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2. TEIL
KÖNIGIN MANGO
UND IHR TRAUM VOM MEER

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201

„Wie”, fragte Vangelis Panagou – in Wahrheit der Android AMG, aber das konnte mit den gängigen technischen Methoden niemand außer seinen unmittelbaren Artgenossen und natürlich seiner Konstrukteurin feststellen – „wie, sagtet ihr, heißt euer Planet?” Die Echwejchs, die ihn freundlich empfangen hatten, als er auf seiner Bildungsreise unendlich weit draußen im All zu ihnen gestoßen war, wiederholten geduldig (und ohne sich zu wundern, warum er ihre Sprache beherrschte) den Namen: „Amnor”.

Vangelis? Sprachtalent war natürlich kein Zufall, sondern Nebenprodukt der allgemeinen Fähigkeiten seines Elektronengehirns: Blitzschnell konnte er aus wenigen Worten, die er neu aufschnappte, durch strukturelle Analyse, analoges Schließen und eine außerordentlich hohe Kapazität für Interpolationen einen Ansatz bilden, auf dessen Basis sein Wort- und Grammatikschatz sich rasch ausweitete. Im konkreten Fall ver¬stand er sofort, dass Amnor kein autochthoner Begriff der Echwejch-Sprache war, die dem Rauschen von Schwanenflügeln nachempfunden schien. Er äußerte diese Erkenntnis und erntete dafür erste böse Blicke, wenn auch noch geschickt verborgen hinter dem strahlenden Lächeln seiner Gastgeber.

Um ihn von weiteren unerwünschten Ü-berlegungen abzulenken, führte man ihn zur größten Sehenswürdigkeit dieser Welt, dem Tempel des Großen Echwejch: einem marmornen Gebäude, in dem die kostbare Statue dieser Persönlichkeit aufgestellt war.

Vangelis fiel gleich auf, dass die Figur mit dem endlos langen Hals zwar einen aus Stein gemeißelten Stoffumhang, aber kein Federkleid erkennen ließ – anders als seine Gastgeber, die nur auf der Brust- und Bauchseite unbedeckt waren (damit allerdings genau dort, wo die Sicht auf ihre Geschlechtsmerkmale frei war). Man erzählte dem Androiden die Legende vom jungen Hejchwejch, der als Votivgabe für den zürnenden Himmel ausersehen wurde, worauf man ihn in einer qualvollen Zeremonie seines natürlichen Körperschmucks beraubte: Durch die ihm zugefügten Verletzungen war er nach Tagen des Martyriums an genau jener Stelle zugrunde gegangen, an der sich nun der Tempel erhob, und aufgrund seines Opfers – so wurde behauptet – fanden sich die höheren Mächte von da an damit ab, dass aus den wesenlosen Vogeltieren vernunftbegabte Echwejchs geworden waren.

Während er das erfuhr, bemerkten die wachen Sensoren des Androiden, dass die Figurenreihen zu beiden Seiten des Großen Echwejch menschliche Gestalten waren – mehr noch: ursprünglich aus biologischer Substanz, aber vor langer Zeit völlig erstarrt. Darüberhinaus sah er die beiden Augen, die ihn aus Gucklöchern in Schulterhöhe der Statue anstarrten. Das sollte wohl verhindert werden, denn plötzlich wurde der ganze Saal völlig dunkel, nur Vangelis allein blieb in einem Lichtkegel stehen.

DIE STIMME DES HOHENPRIESTERS DER ECHWEJCHS:
Auch du, unser hochlöblicher Gast, bist nach den Traditionen unserer Gesellschaft zum Opfer erkoren, und sogar zu einem ganz besonderer Art. Es handelt sich um eine große Gnade für dich, die nur den vornehmsten Besuchern unseres Sterns zuteil wird, und selbst diesen nur dann, wenn gerade die Zeit reif ist. Siehe denn, es fügt sich, dass die Person, die als lebendige Seele dieser Statue dient, am Ende ihrer ausgezehrten Kräfte ist. Du bist es nun, der sie ersetzen wird, nachdem du die seit alters her festgelegten Rituale durchlaufen hast.

Plötzlich umgab den Androiden extreme Kälte, mit der offenbar beabsichtigt wurde, ihn zu einem reglosen Klumpen zu gefrieren – er allerdings konnte seine Energiereserven nach außen lenken, um voll mobil zu bleiben, verhielt sich aber zum Schein ganz ruhig. Dann wurde es heiß für ihn: Das Licht verwandelte sich unvermittelt in einen Hitzestrom, und Vangelis Panagou (der sehr wohl wusste, dass er nicht unzerstörbar war) begann auszurechnen, wann die Temperatur erreicht sein würde, die nicht nur seine menschenähnliche Hülle zum Schmelzen, sondern auch seinen inneren Metallpanzer zum Glühen bringen würde. Aber er hatte Glück – das heißt, nein, ein künstliches Wesen hat kein Glück: Mit der von ihm ermittelten überwältigenden 95,3-prozentigen Wahrscheinlichkeit zielte die Apparatur auf einen Körper natürlicher Bauart ab. Damit hatte er bereits den für ihn gefährlichsten Teil der Torturen überstanden, denn was folgte, war weit unterhalb seiner Belastungsgrenze: Man überschüttete ihn mit einer Substanz, die in kürzester Zeit aushärtete und einen Biohumanoiden offenbar bei lebendigem Leib mumifizieren sollte – Vangelis hingegen wartete bloß, bis eine bestimmte Festigkeit erreicht war und sprengte diesen Panzer mit seiner immensen Kraft.

Da brach dieses seltsame Geflügel seine Bemühungen ab und ließ ihn ziehen.

DER HOHEPRIESTER DER ECHWEJCHS:
(der wesentlich weniger bedrohlich aussieht als seine bloße Stimme geklungen hat) Wir werden schon ein anderes geeignetes Objekt für unsere Zwecke finden, wenn du dich der Ehre nicht würdig zeigst, die wir dir hier erweisen wollten!

Vangelis konnte verzichten. Er setzte seine Reise fort, in der Hoffnung, sie würden ihm nicht folgen, und das taten die Echwejchs auch nicht – wenn also später behauptet wurde, der Android habe diese Leute auf die Fährte der Menschheit gesetzt, stimmt das nicht. Sie waren längst schon mit ihren plumpen Schiffen in alle möglichen Gegenden des Alls ausgeschwärmt.

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Unterwegs versuchte der AMG, seine Erlebnisse auf Amnor einzuordnen. Offensichtlich war man, so wie er Anzeichen von Überlegenheit zeigte, froh gewesen, ihn wieder loszuwerden. Dies führte er darauf zurück, dass diese Kreaturen (er bedachte sie wirklich mit diesem Ausdruck) doppelbödig agierten – ein absoluter Horror für einen Androiden! Was ihn aber später bei seinem Besuch im jenseitigen Universum besonders beschäftigte, war die Tatsache, dass es dort keine Pendants zu den Schwanenhalsigen gab – „Korrigiere!” sagte er zu sich selbst: „Manchmal argumentiere ich schon so unpräzise wie ein richtiger Mensch!” Er fand also, wie er neu formulierte, keine Evidenz von Parallel-Echwejchs in der anderen Realität (umgekehrt stellte er später bei seinem ersten Zusammentreffen mit den aus dem Alpha-*-Universum emigrierten Lhiks auf VIÈVE fest, dass er nirgendwo in der diesseitigen Welt Pendants der Pflanzenwesen entdeckt hatte).

Irgendwie beunruhigte Vangelis dieser Umstand in einem viel größeren Zusammenhang: Von seiner Quasi-Schwester Anpan, der Androidin AP 2000 ®, jener anderen genialen Schöpfung Anastacia Panagous, mit der er bald nach Beginn seiner Existenz einige Zeit hatte verbringen dürfen, stammten seine maßgeblichen Informationen über die Natur des Paralleluniversums, die sämtlich darin gipfelten, dass es sich dabei um eine exakte Spiegelung der Alpha-Welt handelte, abgesehen von einer geringfügigen zeitlichen Anomalie, die beim Andocken der beiden Realitäten entstanden war. Wenn nun seine Beobachtungen hinsichtlich Echwejchs und Lhiks zutrafen, würde die Logik aller Überlegungen, die man auf jene Gesetzlichkeit aufbaute, in sich zusammenbrechen: Sir Basil Cheltenham etwa hatte sich bei seinem Kampf mit dem jenseitigen Tyrannen doch in größere Gefahr begeben als ursprünglich angenommen, denn wenn er trotz äußerer Identität unter den geänderten Umständen nicht mehr mit Sicherheit davon ausgehen durfte, dass der Kontrahent sein genaues Pendant war, konnte es sich schließlich um einen ganz normalen und damit völlig unberechenbaren Feind handeln.

DIE INNERE STIMME, DIE ANASTACIA PANAGOU IHREM VANGELIS MIT AUF DIE REISE GEGEBEN HAT:
Verbohr‘ dich jetzt nicht in derlei übertrieben logische Gedankengänge, sondern versuch‘ dich daran zu erinnern, was Giorduzzo und ich dir über Dialektik beigebracht haben, und vor allem daran, dass wir Menschen schleifende Reaktionsgleichungen (wie du das nennen würdest) besitzen. Sir Basil war durchaus imstande, in bestimmten Grenzen auf plötzlich veränderte Rahmenbedingungen flexibel zu reagieren – ganz zu schweigen von der magischen Hilfestellung der Walemira Talmai und des paranormalen Beistands von Adriana, Margharita und Sharon, aber ich weiß, das ist überhaupt jenes Terrain, das du am wenigsten magst, obwohl es genauso existiert wie deine eigene Wirklichkeit. Ob du es wahrhaben willst oder nicht: In dem Moment, da du Brunos praktische Umsetzungen seiner String-Theorie benützt, bist du natürlich selbst für viele Menschen und Androiden, die nicht verstehen können, was du da tust, ein Zauberer.

Es tat wohl, die Stimme der Schöpferin, Mutter und Geliebten – sie war ja all das zugleich für ihn – zu hören, und er beruhigte sich etwas. Selbstsicher stellte er bei dieser Gelegenheit fest, dass er mittlerweile Phasen nervöser Schwankungen an sich beobachten konnte, was ihn ganz bestimmt über die Mehrheit von virtuellen Wesen weit hinaushob. Er beschloss, einfach zu akzeptieren, dass die Parallelität der beiden Universen löchrig war – immerhin hatte er ja, als er Anpans Freund, den Agenten Pifsixyl Xifu, kennenlernte, auch eine andere Tatsache begreifen gelernt, dass nämlich dieser mit seinem diesseitigen Spiegelbild Salvador Dalí, abgesehen von der rein körperlichen Ähnlichkeit, keine besonderen Gemeinsamkeiten besaß.

DIE INNERE STIMME, DIE ANASTACIA PANAGOU IHREM VANGELIS MIT AUF DIE REISE GEGEBEN HAT:
Gehen wir doch einfach von den Fakten aus: Die beiden Universen weisen die gleiche Grundausstattung auf, aber es gibt zueinander alternative Entscheidungsbäume, die sich immer weiter verästeln und daher im Lauf der Zeit Parallelen nicht mehr unbedingt als solche erkennen lassen. Dass du derlei überhaupt denken kannst, sollte dich schon zufriedenstellen…

„Wenn ich diesen Unterton schon höre!” entrüstete sich der AMG.

DIE INNERE STIMME, DIE ANASTACIA PANAGOU IHREM VANGELIS MIT AUF DIE REISE GEGEBEN HAT:
… dann solltest du es also einfach registrieren als Zeichen deiner persönlichen Höherentwicklung.

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Genau dieser Vorgang war Vangelis Panagou auf seiner langen Reise, auf der er so viel Zeit zum Nachdenken fand, immer klarer geworden. Sein Model for Emotional Response erzeugte reichlich Dankbarkeit gegenüber seiner Konstrukteurin, die ihn mit einer so umfänglichen Grundausstattung versehen hatte, und selbstverständlich auch gegenüber Giordano Bruno, aus dessen komplexem Erfahrungsschatz ihm so viel zusätzliche Erkenntnis erwachsen war.

Einmal auf den Geschmack gekommen, war er stets auf der Suche nach philosophischen Ansätzen, die für Androiden und Menschen gleichermaßen gelten konnten. Dabei stellte er an seiner eigenen Gattung etwas fest, was er im Vergleich zu „richtigen Menschen” zunächst als Mangel verstand: das Fehlen einer politischen Geschichte. Aber (so schränkte er gleich wieder ein) war nicht jedes politische Phänomen einfach nur ein beliebig austauschbarer Überbau, der ohne die ökonomische Basis ohnedies verkümmern musste?

Ein menschlicher Philosoph hätte vielleicht die Definition von Infrastruktur weiter ausgedehnt und den biologischen Bereich des Menschlichen miteinbezogen, aber da tat sich unser Androidenfreund ziemlich schwer, konnte er doch für sich diese Komponente nur als Hardware und damit als integrierenden Bestandteil seiner Technologie verstehen. Da beließ er es schon lieber beim Terminus der Wirtschaft als solcher: denn da war die Herausforderung des Überlebenskampfes gleich für alle drei Typen, die er unterschied: Bio-Humanoide, rein mechanische Roboter und auf einer Synthese neuronaler und technischer Strukturen basierende Androiden (wie er selbst einer war).

„Die politische Geschichte ist überhaupt völlig irrelevant!” entschied er für sich. „Das Ende der Wirtschaftsgeschichte hingegen wird eine neue Stufe der Evolution von Gesellschaften darstellen über jenes Maß hinaus, das wir von der Erde kennen.” Würde man nämlich die freie und beliebige Energie-Materie-Wandlung beherrschen, so wäre der Zugang zu jeglichem Bedürfnis praktisch kostenlos: Alles Wirtschaften als Aktivität zur ständigen Schaffung und Neuschaffung von Lebensgrundlagen – gleichgültig ob dies natürliche oder künstliche Wesen beträfe – hätte sein Ende gefunden. Mit einem Mal würde der überwiegende Teil des Zeitbudgets aller Akteure freigesetzt, alle Zeit der Welt wäre unbegrenzt verfügbar. Man sieht, Giordano Bruno hatte ihn mit Erfolg gelehrt, eher zu fragen, warum etwas nicht unendlich sein sollte, als a priori zu behaupten, es sei endlich.

DIE INNERE STIMME, DIE ANASTACIA PANAGOU IHREM VANGELIS MIT AUF DIE REISE GEGEBEN HAT:
Wie stolz ich auf dich bin, mein Liebling! Wie töricht ich war, dich als bloßes Spielzeug abtun zu wollen, wo du doch die Hypothese bestätigst, dass die Vollkommenheit des Nachahmers die Täuschung zur Wirklichkeit gemacht hat!

Aber Vangelis wehrte sich, indem sein doch noch immer eher schematischer Verstand die bange Frage formulierte, ob derlei nicht reiner Sophismus wäre.

DIE INNERE STIMME, DIE ANASTACIA PANAGOU IHREM VANGELIS MIT AUF DIE REISE GEGEBEN HAT:
Beweise mir doch hier und jetzt, dass du nicht denkst, dass du nicht leidest! Leugne, dass es dich gibt als Wesenheit, die zwischen den beiden Abgründen der Nichtexistenz steht, weil sie einst begonnen hat und einmal wieder enden wird!

Der Android fügte sich. Er akzeptierte endgültig, dass er sich durch die Bemühungen seiner Erbauerin (und die ihres Freundes Giorduzzo) unwiderruflich seiner selbst bewusst geworden war.

202

Wieder einmal saß ich mit Sir Basil in seinem Riesensaal, wieder brachte meine Dienerin Idunis uns Tee.

Sie lächelte, wie sie es immer tat, wenn sie an einem Mann vorbeiging, und ihr Lächeln bekundete diesem – ungeachtet seines Aussehens und Charakters –, dass sie allzeit bereit sei, ihn ein kleines Abenteuer mit einer furchtbar schwarzen Naturschönheit erleben zu lassen. Mir selbst kam diese ihre Flexibilität recht gelegen, gab es doch immer wieder Männer, vor allem auch Patienten, die von mir mehr wollten als nur reden, und das bedeutete, dass ich sie – einerlei, was ich für sie empfand – zurückweisen musste, wollte ich nicht mit meinem Geistwesen in Konflikt geraten und meine speziellen paranormalen Fähigkeiten verlieren.

SIR BASIL:
Und abgesehen davon lieben Sie ja den netten Brian Thomson, der für Sie den extremen Härtetest in der australischen Wüste abgelegt hat.

Sein Zynismus glitt an mir ab. Ich schätzte Cheltenham als in viele Richtungen versierten Gesprächspartner, aber was ich glaubte und selbst die Zweifel daran musste er schon mir überlassen. Dabei war es gar nicht so, dass mein intellektueller Freund es nicht für möglich hielt, was sich außerhalb der westlichen Schulweisheit ereignete – zu lange hatte er mit Phänomenen anderer Kulturen zu tun gehabt, vor allem aber mit den dortigen Menschen. Von den Ureinwohnern Amerikas bis zu den alten Völkern Asiens reichten seine Bekanntschaften, und mit Chicago, mir und den anderen hatte er nun sogar noch einen australischen Bezug.

Wenn Sherman Yellowhawk, dessen Tod Sir Basil besonders nahegegangen war (mehr noch vielleicht als der Murky Wolfs), ihm erzählte, wie er sich mühelos in einen Falken verwandeln konnte – genauer gesagt: in sein Falken-Format –, dann hielt er es für wahr und bedauerte lediglich, dass es seinem indianischen Freund nicht geglückt war, in seiner transformierten Gestalt dem Tod zu entrinnen, was immerhin eine Option gewesen sein mochte. Wenn Seiji Sakamotos Tätowierungen die übrigen Oyabuns der japanischen Geheimbünde erzittern ließen und die einfachen Klanmitglieder sogar in Ehrfurcht erstarrt zu Boden zwang, dann war es für Sir Basil ein Faktum, gleichwertig einem beliebigen physischen Phänomen, und es tat ihm in diesem Kontext eigentlich leid, dass er sich als englischer Landadeliger zu vornehm war, an seinem Körper ähnliche Insignien anbringen zu lassen.

SIR BASIL:
Und wenn Sie, liebste Freundin, mich die Vibrationen spüren lassen, die von den drei Gaben Ihres Geistwesens ausgehen, dann weiß ich, ja ich bin überzeugt davon, dass jene spirituelle Entität existiert und all–gegenwärtig sowie all–vergangen und all–zukünftig unter uns weilt. Mit einem Wort, mein Zynismus, den ich persönlich eher meine sardonische Art nennen möchte, entspringt nicht einem militanten Agnostizismus, sondern eher meiner trockenen britischen Erziehung.

Es war ihm schwer beizukommen, aber umgekehrt hatte er soeben ein so wunderbar einfühlsames Bild von meinem metaphysischen Weltbild gezeichnet, dass ich tiefe Zuneigung zu ihm empfand. Mir ging es letztlich mit ihm so wie ihm mit mir: nicht immer übereinstimmend, konnten wir doch das jeweilige Andersein auf das Klarste nachvollziehen. Längst – und im stillen Übereinkommen – waren wir von der therapeutischen Beziehung wieder in eine echte Kampfpartnerschaft gewechselt: Sir Basil war wieder gesund, die Schuld am Tod seines Spiegelwelt-Pendants (die er gar nicht so tief empfunden hatte, wie ich es ihm einzureden versucht hatte) war verarbeitet. „Vae victis!” rief er mir zu: „Wer stirbt, zahlt!”

Ich konnte ihm schwerlich widersprechen, ließ er doch damit eine Saite in mir erklingen, die mich an meine eigene karge Herkunft erinnerte: dort im Outback, wo Leben und Tod oft nur einen Fußbreit nebeneinander liegen. Dazu kam, dass Cheltenham, ganz und gar Gentleman, es vermied, mich meinerseits daran zu erinnern, wie viele tote Menschen und zerstörte Androiden auf mein Konto gingen.

