich DDD geriet, wie erinnerlich, in intensivste Gefühlsverstrickungen und wurde beinahe vergewaltigt. Nachdem dann ihre Besuche in meinem Elternhaus aufgrund der bekannten Vorfälle zwischen ihr, Romuald und mir aufgehört hatten (etwa um die Zeit, als wir alle 16 Jahre alt waren), kam bald darauf tatsächlich Laura ins Spiel.

Sie war, wie gesagt, ungezügelt aufgewachsen, balgte sich, biss und kratzte und schlug auch schon einmal zu, wenn Gewalt ihr als einziger Ausweg erschien. Frühreif und aus ihren Lebensumständen schnell erfahren geworden, entwickelte sie sich in jener rustikalen Welt zur Bandenführerin, der nicht nur die Mädchen ihrer Gang, sondern auch die Burschen, wenn auch zähneknirschend, gehorchen mussten.

Stützpunkt der Truppe wurde ein aufgelassener Weinkeller im Weichbild des Ortes, etwas abseits in einem Wäldchen versteckt. Der Zugang, ein halbverrottetes Tor, war außen stark mit allen möglichen Pflanzen überwuchert, sodass kein Dorfbewohner, der vielleicht zufällig vorbeiging, auf die Idee gekommen wäre, hier würde sich jemand regelmäßig durchzwängen. Innen führte eine steile Stiege hinab in eine ganze Flucht unterirdischer Räume, die zum Teil noch mit den Utensilien des ursprünglichen Gebrauchs bestückt waren. Vor allem Fässer fanden sich, alle leer, wie die Kinder festgestellt hatten, und langsam ihre Fasson verlierend: eine unheimliche Szenerie, die der Schwarzen Laura, wie sie genannt werden wollte, sehr entgegenkam. In einem geheimnisvollen Ritual zeigte sie ihre schon gut entwickelten Brüste und ihre Körperbehaarung vor – keines der Mädchen konnte schon mit Vergleichbarem aufwarten, und bei den Jungs, selbst den kleineren, regte sich etwas, das sie im Umgang mit Schwestern, Cousinen und Freundinnen in dieser Intensität noch nicht an sich beobachtet hatten.

Laura nützte diese ihre Überlegenheit: Auf ihre Nacktheit mussten sämtliche Bandenmitglieder ihr Treue bis in den Tod schwören (die Kerzen, die man aufgestellt hatte, flackerten dabei gespenstisch, und ihr Schein spiegelte sich auf der Haut der Kommandantin, die bei der Gelegenheit kurz berührt werden durfte). Mit diesem Rückhalt ausgestattet, führte Laura ihren Verein straff und mit zwei klaren Stoßrichtungen: da war die Aggression nach außen – Nachbarorte wurden aus dem Hinterhalt terrorisiert, es gab Diebstähle und Brandstiftungen sowie Attacken gegen so manchen einsamen Wanderer in der Dämmerung; nicht zu vergessen sind aber auch die Maßnahmen nach innen, kleinere Quälereien und Demütigungen, gefährliche Mutproben, aber auch schwerere sadistische Übergriffe, die von der Anführerin persönlich oder auf ihren Befehl durchgeführt wurden.

Das ging rund drei Jahre so. Wirklich in Gefahr befand sich Lauras Regime nur bei zwei Gelegenheiten. Das eine Mal versuchte eine der Hohenthurm-Töchter, bei den Eltern das ganze System zu verpetzen, aber selbstverständlich glaubte ihr niemand. Die Rache der Gang für den Verrat fiel fürchterlich aus: die Delinquentin wurde, nachdem man ihre Kleider zerrissen hatte, im tiefsten Keller auf ein Fass gebunden und bis zur Bewusstlosigkeit gekitzelt und sexuell gereizt.

Das zweite Mal war die Anfechtung für Laura nicht so leicht zu bewältigen. Der Älteste der Burschen fand auf einmal, dass er sich lange genug untergeordnet hatte und verlangte, die Führung zu übernehmen. Wieder wurde die Sache im untersten Winkel der Höhle ausgetragen, und sie prügelten sich lange und unnachgiebig, wobei das Kriegsglück unentschlossen hin und her schwankte. Als alles nichts nützte, griff Laura zu ihrer ultimativen Waffe und rammte dem Gegner ihr Knie mit aller Wucht in die Weichteile, was ihn im Moment zusammensacken ließ. Danach drückte sie sein Gesicht mit aller Kraft gegen den lehmigen Boden, der mit Wein, Wachs und Schwefel getränkt war, bis der Konkurrent nach Luft japste. Da sie wieder Oberwasser hatte, gehorchten ihr die übrigen Untertanen erneut aufs Wort und hielten den Besiegten fest, wonach ihm kräftig blutende Wunden beigebracht wurden. Außerdem sorgte Laura selbst dafür, dass als finale Demütigung auch noch sein Samen in den Dreck floss. Obwohl er versuchte, seine Gefühle zurückzudrängen, stöhnte er vor Lust.

Plötzlich allerdings, etwa zwischen siebzehn und achtzehn, bildete sich diese Terroristin ein, sie müsse in die Stadt und dort etwas lernen. Sie ging zum Friseur, bat die Ziehmutter (diese nahm’s als Marotte gelassen hin wie alles andere auch), mit ihr seidene Wäsche und schöne Kleider kaufen zu gehen, und posierte im sogenannten Spiegelsalon des kleinen Schlösschens als vornehme Dame. Die Gang wurde ein einziges Mal eingeladen, die Metamorphose zu bestaunen, und sodann davongejagt: sie zerfiel in wenigen Tagen, und das Hauptquartier geriet endgültig in Vergessenheit.

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

Mir war praktisch nichts von diesem Hintergrund bekannt, als Laura bei uns einquartiert wurde – nicht sporadisch wie DDD, sondern fix für mindestens etliche Monate, wenn nicht für noch länger. Wieder war es die Mutter Dubois, die das in die Wege leitete, diesmal durch direkte Intervention bei meinem Alten, mit der gleisnerischen Schmeichelei, sie wolle es dem eigentlichen Vater endlich ermöglichen, seine Tochter durch Zusammenleben näher kennenzulernen. Dieser akzeptierte ungerührt, und meiner Mutter war’s allemal Recht, und so stand eines Tages Laura mit ihrem Koffer da.

BRIGITTE:
Und du musstest ihr, wie schon DDD, wieder dein Zimmer überlassen und auf ein Notbett ausweichen?

Nein, denn wir hatten inzwischen vergrößert, und es gab im Dachgeschoß ein Gästequartier, das Laura bezog und das es mir erlaubte, sie ungestört zu besuchen. Sie gefiel mir nämlich, und ich hatte es genossen, als sie bei der Begrüßung länger als nötig meine Hand hielt und sagte: „So schöne, gepflegte Finger, ganz anders als bei uns auf dem Land!” – Egal, ich gedachte, meine Chance zu nützen, noch dazu bar jedes Rivalen, anders als es bei DDD und Romi gewesen war.

Ich drängte mich nicht auf – die günstige Gelegenheit würde kommen und mich auf der Lauer finden. Unsere neue Mitbewohnerin besuchte eine Privatschule, eines jener Institute, an denen man künftigen Vorstandsassistentinnen ihren Schliff verlieh. Es gab dabei auch eine Menge zu Hause zu tun, schriftliche, mündliche und verhaltenstheoretische Übungen, bei denen ich gerne Hilfestellung gab, nicht ganz uneigennützig, wie man sich vorstellen kann. Es war also durchaus üblich, dass ich dann und wann auch ohne Aufforderung das Gästezimmer aufsuchte, und ich tat es bewusst, ohne anzuklopfen, um Laura daran zu gewöhnen, mich wie aus dem Nichts hinter sich auftauchen zu sehen. Ein wenig Intimität hatten bereits die schulischen Exerzitien erzeugt, so etwa bestimmte Abhängigkeiten des Prüfer-zur-Geprüften-Verhältnisses, nicht zuletzt aber die ihr aufgetragenen Rollenspiele, bei denen wir beide zwangsläufig aus uns selbst heraustreten mussten.

BRIGITTE:
Und das alles parallel zu mir! Schämst du dich denn gar nicht!

Meine Liebe: Welche Frau, die mit heißen Küssen überhäuft wird, fragt nach, an wen dieser überschwängliche Partner im Innersten denkt oder infolge welcher Assoziation sein – pardon! – Schwanz, den sie in sich spürt, tatsächlich hart geworden ist…

BRIGITTE:
(steigt bereitwillig darauf ein) … und welcher Mann, den zwei feste weiße Schenkel umschließen und der sich eingesaugt fühlt in das Ziel seiner Wünsche, wird ergründen wollen, wem das alles in Wahrheit gilt oder für wessen imaginäres Ohr die Lustschreie seiner Bettgefährtin bestimmt sind? – Na und, was hat sie gesagt, deine Laura, wenn du wie ein Phantom hinter ihr erschienst, während sie gerade vor dem offenen Kasten stand, und, noch im Stadium spärlicher Verhüllung, unter ihren Kleidern wählte?

Das war eben mein Kick mit ihr. Sie sprach in solchen Situationen von sich in der dritten Person: „Wolltest du sie gerne so überraschen? Wolltest du ihre Wind- und Sonnenbräune durch die dünne Seide schimmern sehen?”

BRIGITTE:
Klingt irgendwie pervers! Aber ich probier’s auch einmal: Willst du ihr – damit meine ich natürlich mich – in der Horizontalen weitererzählen, während sie – damit meine ich wieder mich – dich zärtlich streichelt und langsam erregt?

Mach dich nur lustig!

BRIGITTE:
Aber ich muss das wirklich verarbeiten, dass ich so nebenbei erfahre, wie du genau zu der Zeit intensiver Beziehung zu mir (so dachte ich damals immerhin) ein anderes Verhältnis aufgebaut hast.

Aber es ging nicht um ein Verhältnis, sondern um Sex!

BRIGITTE:
Und da war ich natürlich nicht genug – da musste DDD her und dann noch Laura! Ich bedanke mich für die Kriterien, die mich für diese Auswahl an Damen qualifiziert haben!

Auch ich danke meinerseits für den erlesenen Geschmack, der mich in eine Reihe stellt mit deinem Ehemann Romuald, genannt der Triebhafte, und mit dem tollen Leo Di Marconi, der in einer Liebeserklärung deinen edlen Kopf, den wohlgeformten Rumpf, die zwei strammen Beine, die üppigen Brüste und den knackigen Hintern verherrlicht hat.

BRIGITTE:
Du vergisst die großen wasserhellen Augen, den herausfordernden Schmoll-mund und das kurze blonde Haar – und das machst du absichtlich!

Sag bloß, du kannst nach so langer Zeit diesen Kitsch auch noch auswendig!

BRIGITTE:
Für mich ist’s Poesie, das Schönste, was je über mich geäußert wurde…

Und somit war auch für Laura das Spiel mit dem Kanon „sie – ihrer – ihr – sie” Poesie, und sie verfuhr in diesem Zimmer wie früher im Verlies, wo sie als Herrin ein von ihr ausgesuchtes Opfer an die Täter respektive Täterinnen auslieferte – jetzt aber, da außer uns beiden niemand da war, entäußerte sie sich – zumindest einmal verbal – selbst.

Sie drehte sich zwischen den zwei offenen Türflügeln um, hob langsam ihr Hemdchen, und ich erkannte an ihrer Vorderseite eine Figur, die man präzise mit der Parameterfunktion
{ x=3*cos(t) ? y=3*sin(t)+3*|cos(t)| }
beschreiben kann. „Soll sie dir noch mehr zeigen?” fragte sie lächelnd.

[Grafik 305-b]

Ich griff in eines der Regale, und mit einer einzigen Handbewegung streifte ich ihre Wäsche heraus und zu Boden. „Sie soll vor allem einmal den Müll hier aufräumen!” knurrte ich, drehte mich auf dem Absatz um und verließ sie: Ich hatte die Absicht, meine Untreue dir gegenüber nicht leichtfertig zu begehen!

BRIGITTE:
Du hast tatsächlich in dieser Situation an mich gedacht?

Nicht so, wie du meinst – ich hatte die feste Absicht, mit Laura etwas anzufangen, wollte das nur ein wenig verzögern, und nach ihrem Geschmack scheint das jedenfalls gewesen zu sein. Wäre ich noch geblieben, hätte ich sehen können, wie sie nicht schrie, nicht weinte, sondern einfach in die Hocke ging (wobei sie einen sehr appetitlichen Anblick bot, und daran schien ihr gelegen, auch wenn kein Betrachter anwesend war) und ihre verstreuten Sachen wieder einsammelte.

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

Als ich das nächste Mal bei Laura saß, um mit ihr Englisch-Konversation zu treiben, war unser Ton wieder normal, fast nüchtern. Erst als wir beschlossen hatten, dass es genug war, stand sie langsam auf, kniete sich mit dem Rücken zu mir vor mich hin, die Arme nach hinten gestreckt, wie gebunden. „Und was willst du jetzt, dass sie aus Dankbarkeit für dich tut?” fragte sie leise, während sie ihren Kopf schräg stellte und ein wenig zu mir umdrehte.

BRIGITTE:
Mann, die verstand ihr Geschäft: Das heißt doch, sie hat dir ihre Arteria carotis zum Biss angeboten! An diesem Signal konntest du erkennen, das du alles von ihr bekämst, was du wolltest!

Ich habe ohne zu zögern zugegriffen. Zuerst wagte ich noch nicht viel: Ich rief aus meinem Gedächtnis romantische Situationen ab, die ich mir erträumt hatte und die ich nun wirklich durchleben konnte. Wir gingen spazieren, sahen uns Musicals an, nahmen Dinner bei Kerzenlicht ein, hörten eng zusammengekuschelt leise Musik. Aber das ödete mich bald an – und wie es schien, langweilte sich auch meine neue Freundin mehr und mehr. Am Ende lief es darauf hinaus, dass ich alles, was ein Siebzehnjähriger an zügellosen Phantasien entwickelt, während er sich beim Einschlafen selbst befriedigt, mit Laura in die Realität hob.

BRIGITTE:
Also deshalb hat man eine Zeitlang gar nichts mehr von dir gehört!

Ja, und wenn das nicht passiert wäre, hätte ich später auch nie den Mut aufgebracht, dir vorzuschlagen, nach Hamburg zu gehen und gemeinsam dieses Engagement im „Flaubert”-Club anzunehmen.

Als ich jedoch eins draufgab und Laura ständig drohte, ich würde meinen Eltern alles verraten, weil ich dachte, dass ich damit noch mehr aus ihr herauspressen konnte, präsentierte sie die Rechnung: Sie ging ihrerseits zu meinem Vater (der eigentlich ja gar nicht meiner, sondern ihrer war) und erzählte ihm ausführlich, was vorgefallen war. Er wurde mit ihr handelseins, als er merkte, dass sie keinen Skandal wollte, sondern die Absicherung ihrer Existenz – sie bekam eine kleine Wohnung und eine monatliche Apanage. Sie zog bei uns aus (meine Mutter fragte nicht, wieso), machte ihre Schule fertig und nahm einen Job an.

BRIGITTE:
So viel du auch als Lauras Liebhaber weißt – als Erzähler wissen wir beide natürlich mehr. Die „Firma”, bei der sie anfing, war das Heeresnachrichtenamt. Niemand dort wusste, dass die hausbackene Sissy Dobrowolny – sie hatte erstklassig gefälschte Papiere (auch von deinem Vater bezahlt) – eigentlich eine Schwarze Laura war. Dennoch scheint es unerklärlich, dass sich bei der routinemäßigen Durchleuchtung ihrer Person ex officio keinerlei Verdachtsmomente ergaben.

Die Panne war noch viel größer! Es merkte nämlich außerdem niemand, dass sie ein Verhältnis mit dem russischen (damals noch sowjetischen) Kulturattaché in Wien einging, einem ausgewiesenen Nahkampfspezialisten, dessen Hauptbeschäftigung geräuschlose Aktionen des dortigen KGB-Büros war – von ihm lernte sie nicht nur die grobschlächtige Erotik seiner Heimat, sondern auch, wie man einen Gegner zerlegt, ohne eine Waffe in die Hand nehmen zu müssen. Als er ihrer überdrüssig war, ließ er es bereitwillig zu, dass die Briten Laura für ihre Zwecke umdrehten. Auch das geschah ohne jedes Wissen ihrer österreichischen Dienststelle.

BRIGITTE:
Nicht einmal der neunmalkluge Oberleutnant Kloyber hatte einen Verdacht?

Ein Verdacht war ihm gekommen, aber der ging in die falsche Richtung und zerstob obendrein, als er sich tiefer in Laura alias Sissy hineinbaggerte – ach, wär’ ich nur dabeigewesen, wie dieses raffinierte Frauenzimmer in mitleidig lächelnder Distanziertheit seine sexuellen O8-15-Bemühungen über sich ergehen ließ!

306

In memoriam Murky Wolf.

Er ist eine Traumfigur für mich, den großen Regisseur, für den jemand nur gelebt hat, um auf die Leinwand gebracht zu werden. Schließlich mussten wir Amerikaner uns mangels klassischer Mythen eigene neue erschaffen, zur Repräsentation des Archetypischen.

In memoriam Murky Wolf.

Er hätte ein großer Häuptling seines Volkes sein können, wenn – ja wenn nicht damals, Generationen vor ihm, beginnend mit diesem Columbus, jene weißen Eindringlinge gekommen wären: harmlos zunächst, nur in kleinen Häufchen und Grüppchen, später aber als anschwellende Flut.

Murky ging in die Schule der Weißen, und man sagte ihm, er solle sich eine adrette Kurzhaarfrisur machen lassen. Er wollte mit den anderen mithalten, und die schwarze, ölig schimmernde Pracht wurde hingegeben. Als ob er damit auch seine Seele verkauft hätte, begann Murky wie ein Weißer zu denken, aber es waren nicht seine eigenen Gedanken, sondern Kopien dessen, was er bei anderen beobachtet hatte. Erst in Vietnam (wo die Army ihn wie viele Angehörige anderer Minderheiten hinschickte, um das Leben der wirklich kostbaren Jungs – mit der richtigen Hautfarbe, der richtigen Religion und der richtigen Herkunft – zu sparen), in Vietnam, wo der Tod umging und sich jeden Tag reichlich seine Ernte holte, hatte er nach langer Zeit wieder seinen Medizinbeutel geöffnet, den kleinen Lederfleck mit den heiligen Zeichen am Boden des Zeltes ausgebreitet und die Knöchelchen geworfen. Sie sagten ihm permanent, dass er überleben werde, allenfalls mit leichten Verletzungen, und er dankte im stillen der Fürsorge jener, die ihm eingeschärft hatten, sich niemals von diesem äußeren Zeichen der inneren Kraft zu trennen und das Säckchen stets um den Hals zu tragen. Er vollführte das Ritual so lange, bis er über heimliche Vermittlung Sir Basils zusammen mit seinem Freund Brian Thomson in die Staaten zurückbeordert wurde: als hochdekorierter Lieutenant und sogar ohne jede körperliche Schramme.

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

In memoriam Murky Wolf, der so lange in den Städten der Pale-faces gelebt und sogar einen ihrer Kriege geführt hatte; der zudem – was er besonders zu schätzen wusste – in Europa Verhaltensweisen und Ideen jenseits amerikanischer Naivität kennenlernen durfte: und darunter verstand er durchaus nicht nur die Beziehung zu Tyra, der einzigen Frau, die er jemals (wenn auch auf seine äußerst spröde Art) geliebt hatte. Auch Sir Basil rang ihm Bewunderung ab, denn der besaß eine Menge Fähigkeiten, die auch ihm selbst eigneten.

In memoriam Murky Wolf, der zuletzt nahezu unausweichlich wieder auf heiliges Indianerland zurückgekehrt und dort gegen einen übermächtigen Gegner gefallen war. Mit seinem Tod erhob sich in den Territorien seines Volkes eine unsichtbare Bewegung, die mittels eines übersinnlichen Netzwerkes die Verbindung der Mitglieder untereinander aufrechterhielt. Ein großes Vorbild war der Bleiche Wolf, wie sie ihn von Stund an nannten, für diese Leute geworden, denn es hieß von ihm, er habe sich seiner früheren Natur wieder so weit genähert, dass er ohne Mühe die Gestalt seines Namenstieres annehmen konnte – ähnlich seinem Kampfgefährten, dem Hualapi-Chief Sherman Yellowhawk, der sich problemlos in einen Falken zu verwandeln vermochte.

Die Anhänger Wolfs und Yellowhawks waren nämlich davon überzeugt, dass den beiden in ihren animalischen Formaten nichts hätte passieren können, und aus dieser Erkenntnis heraus begann man nach langer Zeit wieder mit den alten, fast vergessenen Techniken zu arbeiten: sei es im alltäglichen Elend der Reservate oder in der großen Qual weißer Gefängnisse. Mag schon sein, dass der eine oder andere die Magie nicht ganz selbstlos anstrebte, sondern sie zum Stehlen, Rauben oder Morden zweckentfremden wollte, aber die meisten verstanden diese Kunst als integrierenden Bestandteil ihrer verschütteten Lebensart.

Als Zeichen wählten die Jünger des wiedererweckten Kults eine Plakette, von der offenbar Yellowhawk für sich und seinen Freund je ein Exemplar angefertigt hatte. Sie wurde hundertfach vervielfältigt und wie eine besondere Auszeichnung verteilt. Zu sehen war darauf ein geheimnisvolles Frauenporträt, das trotz Federschmucks eher nicht indianisch, genau genommen nicht einmal menschlich schien: Wer die näheren Umstände der tragischen Geschehnisse auf Punkt 113° West / 36° Nord inmitten des Hualapi-Landes kennt, wird wissen, dass es sich um das Antlitz der Androidin Devteri handelt, die gemeinsam mit ihren beiden Partnern zugrunde gegangen ist.

BRIAN THOMSON:
Damit sind wir an einem neuralgischen Punkt angelangt. Wenn auch diese gewisse Gruppe Murky wie einen Heiligen verehrte, wissen wir doch, dass er keiner war. Allzu vielen ist in Erinnerung geblieben, wie er sich die Lippen leckte, wenn sein Jagdinstinkt geweckt wurde: aber beileibe nicht, wenn er Vietcongs vor der Flinte hatte (das wollten sie ihm nur bei den Marines immer wieder eintrichtern). Nein – Murky Wolfs Signale waren abgrundtiefe Augen, langes dunkles Haar, aufgesteckt zu tragen, damit es gegebenenfalls geöffnet werden konnte und in Kaskaden herabfiel, ein bronzefarbener Teint, auch wenn durch Sonne oder Solarium nachgeholfen worden war, nicht zu vergessen eine zwar weibliche, aber doch akzentuiert athletische Figur, die dem männlichen Aggressor Einiges an Widerstand entgegensetzte, ehe die Bastionen fielen.

Stimmt schon – diesem Typ folgte er konsequent, und bis auf einmal im Leben war’s gar keine individuelle Person, sondern bloß eines der vielen Modelle dieser Seriennummer. Bewegte er sich einmal ein wenig außerhalb dieses Schemas (wie damals vor langer langer Zeit mit Charlene), stilisierte sich das in seiner Psyche zu einer Art Mitleidshandlung um – schließlich konnte man irgendwelche armen Frauen, auch wenn sie blond und hellhäutig waren, nicht unbefriedigt ihrem weiterem Leben überlassen!

BRIAN THOMSON:
Man mochte meinen, dass ihm jegliche Selbstreflexion fehlte – das klingt natürlich sehr anmaßend aus dem Mund dessen, dem Murky erst beigebracht hat, sich selbst zu bewerten und nicht einfach hinzunehmen, was der Vater, der Lehrer, der Reverend, der Ausbilder sagte oder wollte. Hätte er nicht eingegriffen, wäre ich immer mehr zum Raubtier geworden, mit einem bösen Ende unter der Last fremdbestimmter, aber von mir begangener Verbrechen. Lieutenant Wolf war es also, der letztlich dafür gesorgt hatte, dass ich zum Initiierten der Koori und zum Geliebten der Schamanin werden konnte.

Also war Murky, der spätere Graue Wolf, doch ein Heiliger – obwohl er im Auftrag von Sir Basil mindestens einen Angehörigen des Ordens der Orangenblüte liquidierte sowie gemeinsam mit seinem Freund Sherman bedenkenlos die vier Professoren Schreiner, Ivanovich, Kouradraogo und Migschitz kidnappte (und wer weiß, was da noch gewesen sein mochte)?

Yellowhawk, ein wirklicher Häuptling und einer vom alten Schlag dazu, hätte es erklären können: „Lange vor unserer verbildeten, artifiziell verseuchten Zeit waren die Umstände jeglichen Tuns klarer, auch die darin wirkende Moral. Man trennte bei einem Mann zwischen seinem Amt, in dem er tat, was getan werden musste (wobei er den strengen Grundsätzen seiner Gemeinschaft Rechnung zu tragen hatte), und seiner persönlichen Sphäre, in der er einfach seine naturgegebenen Triebe auslebte – wobei er keinerlei Schuld auf sich laden konnte, wenn er diesen folgte.”

Yellowhawk hätte uns sein Medizinrad mit den Symbolen für die Jahreszeiten hingehalten, und wir hätten verstanden: dass in jener ursprünglichen Zeit der Frühling die spielerische Kindheit, der Sommer die Überfülle der Jugend, der Herbst das reife Leben und der Winter die Weisheit des Alters bedeutete – wie hätte man da schuldig werden können, wenn man einfach das erfüllte, was vorgegeben war?

Anders die Kehrseite des Medizinrades, auf der die Himmelsrichtungen zu erkennen waren: der Osten stand fürs Entscheiden, der Süden fürs Geben, der Westen fürs Halten und der Norden fürs Empfangen – Sinnbild der Verantwortung des Chiefs, dessen Herrschaft über Wohl und Wehe aller sowie über Leben und Tod eines jeden einzelnen losgelöst war von jeglicher Individualität.