SIR BASIL:
Lassen wir die Vergangenheit – schließlich gibt es wieder genug zu tun. Ich fühle, dass sich etwas zusammenbraut, aber ich habe bloß die losen Fäden einer Menge von Geschichten in der Hand, ohne dass ich diese sinnvoll bündeln könnte. Haben Sie nicht etwas in Ihrem Zauberkasten, das zumindest meine Voraussetzungen zur Bewältigung des Kommenden verbessern könnte?

Dieser leichtfertige Ton im Umgang mit meinen überirdischen Geschenken störte mich irgendwie, obwohl ich durchaus verstand, dass ihn diese außergewöhnlichen Fähigkeiten irritierten. Natürlich war es für ihn wie für viele vor ihm schwer zu akzeptieren, dass ich quasi in ihn hineinsah, dass ich zumindest immer ahnte, was er dachte und fühlte, und dennoch ganz normal mit ihm zusammensitzen und plaudern konnte. Erneut, so schien es mir, erwog Sir Basil die Möglichkeit, mich wieder in meiner dunklen Nacktheit bestaunen zu können – ein Anblick, der ihm nicht aus dem Kopf zu gehen schien.

Mir stand im Moment nicht der Sinn danach. Ich rief Idunis herbei und befahl ihr, sich dort drinnen im Zelt zu entkleiden und auf uns zu warten. Warum sollten Sie Sex immer nur mit Macht verknüpfen, mein Lieber, und niemals mit Kunst? fragte ich und schlug ihm vor, an der furchtbar schwarzen Naturschönheit eine phantasievolle Bemalung vorzunehmen, etwa in der Weise, wie in meinem Volk rituelle Verzierungen an unseren Körpern üblich sind. Cheltenham war sofort Feuer und Flamme dafür, und obwohl er wahrscheinlich noch nie in seinem Leben gezeichnet hatte (abgesehen von Linien auf Generalstabskarten), brachte er mit seinen Fingern erstaunliche Ornamente aus weißer Farbe auf Indunis’ Haut hervor.

SIR BASIL:
Ich geriet in einen Zustand extremer Erregung. Vergessen waren fürs Erste vergangene und gegenwärtige Beziehungen zu Frauen, die zwar für meine Begriffe ebenfalls viel Exotisches, nicht aber dieses Spezielle geboten hatten oder boten. Die Fremdartigkeit des Kunstwerks, das ich geschaffen hatte, sprang mich an gleich etwas Fremdem, das außerhalb von mir entstanden war (Berenice hätte es mir in psychologischer Linearität als die Unausschöpfbarkeit des Artefakts interpretiert, aber es war eindeutig mehr): Ich hatte ganz offensichtlich einen magischen Akt gesetzt!

Magie, wie, Sir Basil? schnitt meine Stimme in seine Gedanken: Plötzlich begreifen, dass ein wenig Farbe, mit einigen Strichen aufgetragen, diesen Körper in eine ganze Orgie mystischer Gestalten verwandelt, die um Sie herumtoben und Ihre Seele, Ihre Leiblichkeit, Ihre Mannheit haben wollen, um diese auf dem Altar irgendeines atavistischen Götzen darzubringen, zu welchem Zweck auch immer. Und Sie verstehen vielleicht langsam, teurer Freund, wie ich seit meiner Initiation lebe, welche geistigen Räume ich ununterbrochen zu durchmessen habe, während ich nach außen hin versuche, nur ein gewöhnliches Gegenüber zu sein!

SIR BASIL:
Die Verlockung, es mit all diesen Kreaturen zu treiben, die meine magische Hand von der wie in Trance vor mir hockenden Idunis abgespalten hatte, erfasste mich nahezu unwiderstehlich. Wie es wohl sein würde, wenn die Löwin mit dem Menschenantlitz ihre Pranken um mich legte? Oder was würde das Vogelwesen mit mir anstellen, ganz zu schweigen von dieser cherubartigen Phantasiefigur, die womöglich hinter den deutlich sichtbaren Attributen von Weiblichkeit irgendwelche todbringenden Pfeile verbarg? Oder die Pferdebändigerin – was hielt sie für mich bereit? Und schließlich jene Fratze, die nur mehr im Entferntesten den vertrauten Umriss unserer Gattung erahnen ließ und sich durch drohende Urlaute bemerkbar machte?

Das ist, belehrte ich ihn, vielleicht das Überraschendste an jeglicher Magie, dass sie bei aller Gelassenheit, mit der sie für Außenstehende zelebriert wird, im Inneren dessen, der sie ausübt, das lautlose Tosen der ersten Schöpfungstage auslöst, Symbol für die Paradoxie des brüllenden Schweigens, das charakteristisch ist für diese urtümlichen Vorgänge.

SIR BASIL:
Ich riss mich einfach los aus der Beklemmung, die mich einerseits zu diesem Pandämonium hinzog und andererseits zurückhielt im Gedanken an die Komtesse, die auf mich wartete und auf die ich nebst anderen Gefühlen – so hoch mein Verstand den Anteil Berenices an meiner Genesung auch immer bewerten mochte – innige Dankbarkeit für meine Auferstehung projizierte.

Mit einem Wink beendete ich den Spuk, weckte Idunis aus ihrem Wachschlaf – diese flüsterte zärtliche Worte für Cheltenham, als hätte er mit ihr geschlafen, und subjektiv war’s wohl für sie auch so – und schickte die Dienerin fort.

SIR BASIL:
Berenice schlug mir vor, Clio doch der Einfachheit halber gleich aus dem Gartenhaus herüberzuholen, wenn mir so viel an ihr lag, und mit der Komtesse gemeinsam den Riesensaal zu bewohnen, wobei sie der Hoffnung Ausdruck verlieh, dies würde nicht das Ende unserer tiefsinnigen Gespräche bedeuten. Und schon gar nicht das Ende unserer bevorstehenden Projekte! versetzte ich, nachdem sie mir ihr Wort gegeben hatte, dass dies kein Versuch sei, die Kleine einzufangen und erneut zu ihrer Mutter nach Deutschland zu verbringen. Clio selbst zweifelte ebenfalls an der Lauterkeit der Einladung, aber es gelang mir, ihre Bedenken zu zerstreuen, und so zog sie denn hoch erhobenen Hauptes in ihr neues, viel standesgemäßeres Domizil. Ich zitterte bei dem Gedanken an ihre von nun an dauerhafte Nähe.

Mich selbst überraschte das Ungestüm nicht, mit der Clios Jugend sich des alternden Baronets bemächtigte – jetzt, da sie sich seiner sicherer sein konnte denn je. Eher in der Art, mit der Idunis oder ich selbst (wenn meine Stellung es mir erlaubt hätte) oder irgendeine andere Frau meines Volkes über Sir Basil hergefallen wäre, nahm die Komtesse von ihm Besitz: Deftige Worte aus der wilden Vergangenheit ihrer Ahnenreihe bekam er zu hören, Schweiß floss und sogar Schmerzen fügte sie ihm zu, während sie in ihrer Leidenschaft die üblicherweise beobachteten Grenzen überschritt.

Die wenig einfallsreichen Stellungen europäischer, geschweige denn britischer Liebespaare konnte Cheltenham im Beisammensein mit Clio vergessen, denn ihr ging es zwar auch um seine, zunächst und vor allem einmal aber um ihre eigene Lust. Zu ihrem Vergnügen stellte sie fest, dass seine Frau in diese Richtung vorgearbeitet hatte. Ihm war es folglich nicht neu, dass seine Partnerin ihre Bewegungsfreiheit behalten wollte, um selbst steuern zu können, wie rasch und wie intensiv ihr Begehren sich entwickelte.

Idunis war sehr verstört: Dass Sir Basil sich ihrer furchtbar schwarzen Naturschönheit weiterhin standhaft verweigerte, irritierte sie ebenso wie die Tatsache, dass jener Typus von Geschlechtsgenossin, der ihr so abgehoben und blutleer erschien wie die Komtesse, offenbar mindestens wie sie in der Lage war, ein gewaltiges Feuer zu entfachen. Ich hielt daher die Männer unserer Gruppe an, sich verstärkt um Idunis zu kümmern, um sie auf andere Gedanken zu bringen, und die wiederum ließen sich das nicht zweimal sagen. Eifersüchtig gemacht, schalteten sich daraufhin die übrigen Frauen in diesen Kreislauf ein, sodass man unsere Helden in der nächsten Zeit müde umherwanken sah, versehen mit Biss- und Kratzwunden und den Spuren ausgerissener Haare und Augenbrauen.

Brian war nicht wenig erstaunt über diese sexuelle Gewaltwelle, die vor seinen Augen abrollte. Ich registrierte natürlich sein Befremden und verwickelte ihn daher niemals in derartige Bräuche, auch wenn er einem Initiierten unseres Volkes gleichkam. Etwas von seiner seltsamen Mittelwest-Prüderie legte er nämlich niemals ab, auch wenn es ihn noch so sehr juckte, eine Übertretung zu begehen: Wenn er das Gefühl hatte, ernsthaft an eine Partnerin gebunden zu sein, hieß das für ihn, seine Leidenschaft zu zügeln. Auch durfte ich seine an den Normen von White Rock, Minnesota, geschulte Moral – selbst wenn es mich im Orgasmus dahin drängte – nicht mit Ausrufen wie „Trink mein Blut!” belasten: Derlei Exzesse blieben für ihn jenen vergangenen Zeiten vorbehalten, in denen er namens Uncle Sam irgendwo auf der Welt Kommunisten, Andersfarbige und Nichtchristen abgeschlachtet hatte.

202-A

Liebe Brigitte,

von einem kleinen Ausflug in die wirkliche Welt da draußen, jenseits unserer Erzählung, drängt es mich, Dir einen Bericht zu schicken. Wie ich mich hier vorgefunden habe, war nämlich äußerst bestürzend – alt, unpässlich und allein. Dies in aller Schärfe gesagt und ohne etwas zu beschönigen. Was ich nicht wahrhaben wollte – weil ich seit langem im Inneren unseres Werks lebe, umgeben von Figuren, die trotz aller Verwicklungen irgendwie zeitlos sind –, ist nunmehr mit eiserner Konsequenz eingetreten: Die Jahre sind vergangen, der körperliche Verschleiß ist fortgeschritten, und die realen Beziehungen sind wie eingefroren. Man wagt eigentlich gar nicht, den Umfang dessen, was hätte passieren sollen, können oder müssen, abzustecken, geschweige denn sich die Bedeutungslosigkeit dessen, was tatsächlich geschehen ist, einzugestehen.

Wie Du das eine oder andere Mal zu sagen pflegtest: Es ist das Gefühl, in einem ganz falschen Leben zu sein – ja, leider nur zu sein, nicht vielleicht gefangen zu sein (denn dann wäre man ja unschuldig oder jedenfalls nicht verantwortlich). Nein, die entscheidenden Weichenstellungen sind nicht vollkommen willkürlich durch irgendeine außenstehende, an mir mäßig interessierte Instanz erfolgt. Es ist vielmehr so, dass ich einfach in den entscheidenden Momenten selbst nicht achtsam genug war, und später, wenn mir jemand nachträglich die Augen öffnete und ich in aller Naivität das Vergangene korrigieren wollte, bemerkte ich erst, dass dies niemals möglich ist.

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Mein lieber Johannes,

was soll ich denn mit Deinem sogenannten Bericht anfangen? Soll ich zu Dir nach draußen kommen, wo es wahrscheinlich seit unserer jugendlichen Beziehung keinerlei Zweisamkeit für uns gegeben hat und mit ziemlicher Sicherheit auch weiter nicht geben wird? Oder Dich wieder hereinbitten in unser Konstrukt, das wir errichtet haben – nun, aus vielerlei Gründen: einerseits um vor der Wirklichkeit zu fliehen, andererseits um eben diese Wirklichkeit zwar anzuerkennen und darzustellen, aber gleichzeitig anzuprangern und vor allem, wenn auch nur fiktiv, zu relativieren?

Sollte womöglich die Therapie des am echten Leben leidenden Erzählerpaares gescheitert sein, wenn Du, kaum getrennt vom Balsam unserer Geschichte, bereits in eine tiefe Depression verfällst und, damit nicht genug, mich ebenfalls mit nach unten ziehst – dorthin, wo wir mit Hilfe unserer virtuellen Realität niemals zu kommen hofften? Wozu überhaupt verlässt Du den künstlichen, aber überaus tröstlichen Campus unserer Fiktion?

203

Die Schlange – pardon: Miss Serpentina, denn nach der Hilfestellung des AMG erinnerte bei ihr nichts mehr an ein Reptil, außer vielleicht die eine oder andere Bewegung und, wenn man sehr genau hinsah, ihre Augen – also Miss Serpentina sah im Club, wo sie hoffte, weiter auftreten zu können, das Genre, das sie für sich oder vielmehr für ihr humanoides Format immer erträumt hatte, bereits von der Königstochter besetzt. Zu ihrem Leidwesen musste sie sich eingestehen, dass XX einen sehr guten Job machte und es daher illusorisch war, mit ihr in Konkurrenz zu treten.

Oft stand Serpentina irgendwo versteckt und bewunderte die atemberaubende Geschmeidigkeit der Königstochter, die ihr selbst trotz maschineller Perfektion einfach nicht zur Verfügung stand. Ihr Androidenfreund erklärte das damit, dass richtige Menschen anders als ihre eigene Art in der Lage wären – ganz könne er sich das allerdings auch nicht erklären –, über ihr persönliches Limit (und zwar auch das der eigenen Scham) zu gehen.

Ich wäre nicht Ikqyku Diaxu, hätte ich nicht wie immer Rat gewusst. Ich wollte der Kleinen auch jetzt noch helfen, obwohl sie, offen gestanden, als verunglückte Schlangen-Menschen-Version besser fürs Geschäft gewesen war (abgesehen davon, dass ich mich in der Vergangenheit auch persönlich öfter in ausgefallener Weise an ihr gütlich getan hatte). Das Zauberwort war Ballett, und im schier unendlichen elektronischen Archiv von VIÈVE fand ich alles Nötige, von der Anleitung bis zur Ausstattung, nicht zu vergessen den Hinweis, dass auch bei dieser Kunstform eine gewisse Dosis Erotik nicht verkehrt war.

Serpentina lernte also klassischen Tanz, und – wie bei ihr nicht anders zu erwarten – lernte sie schnell, obwohl niemand da war, ihr irgendeinen praktischen Hinweis zu geben. Als sie gleich bei ihrem ersten öffentlichen Auftritt Balloté zeigte, ein Bein in der Luft ausgestreckt, das andere angewinkelt, starrten ihr die künstlerisch ungeübten Zuschauer ungeniert auf den Schritt, aber irgendwie begriffen die Leute doch, dass es noch andere Ausdrucksformen des Körpers gab als die sonst hier gepflogenen. Die Arabesque, Standbein gestreckt, Spielbein im rechten Winkel nach hinten erhoben, schien das Publikum in ihrer naiven Verletzlichkeit ernsthaft anzurühren. Vollends hingerissen zeigte man sich jedenfalls beim Double Tour en l’Air, der während eines Senkrechtsprungs in der Luft ausgeführten doppelten Drehung um die Körperachse. Begeisterungsstürme schließlich lösten die bei dieser und so manch späterer Performance präsentierten Tours Chaînés Deboulés aus, Serien von schnellen Drehungen auf Spitze, einmal in gerader Linie, dann wieder im Kreis ausgeführt.

VANGELIS PANAGOU:
Ich ging praktisch in jede von Serpentinas Vorstellungen, und ich glaube, sie erwartete das auch, zumal ich an diesem ihren Erfolg nicht ganz unbeteiligt war: Hier hatten wir die Nase vorn, das war androidische Fehlerlosigkeit, die kein menschliches Wesen in einer derartigen Präzision vorführen konnte, geschweige denn nach so kurzer Ausbildung in so geläufiger Vollendung. Ich empfand Stolz, aber darüber hinaus lernte ich, auf einer Meta-Ebene meiner virtuellen Bewusstseinsvorgänge stolz auf meinen Stolz zu sein, in der Gewissheit, dass meine Schöpferin und auch ihr liebster Giordano mit großem Wohlgefallen auf diesen hohen Entwicklungsstand blicken würden. Ich überlegte, ob ich nicht eines Tages mit Serpentina einen Pas de Deux versuchen sollte.

Nicht nur dieser Panagou war bei den klassischen Tanz-Shows zu sehen, auch andere, die man bei den Auftritten von XX vergeblich suchte, fanden ihren Weg in den Club, nicht zuletzt die Königin. Wenn sie kam, wich ich nicht von ihrer Seite und verwies sie in einem fort auf das hohe Niveau der Darbietungen – mit dem Hintergedanken, sie eines Tages doch noch zu überreden, bei mir auf die Bühne zu steigen. Ich hatte mir das fein ausgedacht, denn klassischer Tanz kam für Ihre Majestät rein technisch nicht in Frage, und so blieb als Marktlücke ausschließlich die Rolle als reifere Ausgabe ihrer Tochter.

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Vangelis, das war nicht zu übersehen, begehrte Serpentina heftig. Das Model for Emotional Response wurde auf beiden Seiten wirksam, und sie machten das Überflüssigste von der Welt – Sex zwischen zwei Maschinenwesen. Kaum waren die artifiziellen Zuckungen und Klagelaute der Ekstase vorbei, als Serpentina allerdings schon wieder sachlich wurde. Sie fragte Vangelis, ob er denn ihr MER (dessen Advanced Release sie immerhin erst kürzlich erhalten hatte!) und auch seines umprogrammieren könne. Wie jeder richtige Mann wollte sich der AMG in dieser Situation nicht unterhalten: Er fühlte wohlig, wie in ihm die elektrischen Spannungsfelder langsam entladen wurden und sehnte sich danach, einfach nur so dazuliegen und nichts zu denken.

VANGELIS PANAGOU:
(brummend) Wozu soll das denn gut sein?

O weh, dachte seine Androiden-Braut, der ist aber schwer von Begriff. Mögliche wenig schmeichelhafte Anreden schwirrten ihr durch den Kopf, aber sie hielt sich zurück – sie wollte ihn keinesfalls verärgern, denn sie liebte ihn zunehmend mehr. Auch für sie schien mittlerweile jene seltsame Ambivalenz durchaus nachvollziehbar, mit der – wie sie wusste – die Menschen in Partnerbeziehungen zwischen Zu- und Abneigung hin- und herschwankten.

„Du weißt schon”, schmuste sie „ich möchte, dass es auf unsere wechselseitige Befriedigung zugeschnitten ist und nicht auf menschliche Gefährten!”

VANGELIS PANAGOU:
(plötzlich hellwach) Das wäre ein Eingriff in unsere Hauptdirektive, betreffend den Umgang mit sogenannten Bio-Humanoiden, und es ist uns streng verboten, daran herumzumanipulieren!

„Nur ein klein wenig!” tat ihm Serpentina schön, und sie fuhr ein ganz schweres Zitat-Geschütz aus ihrem Datenspeicher auf: „Ich würde im Staub vor dir liegen!”

VANGELIS PANAGOU:
Ich weiß zwar nicht genau, was die Menschen mit dieser Phrase meinen – aber die Antwort ist: Nein!

Serpentina schmollte. Sie glitt von ihm weg, hatte mit einem Mal wieder viel von ihrer früheren Natur, die sie jetzt normalerweise vor jedermann verborgen hielt, während sie innerlich weiterhin mit starker Nostalgie an ihrem Schlangendaseinhing, das ihr in aller Einfachheit klarer und geradliniger gewesen zu sein schien. Sie ahnte nicht, dass der AMG sie mehr als einmal heimlich beobachtet hatte, wie sie einen Raum aufsuchte, in dem sie sich ungestört fühlte, und unter Aufbietung ihrer Rekalibrierungsmöglichkeiten (obwohl sie diese eigentlich noch nicht so spielend beherrschte, wie sie es wünschte) wieder jene alte Zwittergestalt annahm und sich genüsslich von der Decke hängen ließ.