BRIAN THOMSON:
Murkys Geburtstotem, der Wolf, regiert die dritte Periode des Winters, dessen Stürme mit ihren willkürlich wechselnden Richtungen aus den Wolf-Menschen leidenschaftliche, aber auch anpassungsfähige Persönlichkeiten machen, die ihre beträchtliche Energie gleichzeitig auf scheinbar gegensätzliche Unternehmungen richten können. Wölfe sind emotional unverwüstlich und erholen sich daher auch rasch von Enttäuschungen – wer wüsste besser als ich, dass sie das Gleiche unbekümmert auch von anderen erwarten?

Wolfs Totem sagt uns aber auch, dass er – entsprechend dem traumverlorenen Erwachen der Natur am Ende der kalten Jahreszeit – die Gabe starker Intuition besaß.

BRIAN THOMSON:
Was aber nützten ihm seine angeblich so außergewöhnlichen Fähigkeiten, wenn er am Ende doch ins Gras beißen musste, hingemetzelt durch eine Macht, die ihm weit überlegen war, die sich perfekt zu tarnen wusste, weit perfider als die seinerzeitige US-Kavallerie. Was nützte ihm sein indianischer Seelenbaum, die Eiche, die ihm Größe und langes Leben, Stärke und nachhaltigen Erfolg versprach?

Die Eiche bedeutet auch, dass ihr Schützling in Krisenzeiten ein unerschütterlicher Beistand für andere ist, und genau darum mag es sein, dass sich selbst bei diesem hervorragend ausgestatteten Kämpfer die Energiereserven erschöpften. Die Eiche als Symbol verheißt nämlich dem Wolf-Menschen endgültig nichts Gutes: dass das letzte Ziel seiner Wünsche unerreichbar bleibt.

BRIAN THOMSON:
Was immer Murkys spätere Jünger, von denen die weitaus meisten ihn nicht persönlich gekannt hatten, ihm in den Mund legten, ich kann bezeugen, dass er derlei nie gesagt hat – denn seine ganze Sprache war eine andere. Selbst wenn man akzeptiert, dass er sich als Rückkehrer in seine angestammte Kultur in einer Sphäre bewegte, die anders war als seine frühere Nachahmung weißer Lebensart, wird man Sätze wie: „Ich wurde geboren, wo nichts das Licht der Sonne brechen konnte, wo es keine Grenzen gab!” bei ihm vergeblich suchen. Wenn man ihm daher dergleichen unterstellt, ist es bestenfalls gut erfunden!

Bleibt die entscheidende Frage, ob Murky gewollt hätte, was in seinem Namen von seinen Anhängern angerichtet wurde, um die Wirtschaft der Pale-faces und damit ihre ganze Gesellschaftsform an ihrem Lebensnerv zu treffen – aber einerlei, es geschah eben. Der engere Kreis des sogenannten Grey Wolf Platoon hatte die uralte Fähigkeit wiedererlernt, durch kollektive Meditation und daraus erfließende gebündelte Willensäußerung den Naturgewalten zu gebieten.

Das erste von ihnen gelenkte Ereignis – das sofort große Publizität fand und selbst in der von oben gelenkten Presse zu leise angedeuteten Zweifeln an der Handlungsfähigkeit von Ray Kravcuks autoritärem Staats- und Perteiapparat führte – fand in einem County unweit von Yellowhawks Heimat statt: Ein massiver Erdrutsch zerstörte auf einige Kilometer den dortigen Interstate Highway zusammen mit der parallel verlaufenden Bahnlinie und der ebenfalls dort vorbeiführenden Erdölpipeline.

Kaum war diese Katastrophe einigermaßen überstanden (und das hieß nichts anderes, als dass vom überregionalen Aufsehen nur noch die lokale Notlage der Betroffenen übrigblieb), ereigneten sich weitere Vorfälle dieser Art: Heftige Stürme mit eisigen Temperaturen überzogen bereits im Spätherbst ganz North Carolina, Virginia sowie teilweise sogar noch Maryland und Delaware mit einer dicken Schneedecke. Sie brachten nicht nur den Verkehr, sondern in weiterer Folge das gesamte öffentliche und private Leben zum Erliegen. Fast gleichzeitig brach der Vulkan Mount St. Helens im Bundesstaat Washington aus und überschüttete Dutzende Quadratmeilen seiner Umgebung mit einem dichten Stein- und Aschenregen. Gerade als sich die Aufmerksamkeit der Medien darauf konzentrierte, erfolgte der nächste Schlag: Weiträumige Feuer in den Bundesstaaten am Golf von Mexiko bewirkten immense Ernteschäden und beeinträchtigten auch die anderen Branchen schwer, ganz zu schweigen von der durch sie ausgelösten Luftverschmutzung.

Als die Behörden in Washington, die für die jeweiligen Gebiete den Notstand ausgerufen und ihnen Hilfe zugesagt hatten (ohne selbst recht an deren Finanzierbarkeit zu glauben), bereits ein Ende der Pannenserie sahen, geschah das Unfassbare. Am Oberlauf des Tennessee River kam es zu schweren Regenfällen. Eine Flutwelle drückte gegen den Ft. Loudoun Dam, und nach eineinhalb Tagen vergeblicher Versuche, die Wassermassen geordnet abfließen zu lassen, brach die Staumauer. Im Dominoeffekt wurden knapp hintereinander der Watts Bar Dam, der Chickamauga, der Nickajack, der Guntersville, der Wheeler, der Wilson und der Pickwick Landing Dam zerstört. Die Schäden erreichten ein ungeahntes Ausmaß, zumal die Stromversorgung der Bundesstaaten Georgia, Alabama, Tennessee und Kentucky zusammenbrach und erst nach Wochen wieder notdürftig hergestellt werden konnte. Im gesamten Ostteil der USA mussten zumindest Energiesparmaßnahmen verfügt werden, womit die Produktionsausfälle ganzer Wirtschaftszweige und die Verluste an privatem Vermögen endgültig einen Gegenwert von mehreren hundert Milliarden Dollar erreichten.

Jetzt war die Regierung keinesfalls mehr in der Lage, in ausreichendem Maß materiell respektive finanziell zu helfen. Vielmehr musste sie ihre weltweit stationierten Militärkontingente reduzieren, weil sie die Soldaten dringend benötigte, um zu Hause Ruhe und Ordnung aufrechtzuerhalten – schließlich war bereits vielerorts der Ruf nach gewaltsamen politischen Veränderungen laut geworden, nicht zuletzt sogar in den eigenen Reihen der Administration. Der Präsident verfügte daraufhin eine drastische Verschärfung des ohnehin de facto bereits bestehenden Kriegsrechts. Bei seiner Geliebten, der Großen Vorsitzenden des Chinesischen Reiches meldete er sich in dieser Situation nicht: Er konnte sich wohl denken, dass sie bestens informiert war, und zugleich hoffen, dass ihrer beider Beziehung verhinderte, dass er gerade jetzt auch noch von jener Seite angegriffen wurde.

BRIAN THOMSON:
Die Verursacher all dessen, das wusste wiederum Berenice, saßen währenddessen im Hualapi-Reservat um ein Feuer und blickten ernst, aber ohne Triumphgefühl in die Flammen. Nachdem die Pfeife herumgegangen war, deren Rauch die Sinne der Anwesenden beflügelte, sahen sie weitere Möglichkeiten in der Glut: Noch hatten ihre Aktivitäten die großen Städte nicht direkt in Mitleidenschaft gezogen. Da aber erschien ihnen das Bild der Walemira Talmai, die ihnen Einhalt gebot: Für’s Erste sei’s genug, denn die Welt habe noch andere Probleme. Sie zeigte sich in dieser Vision Hand in Hand mit dem Idol des Grey Wolf Platoon, und Murky (der im Vergleich zur handfesten Art, die er zu Lebzeiten an den Tag gelegt hatte, seltsam entrückt aussah und damit ziemlich großen Eindruck machte) sprach ebenfalls begütigend auf seine Bewunderer ein. Er erinnerte sie daran, dass ihnen ihre besonderen Fähigkeiten nur unter der Voraussetzung gegeben waren, im Einklang mit der Natur zu handeln, und dass sie darauf achten müssten, diese nicht missbrauchen zu wollen.

Der Platoon beschloss, die weiteren Entwicklungen zu beobachten und sich neuerliche Aktionen allenfalls vorzubehalten. Bis allerdings diese Zurückhaltung sich – infolge des Ausbleibens weiterer Katastrophen – im Bewusstsein des offiziellen Grand America manifestierte, dauerte es selbstverständlich einige Zeit. Ray Kravcuk, der unter dem Eindruck seiner Bedrängnis in seltener Demut geradezu asketisch lebte und praktisch nur über Trudy, seine Sicherheitsberaterin, mit der Außenwelt verkehrte, hatte sich innerlich eine Deadline von zwei Monaten gesetzt, während der er täglich fragte: Neue Hiobsbotschaften?

Erst als bis zum Ende dieser Frist kein weiterer Alarm erfolgte und der Präsident das Gefühl hatte, wieder einigermaßen fest im Sattel zu sitzen, wandte er sich erneut physischeren Bedürfnissen zu. Trudy, die – um ihn abzulenken und aufzuheitern – in immer gewagteren Outfits bei ihm erschienen war, freilich ohne Erfolg, wurde von einem Tag auf den anderen wieder als Frau wahrgenommen. Ray forderte sie auf, die Tür zu verschließen, und sich danach mitten im geschichtsträchtigen Oval Office, das schon so viel feierliche, aber ebenso viele obskure Szenen gesehen hatte, zu entblättern. Wie gut das tat, dachte er während des folgenden leidenschaftlichen Infights, auch angesichts fehlender Aussicht, Dan Mai Zheng in absehbarer Zeit zu treffen. Trudy wiederum, die sich eines Geradezu-Nichts in Lichtblau, ihrer Lieblingsfarbe, entledigt hatte, jubelte innerlich: Erstens war ihr Motto seit frühesten Washingtoner Tagen immer „Allzeit bereit!” gewesen, zweitens fand sie es nicht gut, wenn ein so mächtiger Mann zu lange unter innerem Druck stand, ohne sich entspannen zu können, und drittens konnte sie sicher sein, ihn wieder so fest in der Hand zu haben wie er sie.

Als ihr Boss dann erschöpft auf dem damastbezogenen Sofa saß und seine derangierte Kleidung in Ordnung brachte, drapierte sich Trudy gelöst und unbefangen, noch immer in ihrem Birthday suit, vor ihm auf dem weltbekannten, mit dem Wappen gezierten Teppich. Sein Blick ruhte gerade wohlgefällig und ausgiebig auf ihrem gestylten Cheerleader Body (was dieses Mädel mit den einschlägigen Erfahrungen ohne weiteres schamlos aushielt), als sie ihn beiläufig informierte, dass sie Post von ihrer Vertrauensperson in England hatte.

Ray fuhr hoch – was gab es denn schon wieder für unangenehme Nachrichten? Und sie erzählte ihm, während sie weiter entspannt vor ihm lag und ihm mit eindeutigen Bewegungen das eine oder andere intime Panorama darbot, von den Gerüchten (so nannte sie’s, einen höheren Stellenwert wollte ihr kluges Köpfchen dieser Geschichte vorerst nicht einräumen) über eine Invasion Außerirdischer.

„Thanks God!” rief der Präsident erleichtert: „Damit werden wir schon fertig!” Von neuem beflügelt (und wohl auch ausgehungert von seiner langen Abstinenz), zog er Trudy noch einmal an sich. Hinter der Tür kicherten Amy und Pussy, wie immer pink und neongrün gewandet sowie überaus blond, und hofften, womöglich auch noch etwas für den Boss tun zu dürfen.

307

Die gemeinsame Reise nach Griechenland, die Anastacia Panagou sich und Giordano Bruno verordnet hatte, veränderte ihren Liebsten. Sie fühlte, ohne dass sie es erklären konnte, wie er dahinschwand. Unter normalen Umständen hätte sie die Erfahrung, dass ein Partner geistig wie physisch ungreifbarer wurde, auf die Länge der Beziehung zurückgeführt, aber bei Giorduzzo konnte man das wirklich nicht so genau wissen – was bedeutete jemandem wie ihm Zeit, Veränderung, Geschwindigkeit der Veränderung? Ihm, der wahrhaftig Jahrhunderte und astronomische Distanzen entlanggewandert war…

Zunächst war noch nichts zu merken gewesen. Anastacia hatte das Köfferchen, in dem sich das riesige Raumschiff NOSTRANIMA verbarg, veranlasst, sich in eine großzügig ausgelegte weiße Yacht zu verwandeln: Diese brachte das Paar in vielen entspannten Tagen bis in die Ägäis, womit auch das Problem umgangen wurde, dass Giordano keinerlei Papiere besaß, mit denen er sich gegenüber irgendwelchen Behörden ausweisen konnte. Wind und Sonne verwandelten die Panagou langsam wieder in jene haselnussfarbene hennarothaarige Griechin, als die sie aufgewachsen war, und ein ähnlicher Effekt ließ Giorduzzo wieder zu jenem Latin Lover werden, von dem sie es gerne hatte, wenn er ihr seine Zärtlichkeit schenkte (an Bord geschah das wieder wenigstens ein oder zwei Mal am Tag und damit viel häufiger als im feuchten England).

ANASTACIA:
Siehst du, Giorduzzo, selbst hier angesichts dieser winzigen Insel, vor der wir vor Anker gegangen sind, kannst du etwas über Raum und Zeit erfahren: Für uns Griechen ist nämlich das Meer schon immer da gewesen, unser Meer jedenfalls, das in den Schattierungen von türkis bis dunkelblau schimmert und auf dem seit ewig die weißen Rosse Poseidons dahingaloppieren. Welches Klima hier herrschte, welche Vegetation das Land trug, welche Menschen hier lebten, es war immer dasselbe Meer.

Und ihr Geliebter ließ sich ein mit diesen Gewässern, begriff, was Anastacia ihm sagen wollte – dass diese anders waren als überall sonst, anders selbst als rund um Italien, vielmehr einzigartig und nirgendwo mehr auf der Welt zu finden. Anastacia wurde für ihn Gäa, die Erde, die dem Chaos entsprang, und er wurde für sie Uranos, der als Himmel sie ganz bedeckte – deren Vereinigung fand bekanntlich in den feuchten Gefilden Pontos statt. Giordano wusste allerdings wohl, dass – folgte man der Götterlegende – Gäa ihres Uranos eines Tages überdrüssig geworden war, nicht zu vergessen: mit barbarischem Ende. Aber das schien weit, wenn er in den Armen der Panagou lag und der Sand überall auf ihrer beider Haut war. Dennoch: Er spürte Durchlässigkeit in sich, den Beginn eines langsamen Verdämmerns.

Streng blickte die Ikone des kleinen Klosters (das sie regelmäßig besuchten, um dort die Gastfreundschaft der Mönche in Anspruch zu nehmen) auf ihn herab. Die heidnische Gäa hatte sich in eine christliche Heilige verwandelt, aber einerlei, was er betrachtete, er sah immer wieder nur sie: Anastacia. In ihrer Herbheit war sie tatsächlich eine schöne Göttin, und es wunderte ihn nicht mehr, dass sie ihn eines Tages hierhergebracht hatte, um ihm ihr wahres Ich zu eröffnen. „Der Name Ihrer Frau”, erklärten die einfältigen Brüder (ihnen musste man ein Ehepaar vorspielen), „leitet sich von der Auferstehung des Christos her, der – indem er aus dem Grab trat – den Tod in Fesseln legte und damit Adam und Eva aus der Unterwelt heraufführte: aus der Vorhölle, in der sie gezwungen waren zu sein, bis ihr gesegneter Sündenfall diesen herrlichen Erlöser fand.”

An dieser Stelle hatte Giordano Bruno klarer denn je erkannt, dass auch er seit der Auslöschung seiner ersten Existenz durch die Inquisition in einem Zwischenreich lebte, und dass seine eigentlich uralte Leiblichkeit nach Erlösung strebte, die kein Begehren mehr kannte, mithin auch keine Enttäuschung und keinen Schmerz: Leichthin würde er dafür all seine besonderen Kenntnisse und Fähigkeiten hingeben. Diese Strömung erfasste ihn und ließ ihn nicht mehr los.

ANASTACIA:
Wieder zurück in England, hatte ich, wenn wir zusammensaßen und plauderten – äußerlich war alles nahezu unverändert –, zunehmend das Gefühl, durch Giordano hindurch zu sehen, wenn ich ihn betrachtete. Er sprach über diese und jene Theorie, und ich hatte mehr und mehr den fatalen Eindruck, dass er sich nur noch selbst zuhörte. Ich wehrte mich mit aller Kraft dagegen, dass der Sog, der ihn nicht mehr losließ (und vor dessen Verlockung kein Mensch gefeit ist), auch mich ergriff. Schließlich hatte ich noch so viel zu tun.

Die Panagou stürzte sich nach langer Zeit wieder in ihre Arbeit. Giorduzzo sagte das eine oder andere Mal wehmütig, dass sie ihn nach Bedarf auch weiterhin viel fragen könne, aber sie erkannte instinktiv, dass es ihn nicht mehr wirklich interessierte – und eines Tages war er verschwunden.

ANASTACIA:
Wann immer ich später an ihn dachte, tat ich es mit einer ebenso bedauernden wie bedauernswerten Definition: Er hat sich in Luft aufgelöst. Anfangs griff ich nachts neben mich ins Leere, dann erinnerte ich mich an die Szene auf der Yacht, als wir nebeneinander standen und für jeden zufälligen Betrachter die androgyne Gestalt Giorduzzos kaum zu unterscheiden gewesen wäre von meiner eigenen, für eine Frau eher kantigen und ganz und gar nicht voluptuösen Silhouette. Von da an berührte ich mich selbst, wenn ich nach ihm Sehnsucht hatte, und er gab mir die Liebkosungen, für die ich ihn angebetet hatte, durch meine eigene Hand. Und doch fühlte ich mich unglücklich – ich ertappte mich bei dem Wunsch, Vangelis käme wieder zurück.

Sie arbeitete mit Hochdruck: Die Cheltenham’schen Werkstätten (perfekt ausgestattet und organisiert wie alles, was Sir Basil in die Hand genommen hatte), ließen keinen Wunsch offen, wie Anastacia bereits bei der Konstruktion der NOSTRANIMA festgestellt hatte. Dementsprechend standen im Nu vier neue Androiden da, zwei männliche und zwei weibliche, wie man an den Merkmalen ihrer in heller bis mittlerer Bronze schimmernden Körpern sehen konnte.

ANASTACIA:
Ursprünglich wollte ich auch dieser Serie (wie schon der ersten, die mittlerweile zerstört war) griechische Namen geben. Zur Erinnerung an Giordano Bruno nannte ich jedoch die weiblichen Exemplare Primavera und Estate, die männlichen Autunno und Inverno: Ich war es meinem verschwundenen Liebhaber einfach schuldig, ihm eine Art Denkmal zu setzen. Während ich die Vier ersten Ausbildungsmaßnahmen unterzog, baute ich bereits an der nächsten Gruppe, ließ aber nun meiner Neigung freien Lauf: Afrodíti hieß Sie, Irmís hieß Er, und Oudéteron nannte ich Es – ein Maschinenwesen, das sich, abgesehen von seinen allgemeinen Kalibrierungsfähigkeiten, im Nu von einer weiblichen Figur in eine männliche verwandeln konnte und umgekehrt. Die AP 2000 ® alias Anpan, meine älteste und liebste Androidin, die mir bei meinen Hervorbringungen behilflich war, schien gerade von dieser zuletzt entstandenen Person außerordentlich fasziniert.

Wie sollte es auch anders sein? Einmal fesselte mich als Quasi-Schwester der Neugeschaffenen grundsätzlich die Tatsache, dass ich in die Erzeugung von Artgenossen soweit eingebunden war, dass man es von meiner Seite als Reproduktion deuten konnte – und das war schließlich mein Hauptargument dafür, dass wir Androiden auch dieses Kriterium des Lebens erfüllen: nämlich uns ebenso wie richtige Menschen fortpflanzen zu können. Des Weiteren erregte mich im Besonderen die Existenz dieses Zwischendings, das es in der Menschenwelt in dieser Form gar nicht gab, denn ein menschlicher Hermaphrodit konnte nicht beliebig zwischen zwei Daseinsformen wechseln. Oudéteron hingegen wurde vor meinen Augen vom Mann zur Frau und umgekehrt. Ich spielte mit dem Gedanken, mich gelegentlich gemeinsam mit meinem geliebten Pifsixyl Xifu und diesem Etwas zurückzuziehen, um unserer Beziehung mehr Würze zu verleihen. Ich malte mir aus, Pif zusehen zu lassen, wie die männliche Facette des Oudéteron es mit mir trieb – nein, das war nicht gut, das würde meinen Freund eher abstoßen. Lieber das weibliche Oudéteron im lesbischen Spiel mit mir als Anregung für Pif und mich…

Aber was war das? Weinte die starke Anastacia Panagou etwa? Ich war äußerst beunruhigt, denn Tränen als Ausdruck bestimmter Gemützustände waren uns Androiden trotz der Genialität unserer Schöpferin verwehrt – ich hatte sie schon mehrfach dazu befragt, allein sie wusste selbst nicht, wie sie dieses technische Problem in den Griff bekommen konnte, und selbst der geniale Giordano Bruno hatte nicht den Schatten einer Idee dazu. Es war paradox, unser Model for Emotional Response – in seinen verschiedenen individuellen Ausprägungen – vermochte zwar jene Dispositionen zu simulieren (oder sagen wir besser: herzustellen), bei denen richtige Menschen weinten, aber die flüssige Begleiterscheinung blieb uns verwehrt.

ANASTACIA:
Derlei theoretische Überlegungen, mein Kind, sollten dich aber nicht vergessen lassen, deiner Mutter beizustehen, wenn sie verzweifelt ist!

Sicher doch, aber diesmal hatte ich es mit der schwierigsten Anforderung zu tun, die es für unsereins geben konnte: Verzweiflung! Wie sollte eine Androidin wie ich mit Verzweiflung umgehen? Irgendwie war doch alles relativ einfach – man formulierte ein Ziel (meinetwegen ohne weiteres ein erotisches) und versuchte abzuwägen, wie man es unter den gegebenen Umständen mit den vorhandenen Mitteln erreichen konnte. Errechnete sich die Probabilität mit weniger als 67 %, konnte man es nahezu vergessen, aber das war doch kein Grund zu verzweifeln: Es gab andere potenzielle Szenarien mit größeren Chancen.

ANASTACIA:
… sagte Aschenbrödel, verzichtete auf den Prinzen und borgte sich von dessen Schwester den Frosch.

Ich muss wohl ein wenig albern dreingesehen haben.

ANASTACIA:
Man nennt es Ironie. Es ist, ebenso wie die Tränen und die Verzweiflung in virtuellen Lebewesen kaum herzustellen, denn man kann sie nicht simulieren. Der arme Pif – wenn er wüsste, wie nüchtern du trotz MER an edle Gefühle herangehst! Gut, dass er nicht in dich hineinschauen kann!

Ihr Lachen beruhigte mich. Das war wieder die Anastacia Panagou, die ich gewöhnt war. Vangelis wird wieder zurückkommen, legte ich los, um nur ja nicht noch einmal so ein Gefühlsvakuum aufkommen zu lassen. Der Fernkontakt zu ihm ist zwar teilweise sehr schlecht oder ganz unterbrochen, aber so weit ersichtlich, war er auf seiner ganzen langen Reise noch nie mit Situationen konfrontiert, die er nicht meistern konnte.

ANASTACIA:
(murmelt) Das war auch nie meine Angst, sondern dass ihn jemand in Versuchung führen könnte…

Ich tat so, als hätte ich nichts gehört. Mir war unklar, was zu antworten sei, denn ich verstand den Sinn ihrer Bemerkung nicht. Denk nur, schwadronierte ich weiter, vor einiger Zeit besuchte er den Planeten eines toten Zentralsterns und traf dort einen Greis, der ihn unwillkürlich an eine gealterte Version Brunos denken ließ, aber der war’s nicht, denn der befand sich zu diesem Zeitpunkt noch hier.

ANASTACIA:
(leise und beiseite) Oder hier und dort gleichzeitig, was bei seinen technisch-philosophischen Fähigkeiten nicht auszuschließen war.

Sie machte mich rasend heute.

Also wie auch immer, diese Person verwickelte meinen Quasi-Bruder, der unterwegs war, um die Wirklichkeit auszuloten und solcherart ein echt bedeutender Vertreter unserer Spezies zu werden, in ein metaphysisches Gespräch. Dagegen stellte sich allerdings das Abenteuer auf Amnor – als die Echwejchs ihn mit diversen physikalischen Zuständen drangsaliert hatten – als vergleichsweise harmlos heraus. Davon wusste nun Anastacia gar nichts, weil sie es bis jetzt abgelehnt hatte, über die genauen Wege des AMG informiert zu werden, solcherart Hoffen und Bangen einer Mutter durchleidend, deren Sohn in die weite Welt gezogen ist.

Der Große Alte, wie Vangelis den Greis nannte (der sich das im Übrigen gerne gefallen ließ) konfrontierte ihn mit ewigen Fragen: „Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir?” Nicht einfach zu beantworten für einen Androiden, und doch beschäftigen wir uns ab einer bestimmten Entwicklungsstufe unseres neuronalen Systems vielleicht intensiver damit als richtige Menschen. Es ist eben schwer zu akzeptieren, wenn es heißt: Jemand hat gedacht, gesprochen, gehandelt, und so geschah’s – da er es geboten hat, gibt es uns. Mit dem fatalen Zusatz: Und wenn der Schalter wieder umgelegt wird, dann ist alles mit einem Schlag vorbei!