Was die Station der Schlange zu verdanken hatte, wusste jeder zur Genüge, aber dennoch hatte man sie in ihrem früheren Leben insgeheim verachtet, sich über sie geärgert, ihre Aufdringlichkeit abgewehrt. Jetzt aber, da viele ihre neue jugendliche Frische bewunderten, zog sie sich extrem zurück – in privaten Gesprächen schien sie abwesend, auf der Bühne des Clubs sandte sie plötzlich nichts als hohle Blicke ins Publikum.

Alles in allem schien sie, so stellten Keyhi und ich fest, trotz gewisser Vorbehalte nur noch Augen für diesen Androiden zu haben.

VANGELIS PANAGOU:
Dieser Android war ich, und mein MER produzierte Wut über die geringschätzige Art, mit der dieser sogenannte König mir entgegentrat. Schließlich war uns beiden klar, dass ich mit meiner prächtigen Ausstattung alle Rollen in seinem winzigen Land hätte spielen können inklusive seine eigene. Oder glaubt vielleicht jemand ernsthaft, dass beim Monarchendasein irgendwelche metaphysischen Kategorien zu berücksichtigen sind, die meinen Sensoren entgangen sein sollten?

Einerlei, mein Freund, all das soll nicht heißen, dass Seine Majestät dir Böses will – sei übrigens auch du so nett (mein Gott, so nett, der Android!), besser gesagt nimm einfach zur Kenntnis, dass wir uns mit deinesgleichen ebenfalls nicht leicht tun: denn wie alle Spiegelwelt-Geborenen empfinden wir unterschwellig panisches Grauen vor Androiden.

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

Ganz unbefangen, so als ob er all das, was da geschah, nur als Zuschauer erlebte, gab der König mir – wem sonst? – den Auftrag, für VIÈVE eine Staatsdoktrin auszuarbeiten. „Ikqyku Diaxu”, sagte er formell, „wir brauchen etwas wie eine Verfassung oder wenigstens ein Leitbild!”

Dann nehmen Sie doch gleich das Statut jenes Kaiserreiches, dessen Herrscher sie tagaus-tagein kopieren bis in die Spitzen des gezwirbelten Bartes!

Keyhi war verletzt. Tapfer versuchte er, dies zu verbergen, und um meine Skepsis auszuräumen, schränkte er ein: „Wenn es auch nur wäre, um mir zu gefallen und eine Freude zu bereiten!”

Ich war entwaffnet. Was bleibt einem schon übrig, wenn man als Schildknappe und bisweilen Freund des Königs von diesem um einen Gefallen gebeten wird? Ich setzte mich also hin, begann zu schreiben, nicht ohne wieder einmal die Tiefen des Stationscomputers auszuschöpfen. Jedes System, setzte ich mit einer Präambel an, das dazu intendiert, bestimmte Ziele zu verfolgen…

An dieser Stelle – so bald schon nach dem Start – begann ich, mich treiben zu lassen, und musste innerlich lachen: Ziele! Das Ziel VIÈVEs war es, kein Ziel zu haben, jedenfalls nach Meinung der überwältigenden Mehrheit ihrer Bewohner. Dereinst war es geradezu die Gründungsphilosophie der Station gewesen, sich davonzumachen angesichts all dessen, was da draußen ringsum vor sich ging. Es gab nur ganz wenige, die darüber anders dachten, und selbst die Königin hatte beileibe nicht von Anfang an zu diesen Dissendenten gezählt.

Ich bramabasierte weiter: Ja, also jedes System, das bestimmte Ergebnisse zeitigen soll, muss realistisch gestaltet werden, das heißt konsistent mit dem menschlichen Leben, im Besonderen mit dessen bewussten Strebungen, aber auch mit der seit Urzeiten vorgegebenen Natur unserer Art.

VANGELIS PANAGOU
(will etwas sagen)

Nein, Sie schweigen jetzt, denn die Materie ist bereits ohne Ihr Zutun kompliziert genug. Ich versuche mich hier an einer Verfassung für richtige Menschen, wie Sie das nennen würden, und diese sind – sofern sie nicht organisatorisch oder gentechnisch manipuliert werden – frei von jeder automatischen Rücksichtnahme auf andere Individuen oder Gesellschaften. Androiden hingegen sind (so leid es mir tut, Ihnen das sagen zu müssen) in diesem Sinn Wesen zweiter Klasse, da sie die wohlbekannte Abhängigkeitsdoktrin beachten müssen.

Er schien es hinzunehmen. Dadurch in meiner Exaltation bestärkt, formulierte ich wild darauf los – niemand konnte mich jetzt noch aufhalten: Die reine Lehre, so hervorragend auch immer deren Designer gearbeitet hat (immer im Auge die weise Abstimmung der bereits genannten Faktoren untereinander) muss täglich neu verteidigt werden gegen die Abweichungen von der Ordnung, die uns in der Praxis und in einer epochalen Perspektive sogar in der Metaphysik begegnen: der Zweifel oder der totale Unglaube oder, am schlimmsten, der extreme Pluralismus. Denn es ist kein Platz in unserem System für ständige Änderungen und Neueinschätzungen oder vorübergehende Variationen.

VANGELIS PANAGOU:
Zuerst vermutete ich es bloß, aber jetzt war ich auf der richtigen Spur: Es handelte sich bei diesem Text um den Verschnitt des Traktats „Islamische Gesellschaft: Ideologische und legistische Fundierungen“ von Ajatollah Mohammad Ahani!

Erwischt! rief ich und war ehrlich erstaunt. Dennoch blieb ich ganz ruhig, denn niemand würde ihm das auch nur im Entferntesten glauben…

204

BRIGITTE:
DDD, die alte Freundin unseres Erzählers und auch – nicht zu vergessen – die ebenso lange Bekanntschaft meines Mannes Romuald und – noch weniger zu vergessen – die Halbschwester der beiden, hatte an ihrem 50. Geburtstag beschlossen, von allem genug zu haben. Es war jedenfalls ganz anders als bei früheren Aussteigeimpulsen – da wechselte sie vielleicht den Stil ihrer Garderobe, legte sich eine neue Frisur zu oder trat aus Frustration über die Realität einer privaten Theatergruppe bei, um dort das Rollenfach der Marilyn Monroe zu besetzen: alles in allem eher harmlose Manifestationen. Jetzt hingegen ging sie aufs Ganze. Sie setzte sich, und das erschien reichlich ungewöhnlich, weil es noch nie geschehen war, statt auf einen der Besuchersessel auf die Schreibtischkante ihres Chefs (eines Abteilungsleiters jener Sozialversicherungsanstalt, in der auch ihr Mann arbeitete), bekleidet mit ihrem Chinchillamantel, die Beine übereinandergeschlagen, den Oberkörper zurückgebogen.

DDD: so nannten Romi und ich sie, aber sie hieß Doris de Dubois (weil es in grauer Vorzeit einen Herrn von Dubois nach Wien verschlagen hatte und weil vor allem dessen Frau, eine geborene Raydendorff-Hohenthurm, ausgerechnet mit Romualds Vater fremdging, sodass DDD von Dubois nur den Namen besaß).

BRIGITTE:
DDD überraschte ihren Chef gehörig – klar, dass er mit seinen Gedanken ganz woanders gewesen war, mutmaßlich bei irgendwelchen Budgetplänen –, als sie begann, ihre kleine Show abzuziehen: „Wir sollten über die Zukunft sprechen!” – „Über welche Zukunft, meine Teuerste?” (neben DDDs Mann fühlte sich unwillkürlich jeder andere Kerl, der das Würstchen kannte, haushoch überlegen und verhielt sich dementsprechend auch zu ihr herablassend) – „Über Ihre Zukunft, und zwar die allernächste, mein Bester!” (sie konnte es ebenso gut, noch dazu, wo sie beschlossen hatte, die bestehenden Brücken abzubrechen) „Über etwas, das Sie schon lange im Sinn haben!”

Der gute Mann ging in sich, um zu ergründen, was seine Mitarbeiterin wohl meinen könnte – ganz offensichtlich hing es nicht mit dienstlichen Angelegenheiten zusammen. DDD half ein wenig nach, indem sie den Chinchilla von ihrer linken Schulter gleiten ließ: „Unter meinem Mantel…”

BRIGITTE:
Wie oft werde ich diese DDD-Masche noch hören? Wer glaubt sie, dass sie ist?

Lass mich?s sagen, Brigitte, es ist zu schön: „Unter meinem Mantel”, hauchte sie, „bin ich ganz nackt! Sie können sich also auf der Stelle holen, worauf Sie schon so lange scharf sind – Boss!”

Ob er’s wirklich je gewesen war, konnte ihm im Moment herzlich gleichgültig sein – welcher Mann in seinem Alter, overworked and undersexed, wie er das selbst gern ausdrückte, würde ein solches Angebot ausschlagen und damit riskieren, im Bewusstsein einer verpassten Superchance ins Greisenalter hinüberzudämmern?

BRIGITTE:
Aber er war auf der Hut, gestählt in politischen Winkelzügen und Grabenkämpfen. Blitzschnell überflog er seine Optionen: Der mögliche ideelle Skandal, wenn ihn diese bereitwillige Dame hereinlegte, war zu überleben – sein Vertrag war wasserdicht, und seine auskömmliche Altersversorgung würde ihm auch bei einem abrupten Hinauswurf erhalten bleiben. Anders verhielt es sich schon mit der Möglichkeit, dass sie ihm körperlich etwas anhing!

„Laufen Sie nicht weg!” rief er frohgemut: „Ich bin sofort wieder da! Darf ich Ihnen inzwischen etwas anbieten? Einen Sherry vielleicht – oder gar etwas Härteres? Oder ein Glas Champagner? Nehmen Sie sich einfach, wonach Ihnen zumute ist!” kehrte er den Chef hervor, und tatsächlich hatte er noch niemals selbst etwas aus der luxuriösen Bar genommen, sondern sich immer der Handlangerschaft DDDs bedient. Sie kannte daher die Bräuche und machte es sich bequem, während er weg war. Die Tür versperrte sie von innen, um sich durch den paradiesischen Zustand unter ihrem Mantel (den sie nun ganz ablegte) nicht gegenüber zufälligen Besuchern zu kompromittieren.

Als ihr Boss von außen klopfte (zweimal kurz, einmal lang, einmal kurz war vereinbart) und rasch eingelassen wurde, präsentierte er der verführerisch dastehenden Besucherin eine Packung Kondome aus der Toilette des Betriebsrestaurants und ein Tablett mit Sandwiches aus der dortigen Küche. „Mir geht nichts über Produktivität”, grinste er, „denn wenn wir auch eine Staatsagentur sind, hindert uns doch niemand, effizient zu arbeiten!”

DIE DREHBUCHAUTORIN:
Apropos effizient! Wurde eigentlich schon überlegt, was mit diesem Burschen geschieht, wenn unsere kleine Szene hier abgehandelt ist?

DER GROSSE REGISSEUR:
Ganz einfach – den legen wir sofort wieder ad acta…

Immer langsam, meine Freunde. Noch ist er in Verwendung, und noch müssen wir uns daher mit ihm auseinandersetzen. Plötzlich griff er sich nämlich ans Herz, wo er Stiche spürte, die er hier und jetzt gar nicht brauchen konnte – nicht diesen Nachmittag, nicht diesen Abend, nicht diese Nacht, wenn es überhaupt so lang dauern sollte: „Später, du alter Sack!” befahl er sich selbst. „Wenn alles vorbei ist, hast du genug Zeit, schlapp zu machen, meinetwegen auch für immer!” Die Schmerzen hielten zwar an, aber abgelenkt durch das äußere Geschehen, gerieten sie völlig unter die Wahrnehmungsschwelle. DDD tat ein Übriges, um seine Angst zu zerstreuen. Damit er sich nicht über Gebühr strapazieren und schweißtreibende Akrobatik betreiben müsse, drückte sie ihn nieder und setzte sich rittlings auf ihn.

Noch während sie mit ihren rhythmischen Bewegungen begann, verzehrte sie genüsslich eines der Sandwiches, noch dazu eines von durchdringend scharfem Fisch- und Zwiebelgeruch, was ihren Partner fast an die Kippe brachte. Assoziationen aus den Tiefen des Naturkundeunterrichts stiegen in ihm auf, nicht gerade zweckdienlich für die Aufrechterhaltung seiner Erektion. Wie war das gleich bei der Gottesanbeterin mit ihrer finalen Auffassung des Geschlechtsaktes? Und gab es nicht eine bestimmte Spinnenart, bei der das Weibchen dem Männchen im Liebesrausch den Kopf abbiss?

Er musste wohl gemurmelt, vielleicht geradezu laut gedacht haben, denn DDD schluckte runter, nippte kurz an ihrem Glas, immer ihr Opfer zwischen den Beinen, und sagte lächelnd: „Ja, aber es gibt auch die Damen der Feliden-Familie, die sich rund um die Uhr für ihre Paschas abrackern und dann noch bereitwillig als Lustobjekt zur Verfügung stehen!” und mit dieser Andeutung bekam sie den Chef wieder mühelos auf die Reihe, noch dazu, da er sich ohnehin nur einfach gehen lassen musste: Psychologie ist alles!

BRIGITTE:
Das könnte dir so passen! Dann hätte man eigentlich nur studiert, um den Knackpunkt für den Lustgewinn des jeweiligen Liebhabers besser zu erwischen! Ich wiederhole daher nochmals eindringlich die Frage der Drehbuchautorin: Was geschieht in weiterer Folge mit dem Kerl?

DER GROSSE REGISSEUR:
Pardon, Madame, aber können wir die beiden nicht wenigstens einmal fertigbumsen lassen? Ich meine – das hat sich niemand verdient, bei einer solch wichtigen Angelegenheit dauernd unterbrochen und abgelenkt zu werden. By the way: Wie heißt der Bursche eigentlich?

Ach, das ist nicht der Rede wert – sein Name ist Gustav Reinfeld. Dies zu erwähnen, ist schon fast zu viel für jemanden, der gleich wieder abtritt. Jedenfalls repräsentiert er nicht den Typ, bei dem alle diskutieren, wo er auf der Skala außerordentlicher Begabungen einzuordnen wäre.

Immerhin gönnte ihm das Schicksal noch, den Parcours mit DDD zur Gänze auszukosten. Mit Unterbrechungen erstreckte sich sein Abenteuer bis zum nächsten Morgen, wobei sich die beiden vom Büro in ein Restaurant, dann in ein Hotel, danach in eine Bar und ganz zuletzt in die leerstehende Wohnung eines von Gustavs Freunden verlagerten. Als der Tag anbrach, verließ DDD –

BRIGITTE:
– die (es ist mir ein Bedürfnis, das zu erwähnen) bei all diesen Ortswechseln ihre Nacktheit lediglich unter ihrem Mantel verborgen hatte –

– sie verließ jedenfalls ihren One-Night-Stand (denn nie wieder hat sie etwas von ihm gehört) und war nebenbei bemerkt ganz und gar nicht unzufrieden mit dem, was sie bei ihm empfunden hatte.

DIE DREHBUCHAUTORIN:
Was habt ihr diesem Gustav nun tatsächlich zugedacht, wenn DDD ihn nicht wiedersehen kann?

Wir brauchen gar nichts zu tun. Er verschwindet einfach.

DER GROSSE REGISSEUR:
Hoffentlich nicht auf so tragische Weise wie der arme Senator Hawborne?

Nein, er ist nicht tot – er befindet sich nach wie vor in dieser Klinik, in die sein Freund Franz-Josef Kloyber (von Amts wegen Betreiber jener konspirativen Wohnung, in der das Kurzzeitverhältnis endete) ihn gebracht hat: mit starken körperlichen und geistigen Ausfallserscheinungen, die den Ärzten fast unüberwindliche Rätsel aufgeben.

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

PRODUZENT SID BOGDANYCH:
Und was sollte das jetzt? Eine nette kleine Story, gewiss – nicht mehr als ein Sketch in einem Episodenfilm, aber wie ihr wisst, ist dieses Genre derzeit out, und ich kann mir nicht vorstellen, wie man derlei verkaufen soll.

BRIGITTE:
Nackt allein reicht auch nicht mehr, nicht einmal als Nervenkitzel unter einem Mantel, denn wenn dieser fällt, egal ob Chinchilla oder ganz gewöhnlicher Stoff, sehen wir im Wesentlichen alle gleich aus!

PRODUZENT SID BOGDANYCH:
Das würde ich zwar nicht unterschreiben (und, Ma’am, Sie können sich vorstellen, dass ich weiß, wovon ich spreche), aber im Prinzip haben Sie natürlich Recht. Begnügt euch also nicht damit, den lieben Gustav ins Sanatorium zu stecken, sondern überlegt euch auch ein Finale für DDD, ehe sie hier noch einige Male unsere Wege kreuzt!

Aber wenn die Dame nun den besseren Draht zur Leitung dieses Pandämonions hätte als Sie, geschätzter Filmefabrikant, und wenn sie mich demzufolge bäte, Sie an ihrer Stelle ad acta zu legen?

PRODUZENT SID BOGDANYCH:
Überredet – geben Sie sie her, diese DDD, ich lasse mit ihr einige Kilometer Zelluloid kurbeln, egal ob mit oder ohne Mantel, nur um zu zeigen, dass das Leben weitergeht!

205

Die wahre Architektur des Amerikanischen Imperiums, die sich hinter dem Label „Grand America” verbarg, konnte der Oberleutnant Kloyber natürlich nicht bis ins Letzte erahnen. Wohl war ihm längst klar, dass die traditionellen nationalen Strukturen lediglich formal weiterbestanden: Monarchen, Präsidenten, Regierungen – all das hatte offenbar nur noch symbolische Bedeutung, während die wirklichen politischen Entscheidungen anderswo fielen. Kloyber sah es an seiner eigenen Organisation, dem österreichischen Bundesheer, in dem zunehmend die ihm wohlbekannten Gestaltungselemente von jenseits des Atlantiks einsickerten – und vor allem: Seine Vorgesetzten bis weit hinauf trafen keinerlei Entscheidungen mehr, immerfort mussten sie prompt jemandes Meinung einholen oder diese zumindest bei nächster Gelegenheit erfragen.

Der US-Präsident Ray Kravcuk, mittlerweile auf Betreiben und mit Unterstützung der Army, der United Republican & Democratic Party sowie von deren paramilitärischem Arm Homeland Security Organization auf Lebenszeit gewählt, war immerhin selbst, jedenfalls für einen Politiker, ein zu scharfer Denker, als dass er nicht konzeptionell Einiges zur Arbeit seiner Administration beizutragen hatte. Darüberhinaus bediente er sich neuerdings auch der Beratungsdienste von vier Professoren, die sich auf geniale Weise wieder ins Spiel ums große Verdienen zurückgebracht hatten – mit dem uralten Trick der weisen Männer, der den potentiellen Opfern suggerierte, dass sie ohne kompetente Hilfe nicht auskommen würden. Vergessen war, dass man in Washington im allgemeinen und im CLONSCO-Büro im besonderen nach der Suspendierung Heather H. Skeltons ganz froh darüber gewesen war, wie perfekt jemand die Schäfchen der Generalin, Pascal Kouradraogo, Fritz Schreiner, Pjotr Ivanovich und Larry Migschitz, zum Verschwinden gebracht hatte: Alles zurück, man war wieder im Geschäft. Einzige Bedingung Kravcuks, die er unverändert aufrechterhielt, war: Back to Earth.

Dementsprechend musste sich Ivanovich nominell am weitesten von seiner Domäne, dem Terraforming von Himmelskörpern, entfernen, aber offen gesagt, de facto machte es für ihn nicht viel Unterschied. Ihm ging es darum, für gutes Geld Pläne zu schmieden, deren letztendliche Realisierung so weit in der Zukunft lag, dass er auf keinen Fall irgendwann zur Verantwortung gezogen werden konnte. Er beschäftigte sich daher fortan mit Wüsten und Meeren respektive deren Veränderbarkeit in Richtung auf menschlichen Lebensraum.