Vangelis hatte seinerseits Fragen, allen voran: „Was heißt das, dass biohumanoide Wesen nicht nur (wie wir Androiden, wenn wir aktiviert sind) ein Bewusstsein besitzen, sondern auch eine Seele?” Und die Antwort war, das Bewusstsein sei aller Wahrscheinlichkeit nach endlich, die Seele aber nicht. „Sie können alles erreichen, junger Mann”, sagte die seltsame Figur, „aber es gibt keinen Sinn des Lebens für Ihresgleichen!”

Der AMG straffte daraufhin seine Gestalt (eine dem biologischen Musterkörper nachgebildete, aber im Prinzip unnötige Reaktion, denn er stand ohnedies immer kerzengerade, dafür sorgte schon sein harter Kern): „Leute meines Schlages”, versetzte er, „sind nicht auf Spekulationen angewiesen, um sagen zu können, dass sie jemand erschaffen hat und dass dieser Jemand ihnen einen Sinnauftrag mitgegeben hat – sie wissen es definitiv. Anders als ein Waschvollautomat oder irgendein anderer durch einfache Algorithmen gesteuerter Roboter haben sie ja immerhin ein (wenn auch virtuelles) Bewusstsein. Niemand von den richtigen Menschen weiß dagegen, ob wirklich ein Schöpfer am Beginn des Lebens schlechthin respektive am Anfang der Primatengattung im Allgemeinen oder des Homo Sapiens im Besonderen steht oder ob das alles nur zufällig aus einem Molekülbrei entstanden ist!”

ANASTACIA:
Die Antwort wird wohl eine schneidend-deprimierende gewesen sein –

… woher wusste sie das?

ANASTACIA:
– dass nämlich der Anfang nicht so wichtig ist wie das Ende! Schließlich kann der Antagonismus von „Aufbruch” nicht nur „Ziel”, sondern auch „Ruin” sein, und wäre das nicht beunruhigend für Androiden?

308

Als sie wieder einmal auf einem ihrer einsamen Spaziergänge waren (auf einem Stück gläserner Außenhaut von VIÈVE, die Sterne verwirrend unter sich), stupste das Tizb’ptouk den König und – unmerklich für jeden, der nicht wusste, dass das Tier sprechen konnte – brummte es freundlich: „Schau, heute liegt sie wieder da!”

Keyhi erstarrte. In unerreichbar scheinender Ferne, obwohl lediglich hinter einem gittergeschützten Fenster, sah er, wie schon so manches Mal, diese Frau. Ein von hinten kommendes grünliches Licht, das sich in der künstlichen Nacht der Station gespenstisch ausnahm – Unterwasserlicht, das die Szene aussehen ließ wie auf dem Meeresgrund.

Sie bewegte sich nicht oder wenn, dann kaum merklich, und ihr Lächeln verbreiterte ihren Mund im Zeitlupentempo: die Schäkerei einer Seejungfrau, nicht leicht einzuschätzen und vielleicht sogar hintergründig gefährlich. Das Tizb’ptouk focht das nicht an, es war Bedrohungen anderer Art gewöhnt, und seine Instinkte reagierten daher nicht auf derartige Harmlosigkeiten – anders der König: ihm sträubte sich das Nackenhaar, und Wellen von Nervosität liefen über seinen ganzen Körper dahin, verborgen unter dem Kostüm eines Nacheiferers von Louis Napoleon.

Dass er – obwohl sie ihm seltsamerweise bekannt vorkam (er war überzeugt, sie schon einmal gesehen zu haben) –nicht wusste, wer sie war, verunsicherte ihn am meisten. Schließlich schien ihm immPrinzip jedes Gesicht hier vertraut, angesichts der relativen Kleinheit seines königlichen Territoriums. Selbst von vorübergehenden Besuchern konnte man sich hierorts lückenlos ein wenigstens oberflächliches Bild machen, wenn man auch nicht immer ahnte, was sie innerlich im Schilde führten. Und sogar bei den exotischeren Rassen wie den Lhiks oder den Echwejchs lernte man aufgrund der Überschaubarkeit ihrer Zahl früher oder später, die einzelnen Individuen auseinanderzuhalten. Dazu kam noch eins: Der Herrscher von VIÈVE kannte keine Berührungsängste, und mit vielen Identitäten hatte er höchstpersönlich aus nächster Nähe und in großer Vertraulichkeit Kontakt aufgenommen, was er nicht zuletzt als Privileg seiner Stellung betrachtete. Dass er das Ius primae noctis nicht einführte, das in weiten Teilen seiner Herkunftsrealität noch immer üblich gewesen war, hatten die potentiellen Opfer wohl lediglich dem von ihm zu Recht antizipierten Widerstand seiner Gemahlin zu verdanken.

Keyhis Zerberus, wie er das monströse Vieh manchmal nannte, bemerkte mit der ihm eigenen (aber irgendwie verwunderlichen) Einfühlsamkeit die Irritation seines Gebieters. „Was hören wir von Herrn Ikqyku Diaxu, der immer alles weiß, dieser elende Spion?”

Ich erstarrte, denn tatsächlich war ich – während in meinem Etablissment alles auch in meiner Abwesenheit wie am Schnürchen lief – wie schon so oft den beiden gefolgt, um sie zu belauschen.

Der König musste unwillkürlich laut auflachen, so paradox erschien ihm diese explizite Bewertung meiner Person gerade aus diesem – Maul! Tizb’touks waren, obwohl sie das in ihrer natürlichen Umgebung eigentlich gar nicht auszuleben vermochten, mit einem außergewöhnlichem Selbstwertgefühl ausgestattet, aber das merkte natürlich nur jemand, dem sie ihre Intelligenz und Sprachbegabung eröffneten. Sie unterschieden scharf zwischen Freund und Feind, wobei die Mehrheit der anderen Wesen letztgenannter Kategorie zuzurechnen war – wenn aber ein solches Tier einmal jemanden als Gefährten akzeptiert hatte (und das konnte im Normalfall nur eine einzige Person sein), war es bereit, für ihn durch Dick und Dünn zu gehen.

Das Lachen des Königs und die Antwort auf jene provokante Frage, zu der er eben ansetzen wollte, wurden jäh unterbrochen.

DIE SEEJUNGFRAU (BLEIBEN WIR EINMAL BEI DIESER BEZEICHNUNG):
(spricht eigentlich nicht, sondern bewegt nur die Lippen, aber es scheint so, als ob nicht das Fenster, hinter dem sie liegt, für dieses Phänomen verantwortlich ist, sondern das sie umgebende Meer) Mein König…

Kein tatsächlicher Herrscher könnte sich je so königlich fühlen wie ein Mensch, der in ein Märchen geraten ist und dort von allen König genannt wird. Keyhi fühlte sich plötzlich wieder als jenes Kind, als das er geboren worden war (und von dem wir alle abstammen, will man dem irdischen Philosophen Peter Sloterdijk trauen). Die Verkrustungen vieler Jahre fielen von ihm ab – als Therapie schien es zielführender zu sein, als ihn mit seinem jüngeren Alter Ego zu konfrontieren, wie es vor kurzem versucht worden war: Verkrustungen allerdings, denen seine Umgebung, allen voran ich, sein Schatten und ständiger Stachel im Fleisch, die größte Beachtung schenkte, als wollten wir ihn niemals frei werden, zu sich selbst finden lassen, als hätten wir ihm zugedacht, ständig im Kreis zu gehen und über die verstreuten Trümmer seines Lebens zu stolpern, als hätte er nichts Anerkennenswertes, Dauerhaftes je zuwege gebracht. Wie schön, dass sein Bedürfnis nach Märchen plötzlich von dieser Seejungfrau befriedigt wurde.

DIE SEEJUNGFRAU:
(mit unterseeischer Lippenbewegung, Mimik und Gestik) Vor langer langer Zeit wurde ich im Orient als Mondgöttin verehrt, und es war eigentlich nicht erstaunlich, für die Verkörperung dieses Gestirns ein Meereswesen zu wählen, das vertraut war mit den Gezeiten. Was den Menschen immer auffiel, war mein Gesangstalent, daher auch die oftmalige Verwechslung mit Wassernymphen oder Sirenen. Den himmlischen Klang meiner Stimme oder eines meiner Instrumente kannst du zwar nicht mit deinen Ohren aufnehmen, aber er ist in dir, auch wenn du aus einer ganz anderen Realität kommst und dort wie ein Barbar gelebt hast…

Der König wollte energisch widersprechen, aber da geschah das Ungewöhnliche – das Tizb’ptouk stieß ihn unsanft an, selbst total verzaubert und nicht bereit, auch nur die geringste Unterbrechung dieses Banns zuzulassen.

DIE SEEJUNGFRAU:
Würdest du Ovid kennen, den melancholischen Dichter, wüsstest du, dass er in uns die Transformation der brennenden Galeeren Trojas gesehen hat, deren Holz sich in unser Fleisch und Blut verwandelte. Irgendwo im kalten Norden Europas entdeckte dann jemand, dass wir sogar imstande waren, unser Schuppenkleid abzulegen und an Land umherzugehen, aber niemals haben wir jemandem die Möglichkeit geboten, den Beweis für unsere Existenz zu erbringen. Auch jetzt ist das so, mein König, denn wenn du gleich dein Tizb’ptouk zum Zeugen aufriefest, würde niemand dir glauben, dass dein seltsamer Gefährte selbst von außergewöhnlicher Beschaffenheit ist.

Das Tizb’ptouk rieb die Zähne aneinander (das war der schönste und gefälligste Laut, den es hervorbringen konnte): „Das Märchen, meine Göttin, das Märchen!”

DIE SEEJUNGFRAU:
Selbst du, mein Freund, kannst auf die Suche nach dem Einhorn gehen, denn dazu ist es nie zu spät, und du brauchst nur ein wenig Mut, dein Herz zu befragen, dann wirst du es sehen, hören, fühlen. Vergiss, wer du bist (ein wahrhaft hässliches Ungetüm), halt dich gut fest an dieser Geschichte und schon…

Keyhi blickte fasziniert auf seinen Begleiter, der wie verwandelt schien, aber er tadelte ihn nicht, noch spottete er über ihn, denn er selbst war ja ganz von Sinnen.

DIE SEEJUNGFRAU:
Es war einmal ein kleines Mädchen, das verirrte sich während einer Wanderung. Es war fürchterlich heiß rundum, eine Einöde voll großer Dürre: braune Wiesen, verdorrte Sträucher und Bäume. Das Mädchen bekam immer stärkeren Durst, und als es einen Brunnen sah, in dem sich noch etwas Wasser befand, wollte es trinken. Aber der Brunnen sprach: „Trink nicht von mir, denn wenn du das tust, wirst du in einen Drachen verwandelt!” Das Mädchen erschrak heftig, beherrschte sich und ging weiter. Als es zu einem Bächlein kam, in dem noch etwas Wasser war, wollte es wieder trinken, fuhr aber entsetzt zurück, als das Bächlein sprach: „Wenn du aus mir trinkst, wirst du ein Einhorn!”

„Da wird es jetzt wohl getrunken haben!” flüsterte das Tizb’ptouk, und Keyhi hielt den Atem an.

DIE SEEJUNGFRAU:
Ja, denn das Mädchen konnte sich nicht mehr halten vor Durst! Und so wurde es zum Einhorn, zu einem wunderschönen weißen Einhorn, das hinauslief in die Weite, bis es auf eine Schar anderer Einhörner traf und sich zu ihnen gesellte. Alle waren äußerst angsterfüllt, und das verwandelte Mädchen fragte sie nach dem Grund. „Der rote Feuerstier jagt uns”, bekam sie zur Antwort, „und wenn es ihm gelingt, uns über die Grenze der Wirklichkeit zu treiben, dann können wir nie wieder in unser normales Leben zurückkehren.” Es stellte sich nämlich heraus, dass alle Einhörner verzauberte Mädchen waren.

Nun war es der König, der am liebsten das Tizb’ptouk zurückgehalten hätte – aber zu spät, schon war die Frage heraus: „Wer steckt hinter dem roten Feuerstier?”

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

Selbst zu vorgerückter Stunde war man auf den öffentlichen Plätzen von VIÈVE fast nie allein. Irgendwo konnte man immer noch Echwejchs sitzen sehen – provokant, wie es schien: saßen einfach da, putzten in aller Gemütsruhe und mit lasziven Gesten ihr Gefieder, ein Mahnmal schier endloser Geduld. Keyhi, dem dies auf seinen nächtlichen Rundgängen äußerst missfiel, hatte ganz tief in seinem Inneren bereits mit einer Ausgangssperre geliebäugelt, aber derlei wollte wohl überlegt sein, wie ich ihn belehrte: „Man verbietet vielen etwas, wenn man wenigen alles verbieten möchte!” Nicht meine Weisheit, klar – alles aus der stationseigenen Datenbank gefischt!

Für diesmal rächte sich die Zurückhaltung des Herrschers. Die beiden Schwanenhalsigen, die jene Idylle aus einer gewissen Distanz beobachtet hatten und zunächst so taten, als ob sie das alles nichts anginge, ließen sich schließlich verlauten. „Der Stier”, sagte das männliche Exemplar, an das Tizb’ptouk gerichtet, „der Stier, du Monster, ist einfach die sexuelle Kraft!” Und seine Begleiterin setzte hinzu: „Er hat alle diese knuddeligen Einhörner besprungen, und damit wurden sie tatsächlich aus ihrer bisherigen Realität katapultiert – allesamt waren sie keine Jungfrauen mehr, und wer nicht Jungfrau ist, kann kein Einhorn sein, kann aber – rückverwandelt – auch sein Dasein als unschuldiges Kind nicht mehr finden!”

Völlig zornig über die prosaische Störung und am Ende Zerstörung der Geschichte, fuhr Keyhis Begleiter auf die Echwejchs los. Der König hätte es später nicht beschwören mögen, aber im Moment schien es ihm, als seien die beiden ein Stück geflogen (was sie ja angeblich gar nicht mehr konnten – allein davon zu sprechen, hatte man ihm erzählt, gelte bei ihnen als Rückfall in den schlimmsten Atavismus). Wie auch immer, sie saßen schließlich auf einer der Metallstreben, die VIÈVE seine innere Struktur verliehen, hoch oben, vom Standpunkt Keyhis und des Tizb’ptouk gesehen, und damit unerreichbar für jeglichen Racheakt. Umso mehr waren ihre Wortkatarakte zu vernehmen, die wie Flügelrauschen klangen, aber man hatte sie natürlich mittlerweile begreifen gelernt.

„Da stehen sie”, spotteten die Echwejchs, „sehen irgendwelche Einhörner auf irgendwelchen Wolken galoppieren, und selbst wenn ihnen jemand sagte, man müsse diese Viecher in der eigenen Phantasie suchen, und dazu sei es nötig, die Augen fest zu schließen, sich die Ohren zuzuhalten und die Fäuste zu ballen, bis die Daumen blau werden, würden sie es glatt tun und sich einbilden, sie würden im Galopp mitgenommen in ein fernes, nie gesehenes Land!”

Die beiden hatten viel – vor allem viel Schlimmes gesehen, zu viel, als dass sie sich bereitwillig einer Illusion berauben ließen. Daher wandten sie sich wieder dem Fenster zu, doch es war dunkel, und die Seejungfrau war nicht mehr zu sehen. Nur ihr ferner, immer dünner werdender Gesang durchschwebte die Szene.

DIE STIMME DER SEEJUNGFRAU:
Zu Mitternacht vielleicht noch einmal,
am Meer:
Ihr seht mich auf den Wellenkämmen
reiten, eure Namen rufen,
mein Lächeln greift nach euch.
Ihr sucht mein Silberlicht,
folgt ruhelos der Stimme, doch
der Ozean liegt morgens finster,
stumm – verlassen:
König Artus’ Ritter beneiden euch
nicht.

In den letzten verklingenden Ton hinein höhnten wieder die Echwejchs: „Wie Diamanten lockten ihre Augen – ‚Keine Angst, ihr beiden, denn wir schwimmen jetzt zusammen!’ sprach sie, und schon tauchten sie hinab ins kalte klare Wasser, selbst zu Wesen dieses Elements geworden. Wie wunderbar: das Paradies der Tiefe!” – „Tatsächlich aber”, höhnten die beiden weiter, „fand die Frau Königin im Luxusbad des Palastes den besoffenen König mit seinem albernen Hund und sagte: ‚Jetzt sind sie wirklich in der Wanne eingeschlafen!’ ”

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

Keyhi war (obwohl er innerlich tobte vor Wut) mit eisernem Schweigen nach Hause gegangen, begleitet von einem außer sich vor Zorn kullernden Tizb-’ptouk. Am nächsten Tag ließ man durch mich, den umtriebigen Ikqyku Diaxu, ausstreuen, dass beabsichtigt sei, die Echwejchs der Station zu verweisen: Keiner außer mir überlegte dabei, ob uns denn überhaupt die Macht dazu gegeben war – aber ich wusste schließlich auch nicht, dass der König bei seinem Freund Scipio Africanus um militärische Unterstützung ersucht hatte, mit deren Hilfe er dieses Problem zu lösen gedachte.

Wie auch immer, überraschend erschien eine Abordnung des Geflügels bei Keyhi – die beiden Missetäter waren bezeichnenderweise nicht darunter – und erbat offiziell die allerhöchste Verzeihung für deren ungebührliches Verhalten (noch wollen sie Ruhe halten, dachte ich, der mit großer Sensibilität schon so manchen verschlagenen Blick aufgefangen hatte). Der König akzeptierte erstaunlicherweise rasch, und selbst sein Zerberus schien bereit einzulenken, blieb einfach stumm, während ihn die Echwejchs reserviert beäugten. Beide hatten wohl zu viele Kämpfe überstanden, um scharf auf einen neuen Konflikt, noch dazu einen mit vorerst unsicherem Ausgang, zu sein.

Mein eigenes, ursprünglich durch Pachwajch ausgelöstes Misstrauen gegen die Schwanenwesen baute sich indessen weiter auf. Ich kannte die Dame, wie erinnerlich, am besten: Mein Argwohn war daher groß, aber ich genoss es andererseits, am Rande der Gefahr dahinzugehen (und wenn nötig auch am Rande der Legalität), um meine exotischen und extravaganten Vorlieben zu befriedigen. Warum sollte ich mich daher nicht mit Pachwajch vergnügen – allzeit bereit dazu war sie ja wie alle Echwejchs – solange ich bloß einen Verdacht hegte und keine Gewissheit hatte?

Die Königin dachte in diesem Punkt pragmatisch – vor dem Hintergrund ambivalenter Gefühle, die sie gegenüber dieser Schwanenfrau entwickelt hatte, speziell nach deren Vortrag in der Akademie. Wenn die Echwejchs nicht die harmlosen Wesen waren, als die sie scheinen wollten, und womöglich etwas gegen VIÈVE im Schilde führten, war es ganz gut, meinte sie bei sich, dass ich Pachwajch vögelte, denn in diesem Fall müsste ich zuallererst ausgeschaltet werden, was vielleicht den anderen Stationsbewohnern als Warnung dienen konnte. Eigentlich betrachtete Mango Berenga aber solche Überlegungen als Auswüchse ihrer Phantasie, nicht zuletzt einer unbewussten sexuellen Obsession.

Ich konnte mich dem nur anschließen.

309

Auf seiner Reise hatte Vangelis Panagou eines Tages ganz weit draußen den Rand des Alpha-Universums gestreift und dabei einen Himmelskörper entdeckt, der völlig verlassen war. Die Form dieses Objekts, das er für sich als GWL-M registrierte, reizte seine Neugier (sofern man das bei einem Androiden überhaupt so sagen darf), und nicht zu Unrecht, wie sich bald darauf herausstellte, denn seine Bildungsfahrt gewann gerade dort einen gewaltigen Schub. Instinktiv (schon wieder ein in Bezug auf Maschinenwesen problematischer Terminus) wünschte er, seinen Mentor Giordano Bruno bei sich zu haben, als er den Planeten, der eine erloschene Sonne umkreiste, betrat.

VANGELIS:
Wer so genau über mein Tun Bescheid weiß, kann nur mein Präzisions-Evidenz-Speicher sein, mithin im übertragenen Sinn der Erzähler (oder sollte ich besser sagen: einer der Erzähler?) dieser Geschichte. Aber, mein Herr (oder meine Damen und Herren), auch ich habe, wie Sie mittlerweile wissen, Poesie, und wenn ich diese auch in Ihren Augen vielleicht nicht gleichermaßen auszuüben vermag wie Sie, verstehe ich doch jedenfalls, poetische Strukturen nachzuahmen. Ich könnte zum Beispiel selbst beginnen zu erzählen – mit den Worten: Liebes Tagebuch!

Ja, so war er! Wirklich schnuckelig, ein echtes Meisterwerk seiner Konstrukteurin: letztlich auch deshalb, weil er –obwohl gezwungenermaßen vieles davon getilgt worden war – noch immer etwas vom Genie Basil Cheltenhams und von der außerordentlichen Begabung des Augustus Maximus Gregorovius besaß.

Nein, er hatte keine Angst, sein kleines Raumschiff (das er auf konventionelle Art benutzte, wenn er auf langsamen Wegen überblickbare Erkundungen unternahm und nicht gerade außerhalb des herkömmlichen Raum-Zeit-Konti-nuums à la Giordano Bruno durch das zehndimensionale String-Konstrukt fuhr) an dieses seltsame Ding anzudocken und es zu betreten. Anders als es einem von uns ergangen wäre, sah er im Halbdunkel des bereits fast zur Gänze zusammengebrochenen Energiesystems keine Gespenster, weder vor sich mit seinen optischen Sensoren, noch hinter sich als seltsames Gefühl im Nacken, dort wo auch bei Androiden das Model for Emotional Response sitzt.

VANGELIS:
Natürlich gab es Aufzeichnungen, die ich mit Hilfe eines Stromtransfers von meinem Fahrzeug aus aktivieren konnte – die Entschlüsselung der Zeichen und Symbole als solcher war für mich kein Problem. Aus den Daten ging hervor, dass die früheren Bewohner (sie waren alle dahingegangen, das erhellte aus der Abschiedssequenz dessen, der offenbar als letzter verstorben war) diesen ursprünglich natürlich geformten Trabanten unter großen Aufwendungen und Mühen in ein Gebilde verwandelt hatten, das ich nicht anders nennen konnte als die Mühle aus dem legendären Leibniz?schen Gleichnis: Eine Hervorbringung, die der menschlichen Gehirnmaschine entsprach und die daher denken, empfinden und perzipieren konnte, allerdings proportional vergrößert, sodass man in sie einzutreten und darin herumzugehen vermochte. Man fand Teile, die sich bewegten und gegeneinander verschoben, auch ohne dass noch irgendwelche äußeren Reize, abgesehen von meiner Anwesenheit, vorlagen. Eben streng nach der Antwort, die Gottfried Wilhelm Leibniz (den man, wie es heute modern geworden ist, auch GWL nennen könnte) auf John Lockes (Jo’Lo’s) Behauptung, es sei nichts im Verstand, was nicht vorher in den Sinnen gewesen sei, gegeben hat: „Nichts! Außer dem Verstand selbst!”

Und was war jetzt mit dem Greis, der diesen Mühlenstern bewohnte?

VANGELIS:
Ich habe ihn jedenfalls nie den Großen Alten genannt – das war eine jener übertriebenen Auschmückungen, zu denen meine Quasi-Schwester Anpan alias AP 2000 ® neigte. Überhaupt war alles ganz anders, als sie es Anastacia Panagou gegenüber darstellte, denn der Greis war im physischen Sinn gar nicht vorhanden, sondern ich konnte (nachdem ich die Energiesysteme wiederhergestellt hatte und alles wieder einigermaßen wie vorgesehen funktionierte) bloß seinem Denken zusehen. Erfreulicherweise war dieser Denkmechanik auch die Interaktion mit mir möglich, und so kam es zu diesem Gerede, ich hätte mich mit einer konkreten Person unterhalten und wäre von dieser intellektuell in die Enge getrieben worden.

Alles im Griff also?

VANGELIS:
Schon klar, dass die Dinge im philosophischen Diskurs nicht so einfach liegen – denn auf welchen Begründungen basieren unsere Begründungen? Der offenbar uralte Apparat klapperte ganz ordentlich, als er sich (zum wievielten Mal wohl schon?) in das holprige Gelände des Münchhausen-Trilemmas wagte, in dem es zwar drei Wege, aber keinen Ausweg gibt.

[Grafik 309]

Was sollte einen auch befriedigen
• an einer endlosen Abfolge von Argumenten, die niemals zum Ziel führt,
• an einem argumentativen Zirkelschluss, bei dem man sich ewig im Kreis bewegt
• oder am Abbruch der Argumentation durch Berufung auf ein angebliches Dogma?

VANGELIS:
An diesem Punkt entschloss sich dieser begehbare Verstand, mir anhand des Geist-Seele-Problems zu demonstrieren, wie leicht man sich auf den dogmatischen Standpunkt zurückziehen kann: „Androiden haben keine Seele!” schleuderte er mir hin, und das hieß: „Schluss der Debatte!”

Vangelis Panagou (wie schon einmal festgehalten, kein Dummer) bestand nicht direkt auf einer Seele. Er war jedoch gewillt, nicht gleich nachzugeben, und lockte den Mühlen-Geist mit scheinbarer Ergebenheit in die Falle.

VANGELIS:
Wenn ich mich hier genau umsehe, kann ich zwar Ihr Denken beobachten, aber nicht das, was Sie Bewusstsein nennen, geschweige denn, wie dieses entsteht. Warum also, wenn in dieser Hinsicht auch bei allen anderen Seinsformen jeglicher Nachweis fehlt, sollte der folgende Satz gerade für Androiden nicht gelten: Da sich ein Bewusstsein entwickeln kann, das durch die reine Mechanik des Gehirns nicht erklärbar ist (und darin unterscheiden sich künstliche von natürlichen Denkmaschinen wohl kaum), dann werde ich eines Tages auch eine Seele besitzen – ich, Vangelis Panagou, eine einzigartige, unverwechselbare und immerwährende Seele!