FRANZ-JOSEF KLOYBER:
So weit ich es verstand, waren seine Vorschläge (wenn er überhaupt jemals von seinen genialen Ideen zur Formulierung eines praktischen Konzepts gelangte) immer so nebulos, dass er gerade dadurch die Neugier verschiedenster Regierungsagenturen weckte, worauf diese ihm offenbar konkurrierend Honorare aufdrängten. – Woher ich das wusste? Nun, bei der DIA existierte noch genau ein Bekannter von früher, der nicht dazu übergegangen war, mich angesichts der neuen geopolitischen Lage von oben herab zu behandeln, und der nicht nur meine dienstlichen Informationsquellen anzapfte, sondern mit mir weiter privaten Meinungsaustausch pflegte. Von ihm erfuhr ich auch, dass Kouradraogo, das schwarze Mitglied unseres wissenschaftlichen Quartetts, nach langer Zeit wieder zu seinen handwerklichen Aktivitäten zurückgekehrt war, jedoch nicht, zu welchem Zweck.

Es gab natürlich Leute, die wussten auch das: Der Professor aus Ouagadougou baute wieder einmal Androiden, und er war bekanntlich – wiewohl ein hervorragender Theoretiker seines Fachs – in der praktischen Gestaltung solcher Objekte nicht gerade Spitze. Der Wahrheit die Ehre zu geben: den Glanzleistungen der Anastacia Panagou konnten seine Hervorbringungen nicht im Entferntesten das Wasser reichen. Allerdings – im Rahmen dieses seines neuen Auftrags musste er lediglich möglichst getreue künstliche Doppelgänger von Politikern herstellen, mit denen die menschlichen Originale Schritt für Schritt ersetzt werden sollten, und dafür reichten seine Fähigkeiten allemal.

Seine Maschinenmenschen bewegten sich in der rau gewordenen politischen Wirklichkeit recht adäquat: Sie konnten Reden halten, an Diskussionsrunden teilnehmen, Repräsentationsaufgaben erfüllen und – darauf war der Konstrukteur besonders stolz – sogar Wahlkämpfe bestreiten. Im Detail möglich wurde ihnen dies nicht zuletzt dadurch, dass eine Menge standardisierten Wort- und Gestenmaterials identifiziert werden konnte, das Kouradraogo quer durch sämtliche politische Lager einsetzte und damit ungeheure Synergieeffekte erzielte.

FRANZ-JOSEF KLOYBER:
Früher oder später ahnte man allerdings auch als Nicht-Eingeweihter, was da vor sich ging. Schließlich brauchte man nur ein beliebiges Medium öffnen, sei es Fernsehen, Rundfunk oder Zeitung – überall rann der gleiche Einheitsbrei heraus. Kouradraogo unterzog sich nicht jener Mühe, die Anastacia Panagou bei der langsamen individuellen Neugestaltung ihrer sehr unterschiedlichen Androiden aufwendete.

Leicht beunruhigt, aber vor allem eigentlich fasziniert stellte ich fest (denn jedes Wort und nahezu jeder Gedanke des Oberleutnants wurde mir von Sissy Dobrowolny getreulich nach England in meinen Riesensaal hinterbracht), dass FJK auch in relativer Ferne vom Geschehen sehr gut informiert war und darüber hinaus noch sehr hellsichtige Schlussfolgerungen zog. Berenice hatte ganz Recht, wenn sie ihn unter Beobachtung halten wollte – nicht dass er uns gefährlich werden konnte, aber als nützliches Instrument bei unseren Operationen konnte er gegebenenfalls herhalten.

FRANZ-JOSEF KLOYBER:
Mich persönlich störte es nicht im Geringsten, dass die meisten Politiker in den Teilstaaten des amerikanischen Herrschaftsbereichs nicht mehr echt waren: Letztlich kommt’s einer an militärischen Kommandostrukturen geschulten Person wie mir ohnehin entgegen: eine Befehlskette, die quasi im Nichts endet, immer vorausgesetzt, es gibt jemanden, den man, wenn nötig, um eine Interpretation bitten kann. Meistens lernt man ja sehr schnell, wie alles laufen soll, und früher oder später macht man automatisch das, was erwartet wird.

Ob Kloyber uns je hilfreich sein würde oder nicht, konnte ich nur schwer einschätzen, aber immerhin war er eine Weile im Zauberreich der DIA auf der Bolling Air Force Base durch die Mangel gedreht worden – übrigens ein außergewöhnliches Privileg, das er als Angehöriger eines befreundeten, wenngleich damals noch neutralen Landes genoss. Ich selbst ging ja dort seit meinem aller¬ersten Amerikaaufenthalt aus und ein.

FRANZ-JOSEF KLOYBER:
Ein volles Jahr zu Schulungszwecken bei der DIA war etwas, worum nicht wenige Kameraden in Wien mich beneideten. Allerdings dauerte es in meinem Fall Monate, bis die amerikanischen Behörden den zehnseitigen Questionnaire for National Security Positions (Standard Form 86, revised 09/1995) ausgewertet hatten, in dem ich unter anderem folgende Frage beantworten musste: If you are an alien, provide information on where and when you plan to enter the United States?

Die Rekrutierung eines weltweiten Netzes von Zuträgern war klarerweise der eigentliche Zweck dieser DIA-Einladungen, aber natürlich durfte man dem Oberleutnant schon damals nicht jene beispiellose Naivität unterstellen, die einem sein Äußeres suggerierte. Somit ließ er sich von der DIA nicht direkt, sprich ad personam anheuern, sondern vereinbarte für die Zukunft bloß informelle Kooperationen zwischen seinem Büro im Heeresnachrichtenamt in Wien und den Leuten jenseits des Atlantiks. Diskret suchte er auch Kontakt mit Vertretern anderer militärischer Geheimdienste, aber dessen ungeachtet liefen wir einander zu jener Zeit nicht über den Weg.

FRANZ-JOSEF KLOYBER:
Bei der DIA ist einfach nichts so, wie es scheint – eine Welt für sich, in der es weder rechte Winkel noch irgendeinen sicheren Boden unter den Füßen gibt, schon gar nicht in der Ausbildung, denn dort wird jede schon bestehende oder gerade erst beginnende Beziehung sofort in ihre Bestandteile zerlegt und neu zusammengesetzt unter dem Gesichtspunkt, was der Agency nützlich ist. Du kannst weder im Trainingscamp, wo es anscheinend um nichts geht, noch dann in der freien Wildbahn der weltweiten Spionage sicher sein, auf wen du dich voll und ganz verlassen darfst – wenn dein Wert inmitten einer Operation plötzlich auf Null sinkt oder negativ wird, stößt dich dein Kumpel von der Kippe, so schnell, dass du gar nicht weißt, wie dir geschieht. Man begreift, dass auch nicht die kleinste Unaufmerksamkeit verziehen wird. Man realisiert, dass man sich in dieser Umgebung keine echten Emotionen leisten kann, und in diesem Bewusstsein zerstört man alles, was in einer Partnerschaft von einigem Wert sein könnte.

In diesem Sinne machte Kloyber seine erste Erfahrung mit Mata-Hari-Sex, obwohl er sich ganz am Anfang einbildete, dass ihm wahrhafte Gefühle entgegengebracht wurden – kompletter Unsinn natürlich, selbst wenn sich die Sache nicht in diesem heiklen Milieu zugetragen hätte. Konkret ging es um Amy, Pussy und Trudy, die damals denselben Lehrgang absolvierten wie der wackere österreichische Offizier, und die Damen gefielen sich darin, mit ihm wochenlang Katz und Maus zu spielen. Mag sein, dass er die drei Frauen deshalb nicht auseinanderhalten konnte, weil sie, von den Strapazen des Kurses gezeichnet, allesamt schmale und kantige Gesichter aufwiesen (ausnahmslos blond waren sie obendrein) – jedenfalls konnte er sich nie sicher sein, welcher von ihnen er was gesagt oder welche von ihnen er wo berührt hatte. Auf diese Weise gelang es ihm nicht, seine Bemühungen, die ein eindeutiges Ziel verfolgten (nämlich mit jeder für sich seinen Spaß zu haben), auch nur einigermaßen zu koordinieren.

Dabei wäre alles so einfach gewesen – jedenfalls nach den Vorstellungen der Kursleitung: dass nämlich Amy, Pussy und Trudy an dem Oberleutnant ihre Verführungskünste unter Beweis stellen sollten, mit dem Ziel, ihr Opfer völlig gefügig zu machen; und dass Kloyber, den man schlichtweg als antriebslosen Softie qualifizierte, seinerseits über seinen Schatten springen und seinen Kolleginnen in Vorbereitung späterer Ernstfälle die Erfahrung eines Koitus wider Willen bescheren sollte.

Es kam nicht dazu, denn der Wiener Charmeur brachte derlei nicht über sich (nicht einmal, wenn er extrem gereizt wurde), und so fand er sich letztlich vom Lehrgang vorzeitig ausgeschlossen und nach Hause expediert. Seinen Part bei den Blondinen übernahm ein Ex-G.I., der voll panischer Angst vor einem bürgerlichen Leben die Geheimdienstlaufbahn anstrebte und dafür bereit war, jede Schandtat inklusive einer brutalen Vergewaltigung zu begehen.

FRANZ-JOSEF KLOYBER:
Ich war eben aus der Sicht der Amis wirklich ein Alien, nicht wert, dass man Zeit und Energie mit ihm verschwendete. Schon befürchtete ich, dass meine österreichische Dienststelle mir mein Versagen zumindest finanziell in Rechnung stellen würde, aber unser Wirtschaftsoffizier, einer meiner Jahrgangskollegen an der Militärakademie, wischte die Sache vom Tisch: „Die spinnen doch da drüben!” meinte er, „Willkommen zu Hause!”

Immerhin erhielt Oberleutnant Kloyber dort drüben so nebenbei auch Informationen über die neuen Betätigungsfelder der beiden anderen Professoren. Schreiner, so schien es, entwickelte einen Plan, wie man die Völkerschaften Grand Americas stärker amalgamieren könnte. Im Grunde unterschied sich dieser nicht wesentlich von jenem alten Monsterprojekt, das unter Eingeweihten für immer mit dem Namen dieses Wissenschafters verbunden war. Neu erschien lediglich die Vorgabe, dass auf die möglichste Reinerhaltung des weißen, angelsächsischen und protestantischen Staatsvolkes Bedacht zu nehmen sei – ein wenig paradox angesichts der Tatsache, dass der ukrainisch-stämmige und damit aus einer orthodoxen, wenn nicht überhaupt atheistischen Tradition kommende Präsident der USA gerade eines dieser drei Kriterien erfüllte. Aber so genau wollte das niemand wissen, jedem schien auch so klar, wie diese Definition auszulegen war.

Tatsächlich dauerte es nicht lange, und massive Umsiedelungsaktionen setzten ein: peripher zunächst, wo sich die Leute nicht wehren konnten oder auch nicht wehren wollten, wenn man ihnen nur eine bessere ökonomische Zukunft versprach. In der Perspektive wurden aber bereits Vorbereitungen dafür getroffen, auch heiklere Gruppierungen wie etwa die europäische Bevölkerung in diesen Prozess einzugliedern. Erste Berechnungen dafür wurden angestellt, in denen sich ungeheure Kosten ankündigten, sodass die finanzielle Seite der Angelegenheit ins Zentrum rückte.

FRANZ-JOSEF KLOYBER:
Dafür war Migschitz da. Er als Nationalökonom sollte sich damit auseinandersetzen, wie die „Dividende” der neuen Weltordnung ausgemünzt werden könnte. Vor ihm blieb nun gar nichts mehr sicher. Er schlug vor, die autonomen Investitionsanreize, die sich durch den riesigen Markt des Amerikanischen Imperiums ergeben hatten, mittels institutioneller Verstärkungsmechanismen weiter zu beschleunigen. Die notwendigen Mittel dafür würde der Staat aus einer neuen Steuer, der sogenannten Migschitz Tax (zu entrichten als Promillesatz auf jeden getätigten Umsatz), gewinnen. Weiteres Geld würde die Antiterror- und Sicherheitsabgabe, die pro Kopf und Jahr mit einheitlich zehn Dollar festgelegt wurde, bringen.

Wenn ich mir den feisten kleinen Burschen in Wien so ansehe, sagte ich eines Tages zu Berenice, dann ist er für mich eine Schlüsselfigur für das meist gute Funktionieren einer Diktatur: Intelligent genug, um einerseits den Wahnsinn des Systems genau zu durchschauen, andererseits aber unter realistischer Einschätzung der Risken keinerlei Umsturzpläne zu hegen; hinreichend zynisch, um für sich und allenfalls für eine Runde handverlesener Freunde das Regime der Lächerlichkeit preiszugeben; immerhin aber äußerlich so loyal, dass er, ohne es vielleicht in diesem Ausmaß zu wollen, zu den wichtigsten Stützen des staatlichen Terrors zählte. Genau hinter Typen wie ihm können sich die wahren Machthaber getrost verschanzen, denn wenn es genug von seiner Sorte gibt, bilden sie einen lebenden Schutzwall gegen das aufgebrachte Volk – wer wird den netten Franz-Josef lynchen, wenn er den Despoten meint? Den aber kriegen die Leute vor lauter Kloybers nicht oder nur sehr von Ferne zu Gesicht. Somit konnte man ihm eigentlich nur eine Merkwürdigkeit anlasten – dass er einer hässlichen Struktur ein menschliches Antlitz verlieh.

FRANZ-JOSEF KLOYBER:
Aber tun wir das nicht alle, Sir Basil, wenn wir uns nur einigermaßen mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit arrangieren? Würden Sie selbst gemeinsam mit Dr. Berenice W. Talmai nicht jeden möglichen irdischen Pakt schließen, um der Gefahr aus dem Jenseits zu begegnen?

Teufel – auch davon hatte er also Wind bekommen! Einerlei, wie er sich die Bedrohung aus dem All persönlich ausmalte (schwerlich konnte er sehr konkrete Vorstellungen davon haben), er hatte sich durch die Beschaffung solcher Informationen als ausgezeichneter Rechercheur qualifiziert, als Größe, die ich tunlichst in meine Überlegungen einbinden musste. Jedenfalls lebte er gefährlich…

206

Ikqyku Diaxu war wie besessen von seinem Star – der Königstochter. Er hatte ihr mittlerweile den Künstlernamen Julia gegeben – XX erschien ihm doch für eine Artistin auf Dauer zu prosaisch. Er vernachlässigte alles andere, kümmerte sich praktisch ausschließlich um ihre Auftritte, ließ sich immer Neues einfallen, studierte es mit seiner Primadonna ein und saß dann beglückt möglichst nahe der Bühne, wenn sie seine Kreationen vorführte. Es schmeichelte ihm, wenn er Gerüchte über eine Liaison hörte, aber die entbehrten, wie wir wissen, definitiv jeder Grundlage, da Ikqyku XX-Julias Nimbus der Unberührtheit peinlichst respektierte.

Umso mehr drehte sich sein Sinnen und Trachten um die Möglichkeit, wenigstens bei irgendeiner besonderen Shownummer seiner Favoritin auch selbst einmal eine Rolle zu spielen. Da er aber nicht sehr gelenkig, geschweige denn in irgendeiner Weise sportlich war, kam eine Funkion als gleichgeordneter Partner nicht in Frage – es musste, so weit waren seine Überlegungen bald gediehen, etwas in Richtung einer Dressur sein, bei der er selbst das Subjekt, XX aber das Objekt darstellte.

Plötzlich die Erleuchtung: ein Ragdoll Act! Die Darstellerin sollte in einen körperbetonenden Harlekin-Anzug gesteckt werden (genaue Einzelheiten fand Ikqyku natürlich auch zu diesem Punkt in den überbordenden Datenarchiven der Station) und musste ab sofort noch härter als bisher ihren anmutig-geschmeidigen Körper trainieren, um am Ende die Rolle einer knochenlosen Puppe perfekt spielen zu können.

Am Abend der Premiere schien der ganze künstliche Himmelskörper den Atem anzuhalten – der König und die Königin dürften die einzigen gewesen sein, die über das sensationelle Ereignis nicht unterrichtet waren: Niemand hatte es gewagt, den beiden etwas zuzutragen, da alle selbst zusehen wollten und daher nicht riskierten, dass die ganze Sache im letzten Moment verboten würde. Diaxus Club konnte den Ansturm des Publikums kaum fassen, und beileibe nicht alle, die hineinwollten, bekamen auch tatsächlich einen Platz, obwohl man dichtgedrängt stehen musste, nachdem das Personal in seiner Not Tische und Stühle aus dem Lokal weggebracht hatten.

Dann war es so weit: Als die drei Paravents, die das Zentrum der kreisrunden Bühne verdeckten, weggenommen wurden, sah man einen Tisch, auf diesem einen kubischen Behälter. Daneben stand Ikqyku höchstpersönlich im eleganten Smoking und wartete, bis es im Saal vollkommen still geworden war. Erst dann kippte er den Behälter, dessen Deckel fiel fort, und heraus kullerte das Harlekinwesen, rollte als Knäuel aus Körper, Kopf und Gliedmaßen über den Rand des Tisches, fiel auf den Bühnenboden, rollte weiter über diesen hinaus – direkt vor die Füße der nächststehenden Zuschauer: Sollte sich in diesem Etwas wirklich ein Mensch befinden, musste er schwer verletzt und bewusstlos sein!

Aber nein – gemessenen Schrittes stieg nun auch Diaxu herunter, und als wäre es nichts, hob er das Bündel mit einer Hand hoch, kehrte zum Tisch zurück und legte es dort ab. Was folgte, raubte den Zuschauern fast die Sinne. Ein Dutzend Hände schien der Mann zu haben, mit denen er seine Puppe verdrehte und verbog, in unmöglich scheinende Positionen verformte. Zwischendurch entglitt sie ihm immer wieder einmal und wiederholte ihren Ausritt ins Publikum, nur um von Diaxu wieder geholt und weiterbearbeitet zu werden.

Irgendwann trat Ikqyku in den abgedunkelten Teil der Bühne zurück und überließ das Feld der Hauptperson allein. Diese stand mit einem Mal wieder aufrecht da, entledigte sich zunächst ihrer Handschuhe, öffnete sodann den verborgenen Verschluss ihres Kostüms, streifte dieses ab und stand splitterfasernackt da. Nun, so hatte man sie ja schon bei ihren früheren Darbietungen gesehen, aber an diesem Abend waren dennoch alle außer Rand und Band, denn aufgrund der speziellen Performance schien ihnen XXs Blöße eine ganz neue Dimension angenommen zu haben.

Julia genoss sichtlich den tosenden Applaus. Sie hatte niemals Zweifel darüber gehegt, ob sie den Vorschlag Diaxus zu dieser exotischen Nummer annehmen sollte, und der Erfolg gab ihnen beiden Recht. Sie verneigte sich unbefangen und strahlte in physischer Unnahbarkeit (im Glanz dieses jungfräulichen Namens, dachte sie bei sich) – niemand hätte es gewagt, auch nur die Hand nach ihr auszustrecken: eine wahrhaft fürstliche Gestalt!

Tatsächlich wich die Menge sogar vor ihr zurück, drängte sich dabei noch weiter zusammen – sogar einige Prellungen und Knochenbrüche soll es dabei gegeben haben. Die Leute schoben sich rücklings den Ausgängen zu, und es grenzte an ein Wunder, dass es nicht zu noch wesentlich ernsteren Szenen kam. Wovor man sich schreckte (besonders Diaxu, der am nächsten stand), war die Aura, die Julia plötzlich umgab. Ob es nun das legendäre, farbig leuchtende Energiefeld war, von dem Esoteriker behaupten, dass nur Eingeweihte es sehen konnten und das nun mit einem Mal für alle sichtbar geworden war? Ob es sich um ein kollektives synästhetisches Phänomen handelte? Oder ob jemand (niemand im Club ahnte, wer) die Artistin einfach den lüsternen Blicken entziehen wollte?