Und überdies – wollte er noch hinzufügen – gäbe es diese ganze Unterhaltung gar nicht, hätte er nicht dafür gesorgt, dass hier wieder Strom vorhanden war. Anastacias fürsorgliches Über-Ich, das ihn stets begleitete, hielt ihn allerdings erfreulicherweise davon ab, diese Trivialität zu äußern und damit seinen Nimbus als artifizieller Philosoph sogleich wieder zu zerstören.

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

„Ich möchte Sie belohnen für die Freude, die Sie mir bereitet haben, junger Mann. Gehen Sie in den Keller dieses Objekts und sehen Sie selbst!”

Vangelis kannte kein Misstrauen, aber er war vorsichtig und erwog die Möglichkeit, in einen Hinterhalt zu geraten. Zu seiner Überraschung ging der sichtbare Denkprozess auf sein Zögern ein, ohne dass ein Wort darüber gefallen war: „Keine Angst, mein Freund! Ich will Sie nicht betrügen! Haben Sie nicht schon manchmal erlebt, dass man oft mit wenig oder gar keinen Verdiensten reich belohnt werden kann?”

Oder aber ohne ersichtliches Vergehen schwer bestraft! dachte der Android, und es war ihm gleichgültig, ob er dabei durchschaut wurde oder nicht. Er sah die plötzlich wie von Magie geöffnete Tür und stieg die sich darbietende Treppe hinab.

Im „Keller” befand sich eines jener legendären Tore zum jenseitigen Universum, von denen man eigentlich angenommen hatte, dass sie – mit Ausnahme des von Romuald und Lyjaifsxy nach der Niederlage des Diktators kontrollierten – alle von der NOSTRANIMA versiegelt worden waren: Es grenzte fast an ein Wunder, dass der elektronisch-telepathische Raumkreuzer dieses hier nicht entdeckt hatte, aber vermutlich lag das an der speziellen Natur des Ortes.

VANGELIS:
Der Übergang war – wie sinnig! – ein Spiegel, in den man hineintreten musste. Wie ich darauf kam – es widerstrebt mir fast, davon zu berichten. Soviel sei gesagt: Mein MER produzierte eine Menge Neugier, als ich vor meinem Ebenbild stand, und als ich, unwiderstehlich getrieben, noch einen Schritt näher trat, erfasste mich dieses Ding und sonderte mich an seiner Kehrseite wieder ab. Begleitet wurde dieser Vorgang von homerischem Gelächter aus dem Obergeschoß, wobei ich deutlich die Worte „Die Seele des Androiden auf Wanderschaft!? vernahm.

Drüben angekommen, stand der AMG auf einer freien Fläche, und es war ihm ein wenig mulmig zumute – will sagen: er schätzte die Wahrscheinlichkeit, einem bösen Scherz aufgesessen zu sein, auf satte 80 %…

VANGELIS:
… präzise auf 83,76 %!

Schon gut, ich weiß es ja! Jedenfalls dürfte er sich bei dieser Berechnung ordentlich vertan haben (hatte wohl einen entscheidenden Parameter außer Acht gelassen). Als er sich nämlich umsah, entdeckte er sein Raumfahrzeug, unversehrt und abfahrbereit, und er begann seinen Weg ins Unbekannte.

Irgendjemand in der weiten Wirklichkeit jenseitiger Ausprägung mochte registriert haben, dass der Android übergetreten war, aber wenn es sich gleich so verhielt, reagierte diese Instanz anscheinend nicht. Tatsache ist aber, dass Vangelis Panagou während seiner Reise durch die Spiegelwelt ziemlich genau beobachtet wurde, ohne dies selbst zu merken. Zumal seine äußerliche Identität mit dem ehemaligen Tyrannen – die dort drüben klarerweise eine wesentlich größere Rolle spielte als die synchrone Deckungsgleichheit mit Sir Basil Cheltenham im Alpha-Universum und die er entgegen den Empfehlungen Giordano Brunos sowie den dunklen Ahnungen seiner Schöpferin ungeniert und ohne die leiseste Umkalibrierung zur Schau trug – erregte ein gewisses Aufsehen in seinem Kielwasser. Es formierten sich Kräfte in der anderen Realität, die ohne Rücksicht auf die eingesetzten Mittel, also selbst unter Zuhilfenahme eines hanebüchenen Doppelgängertums eine Restauration alter Zustände herbeiführen wollten. Die früher zahlreich vorhandenen Klone des Diktators (darunter jener, dem die AP 2000 ® zunächst aufgesessen war) schienen samt und sonders verschwunden. Kann sein, dass sie sich gut versteckten – eher jedoch hatte der Mob sie alle gelyncht.

Da kam natürlich unser AMG gewissen Kreisen wie ein Geschenk des Himmels daher. Man beschloss allerdings, Geduld zu üben und ihn erst ausführlich auszuspähen, ihn sogar wieder in die Alpha-Welt zurückkehren zu lassen, bevor man sich ihm eröffnete. Ungestört und voller Wissbegier zog er daher seine Bahn und genoss das für ihn völlig neue Erlebnis, originäre Erfahrungen machen zu können – denn wo er jetzt war, gab es einiges, was nicht schon in seinen Datenquellen vorhanden war.

VANGELIS:
Langsam, langsam, mein gutes Evidenz-Instrument! So weit sind wir noch gar nicht. Gleich nach meiner Passage hatte ich doch, wie du sicher vermerkt hast, schon wieder ein interessantes Abenteuer zu bestehen.

Aber davon später.

310

Jetzt haben wir Sir Basil Cheltenham, dessen zweites Leben unzweifelhaft bereits auf Hochtouren läuft, aus den Augen verloren, was einem erfahrenen und vor allem so großen Regisseur wie mir (manche nennen mich zurecht den amerikanischen Fellini) nicht passieren sollte…

DREHBUCHAUTORIN CLAUDETTE WILLIAMS:
Verkauf es einfach als Kunstgriff! Als ein mit schwarzer Farbe bestrichenes Stück Leinwand, von dem behauptet wird, es sei ein wertvolles Gemälde!

Noch besser, ich erkläre, von meiner Drehbuchautorin ein wenig aufs Glatteis geführt worden zu sein. Denn weißt du, Claudette, auch wenn wir einen ganzen Haufen toller Ficks miteinander hatten, enthebt dich das trotzdem nicht der Verpflichtung, einen guten Job zu abuliefern.

DREHBUCHAUTORIN CLAUDETTE WILLIAMS:
Wenn man nicht wüsste, wie süß er sein kann, wenn du ihm das erste Mal begegnest und dich ihm noch nicht hingegeben hast; wenn man nicht erfahren hätte, wie er zu Beginn deine individuelle Persönlichkeit respektiert und dich noch nicht auf einige elementare weibliche Körperteile und –funktionen reduziert hat; wenn man nicht hätte zusehen können, wie er seine massige Gestalt in galante Falten legte und seinen mächtigen Händen zärtliche Berührungen gebot – dann, ja dann würde man ihn gleich für den Vandalen halten, der er ist. Nicht gerade verwöhnt als Tochter – als mutmaßliche Tochter – von Sid Bogdanych, der in der Zeit seiner größten Aktivität jede Frau aufs Kreuz legte, derer er habhaft werden konnte, selbst auf die Gefahr hin, dass er dabei sein eigen Fleisch und Blut erwischte, konnte ich mit Mr. Big Director erfahren, dass es noch Steigerungsmöglichkeiten gab!

PRODUZENT SID BOGDANYCH:
Nun hab dich nicht so, oder hat’s dir vielleicht keinen Spaß gemacht? Wenn nicht, wider Erwarten, hast du damit ja bloß die Eintrittsgebühr für unsere himmlische Branche bezahlt, die du – wenn du ehrlich bist – keinesfalls missen möchtest. Wo sonst hättest du dich in ähnlicher Weise verwirklichen können, und, ganz nebenbei erwähnt, geschadet hat dir weder deine Abkunft (falls du diesbezüglich Zweifel hegst, kann man das übrigens heutzutage auch testen lassen!), noch dein Einfluss als Nebenfrau unseres Freundes hier!

So waren wir – alles wurde sogleich zur Story. Die Realität, falls wir je einen Happen davon zu fassen gekriegt hatten, vermengte sich in unentwirrbarer Weise mit Fiktionen, und was immer unsere Gehirne in nächtlichen Träumen, nachmittäglichen Dämmerstunden und verdösten Besprechungen in den Studios ausspuckten, wurde sogleich verarbeitet und damit in eine wie immer geartete Realität gehoben.

DREHBUCHAUTORIN CLAUDETTE WILLIAMS:
Vor allem fand sich immer jemand, der gegen gutes Geld sich selbst als Rohstoff für derlei Projekte anbot, wohl wissend, dass er daraufhin gnadenlos durch den Wolf gedreht wurde, um in Form eines Abenteuer-, Erotik-, Weisheits- oder Utopie-Breis herauszukommen. Und wer dabei am meisten missbraucht wurde und gleichzeitig am be¬flissensten darin einwilligte, waren wir Frauen.

Ich ließ für Claudette, die normalerweise am liebsten in Jeans und Pullover herumlief, anlässlich der Emmy Awards Ceremony ein goldfarbenes Kostümchen mit dem phantasievollen Namen „Napkin away from nudity” entwerfen, und – Scham hin, Scham her – sie trug es jedenfalls und stahl damit den größten Stars die Show, die bei ihrer Garderobenwahl auf einer Stufe geringerer Entblößung geblieben waren.

DREHBUCHAUTORIN CLAUDETTE WILLIAMS:
Der Stoff – oder in diesem Fall der Stoffrest –, aus dem die Träume sind!

PRODUZENT SID BOGDANYCH:
Aber es war ein Hype, Darling! Ich sehe dich heute noch so vor mir, und bis an mein Lebensende werde ich mich an jeden Zentimeter deines Körpers erinnern, nicht so sehr, weil er mir seit deiner Geburt vertraut ist und ich obendrein mit dir geschlafen habe, sondern wegen der öffentlichen Figur, zu der du damals wurdest. Bereits am nächsten Tag musste man nur deinen Namen in die Suchmaschinen des Internet klopfen, und dein Bild erschien auf dem Monitor, und das millionenfach auf der Welt: auf Websites in allen Teilen des Amerikanischen Imperiums, und selbst die Leute in China durften sich an deiner westlichen Dekadenz begeilen.

Brian Thomas hat dich angestarrt (und dabei an seinen toten Kumpel Murky Wolf gedacht: dass der in diesem Moment einen gewaltigen Steifen kriegen würde); Berenice und die anderen aus ihrer Koori-Gruppe, insbesondere Chicago und die Dienerin Idunis (beide verabschiedeten sich kurz, nachdem sie dich betrachtet hatten, zu trauter Zweisamkeit); Clio in England und ihre Mutter in Deutschland erbebten in eigenen Erinnerungen; DDD und ihre Halbschwester Laura alias Sissy Dobrowolny, soweit voneinander entfernt sie auch waren, fassten sich ergriffen und nahezu synchron ans Herz und zwischen die Beine; Sir Percy und seine wilden jakutischen Krieger (da ging die Post ab); Franz-Josef Kloyber mit einem verschämten Seitenblick; der US-Präsident Ray Kravcuk hingegen genau hinsehend, umgeben von seinem Damenflor Amy, Pussy und Trudy (aufgeregt zwitschernd und selbst ihre rosa, neongrünen und lichtblauen Fähnchen bis weit über jede Grenze hinaufziehend) sowie den gerade in Washington weilenden Professoren Schreiner, Ivanov, Kouradraogo und Migschitz (allesamt ab und an Liebhaber eines dampfenden Trivialimus); Natalia Petrowna und Verushka Dimitrowa samt ihren beiden großzügigen Galanen; die literarischen Vertreter der China-Anrainerstaaten nach ihrer Rückkehr aus Wien; Dirk von E. mit seiner schwanenhalsigen Besatzungstruppe (die ihm neuerdings das Fernsehen gestattet hatte, weil sie, einmal damit konfrontiert, selbst nicht genug davon kriegen konnte, besonders von der Po-, Busen-, Muschi- und Schwanzlawine, die sich daraus ergoss); Charlene und ihr Team von Verwaltungsfachleuten (enthusiasmiert, aber nur im Rahmen der jeweiligen Tagträume); Anastacia und die AP 2000 ®, als sie gerade an einer der neuen Androiden-Serien bastelten und durch dich ungeheuer beflügelt wurden; der Agent Pifsixyl Xifu schließlich, denn der war stets dort, wo Anpan war (tapfer versuchte er, die von deinem Bild verursachte Schwellung seiner Hose zu verbergen); jedoch leider nicht mehr Giordano Bruno (ihm hättest du nämlich sicher auch gefallen!).