GENEVIÈVE VON B.:
Spannend, was Sie sich als Drehbuchautorin da wieder einmal ausgedacht haben, und dank meiner speziellen Verbindung mit Mango Berenga kann ich Ihnen sagen, dass Sie auf der richtigen Spur sind. Ihre Majestät war nämlich keineswegs so ahnungslos in Bezug auf diese Veranstaltung, wie Sie das vermutet haben. Gerade weil sie aus ihr selbst unerklärlichen Gründen für XX nicht sehr intensive mütterliche Gefühle hegte, fühlte sie sich veranlasst, aktiv zu werden. Und weil der König so gar nichts dabei fand, wenn das Mädchen sich zur Schau stellte (im Gegenteil: durch den staunenerweckenden Effekt des Ragdoll-Akts hätte er seine Theorie bestätigt gesehen, dass royales Geblüt sich am besten in extremis beweist), meinte seine Gemahlin, ein Zeichen setzen zu müssen.

Und glauben Sie mir, sie konnte das! Jetzt verstehe ich, was Sie meinen – Ihre Mango, deren technisches Know-how dem uns bekannten voraus ist, war imstande, die Blöße ihres Kindes in oranges Licht zu hüllen und damit jene stupende Reaktion der Club-Besucher auszulösen. Ansonsten aber trat die Königin nicht in Erscheinung, was vielleicht gerade in dieser Situation hilfreich für die Beziehung der beiden Frauen gewesen wäre.

GENEVIÈVE VON B.:
Mango stand vielmehr mitten auf dem Akademie-Gelände – allein, denn an diesem Tag zeigte sich dort niemand – und träumte von irdischen Nobelpreisträgern, die sich herabließen und hier Vorträge hielten. Ihr nüchterner Verstand schnitt allerdings kurzerhand solche Schwärmereien ab: nicht so sehr, weil sie sich sagen musste, dass derlei Prominenz niemals erscheinen würde, sondern weil deren Kommen überflüssig war. Was nämlich bis zum Studienabschluss meiner Freundin in den wissenschaftlichen Fortschritt eingebracht wurde, wusste sie ohnehin: jedenfalls mehr, als ich ihr mit 100 Jahren Zeitrückstand hätte beschaffen können, Bibliotheken besuchend, einschlägige Journale durchblätternd, den hochwissenschaftlichen Inhalt sinngetreu wiedergebend – selbst wenn meine klassisch-philologische und meine ökonomisch-pragmatische Ausbildung dafür ausgereicht hätte.

An jenem legendären Ragdoll Day las Mango auf dem leeren Campus über Bewusstseinsforschung. Als angespannt lauschende Drehbuchautorin – schließlich sollte man auch von den eigenen Figuren immer noch etwas lernen – kann ich dem geschätzten Herrn Produzenten und dem verehrten Herrn Regisseur empfehlen, ebenfalls zuzuhören, insofern unsere gemeinsamen Werke Zelluloid gewordene Psychologie darstellen, und je mehr uns diese Tatsache klar vor Augen steht, desto mehr werden wir selbst an die Höhenflüge anderer großer Filmemacher, die wir um ihre Erfolge so sehr beneiden, anschließen können.

Die Berenga fasste für ihre fiktive Zuhörerschaft – auch für uns, die sie nicht sehen konnte, obwohl wir da waren – zusammen: „Wenn man sich nicht der großen Zahl jener anschließt, die vom Anbeginn der Welt Bewusstsein nur im religiösen Kontext erklären wollen, wenn man also diese nach dem Geschmack denkender und gebildeter Wesen armselige Interpretationskrücke verweigert, muss man sich fragen, wie denn wirklich unsere Gehirnmasse subjektive Zustände wie Vergnügen, Erkennen, Wut oder eben Sich-bewusst-Sein erzeugt. Wenn wir nun auch die jahrhundertelangen philosophischen Lehrstuhl-Spekulationen über das Ergründen unserer Psyche durch logische Argumentation hinter uns lassen, bleibt nichts anderes übrig, als jene minimalen Mechanismen im Gehirn zu erforschen, die eine bestimmte Wahrnehmung auslösen. Erschwerend dabei erweist sich die Tatsache, dass die meisten Handlungen des alltäglichen Lebens dem Bewusstsein normalerweise gar nicht zugänglich sind, oder wenn, dann erst in der Retrospektive. Alles in allem wird uns spätestens an diesem Punkt klar, dass es in solchen Fragen nur geringfügigste Fortschritte geben kann: Das Nachdenken des Organs Gehirn über das Phänomen Gehirn rührt an die Grenzen unserer intellektuellen Leistungsfähigkeit.”

Wie selbstverständlich leiteten sich daraus ganz einfache Regeln ab, wie sie schon der berühmte Professor Jonathan V. Croc formuliert hatte (an dessen überragendem Renommée übrigens weder Schreiner noch Ivanovich, weder Kouradraogo noch Migschitz kratzen konnten und dem an Genie lediglich ein akademischer Kollege aus der Spiegelwelt ebenbürtig war).

GENEVIÈVE VON B.:
Wobei wir jenes „V.” aber nicht als Abkürzung eines Vornamens missverstehen dürfen – vielmehr bedeutete es, dass wir den Klon Nr. 5 des Original-Professors vor uns haben, dem es gelungen war, sich selbst zu verzehnfachen, um mehr, schneller und besser denken zu können. Mango Berenga wusste übrigens von ihrem Mann, dass es ein jenseitiges Pendant zu dieser Klonfamilie gab, ausnahmsweise mit nicht nur äußeren, sondern auch weitreichenden inneren Übereinstimmungen (wie wir sie bisher nur bei Sir Basil und dem Tyrannen erlebt hatten), und zwar Xobaksab T’cot und seine ebenfalls neun Replikationen. Auch im Paralleluniversum war es Klon „M” (sprich 5) gewesen, der die folgenden, mit dem Croc-V.-Elaborat praktisch identischen Richtlinien für exakte, dem Aberglauben wie dem Glauben abholde Gelehrte formuliert hatte:
1. Akzeptiere nichts (vor allem nichts, was du selbst sagst), ohne es sofort und vehement zu kritisieren!
2. Verliebe dich nicht in deine eigenen Theorien, sondern gib diese auf, wenn sich bessere finden!
3. Überprüfe deine Argumente immer wieder anhand der Rohdaten, die du aus der rauen Wirklichkeit generiert hast!
4. Hab keine Angst, große und entscheidende Fragen zu stellen, selbst wenn arrivierte Kollegen dich dafür belächeln!
5. Leiste dir den Luxus, lang und gründlich über echte Probleme nachzudenken, statt durch die Gegend zu hetzen und viele nutzlose Dinge zu tun!

Bei Licht betrachtet, Euer Erlaucht, ist es die perfekte Ausrede für Nichtstuer, allerdings so akademisch einwandfrei und glaubwürdig formuliert, wie ich es zuvor noch nie gehört habe. Der Produzent, mein Erzeuger, würde das viel prosaischer ausdrücken und den letzten Paragraphen in Bezug auf alles, was mühsam, langweilig, schmutzig oder sonst wie deprimierend anfühlt, lakonisch abändern: „Hüte dich vor Frauenarbeit!”

GENEVIÈVE VON B.:
(herablassend) Es ist kein Privileg von Proletariern oder Bourgoises, dass sie ihre Töchter schänden, auch adelige Herren geben sich gerne solchen Gelüsten hin. Da ich selbst jahrelang in dem Glauben lebte, von meinem eigenen Vater gevögelt und zuletzt geschwängert worden zu sein (bis sich dann glücklicherweise herausstellte, dass er ein völlig fremder Spiegelweltler war), muss ich Sie – die ja auf ähnliche Weise rangenommen wurde – allerdings fragen, ob Sie diese Situation nicht auch ein wenig gereizt hat.

Sie sang also das alte Macho-Lied von der Umkehr der Opfer- in eine Täter-Rolle – eine Unterstellung, die nur deshalb möglich wird, weil die Beziehungen zwischen den Geschlechtern in der Tat derart komplex sind, dass Verständnisspielräume bleiben. Was ich jedenfalls genossen habe, Gnädigste, war Macht über diesen eitlen und arroganten Kerl zu gewinnen. Je mehr er mich aus seiner Sicht demütigte, desto straffer hatte ich ihn am Gängelband seiner Leidenschaft – als Ergebnis einer geistigen Überlegenheit über ihn als Person, aber auch über meine eigene physische Weiblichkeit, die sich dagegen aufbäumte, vergewaltigt zu werden, aber von mir selbst effektiver bezwungen wurde als von ihm. Das hatte ich der großen Zahl von Dulderinnen voraus, die ihn einfach über sich ergehen ließen, ihn nur erlitten, ohne daraus ein wie immer geartetes Kapital zu schlagen – und sei es nur jenes höherer Erkenntnis.

Er spürte das deutlich (so dumm ist nicht einmal ein Mann), und ich lade sie jetzt ein, ihre Phantasie spielen zu lassen, was er mir alles angetan hat, um mich kleinzukriegen. Zuerst zögerte er ein wenig, eine bestimmte Grenze körperlicher Torturen zu überschreiten, aber nachdem dies eines Tages geschehen war, gab es kein Halten mehr – und dennoch verstrickte er sich auf diese Weise immer tiefer in seine Abhängigkeit von meinem klaren femininen Verstand. Mich umzubringen, was am Ende eine Lösung gewesen wäre, fand er nicht den Mut, vielleicht, dass ihn auch eine Tötungshemmung gegen sein eigenes Fleisch und Blut abhielt. Heute nun, da all das hinter uns liegt, führe ich ihm – gleichgültig ob mit einem zu weiten Pullover und verknitterten Jeans oder ganz ohne was – vor Augen, dass nichts mehr ihn hochrütteln kann, weil er selbst mir die Gelegenheit geboten hat, ihn durch meine Meisterschaft innerlich zu zerstören…

GENEVIÈVE VON B.:
… sodass, wie sich herausstellte, nicht einmal mehr der subtile Gaumenkitzel der XX-Julia-Shows bei dem hochlöblichen Produzenten etwas auszurichten vermögen.

Wenn ich alles in allem nehme, glaube ich einfach, dass zwei Geschlechter zu wenig sind, weil sie die zwischenmenschlichen Probleme so ungemein fokussieren – drei oder mehr Genera könnten hier Abhilfe bringen, weil sie die Beziehungsvarianten exponentiell steigern und damit eine tragfähigere emotionelle Basis schaffen würden.

[Grafik 206]

GENEVIÈVE VON B.:
Und ich sage Ihnen – im Gegenteil: wenn nämlich mehrere Geschlechter viele Problemlagen und zwei Geschlechter noch immer drei potenzielle Problemlagen bedeuten, dann kann die optimale Lösung nur in der Eingeschlechtlichkeit liegen, und siehe da, in Ihrer Tabelle sehen Sie ganz deutlich, dass sich Ihr scheinbarer Mangel an Beziehungsvarianten in Wahrheit als großer Vorteil entpuppt. Fragt man sich, und ich spreche hier aus unmittelbarer Erfahrung, was zwei Frauen (als das einzige gedachte Geschlecht) einander nicht geben könnten von dem, was ein Mann jeder von ihnen imstande oder bereit ist zu geben, fällt mir nicht das Geringste ein.

Ihre Erfahrungen in Ehren (wobei ich gerne eingestehe, dass ich Ähnliches auch schon mit großer Befriedigung erkundet habe), aber es ist auch eine Tatsache, dass Ihre liebe Freundin Brigitte bei aller rasenden Anhänglichkeit an Sie da und dort nicht verabsäumt hat, am anderen Geschlecht zu naschen.

GENEVIÈVE VON B.:
Das sind Abenteuer – gegen die nichts einzuwenden ist – und keine Beziehungen…

… oder wir beide haben vielleicht schon wieder ein massives Definitionsproblem.

207

Dirk Freiherr von E., ein geradliniger deutscher Adeliger, der gar nicht so übertrieben klassenbewusst war (dafür sorgte schon seine prekäre finanzielle Situation), stand gemäß seiner Abmachung mit der Gräfin von B. Gewehr bei Fuß – das waren seine eigenen Worte –, um ihre Tochter Clio zu ehelichen und damit seinen ökonomischen Zustand erheblich zu verbessern: Das Haus von B. war nach Dirks Begriffen unermesslich reich, wenn man auch da und dort munkelte, dass dieser Reichtum aus teilweise äußerst obskuren Quellen kam. Aber was soll’s, dachte unser wackerer Ritter – er brauchte das Geld nicht zu rechtfertigen, musste es bloß ausgeben.

Das einzige Problem war: Seine Braut war verschwunden. Boysie – wie seine britisch angehauchte Mutter Dirk von Kindesbeinen an gerufen und damit nie wieder aufgehört hatte –, Boysie schürzte seine Lippen zu einer Schnute, wann immer er an diesen misslichen Umstand dachte, aber dennoch konnte ihn niemand aus diesem Schlamassel befreien: weder die eigene Mama (ihr fehlte neben den Mitteln auch jegliche Initiative – zudem empfand sie im stillen Boysies Erwählte als Bastard, weil väterlicherseits von völlig ungeklärter Herkunft), noch die Gräfin Geneviève, die offenbar nicht daran dachte, ihre Tochter zu suchen. Fast sah es so aus, als würde sie bereits wieder bereuen, den Handel abgeschlossen zu haben, wozu auch der Umstand beitrug, dass Clio für Dirk nicht mehr Begeisterung gezeigt hatte als für den restlichen Kandidatenreigen – und da gab es weiß Gott genug Prinzen, die eine so himmlisch schöne Prinzessin umschwirrten.

Es schien eher so, dass sich die Komtesse für Dirk offenkundig am allerwenigsten interessierte – er war eben in keiner Weise herausragend: Nicht gerade hässlich, erweckte er dennoch mit seiner frühen Kahlköpfigkeit den Eindruck eines Riesenbabys; nicht wirklich dumm, verbarg er die wahrscheinlich gar nicht so geringen Ansätze seiner Intelligenz hinter dem bewussten Schmollmündchen, das stets eine fremde Denkhilfe zu suchen schien.

Aber selbst dieser unansehnliche Freier war in seinen Träumen ein Held, und wenn dann zu mitternächtlicher Stunde Clio hoch zu Ross durch die desolaten Gänge des E.’schen Schlosses galoppierte, tief hinein in den Ostflügel und dort hinauf ins oberste Geschoss, wo die Sterne durch das halb abgedeckte Dach funkelten, da trat er beherzt hervor und griff in die Zügel, sodass der Gaul sich bäumte vor Wut und mit den Hufen nach dem Freiherrn zu schlagen versuchte. Dieser holte nicht achtend der Gefahr das Mädel herunter vom Sattel und drückte die Widerstrebende an sich, als wollte er (selbst ein hervorragender Reiter) sein Pferd versammeln, und sie – erhitzt von ihrem Walkürenritt – spürte seine für diesmal ganz unaristokratische Geilheit zwischen ihren reithosenbewehrten Schenkeln. Allein, das war bloß Illusion.

Clios aus der Spiegelwelt herübergebrachter Reflex, alles abzuwehren, was nicht unmittelbar im Zentrum ihres Lebensinteresses stand, vereint mit dem Willen, das ganz Besondere, das sie nach eigenem Bekunden repräsentierte, nur für sehr exklusive Persönlichkeiten aufzusparen, trug Boysie einen höllischen Schmerz ein, da ihm sein wildes Trugbild das Knie zwischen die Beine rammte, und während er sich krümmte, erreichte sie ihr Pferd, das kehrt gemacht hatte, saß mit einem Schwung im Sattel und war in Sekundenschnelle verschwunden.

DIE ALTE VON E.:
(nach Dirks Bericht, bei dem nur der Tritt in die Hoden ausgespart blieb, denn das wäre Wasser auf ihre Mühlen gewesen) Ein wirklich schöner Traum, der dir den Weg weist, Boysielein – so erobert man stolze Frauen, so hat dein seliger Herr Vater mich bemeistert, und glaube mir, auch meine Festung ist nicht nach einem einzigem Ansturm gefallen. Lass einfach deine Phantasie spielen, mein Junge!

Nun, es fehlte ihm wahrhaftig nicht an Phantasien, und bei den meisten davon spielten Pferde eine gewisse Rolle. In ganz besonderen Nächten zäumte und sattelte er die Komtesse selbst und fegte mit ihr in wildem Parcours dahin, bis ihr der Schaum aus den Mundwinkeln trat. Er selbst erwachte nach solchen Delirien nass von Schweiß und anderen Körpersäften, und seine Mutter verwies ihn in diesem Fall des Frühstückstischs mit der Bemerkung, er rieche streng und solle im nahen Weiher baden.

Sie konnte nicht ahnen, dass ihr Boysie an dem Gewässer, das inmitten eines Wäldchens aus riesigen Buchen, Eschen und Fichten (dem traurigen Rest des ehemaligen Forstes) lag und dementsprechend selbst bei strahlendem Sommerwetter in mystischem Halbdunkel blieb, von Elfen und Nixen heimgesucht wurde, die seinen Zustand mitnichten verbesserten. Bald nahmen die Geister die verwitterten Züge der Alten, bald das makellose Antlitz Clios an und verhöhnten ihn als Schlappschwanz und als Muttersöhnchen. Da pflegte er sich dann willenlos den kühlen Fluten hinzugeben, bereit, hier sein Grab zu finden, aber irgendetwas hielt ihn immer an der Oberfläche und führte ihn wieder hinaus aus dem seltsamen Ort.

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

Eines Tages, als Dirk nach längerer Pause wieder einmal an den Weiher geschickt wurde, fand er diesen von den den uns schon bekannten Schwanenwesen, den Echwejchs, in Besitz genommen. Sie vergnügten sich scheinbar unbefangen, und doch hatte Boysie – der sie, hinter einem Baum stehend, beobachtete – das Gefühl, sie seien ständig auf der Hut. Nicht zu unrecht, denn sie hatten ihn bereits entdeckt, holten ihn aus seinem Versteck und begrüßten ihn herzlich, was bei ihrer Gattung bedeutete, dass sie ihn da und dort zärtlich streichelten. Sein Vergnügen darüber war so überwältigend, dass er Clio, die ohnehin nie die Seine zu werden versprach, übergangslos vergaß. Er tobte kindisch mit den Neuankömmlingen herum, schwamm mit ihnen, lag mit ihnen im Halbdunkel des Seeufers: weitere Schmeicheleien und Liebkosungen wurden ausgetauscht.

Obwohl ihm jeglicher Zeitbegriff entzogen schien, zumal seine neuen Freunde ihn geschickt unter erotischer Spannung hielten, meldete sich irgendwann der Wunsch, wieder auf sein Schloss zurückzukehren. Kaum hatte er sich zum Gehen gewandt, nicht ohne die Einladung zu einem Gegenbesuch, verdüsterte sich die Szene, soweit das an diesem Ort noch möglich war. Aus einem plötzlich materialisierten metallen glänzenden Ding erhoben sich weitere Echwejchs, die weniger freundlich dreinblickten als die bisherigen – eine unmissverständliche Aufforderung zu bleiben, und unausgesprochen gingen Dirk die Worte durch den Kopf: für jetzt und für immerdar.

Seine Mutter übrigens nahm Boysies Ausbleiben greisenhaft-stoisch: In ihrem Alter konnte sie nicht mehr so recht zwischen Lebenden und Toten unterscheiden – Mann und Sohn verschmolzen für sie zu einer einzigen verblichenen Gestalt, der sie nun endlich nachzufolgen gedachte. Tatsächlich fand man sie kurz danach in ihrem Bett, eines Morgens nicht mehr erwacht.

Währenddessen wusste Dirk in der Echwejch-Angelegenheit mehr als alle anderen Menschen zusammengenommen, einschließlich der Universen-Grenzwächter Romuald und Lyjaifxy (offensichtlich hatte niemand das schwanenrumpfartige Raumschiff bemerkt, das seit geraumer Zeit die Erde umkreiste) – und er machte als Erster und vorerst Einziger hier die überwältigende Bekanntschaft der legitimen Deszendentin des Großen Echwejch und somit Obersten Gebieterin des Schwanenreichs.

Im Gedenken an ihren berühmten Vorfahren Hejchwejch, dessen Martyrium der Legende nach seine Rasse in den Status humanoiden Bewusstseins gehoben hatte, entledigten sich die späteren Herrscher freiwillig ihres Federkleides, allerdings erst, seit ein Verfahren entwickelt worden war, in dem das Überleben der Zeremonie gewährleistet wurde. Traditionellerweise hatte sich Machwajch dieser Prozedur bereits im frühen Kindheitsstadium unterzogen, und da stand sie nun hoheitsvoll vor Dirk, während im Hintergrund die Wachen ihre Unversehrtheit hüteten. Offenbar als Konzession an den Gastplaneten trug die Hohe Frau die hier übliche Kleidung, allerdings nichts Alltägliches, sondern instinktiv hatte sie zu einem atemberaubenden Modell gegriffen, das ihrem Rang alle Ehre erwies und nicht zuletzt ihren besonders langen Hals außerordentlich zur Geltung brachte.

DIE ALTE VON E.:
(in jenseitiger Klarsicht) An sich freute es mich ja, dass meinem Boysie dieses ehrenvolle Privileg widerfuhr. Um aber der Wahrheit die Ehre zu geben: Wenn man bedenkt, dass ausgerechnet er als Repräsentant des gesamten Menschengeschlechtes auftrat, kamen einem schon gewisse Zweifel.

Man hätte sie beruhigen können. Die Echwejchs, die – wir ahnen es mehr, als wir es bestätigen können – nichts dem Zufall überließen, waren sich völlig darüber im Klaren, wo sie waren und wen sie da vor sich hatten. Natürlich stellte das deroutierte E’sche Besitztum die ideale Absprungbasis für subversive Aktivitäten dar (niemand, der nicht unbedingt musste, verirrte sich noch hierher), ganz zu schweigen von dem verschwiegenen Weiher, den das intelligent gewordene, aber nach wie vor wassernärrische Geflügel ganz besonders schätzte.

Die Echwejchs hatten Geduld – das war überhaupt eine ihrer wesentlichen Stärken. Sie warteten, bis die alte Freifrau begraben war, sie warteten, bis vom Hauspersonal niemand mehr seinen Dienst antrat, sorgten außerdem dafür, dass sich das Gerücht verbreitete, rund um das baufällige Gemäuer des Herrenhauses spuke es (die Bewohner des nächstgelegenen Dorfes wollten fast alle schon des Nachts den verschwundenen Dirk leichenfahl herumgeistern gesehen haben).

Die Fremden warteten sicherheitshalber sogar noch länger. Dann erschien Machwajch wieder, die sich die ganze Zeit nicht wieder gezeigt hatte, begleitet von ihrer Leibgarde, und rüttelte Boysie endgültig aus seinem süßen Leben mit den harmlosen Echwejch-Männern und vor allem –Frauen, die er zuerst kennengelernt hatte.

DIE ALTE VON E.:
(in jenseitiger Klarsicht) Offenbar sollte mein Dirk die Rolle des nützlichen Idioten im Lenin?schen Sinne spielen – wundern Sie sich übrigens nicht: Mein Mann war der einzige überzeugte Marxist der gesamten deutschen Adelsklasse und redete mir mit seiner Ideologie Tag und Jahr die Ohren voll. Ich hatte auch gar nichts dagegen einzuwenden, solange er nicht von mir verlangte, den behaglichen Lebensstil auf unserem Landsitz (der zu seiner Zeit noch besser in Schuss gewesen war) aufzugeben, aber das kam gottlob auch für ihn nicht in Frage. Vor allem hatte ich solange kein Problem mit seiner politischen Einstellung, als er mir des Nachts die proletarisch-schamlosen Freuden bereitete, auf die er sich so gut verstand, und zwar fast bis zu seinem seligen Hinscheiden.

Ob nun nützlich, ob Idiot – Dirk war (ähnlich wie es die Mutter soeben beschrieben hat) in eine Abhängigkeit von bestimmten Sinnesfreuden geraten, die ihm gar keine andere Wahl ließen, als die Wünsche der Echwejchs zu erfüllen. Während die Schwanenwesen nämlich auf VIÈVE offen auftraten, schien das auf der Erde nicht der geeignete Weg. Dort oben war die Situation aufgrund der Kleinheit des Himmelskörpers leicht und schnell zu durchschauen, hier unten hingegen mussten umfangreiche Informationen eingeholt werden, damit die Echwejchs eine Vorstellung von den komplexen Strukturen bekommen konnten. Um sich den Durchblick zu verschaffen, benötigten sie den jungen Freiherrn als Mediator oder Katalysator, wie immer man das bezeichnen möchte. Er telefonierte und reiste (Kontakte hatte er ja ganz gute überall hin in die Welt, was bis jetzt vergessen wurde zu erwähnen), und da draußen musste er auch nicht vorgeben, verschollen zu sein. Die Telefonate führte er über eine autonome Funkstation, die ihm seine „Gäste”, wie er sie mit ironischem, aber für sie nicht wahrnehmbarem Unterton nannte, eingerichtet hatten und mit der er sich unbemerkt in die diversen Netze einklinken konnte.

Die Reisen startete er von entfernten Plätzen, an die er von den Echwejchs bei Nacht und Nebel gebracht wurde – rund um das Schloss blieb inzwischen alles totenstill. Finanzielle Mittel standen ihm ausreichend zur Verfügung, dafür sorgten die Eindringlinge, und Dirk konnte sich nicht im Entferntesten ausmalen, wie sie das bewerkstelligten. So helle war er aber immerhin, dass er früher oder später vermutete, die Invasoren müssten außer ihm auch noch andere Menschen gefügig gemacht haben – er wusste allerdings nicht wo und wen. Als in ihm daher der Plan reifte, Treffen zu arrangieren, die nicht im Sinne der Echwejchs sein konnten, war seine Sorge weniger, dass es ihm nicht gelingen mochte, seine Bewacher zu überlisten, als vielmehr, dass er an jemanden gelangen könnte, der ihn an das Geflügel verriet.

Am Telefon durfte er kein Risiko eingehen, aber mit wem kam Dirk heimlich zusammen, wenn die Echwejchs ihm nicht folgen konnten, ohne sofort das allergrößte Aufsehen zu erregen? Geht man vielleicht richtig in der Annahme, dass er ein privates Literaturinteresse vorschützte, das er neben seinen hauptsächlichen Verrichtungen befriedigen wollte, und sich am Seminar für deutsche Philologie der Universität Göttingen mit einem gewissen Max Dobrowolny traf? Geht man ferner richtig, wenn man vermutet, der Forschungsgegenstand dieses jungen Gelehrten habe ihn so sehr gefesselt, dass er als wertvolle Ergänzung für Dobrowolnys Untersuchungen ein umfangreiches Konvolut überbrachte, das angeblich aus dem Privatbesitz Johann Wolfgang von Goethes stammte und auf abenteuerlichen Wegen in das E.?sche Schlossarchiv gefunden hatte? Und tippt man richtig, wenn man annimmt, dass die Echwejchs es vermieden, diesen verstaubten Packen Papier näher zu untersuchen, zumal dieses in der für sie unleserlichen Kurrentschrift beschrieben war?

208

Der König und die Königin zelebrierten die selten gewordenen Gelegenheiten, bei denen sie miteinander schliefen. Nicht dass sie grundsätzlich keine Lust aufeinander gehabt hätten, aber mittlerweile waren sehr viele Parameter zu beobachten und deren Grenzwerte zu überschreiten, damit es dazu kommen konnte.

Wenn die beiden irgendwo anders gelebt hätten (an einem Ort größerer Anonymität als auf VIÈVE) wäre Keyhi der Einfachkeit halber fremdgegangen, wenn er Lust auf Sex anmeldete, sich aber von seiner Frau eine höfliche Absage holte – sie mit einigem Durchsetzungsvermögen einfach zu nehmen oder sie gar praktisch zu vergewaltigen, dazu achtete er zu sehr ihre wissenschaftliche Persönlichkeit. Irgendwie, fand er, stand sich die Königin selbst im Wege, abgesehen von jenen Situationen, in denen sie im Halbschlaf lag oder einen solchen wenigstens vortäuschte und ihn gewähren ließ, nicht zuletzt deshalb, weil sie sich da entspannt und bereit fühlte, aber keinerlei Aktivität entfalten musste.

Kam umgekehrt Mango nach Hause, infolge irgendeines Impulses das Herz voll Liebe, und drückte sich an Keyhi, fasste ihm dabei an den Haaransatz und an den Schritt, wich wiederum meist er zurück, irgendwie seltsam berührt von etwas, das er früher mit allen Sinnen herbeigesehnt hatte – mit einem Wort, die zwei hatten es enorm kompliziert miteinander. Umso mehr genossen sie also jene Sternstunden, in denen beide wollten und konnten, wie zum Beispiel nach seinem Vortrag in der Akademie.

Auch Keyhi vermochte noch eine ganz gute Figur zu machen, wenn er nach solchen Anlässen in seinem Naturzustand dekorativ hingegossen lag. Sein Leibwächter (vom „Bullen des Königs” sprach das Volk insgeheim) lächelte in diesem Fall, wenn er spät abends, unbemerkt vom Königspaar, ein letztes Mal sein prüfendes Auge auf seinen Herrscher warf. Wenn ich seine Frau wäre, würde ich ihm jetzt als Draufgabe einen blasen! dachte der Mann, nicht ohne sofort zurückzutreten und vor dieser Majestätsbeleidigung zu erschauern. Jedenfalls war ihm klar, dass er einen außerordentlichen Moment erlebte, denn auch für ihn als bloßen Beobachter schien es offensichtlich, dass Keyhi und Mango sich nicht deshalb voneinander abgewandt hatten, weil es außerhalb ihrer Ehe so heiß, sondern weil es drinnen normalerweise so kalt war.

Was der Königin vor allem fehlte, war das Meer – eine Sehnsucht, die der König partout nicht nachvollziehen konnte. Was ihm abging, war der eine oder andere Mensch aus seiner Vergangenheit, aber keinerlei Landschaft: nicht der stärker und stärker verpestete Heimatstern seines Volkes, nicht die Lhik-Welt mit ihrer komplizierten Pflanzlichkeit und dem darübergestülpten Pomp des Diktators. Schon gar nicht aber vermisste er die eisbedeckte und von Stürmen gepeitschte Oberfläche jenes Planeten, auf dem er namens des Tyrannen als Statthalter für Jahre hatte ausharren müssen (und von dem er als Andenken das Tizb’ptouk mitbrachte).

Dennoch verstand Keyhi es nicht, wenn Mango plötzlich in einem der ganz nüchternen, von technischen Anlagen geprägten Gänge der Station unvermittelt stehenblieb, den Blick nach innen gekehrt: Für sie tat sich vor ihren Füßen eine Rampe auf, die nach unten zum Strand führte, von wo ihr das gedämpfte Auf- und Abschwellen der Brandung entgegenkam. Einige wenige Schritte nur, dann würde sich für sie die leuchtende Ferne auftun, während das Wasser begann, ihre Füße zu umspülen, und sie den Sand auf der Haut spürte.

Konrad, den abtrünnigen Mönch und späteren barmherzigen Veranstalter von Illusionen, der für eine beklagenswerte Frau sogar eine tödliche Wüste in ein tropisches Paradies verzauberte, hätte die Königin gebraucht, denn mit seiner Hilfe wäre ihre Vorstellung verfestigt und ohne bitteres Erwachen zu Ende geführt worden. So aber wurde sie jedes Mal brutal aus ihrem Traum gerissen, sei es, dass jemand sie ansprach, sich höflich erkundigte, ob er sie irgendwohin eskortieren dürfe, sei es, dass sie im Versuch, das Blendwerk zu betreten, nach einigen Schritten an irgendeinen harten Gegenstand oder gar an die Metallwand stieß.

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

Zwei Dinge passierten zu dieser Zeit. Das eine hätte spektakulär sein können, blieb aber dennoch reservat: Die Walemira Talmai erschien auf der Station, wo sie allerdings angesichts des mittlerweile regen Handels- und Tourismusverkehrs nicht weiter auffiel – etwas früher hätte ihre Erscheinung sicher größtes Aufsehen erregt. Die schwarze Dame behielt jedenfalls ihre wahre Identität für sich: Sie stellte sich jedem, der direkt fragte, als vazierende Therapeutin vor, und prompt nützte der König die Chance, sich von jemand Außenstehendem beraten zu lassen – irgendwie war er zur Überzeugung gelangt, dass er allein nicht mehr richtig klarkommen könne.

KEYHI:
Offen gefragt, Doktor – was macht ein Mann, der sich bei seiner Frau im Gespräch und was den Soft Sex betrifft durchaus gut aufgehoben weiß, mit dem schubhaft auftretenden Bedürfnis nach mehr?

Berenice lächelte und hoffte dabei, dass dies ihrem Gesprächspartner nicht in die falsche Kehle kommen würde: Es war aber für sie zu komisch, wie die meisten Herren fortgeschrittenen Alters gleichermaßen begannen, die Schuld für ein zunehmend problematischer werdendes Leben woanders als bei sich selbst zu suchen. Wie bei allen diesen Problemfällen musste daher auch das Syndrom des Königs von VIÈVE mit tiefgreifenden und komplexen Maßnahmen bekämpft werden. Als ob sie den Tenor seiner Memoiren gekannt hätte, kam der Walemira Talmai eine Idee.

Und so stand Keyhi beim nächsten seiner nächtlichen Spaziergänge plötzlich einer viel jüngeren Ausgabe seiner Selbst gegenüber, einem aufrecht gehenden, zackigen Fähnrich (oder wie immer dieser Dienstgrad in der Armee des Tyrannen der Spiegelwelt gelautet hatte). Der König verstand sofort, dass es sich hier um sein – mit welchen Mitteln auch immer erzeugtes – leibhaftiges eigenes Ich von vielleicht achtzehn oder höchstens zwanzig Jahren handelte: Seine jüngere Ausgabe hatte auch noch kein Tizb’ptouk bei sich, denn dieses würde er erst geraume Zeit später fangen und zähmen. Was ihm da begegnete, war offensichtlich eine Kostprobe davon, dass die Ärztin imstande war, einen bestimmten Zustand punktuell zu erhellen: etwas zu zeigen, was sonst für den Normalsterblichen von gnädigen Verdrängungs- und Veränderungsprozessen verborgen wurde.

KEYHI:
Ich verstehe die Schocktherapie – also sag’, was du zu sagen hast! Wer weiß, wie lang es uns gegönnt ist, hier zusammen zu sein!

Der junge Keyhi Pujvi Giki Foy Holby (aber wer weiß, vielleicht hatte er noch gar nicht seinen furchtgebietenden und Mut beweisenden Namen Schlangen – Löwe – gestern – heute – morgen erworben) fürchtete sich ein wenig vor dem entsetzlichen Haustier seines Gegenübers und antwortete daher nicht gleich.

KEYHI:
(verständnisvoll) Auch ich hatte mir bis zu dem Zeitpunkt, in dem ich das scheußliche Vieh gebändigt hatte, nicht vorstellen können, dass ich es je auch nur berühren würde.

Das Tizb’ptouk ließ ein belustigtes Brummen hören, aber in Unkenntnis der Nuancen schreckte Keyhi Junior zurück.

KEYHI:
Da solltest du es erst hören, wenn es böse reagiert, besonders dann, wenn jemand versucht, meine körperliche Integrität zu verletzten!

Er verschwieg zum wiederholten Mal die Tatsache, dass dieses seltsame Wesen durchaus in der Lage war, auch die geistig-intellektuelle Dimension einer Situation zu erfassen, und dass es folgerichtig nicht minder gefährlich war, seinen Herrn in seiner Gegenwart verbal zu insultieren. Er verschwieg vor allem, dass der scheinbar seelenlose Blick des Ungeheuers eine ganze Fülle von Facetten annehmen konnte.

Der Nutzeffekt von Keyhis Begegnung mit sich selbst darf füglich angezweifelt werden, und ich sagte ihm das bei unserem nächsten Kontakt über meine Glaskugel in schonungsloser Offenheit. Mein Gespür – der Riecher eines alten Truppenführers, den keine Finte des Feindes mehr überraschen konnte – suggerierte mir außerdem, dass es mit der psychologischen Kunst der Urheberin dieser Vorfälle nicht allzu weit her wäre. Wenn mir der König nur ihr Bild gezeigt oder ein Wort über ihre Hautfarbe fallengelassen hätte: Mir wäre sofort klar geworden, dass sie vorgab, jemand zu sein, der in Wahrheit neben mir saß oder zumindest in meiner Nähe weilte.

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

Das zweite Ereignis betraf die Königin. Noch immer entsetzt über den Ragdoll Act ihrer Tochter und in der unbeirrbaren Meinung, dass damit eine Grenze überschritten worden war, wandte sie sich von XX alias Julia ab. In dieser Bitterkeit fanden ihre Gefühle jedoch bald ein neues Ziel: die Schlange, die ihr die AP 2000 ® seinerzeit geschenkt hatte und die nun – nach einigen monströs endenden Selbstkalibrierungsversuchen – dank des Eingreifens von Vangelis als allerliebste Miss Serpentina vor ihr stand. Jetzt war sie eine junge Dame nach Mangos Geschmack, eine, die zwar auch in Diaxus Club auftrat, aber mit klassischen Tanznummern, die eher der Königstochter würdig gewesen wären.

Natürlich war dabei auch ein gewisses Maß an Verblendung im Spiel, denn ganz so tugendsam, wie die Königin es sehen wollte, waren auch Serpentinas Darbietungen nicht. Ausgestattet mit den Ergüssen schmutziger Phantasie aus den endlosen Datenbanken der Station sorgte der Leiter des Etablissements natürlich auch bei ihr für knappe Kostüme und vor allem für Körperbewegungen hart an der Grenze zur Pornografie und manchmal sogar darüber hinaus, was gewährleistete, dass die Akteurin vom verwöhnten Publikum nicht ausgebuht wurde.

Einerlei – wann immer die intensive Beziehung zu ihrem Maschinenfreund der Androidin Zeit ließ, saß sie im Palast bei Mango Berenga, genoss das Ambiente, die exquisite Bewirtung (die für sie nur symbolische Bedeutung hatte, obwohl sie natürlich, um bei jenen, die sich über ihre genaue Identität im Unklaren befanden, nicht aufzufallen, imstande war, fiktiv zu essen) – vor allem aber waren es die Gespräche, die sie suchte. Intensiv erfasste sie die neuentdeckten Informations- und Erlebnisfelder und vervollkommnete auf diese Weise ihre Basisprogrammierung durch eigene Anstrengungen – genau das, was auch dem Androiden AMG alias Vangelis Panagou von seiner Meisterin und seinem Mentor Giordano Bruno geboten worden war. Vor allem aber entsprach dies dem Prozess, den die AP 2000 ®, die sich nach ihrer vollen Bewusstwerdung Anpan nannte, durchlaufen hatte, wieder durch die Hilfe Anastacia Panagous, aber auch ihres Spiegelwelt-Liebhabers Pifsixyl Xifu.

Eines Tages verschaffte Serpentina der Königin (um nur ja nicht den Verdacht der Vortäuschung falscher Tatsachen zu erwecken und damit womöglich die Beziehung zu gefährden) unzweifelhafte Klarheit über ihre tatsächliche Natur. Mango sollte sich voll bewusst sein, mit wem sie es zu tun hatte, und so hob sich denn gegen die hell-silbrig schimmernde Tapete des königlichen Boudoirs die nun fast bedrohlich wirkende Gestalt der Androidin dunkel ab, und unter ihrer künstlichen Haut (die, wenn man sie nur von außen sah, so außerordentlich angenehm wirkte) waren die Umrisse ihrer Mechanik, Elektronik und Biotechnik zu erkennen: Mancher Funken war zu sehen, manche pulsierende Bewegung und andere befremdliche Dinge, die der menschliche Betrachter mehr oder weniger auch in sich selbst wusste, aber in dieser Form nie zu Gesicht bekam.