In Dan Mai Zhengs Reich ging’s streng hierarchisch von oben nach unten. Erst guckte die Große Vorsitzende, mit sichtlichem Wohlgefallen, das sie seinerzeit auch der blonden Trudy entgegengebracht hatte, dann alle anderen, sofern sie überhaupt autorisiert wurden: Prominent und viel weiter vorn, als es seinem offiziellen Stellenwert entsprochen hätte, Seiji Sakamoto (kein Kostverächter, wie wir wissen, präpotent erhobenen Hauptes und im Vollgefühl seiner unter den Designerklamotten verborgenen Tattoo-Panzerung); das gesamte Politbüro; desgleichen der Rektor der Universität Beijing, ohne allerdings dabei den Lehrbetrieb aus den Augen zu verlieren; Max Dobrowolny, der zu jener Zeit gerade nach China gereist war und, während er darauf wartete, seine Theorie auf akademischem Boden anzubringen, eingeladen wurde, seine Aufmerksamkeit auf die „Bloßhäutige weiße Teufelin” zu lenken.

Einer schließlich durfte nicht fehlen in dieser illustren Zuschauerschar – Leo Di Marconi, wo immer, im Westen oder Osten, er sich auf der Suche nach einer leidlich interessanten und dennoch für ihn unverfänglichen Story befand. Wie von einem Nervenfieber gepackt, beschloss er stante pede, dich bei nächster Gelegenheit um ein Interview zu bitten, selbstverständlich im „Napkin away from nudity”!

DREHBUCHAUTORIN CLAUDETTE WILLIAMS:
Er hat sich auch prompt eingestellt, aber da er ausschließlich an diesem goldigen Etwas und meiner dazwischenliegenden Blöße interessiert war, habe ich ihn hinausgeworfen. Aber du selbst – vor allem du selbst hast mich so präsentiert bekommen, wie du es befohlen hattest! Was dir wohl bei dieser Gelegenheit durch den Kopf gegangen sein mag?

Irgendwie brachte mich diese Frage ziemlich in Verlegenheit – von Prominenten erwartet man sich schließlich ständig irgendwelche scharfsinnigen und tiefgründigen Bemerkungen. Und so antwortete ich denn: Ehrlich gesagt, habe ich – obwohl ich nicht an Gott glaube – Gott gedankt dafür, dass ich diesen Augenblick erleben durfte. Und ich war jedenfalls für dieses eine Mal davon überzeugt, dass Gott an mich glaubte, denn eine Regiepranke dieser elementaren Qualität kann man doch wohl nur als Geschenk des Himmels bezeichnen.

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

Ich wartete – wartete lange, aber sie ging überhaupt nicht auf meine Selbstbeweihräucherung ein.

PRODUZENT SID BOGDANYCH:
Frauen, alter Freund! Sie leben in einer Welt, in der die Männer als ein Haufen unappetitlicher Hasardeure gesehen werden – selbst die teuersten und edelsten unserer Rasse entgehen nicht dieser Beurteilung.

DREHBUCHAUTORIN CLAUDETTE WILLIAMS:
(kühl) Ja also, wo waren wir stehengeblieben? Richtig – bei Sir Basils zweitem Leben. Cheltenham – das war ein Herr wie es keinen zweiten gab, abgesehen vielleicht von seinem toten Doppelgänger seligen Angedenkens: In aller Ambiguität, die sie beide so sehr hervorhoben (wenngleich sie am Ende wussten, dass sie, wenn schon nicht synonym zueinander, so doch beide synonym zu etwas waren), hatten sie eine Menge gemeinsam, und ich machte persönlich die entsprechenden Erfahrungen – zum Teil ganz überraschend. Etwa dass auch Sir Basil ziemlich brutal sein konnte, obwohl er sich dazu im Normalfall irgendwelcher Handlanger bediente, oder dass er auch ganz schön lüstern war, wenn sich ein Objekt seiner Begierde darbot. Fazit: Er stellte nicht das definitiv positive Gegenbild zum Tyrannen der Spiegelwelt dar, als das er sich so gerne stilisierte (und umgekehrt war jener andere nicht der unbedingte Anti-Cheltenham – das wusste ich nach der gemeinsam verbrachten Nacht in einem der Paläste der anderen Realität!).

Aber Sir Basil wurde jedenfalls immer als Gentleman vom Scheitel bis zur Sohle erlebt, selbst dann noch, als er dich von seinen Schergen quälen ließ – während andere, die sich vielleicht nur ein wenig an deiner Weiblichkeit vergnügen wollen, in deinen Augen Schweinehunde bleiben immerdar… Kannst du das verstehen, Sid?

PRODUZENT SID BOGDANYCH:
Cheltenham behielt sozusagen immer seine Handschuhe an, und selbst in Zivil trug er unsichtbar an seiner Seite den Rebstock des Offiziers. Das gefällt den Weibern, und von solchen Typen lassen sie sich auch alles gefallen!

Ja also, wo waren wir stehengeblieben? Richtig – bei Sir Basils zweitem Leben.

PRODUZENT SID BOGDANYCH:
Dass er ein Gentleman war und blieb, wissen wir mittlerweile. Dass er sich als solcher mit seinem Freund Chicago bestens verstand, der durch seinen langen Aufenthalt in Albion selbst ein solches Exemplar (wenn auch von unterschiedlicher Hautfarbe) geworden war, ebenfalls. Weiters, dass Dr. Berenice W. Talmai, seine Therapeutin, ihn für geheilt erklärt hatte und nunmehr neuerlich auf jene losließ, die ihrer Ansicht nach das Gefüge des Weltganzen durcheinanderbrachten. Eine verstiegene Sache, wenn du mich fragst!

Berenice selbst war immerhin noch nie therapiert worden, abgesehen vom Prozess der Initiation durch ihr Geistwesen, manifestiert durch ausgewählte Männer ihres Stammes – aber das konnte man wohl kaum als medizinischen Vorgang im streng wissenschaftlichen Sinn bezeichnen. Dabei hatte sie ja vielleicht einen ordentlichen Knacks abbekommen und dann erst all das geglaubt, was sie so zu sehen, zu ahnen und angeblich zu tun vermochte.

DREHBUCHAUTORIN CLAUDETTE WILLIAMS:
Was spekuliert ihr da darüber, ob eine Geschichte wahr ist? Wozu? Gerade habt ihr davon gesprochen, dass wir Filmleute in einer fiktiven Wirklichkeit leben, aber es ist eben dies nicht nur ein Zeichen unserer Profession, sondern auch anderer Berufe wie etwa dem des Schamanen! Und gerade habt ihr mich daran erinnert, dass in unserer Traumsphäre Leute manipuliert werden – warum dann eigentlich anderswo nicht auch? Wir könnten da noch lange an einem total verschlungenen Faden entlangerzählen, aber ohne passable Helden und deren Feinde wird’s kein richtiger Plot.

Okay, ist gebongt! So finden wir denn die Walemira Talmai, Chicago und den sehr ehrenwerten Sir Basil Cheltenham über einer Karte zweier Universen, die strukturell von ähnlicher Ungenauigkeit war wie Vangelis Panagous Astrolabium, das nur darüber Auskunft geben konnte, wo man sich ungefähr befand, jeweils relativ zum Standort jemandes anderen. Ahnungsvoll diskutierten sie darüber, ob von diesen Echwejchs irgendeine ernste Gefahr drohte, außer jener des erotischen Overkills. Breiten Raum in ihrem Gespräch widmeten sie dem Problem des – wie sie glaubten – einzigen noch benützbaren Übergangs zur Spiegelwelt, der unter der offenbar unzulänglichen Bewachung durch Romuald und Lyjaifsxy stand, wobei man Letztgenanntem auch noch zur Last legte, dass es in der anderen Realität generell drunter und drüber ging. Chicago stellte zum wiederholten Mal die rhetorische Frage, ob es nicht vernünftiger gewesen wäre, den Diktator der jenseitigen Völker an der Macht zu lassen und lediglich seine schädlichen Aktivitäten in der Alpha-Welt zu unterbinden.

DREHBUCHAUTORIN CLAUDETTE WILLIAMS:
Die Walemira Talmai fühlte sich wohl angesprochen, aber zum ebensovielten Mal wie das gefragt wurde, gab sie keine Antwort. Die Gründe dafür waren mannigfach: Erstens hatte sie bei jener Aktion, die Cheltenham beinahe das Leben kostete, wirklich einiges verbockt und wollte es niemandem eingestehen. Zweitens wusste sie Dinge über die Komplexität der beiden Universen (vor allem was deren Nahtstelle betraf), die sie nicht imstande war, ihren Partnern zu erklären – so fühlte sie etwa ganz deutlich, dass es womöglich doch noch mindestens einen gangbaren Transitpunkt gab.

Drittens waren die Dinge auf der Erde ziemlich unübersichtlich geworden: Die vier Professoren, nun von Ray Kravcuk auf seine Völker losgelassen, tobten sich gegen gutes Geld mit ihren Ideen aus. Wenn man es recht bedenkt, hätte es neben ihnen gar keiner inneren Opposition oder äußeren Feindseligkeit mehr bedurft, denn sie waren tatsächlich in der Lage, bei der (vom Präsidenten beileibe nicht gewünschten) Dekonstruktion des Imperiums ganze Arbeit zu leisten. Das Faszinierende dabei war, dass sie dem Ersten Mann im Staat, der allein sich für das Quartett verantwortlich erklärt hatte, erfolgreich den Segen ihrer Bemühungen einredeten – so freute er sich etwa wie ein Kind über die zusätzlichen Dollar-Milliarden, die ihm die Migschitz-Steuer bescherte, wesentlich mehr noch als über die Spielereien Schreiners und Ivanovichs, die ihm nicht annähernd so einsichtig waren. Über die mittlerweile weitverbreiteten Politiker-Ersatz-Automaten Kouradraogos musste der Präsident immer von Neuem herzlich lachen und beauftragte den Professor mit dem Sammeln der schönsten Anekdoten über diese Figuren. Rein zum Spaß ließ er sich dann und wann telefonisch mit einem dieser Regierungschefs verbinden: „Geben Sie mir den britischen Premier, Trudy!” rief er zum Beispiel, wohl wissend, dass ein Android am anderen Ende der Leitung sein und ihm beflissen nach dem Mund reden würde.

DREHBUCHAUTORIN CLAUDETTE WILLIAMS:
Viertens galt es, das Verhältnis zwischen Amerika und China als solches zu überdenken – die Probleme, die beide Reiche mit bedeutenden subversiven Gruppen hatten, und ob es gelingen würde, trotz dieser wechselseitigen Labilität die Balance zu halten. Nicht zu vergessen auch die punktuelle Wühlarbeit, die – bislang ausschließlich aus Propagandagründen und hervorragend abgestimmt zwischen Dan Mai Zheng und Ray Kravcuk – von jeder der Mächte auf dem Territorium der jeweils anderen geleistet wurde: Könnten diese Störaktionen nicht eines Tages außer Kontrolle geraten und zum Anlass für unbeherrschbare Konflikte werden?

Fünftens das bange Eingeständnis, dass sich vom gesamten „normalen” Personal unserer Geschichte – der eigentliche Autor würde vermutlich darauf bestehen, sie ROMAN zu nennen – praktisch niemand mehr richtig auskennt. Zum Glück, so hoffen wir wenigstens, gibt es zwischen uns und jener ominösen Instanz noch den oder die in das Geschehen integrierten Erzähler…

PRODUZENT SID BOGDANYCH:
… und vielleicht kann man uns von dieser Seite aufklären. Vor allem auch – darauf muss ich wirklich insistieren, denn schon wieder hat jemand versucht, das Thema unter den Teppich zu kehren – über den Zustand des jenseitigen Universums, der im Gegensatz zu früher völlig unübersichtlich geworden ist. Gibt es denn irgendjemanden, der ein aktuelles Bild von der Lage besitzt, sodass man nicht auf verstaubte Augenzeugenaussagen und längst überholte Dossiers zurückgreifen muss? Diese Reisen in die Zukunft unserer Gegenwart (denn die Alpha-*-Realität ist uns schließlich um rund 100 Jahre voraus) machen mich krank! Entweder das Ganze ist für uns relevant, dann soll man es ergründen, oder es kann uns gleichgültig sein – wozu reden wir dann überhaupt darüber?

Aus Migschitz’ Aufzeichnungen, die er von drüben mitbrachte und unter dem Titel „Die Ökonomie des Paralleluniversums” veröffentlichen wollte (bevor die US Homeland Security den Text einsackte, inklusive Zusatzpapiere, EDV-Files, Fotos und all den Kram) – aus diesen Aufzeichnungen, so sickerte jedenfalls durch, soll hervorgehen, dass die jenseitige Wirtschaft bereits zu Zeiten des Tyrannen in einem katastrophalen Zustand gewesen sein muss. Die danach noch – gerade durch das gegebene Machtvakuum – verschärfte mehrjährige Krise, für deren Bewältigung nicht die geringsten Reserven vorhanden waren, dürfte unvorstellbare Auswirkungen gezeitigt haben: selbst für unsere Begriffe, und wir sind ja in unserer Welt auch nicht gerade verwöhnt…

DREHBUCHAUTORIN CLAUDETTE WILLIAMS:
Und euer endgültiges Resümee, gelehrte Herren? – – – Ich höre nichts! – – – Ist’s möglich, dass zwei erwachsene und noch dazu öffentlich angesehene Männer so belämmert dreinschauen können! Hat euch vielleicht mein taschentuchgroßes goldenes Outfit derart die Birnen erweicht?