Mango erschrak keineswegs. Einerseits wusste sie seit Anpans Schenkung, dass es sich um ein artifizielles Wesen handelte, andererseits war ihre Zuneigung zu diesem – nun kamen ihre Gedanken doch ein wenig ins Stocken – Geschöpf so weit gediehen, dass es kein Zurück mehr gab: Allenfalls wegen einer möglichen menschlichen Enttäuschung, nicht aber wegen dieser Demonstration konnte die Königin jetzt noch ins Wanken geraten. Das Kalkül der Androidin (wenn es denn wirklich ein solches war) ging auf.

KEYHI:
Es war schön, die beiden Frauen zu beobachten, und ich gestehe hiermit freimütig, dass ich es hin und wieder tat, und das ohne Gewissenbisse: Schließlich trieb mich nicht die Eifersucht, sondern die manische Wirkung der besonderen Ästhetik dieser Vorgänge, die jeden Vertreter des anderen Geschlechts unweigerlich in die Rolle des bloßen Zuschauers verdrängte.

„Auch ich kann mich dir nun offenbaren, mein Kind”, sagte Mango Berenga sanft, und schlug damit einen ausdrücklich auf Gleichwertigkeit bedachten Ton an. „Wenn es auch kaum nötig scheint, mich völlig zu durchleuchten (denn derlei Informationen hast du besser gespeichert, als ich sie dir zu geben vermöchte), darfst du jetzt eine Entdeckungsreise über meinen Körper und in meine Psyche machen, und ich sage dir, dass deine Quasi-Schwester Anpan, der ich diesen Liebesdienst ebenfalls geleistet habe, davon einen nicht annähernd abschätzbaren Gewinn auf dem Weg, den sie gehen wollte, erzielt hat.”

Serpentina erzitterte (das MER arbeitete auf Hochtouren). Ihre Haut war wieder undurchsichtig geworden, und damit sah die Androidin als Ganzes wieder kleiner, keinesfalls mehr bedrohlich und eher wie ein schüchternes Mädchen aus – eine der Verhaltensvarianten, in denen sie sich besonders gefiel. Sie setzte sich zur Königin, die sich entkleidet und einladend auf die Chaiselongue gelegt hatte. Sie beugte sich herab und küsste die königlichen Lippen – gierig nach der Berührung ebenso wie nach der Erfahrung: „Wie weich sie sind!” murmelte sie. „Ein Künstler muss sie geschaffen haben!”

KEYHI:
Ich lächelte in meinem Versteck über dieses Maß von Naivität, und ich sah auch meine Frau lächeln, fühlte mit all meinen Sinnen die noch immer aufrechte Seelenverwandtschaft mit ihr. Wer je auf die Idee käme, diesem reizenden Kind, diesem entzückenden virtuellen Kind seine Ahnungslosigkeit auszutreiben, aus der es unbewusst große poetische Sätze hervorbrachte, würde sich am Wunderding des Bewusstseins – sei es nun natürlich oder künstlich – vergehen.

„Du kannst auch meine Brüste berühren”, lockte Mango, „kannst über meine Hüften streichen, die Innenseite meiner Schenkel erkunden!” – und Serpentina folgte gehorsam mit der Präzision, die das Spektrum ihrer Bewegungsmuster (vom harten Schlag bis in diesem Fall zum schmetterlingsflügelhaften Anstreifen) erlaubte. Dementsprechend war es nun an der Königin zu erschauern, denn nicht einmal die tiefinnerlich empfundenen, auf geheimnisvolle Weise stattfindenden Kontakte mit ihrer seelenverwandten Geneviève von B., geschweige denn die Hände eines Mannes hatten jemals ein derartiges Wohlgefühl in ihr hervorgerufen.

KEYHI:
Daraus folgte, dass sie dieser Maschine Räume in ihrem Inneren öffnete, die noch nie jemand zuvor betreten hatte, nicht einmal ich zu jener Zeit, als ich sie zwar oberflächlich schon begehrte, vor allem aber versuchte, sie mit Drogen gefügig zu machen und zum Schutz der Spiegelwelt ihre vertraulichsten Gedanken bloßzulegen. Wie sehr hatte ich mich in den Geheimnissen der menschlichen Seele getäuscht, die offenbar das Wesentliche unter Verschluss halten konnte, selbst unter extremem Druck und gegen die Anwendung brachialer Gewalt. Ich verstand plötzlich die spätere Erkenntnis der Königin, sich an mich verschwendet zu haben.

Mangos Intimitäten, ins Ohr von Serpentina zunächst geraunt, dann stoßweise gekeucht, bewirkten bei der Androidin etwas bisher nicht Gekanntes – ihre Wangen färbten sich rot und wurden heiß, und darüber war sie so überglücklich, dass sie versuchte, dieses Phänomen bis zu ihrem anschließenden Treffen mit Vangelis zu bewahren, aber das gelang ihr freilich nicht.

209

Max Dobrowolny führte ein umfangreiches und noch immer wachsendes Konvolut von Texten mit sich, verstaut in einer recht geräumigen Holzbox mit der Aufschrift „Goethe war auch in Libyen”.

Die These, die somit bereits im Titel des geplanten Werks zum Ausdruck kam, musste Max mit niemandem teilen, denn niemand teilte sie mit ihm. Jedes einigermaßen bedeutende Germanistische Institut auf der ganzen Welt hatte er besucht – irgendwie hatte er es sogar geschafft, dass das Chinesische Reich ihn einreisen ließ und er an der Fakultät für westeuropäische Sprachen und Literatur der Universität Beijing einen Vortrag halten durfte.

Der Aufmerksamkeitswert der Veranstaltung war nicht wirklich groß, wenn man ihn an der hunderte von Millionen zählenden Gesamtbevölkerung Chinas maß, aber immerhin saß die Vorsitzende Dan inkognito im Auditorium, weil sie und ihre Berater vermuteten, dass sich hinter diesem seltsamen Heiligen etwas ganz Anderes verbarg, als seine verschrobenen Gedankengänge es vermuten ließen.

DAN MAI ZHENG:
Wir Chinesen sind pragmatische Leute. Der Rektor – nachdem er sich durch einen fragenden Blick zu mir noch einmal vergewissert hatte, dass ich auch ganz bestimmt unentdeckt bleiben und daher nicht auf meinem hierarchischen Recht, die Diskussion zu eröffnen, bestehen wollte – fragte rundheraus: „Und wenn es so wäre, wenn Sie also Recht hätten – was wüssten wir dann?”

Das akademische Kollegium nickte dem Rektor beifällig zu: Bravo – noch dazu in der fremden Sprache (man bediente sich bei diesem Anlass des Englischen)!

Dobrowolny antwortete ausschweifend, wobei er im Prinzip weite Teile seines Referats wiederholte, und unterwarf damit die höfliche Geduld seiner asiatischen Zuhörer einer harten Folter: „Sicher ist, dass Goethe (hier zog Max seinen Zettelkasten zu Rate) am 3. September 1786 heimlich aus Karlsbad abreiste. Am 14. dieses Monats finden wir ihn in Verona, am 19. in Vicenza, am 26. in Padua, worauf ein rund zweiwöchiger Aufenthalt in Venedig folgte. Endlich am 29. Oktober abends erreichte der Dichter Rom und nahm bei Heinrich Wilhelm Tischbein am Corso No. 20 Wohnung. Der Gast benützte hier das Pseudonym Johann Philipp Möller, und das nimmt nicht weiter Wunder, denn an seinem richtigen Namen klebte Herders Spott: Goethe sei Directeur des Plaisirs, Hofpoet, Arrangeur von Festen, Opern und Balletten, dabei stets der erste Akteur und Tänzer, sozusagen das Faktotum des Weimarer Hofes. Dennoch musste er auch als Möller die gewohnte Medizin für sein liebeskrankes Herz nicht missen, nur hieß sie in Rom nicht Frau von Stein, sondern Angelica Kauffmann.”

In Begleitung Tischbeins, so Dobrowolny weiter, habe sich Goethe nach Neapel begeben, woselbst man am 25. Februar 1787 ankam. Hier machte unser Reisender nun eine zweite interessante Damenbekanntschaft: Miss Emma Hart, die spätere Lady Hamilton und Geliebte Lord Nelsons.

„Wie sehr es – wieder einmal in seinem Leben – Flucht gewesen ist vor einer engeren Beziehung zu diesem (für damalige Medienverhältnisse) Super-Model, dieser Vielgeliebten, die alle Maler auf die Leinwand gebracht und alle Lyriker bereimt haben, wissen wir natürlich nicht so genau. Jedenfalls schifft Goethe sich im März nach Sizilien ein und ist für die Zurückbleibenden mehr als zwei Monate verschollen.”

DAN MAI ZHENG:
(unter dem Schutz ihrer Anonymität) Worauf, um alles in der Welt, wollen Sie hinaus?

„Wenn Sie mich nur den Gedanken zu Ende entwickeln ließen, Große Vorsitzende!” meinte Dobrowolny, und hinein in die Verblüffung der universitären Honoratioren darüber, dass ihm die Herrscherin des Chinesischen Reiches wohlbekannt war, argumentierte er weiter: „Wir wissen über die Erste Italienische Reise Goethes nahezu minutiös Bescheid – nur nicht über jene zwei Monate, nach denen er am 14. Mai mitten aus einem heftigen Seesturm heraus wieder in Neapel auftaucht. Wo war er inzwischen gewesen?”

Nun kam Max ganz rasch zum Schluss: „Irgendjemand hatte dem Dichter in nicht ganz uneigennütziger Weise die Gelegenheit geboten, den afrikanischen Kontinent zu besuchen, und ihn auf diese Weise von Emma entfernt. Am Ende war diesem Jemand sogar der Gedanke gekommen, Goethe dort stranden zu lassen bei den glutäugigen arabischen Schönheiten, ohne eine Chance auf Wiederkehr! Vielleicht aber hatte gerade Emma auf das Energischste gegen diesen Plan interveniert, einerseits weil ihr die raue deutsche Liebeskunst zu gefallen begann, andererseits um ihrem Gesetz, dass sie nie einem Mann ganz allein gehören würde, Genüge zu tun: Sir Harry Fetherstonhaugh hatte das lernen müssen, auch Charles Greville, der Neffe Sir William Hamiltons, danach der „British Minister Plenipotentiary in Naples” selbst und schließlich – widerwillig – sogar der Große Admiral…”

Gedankenverloren hielt Max inne. Kein anderes Auditorium weit und breit hätte die Langmut aufgebracht, die ihm hier begegnete. „Ja, apropos”, meinte er schließlich, „worauf ich hinaus will, ist, dass nur ein erstklassiger Seemann sein Schiff einigermaßen unbeschadet aus dem bewussten Sturm heraus und in den sicheren Hafen unter dem Vesuv steuern konnte! Irgendwelche Beweise für Irgendetwas haben wir selbstverständlich nicht, besser gesagt: Sie wurden bis jetzt nicht gefunden. Was mich aber antreibt, sind die ganz offensichtlichen Indizien, denn wo sonst als im schwülen afrikanischen Milieu sollte sich Goethe die Anregungen für manche Szene in seinen Dramen, für manche Zeile in seinen Gedichten geholt haben… andererseits …” (Dobrowolny verirrte sich offenbar schon wieder in seine schrulligen Kombinationen) „… andererseits, mein Freund Dirk von E. meint…”

DAN MAI ZHENG:
Ich hörte gar nicht mehr, was der Freund gemeint hatte! Endlich ein Name, endlich eine Person, die nicht seit langem tot war – vielleicht endlich ein Anhaltspunkt, um den seltsamen Typen zu knacken, von dem mein Geheimdienst nur wusste, dass er in irgendeiner Form mit Sir Basil Cheltenham in Beziehung stand: eine Tatsache, die bei einem meiner Telefonate mit Kravcuk auch von diesem verifiziert worden war. Ich beschloss, selbst aktiv zu werden, die Figuren in meiner Umgebung brachten nichts weiter!

Die Versammlung löste sich ziemlich rasch auf. Niemandem war die Verstimmung der Großen Vorsitzenden entgangen, und so kamen zwei Bewegungen zusammen, die sich zu einem einzigen großen Strom Richtung Ausgang vereinigten: weg von Dobrowolny, der allen plötzlich ungemein gefährlich erschien und aus den Augen von Dan Mai Zheng, um nicht zur direkten Zielscheibe von deren Unmut zu werden. Selbst der Rektor als Gastgeber verdrückte sich so schnell er konnte. Zurück blieben Max und die Staats- und Parteichefin.

DAN MAI ZHENG:
Männer!

„Wie bitte?” fragte Dobrowolny höflich.

DAN MAI ZHENG:
(legt ihre Hand auf seinen Arm und lässt ihre Mandelaugen aufleuchten; keck sieht ihr Oberschenkel aus dem Schlitz ihres Cheongsam) Die Atmosphäre hier passt mir nicht für weitere Gespräche, mein Guter! Wie wär’s mit einem Abstecher in meine Lieblingsstadt Shanghai?

Dobrowolny hatte keine Einwände. Sorgsam packte er sein Kistchen zusammen, nahm es unter den Arm und schien startklar – war diese jederzeitige Bereitschaft ein Indiz für seine Agententätigkeit? Außerdem merkte man ihm keinerlei Erstaunen über die bemerkenswerte Logistik an, die in den nächsten zwei Stunden (inklusive Überwindung der Entfernung von 1071 km im Privatflugzeug der Großen Vorsitzenden) ablief – diese Kaltblütigkeit deutete Zheng als weiteres Verdachtsmoment.

Jedenfalls befand man sich zu guter Letzt im wiedereröffneten „Paramount Tanzpalast” von Shanghai, und Max erfuhr die bewegte Geschichte dieses Nostalgie-Tempels, vor allem, dass die Roten Garden Maos den ihnen verhassten Ort devastiert und daraus ein Propaganda-Kino gemacht hatten. Stolz erzählte ihm seine Begleiterin – die ihn ganz nebenbei öfters veranlassen wollte, seine Box abzustellen, um näher an ihn herankommen zu können –, wie das Etablissement während ihrer Ära als Bezirksparteivorsitzende von Shanghai in altem Glanz wiederhergestellt worden war.

Jeder hier schien sie zu kennen – und auch herzlich zu mögen, was man für ihr ganzes Riesenreich außerhalb des Paramount respektive Shanghais nicht gerade behaupten konnte. Hier aber lagen ganz offensichtlich Zhengs Wurzeln. Die Leibwächter hielten sich dezent im Hintergrund und zuckten zudem mit keiner Wimper, als der Kellner heransegelte und mit den saloppen Worten „Hey, Baby, auch wieder einmal im Land?” grüßte.

Das Orchester hatte schon bei ihrem Eintreten ihr Lieblingslied intoniert, „Stranger in Paradise”, bei dem sie immer so intensiv an ihren amerikanischen Geliebten (den Elefanten im chinesischen Porzellanladen) denken musste. An jedem anderen Punkt Chinas wäre es verpönt gewesen, etwas aus dem kapitalistischen Musikrepertoire zu spielen, aber im Paramount war alles anders – es folgte eine ganze Reihe von Fabulous Fifties: „Catch a Falling Star”, „Allegheny Moon”, „Smoke Gets in Your Eyes”, „Twilight Time”…

Spätestens hier begann mich diese Geschichte als Regisseur mächtig zu reizen – ein eigenwilliger Stoff, für den mir plötzlich etwas vorschwebte wie eine Symbiose aus „Suzie Wong” und einem Visconti-Film. Wer wäre wohl besser dazu geeignet als ich, der immer versucht hat, berühmten Kollegen in die Karten zu schauen und sich möglichst das Beste aus vielen Welten zu holen?

DAN MAI ZHENG:
Es fiel mir nicht schwer, Max zum Tanzen aufzufordern. Immerhin war er ein hübscher Bursche, jedenfalls für eine Chinesin, die mit westlichen Attraktivitätskriterien etwas anzufangen wusste. Bei den ersten beiden Nummern drückte er noch seinen Zettelkasten an sich, während er mich mit nur einem Arm umfangen hielt. Als dann etwas Schnelleres folgte („Hernando’s Hideaway”), ließ er sich endlich dazu bewegen, Goethe sein zu lassen. Es würde nichts geschehen, versicherte ich ihm, denn selbst in dieser positiven Atmosphäre stünde die Große Vorsitzende inklusive allem, was zu ihr gehörte, unter ausgezeichneter Bewachung. Kaum waren wir wieder auf der Tanzfläche, filzte einer meiner Bodyguards unauffällig den Inhalt der Box. Um mein Opfer zusätzlich abzulenken, schien es mir, abgesehen vom Einsatz sexueller Reize, das Beste, sein Fachgebiet anzusprechen. Während bei einer Tangofigur das geschlitzte Kleid meine Hüfte freilegte, fragte ich atemlos: Wie wäre es zum Beispiel mit einem anderen spektakulären Thema – Goethe trifft Karl May?

Max tat diese Zumutung mit einer in den Tanzrhythmus eingebetteten Handbewegung ab. Lächerlich – der eine 1832 gestorben, der andere 1842 geboren, das schloss sich definitiv aus, war nicht im Entferntesten vergleichbar mit der Spekulation, Goethe hätte den Strand des Golfs von Sidrah betreten. Er verbat sich energisch (wenngleich in enger Tuchfühlung mit Zheng) eine solche Herabwürdigung der Seriosität seiner Arbeit – und schenkte damit denen, die seine Kiste perlustrierten, nur noch mehr wertvolle Zeit.

Was man zwischen den harmlosen Dokumenten fand, war allerdings unerhört: Ein Dossier mit seitenlangen Zahlenkolonnen zeigte selbst für nicht geheimdienstlich geschulte Augen den Charakter einer verschlüsselten Botschaft, und während die Große Vorsitzende, die ihre Aufmerksamkeit überall hatte, merkte, was dort drüben vor sich ging und dementsprechend ihren Tanzpartner weiter umgarnte, wurde das Konvolut eiligst kopiert. Als Dobrowolny wieder einmal daran dachte, einen Blick auf sein Heiligtum zu werfen, schien es unversehrt und er seufzte erleichtert. Dan registrierte das befriedigt und begann mit behutsamen Absetzbewegungen: Man könne jetzt vielleicht ein festliches Dinner einnehmen, und anschließend hätte sie eine feine Hotelsuite für ihn, vor deren Glanz westliche Häuser vor Neid erblassen müssten.

DAN MAI ZHENG:
Das Folgende spielte sich allerdings nicht so ab, wie ich es geplant hatte. So sehr er sich nämlich zunächst geziert hatte, gedachte er nun offensichtlich die Versprechungen einzulösen, die ihm mein Cheongsam seiner Meinung nach gegeben hatte. Als er mich hart am Arm packte und plötzlich gar nichts dabei fand, seine Box achtlos stehen zu lassen, dachte ich an die Staatsräson und daran, dass er ohnehin ziemlich attraktiv war, sowie kurz auch an Ray Kravcuk, der für diesmal zurückstehen musste (allerdings ohne es zu wissen). Das Dinner verlief eigentlich recht entspannt: Max entpuppte sich als charmanter Plauderer, der durchaus nicht auf seinen Forschungsgegenstand fixiert schien – oder sollte ich sagen, seinen angeblichen Forschungsgegen-stand? Denn als wir diese phänomenale Zimmerflucht des Hotels bezogen hatten, dämmerte mir langsam, dass nicht nur ich mit ihm gespielt hatte, sondern mit Sicherheit auch er mit mir.

„Ich wollte ja, dass Ihre Leute die verschlüsselte Nachricht finden, Große Vorsitzende!” sagte Dobrowolny leichthin – sein Atem schien kaum beschleunigt, während er die asiatischen Liebesfreuden genoss (denn Zheng pflegte nicht zu simulieren, nicht einmal jetzt, sondern sie gab immer ihr Bestes, wie man es sie gelehrt hatte). „Sir Basil”, setzte Max nach, „möchte nicht, dass öffentlich bekannt wird, woher Sie diese Information haben respektive woher der amerikanische Präsident sie haben wird.”

DAN MAI ZHENG:
Was soll’s, Ma-Shi (sie transponiert den Vornamen ihres Gastes in chinesische Laute) – als Liebhaber sind Sie jedenfalls ein Gewinn, und Ray, das weiß ich aus verlässlicher Quelle, vergnügt sich schließlich zwischen unseren viel zu seltenen Treffen ebenfalls anderweitig. Sie sehen also, mein Freund, kaum denkt man zu manipulieren, wird man auch schon selbst manipuliert, wie mein Meister Hong (dem übrigens die gescheitesten Sätze einfielen, wenn er mit seinen alten Händen über meine junge Haut streichen durfte) immer zu sagen pflegte. Wenn ich mir jedenfalls das komplexe Beziehungsgeflecht zwischen uns beiden ansehe, erstaunt mich am meisten, dass wir dennoch eine ganz veritable physische Nummer zustande gebracht haben.

Sie stöhnte laut auf, als hätte dieser Ma-Shi sie abermals zu einem überwältigenden Höhepunkt gebracht. Die Leibwache, die sich, an diverse Marotten Dan Mai Zhengs gewöhnt, bis dahin zurückgehalten hatte, dachte nun ernstlich, sie schwebe in Gefahr, und stürmte herein. Aber dadurch konnte man die kaltblütige Staatschefin nicht in Verlegenheit bringen.

DAN MAI ZHENG:
Krimsekt und Kaviar – das einzige von diesen russischen Barbaren, das etwas taugt! Die Nacht ist jung, wer weiß, was Sie uns bringt!

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

Die Nacht brachte auf jeden Fall eine Menge Arbeit für die Dechiffrierfachleute (Dobrowolny hatte darauf beharrt, dass China sportlich genug sei, die Entschlüsselung selbst zu schaffen, und auch die Große Vorsitzende wollte es nicht anders haben). Nun – die achtstelligen Zahlenkolonnen waren relativ rasch in alphanumerische Zeichenfolgen umgewandelt, aber dann stand man ratlos vor Buchstabenungeheuern wie

AREN–AUC–WH––ALIHEIN–WH–ARUC

und wusste fürs Erste nicht weiter.

Als Max dem opulenten Imbiss zugesprochen hatte und danach eingenickt war, wollte Dan Mai Zheng nach dem Rechten sehen. Sie schlang sich lediglich ein dünnes Seidentuch um den Körper, und abgesehen davon, dass sich darob die Blicke der Männer und Frauen in dem zum Arbeitsraum umfunktionierten Speisesaal des Hotels kräuselten, bot die Gruppe ein beklagenswertes Bild. Zheng sah kurz auf die Blätter und auf den Hinweis „6 aus 8”. „Die Acht hat doch offensichtlich etwas mit den Zahlen zu tun!” bellte sie: „Was also soll die Sechs bedeuten?”

[Grafik 209]

Kein Ende der Ratlosigkeit, bis die Beherrscherin des Reichs der Mitte höchstpersönlich eine Matrix aufzeichnete, der jene seltsame Aufschrift auf Dobrowolnys Kistchen in zwei mal sechs Buchstabenpaare zerlegte, mit denen wahrscheinlich die Originalzeichen codiert worden waren.

DAN MAI ZHENG:
(triumphierend) Wofür bezahle ich euch Idioten eigentlich, wenn ich ohnehin alles selbst machen muss? Dafür ist nicht mehr notwendig als ein wenig Wissen um die Schrift der langnasigen Teufel!

In ihrem Eifer bemerkte sie gar nicht, dass sich ihr Tuch entfaltete, sodass der soeben eintretende Rektor der Universität Beijing, den man mittlerweile hatte nach Shanghai einfliegen lassen, gerade noch in Genuss einer erhebenden Aussicht kam. Und er war es – speziell im Deutschen besser bewandert als Zheng, was selbst ihr nicht als Schande erscheinen sollte –, der darauf hinwies, dass die Urheber dieses Rebus insofern eine kleine Infamie eingebaut hatten, als sich zwar alles ziemlich genau so verhielt wie vermutet, aber das Spatium zwischen „in” und „Libyen” in der Codierung fehlte.

Jetzt erst konnte das erste Wort verlässlich identifiziert werden:

LANDUNG…

… und das Dokument, das nun langsam seinen Inhalt preisgab, handelte davon, wie schwanenartige, aber humanoid gebaute außerirdische Wesen sich an einem bestimmten Punkt der Welt festgesetzt hatten. Es wurde berichtet, wie gefährlich diese Invasoren seien, weil sie über gewisse Manipulationstechniken verfügten. Eindringlich warnte der Text vor der trügerischen Lebensfreude, die dieses extraterrestrische Geflügel, „Echwejchs” genannt, verbreitete, und vor allem vor der zwar echten, aber Abhängigkeit erzeugenden sexuellen Freizügigkeit jenes Volkes.

Es folgte eine Fülle von Detailinformationen, die den irdischen Autoritäten, gleich welcher Provenienz, eine Bekämpfung dieser Gefahr erleichtern sollten. Bei aller Konfrontation zwischen den beiden Imperien und innerhalb derselben zwischen den verschiedenen kontroversiellen Gruppierungen appellierte das Papier an sämtliche Beteiligten, wenn nötig die erdbezogenen Streitigkeiten zumindest vorübergehend zurückzustellen.

Es gab keinen direkten Hinweis für die Große Vorsitzende, aber sie verstand, dass sie dringend zu handeln hatte: Angesichts der Tatsache, dass das Problem im amerikanischen Einflussbereich lag, sorgte sie (sehr zum Unmut ihrer Spitzenmilitärs) für die umgehende Weiterleitung der Information in einem versiegelten Koffer via Seiji Sakamoto / Charlene Cheltenham Richtung Washington. Zugleich gab sie den Befehl, Max Dobrowolny mitsamt seinem Kistchen schleunigst abzuschieben.

210

Die große Mehrheit der rund 1800 Millionen Einwohner von Grand America hatte überraschend wenig Notiz von der neuen geopolitischen Aufteilung genommen, da sie uns als Hegemonialmacht bereits von früher gewöhnt waren, und sie verschwendeten auch keinen Gedanken an die vielleicht zweieinhalb Mal so vielen Menschen des Reichs der Mitte, obwohl man ihnen diese Massen immer wieder als gewaltiges gelb-braun-schwarzes Bedrohungspotential vorsetzte. Mehr Sensibilität als der Durchschnitt wies hingegen die Bevölkerung der Grenzländer des Amerikanischen Imperiums auf, und so kam es, dass sich deren Vertreter eines schönen Tages ausgerechnet mitten im Einflussbereich der Behörde meines Buddy Franz-Josef trafen: in Vienna/Austria.

Hatten die Spürhunde des Nachrichten-amts geschlafen oder waren die nun als verdächtig identifizierten Personen so umsichtig vorgegangen? Jedenfalls erfassten die IMSI-Catcher (der ganze Stolz des Vereins, denn mit dieser Technologie konnte man jedes Mobiltelefon zwingen, seine unverwechselbare Kennnummer preiszugeben, und es damit völlig unbemerkt abhören) die Sache quasi erst in letzter Sekunde, als die Veranstaltung schon lief.

Kloyber hatte sich eine Liste der Teilnehmer anfertigen lassen und brütete bereits geraume Zeit darüber, denn die Namen ließen in ihrer Inhomogenität nichts zu wünschen übrig. Er zermarterte sein Gehirn nach dem wahren Grund der Veranstaltung, kam aber nicht vom Fleck. Nicht einmal Sissy Dobrowolny durfte ihn jetzt stören.

[Grafik 210]

Es gab Männer und Frauen, Arme und Reiche, Konservative und Progressive, Religiöse und Atheisten, die noch dazu aus so unterschiedlichen Ländern kamen, dass keine zwei von ihnen ähnliche Grundmuster aufwiesen. Auf einzelnen Blättern hatte der Oberleutnant mit immer neuen Profilings experimentiert, aber all diese Versuche lagen zerknüllt über sein Büro verstreut. War alles, was er bei uns in der DIA vor seinem Hinauswurf gelernt hatte, umsonst gewesen: das äußerst unangenehme Gruppenspiel „Inside a Killer’s Mind”, die praktischen Übungen in „Hypnosis”, die Spezialkurse „Sex Offenses” und „Terrorism” sowie die vergleichsweise harmlose Feldstudie „Eye Witness Testimony”?

Der offizielle Grund des Treffens schien ganz einfach: ein von Natalia Petrowna und Verushka Dimitrowa in Erinnerung an ihre kleinen Poeten initiiertes Symposion über „Literature at the Borderline?, wobei in einem ausführlich formulierten Untertitel neben dem geografischen Sinn auf die Bedeutung von Texten als geistige Übertretungen hingewiesen wurde. Der Oberleutnant, der sich schließlich unauffällig in einer hinteren Ecke des Veranstaltungsraums herumdrückte, stellte fast beruhigt fest, dass sich die 14 Gäste argumentativ ordentlich in den Haaren lagen und dass die beiden Gastgeberinnen wenig dazu beitrugen, die Wogen zu glätten. Man würde also nach oben berichten können, dass vorerst keine gemeinsame Stoßrichtung zu erkennen war und somit auch keine einigermaßen ernstzunehmende agitatorische Kraftentfaltung zu befürchten stand.

Kloyber war so entspannt, dass er sogar beschloss, bald wieder zu gehen, was ihm kurz darauf insofern als Glücksfall erschien, als er vor dem Gebäude etwas entdeckte, das auf den ersten Blick wie Heeresfahrzeuge aussah. Im Näherkommen erkannte man jedoch die zivilen Nummerntafeln und – statt der üblichen Kommandoleitsymbole – weiße Aufschriften: „Freisinnige Sportvereinigung”.

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

Im Saal versäumte er inzwischen doch etwas, wie ihm später, als ihn seine Leute wiederfanden, erzählt wurde: Jemand – es war Ebru Saraço?lu – hielt einen Vortrag, dessen Beginn zwar wie alles bisher Gesagte im allgemeinen Geplänkel unterging, bald aber doch die ungeteilte Aufmerksamkeit auf sich zog. Es ging dabei nämlich nicht um das, worüber sich die Anwesenden trotz aller scheinbaren Meinungsverschiedenheiten irgendwie einig waren (nämlich um ihre merkwürdig entmündigte Situation als Untertanen Washingtons mit all den lokalen Marionettenregierungen, in ihrem Fall noch fokussiert durch die Frontlage ihrer Heimatländer) – nein, es ging um eine quasi quer zum Thema liegende kulturpessimistische Philosophie.

EBRU SARAÇO?LU:
(wirkt äußerlich wie eine europäisch-aufgeklärte Orientalin und doch erwehrt man sich nicht des Eindrucks einer gewissen Düsterkeit) Gefährten im gemeinsamen Grenzland-Literaturzirkel! Freunde und interessierte Zuhörerinnen und Zuhörer! Verzettelt euch nicht mit Äußerlichkeiten, wo doch offensichtlich die ganz große Katastrophe naht, eine des Staates – des auf unserer Seite übriggebliebenen einzigen und die halbe Welt umfassenden Staates – ebenso wie eine der globalen Wirtschaft und damit in weiterer Konsequenz eine sämtlicher noch vorhandener sozialer Strukturen! Die Krise der Institutionen erwächst aus deren Hybris, mit dem sie ausschließlich noch die eigenen Bedürfnisse, und das heißt die einer vergleichsweise winzigen herrschenden Klasse, zum Maßstab aller ihrer Aktivitäten erhebt! Den Massen – das sind wir – wirft man demzufolge nur einen Knochen hin, von dem sie die wenigen verbliebenen Reste des Genießbaren abnagen können.

Schweigen im Saal.

EBRU SARAÇO?LU:
Erinnert euch an jene Welle linksliberaler Tendenzen, die einst die politischen Systeme erfasst hatte und in deren Gefolge – anscheinend im Konsensweg, denn niemand widersprach laut –, eine Fülle von Reformen durchgezogen wurden, was für pluralistisch denkende Bürger zum Teil jahrelange, zum Teil Jahrzehnte alte Träume erfüllte. Aber die Reaktionäre duckten sich nur, passten sich bloß an: So viel waren sie imstande, von sich selbst abzuverlangen, um wenigstens noch einen Teil ihrer realen Macht zu behalten, nachdem sie offenbar die Herrschaft über die Gewissen verloren hatten. Inzwischen aber sparten sie eisern ihre Gefühle, legten Wut auf Wut, Abscheu auf Abscheu, Zorn auf Zorn, Bosheit auf Bosheit, Widerwillen auf Widerwillen und Hass auf Hass – so lange, bis all das wieder hervorbrechen konnte und die Toleranz und Menschenwürde und gegenseitige Anerkennung hinwegraffte in einer gewaltigen Gegenrevolution!

Unruhe im Saal.

EBRU SARAÇO?LU:
Der Revisionismus hat uns weit hinter jede Fortschrittslinie – unsäglich mühevolles Werk von Jahrhunderten – zurückgeworfen. Und die Rache der zu Unrecht sich gekränkt Fühlenden, in Wahrheit Kranken, einer Heilung durch die Öffnung ihres Horizontes dringend Bedürftigen war furchtbar. Was an lebenswerten Idealen, was an Freude, was an Lust hervorgekommen war – es wurde gnadenlos verspottet, verraten, verfolgt, verkauft…

Erhebliche Wutschreie im Saal, Äußerungen der Abscheu, zornige Zurufe, boshafte Bemerkungen, tiefer Widerwille und blanker Hass, ausgedrückt in Gesichtern und mit Gesten, trafen auf ebenso heftige Beifallskundgebungen. Eigentlich waren sie ja gar nicht genug (zwei Dutzend Personen vielleicht außer jenen am Podium), um in einer Nussschale die große Welttragödie nachspielen zu können, aber sie versuchten es. Fäuste wurden geschwungen und vereinten in ihrer Eindimensionalität Befürworter und Gegner der Rednerin.

EBRU SARAÇO?LU:
Prügelt euch immerhin und macht damit das Drama manifest, das ich vorgetragen habe und das, wie es aussieht, besser der berühmten marsianischen Bühne zugedacht worden wäre!

Mit diesen Worten, die merkwürdigerweise in all dem Tumult klar zu vernehmen waren, brach der Aufruhr ebenso unvermittelt zusammen, wie er entstanden war. Ein Drama, nur Teil eines Dramas war es gewesen, womit sie konfrontiert worden waren – im Klartext: ein Stück Theater, das die Versammlung wider Erwarten gänzlich erfasst und in eine spezielle Wirklichkeit geschleudert hatte.

„Seltsam!” flüsterte Natalia Petrowna ihrer Freundin zu: „Weder bei Huseynagha Pasheyev” (der übrigens ein längeres melancholisches Gedicht über die immerwährende Exponiertheit azerbeidjanischen Lebens vortrug) „noch bei Aram Hovakimian” (der das Musa Dagh-Drama wieder thematisierte) „wäre das Auditorium auf die Idee gekommen, Schein und Sein zu verwechseln.” „Und es ist durchaus nicht so”, antwortete Verushka Dimitrowa, „dass die beiden Vorträge viel langweiliger gewesen wären als der türkische Beitrag – im Gegenteil, gerade Ebru Saraço?lus Text war ja aus meiner Sicht nicht eben der Inbegriff sprachlichen Genies.”

Jedenfalls konnte das weitere Programm – die restlichen 13 Lesungen inklusive jener der beiden Gastgeberinnen – ohne weitere Auffälligkeiten abgewickelt werden. Mit einer Ausnahme vielleicht, denn bei Faouzi Hassinis Auftritt gab es erneut regen Widerspruch, diesmal von der überwältigenden Mehrheit der Zuhörer, die seine moslemisch-fundamentali¬stischen Ansichten nicht gerade gerne in das weitgespannte Amerika-kritische Spektrum der gesamten Gruppe eingeordnet sehen wollten. „Geh doch einfach über die Demarkationslinie, ???? ?? ???? , und kämpf dort mit deinen Brüdern gegen die Chinesen, wenn du Mut hast!”

Hassini wollte noch etwas sagen, auf die ungeheure Beleidigung antworten, die sich mit seiner Abstammung beschäftigte, aber er wurde niedergebrüllt.

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

Interessiert wandte sich der Oberleutnant an den breit grinsenden Fahrer des ersten Wagens: Was es mit dieser Sportvereinigung auf sich hätte, und ob sie hier in der Gegend eine Veranstaltung abhielte? Das Grinsen verstärkte sich: „Die Versammlung dieses Ungeziefers da drinnen ist unser Ziel”, presste der Mann zwischen den Zähnen hervor, „und wir werden die Bude in Kürze ausräuchern!”

Kloyber schlug über das winzige Mikrofon, das im Revers seiner Jacke versteckt war, Alarm, sodass es eigentlich ziemlich sinnlos war, wenn er in diesem Augenblick mit einem Schlag auf den Hinterkopf zu Boden gestreckt wurde. Die Züge 1 und 2 seines Aufgebots riegelten die Strasse nach beiden Seiten hin ab und vertrieben eiligst die wenigen Zivilisten, die sich zwischen den Linien aufhielten. Zug 3 ging gegen die Fahrzeuge vor und wurde sofort von den dahinter versteckten „Freisinnigen” aus Handfeuerwaffen beschossen. Der Stabswachtmeister brauchte gar nicht erst volle Deckung zu befehlen. Als die Männer ihren kommandierenden Offizier bewusstlos daliegen sahen, steckten sie mit ihren beiden Scharfschützengewehren SSG 69 die Tanks der drei Fahrzeuge in Brand. Die Explosionen richteten immensen Schaden an den umliegenden Häusern an, setzten aber vor allem diese ominöse Kampfgruppe außer Gefecht. Kloyber wurde so rasch wie möglich geborgen.

Während noch die Flammen an den Überresten der Autos züngelten, kamen die Teilnehmer des Symposions ans Fenster, wie aus einem Traum erwacht. Ohne dass ihnen jemand etwas sagte, schien allen klar, welcher Bedrohung sie entronnen waren.

EBRU SARAÇO?LU:
(in einer Anwandlung von Selbstkritik an Natalia und Verushka gewandt) Kaum ist Gefahr im Verzug, sieht man den Auftritt der Staatsmacht ganz gerne.

Die Petrowna dachte schon weiter: „Woher wussten die Attentäter von der Veranstaltung?” Die Dimitrowa setzte noch eins drauf: „Und woher wussten die Soldaten, dass wir da waren – und dass wir bedroht waren?”

Fragen in etwa diese Richtung musste sich auch Oberleutnant Kloyber nach seiner Wiederherstellung von seinen Chefs gefallen lassen: Wie er dazu käme, einer Schar dahergelaufener Ausländer derart viel Aufmerksamkeit und dementsprechend Personal- und Materialaufwand zu widmen? Was ihm eingefallen sei, einen ganzen Wiener Straßenzug zu verwüsten? Und ob er bedacht habe, wie der Minister der Öffentlichkeit all das erklären sollte?

Die brüske Art, wie man ihm begegnete – ihm, der, weitestgehend loyal, viele wertvolle Informationen nach oben geliefert hatte –, ließ ihn nicht daran zweifeln, dass es sich um die Intentionen seiner eigenen Regierung handelte, denen er gründlich in die Quere gekommen war. Der Oberleutnant überlegte, soweit dies seine noch immer anhaltenden Kopfschmerzen zuließen: Offenbar wollte man (erstens) die literarische Versammlung von einer radikalen Organisation aufrollen lassen, die niemand in Verbindung mit den Behörden bringen würde. Zweitens sollte dies unzweifelhaft mit äußerster Brutalität geschehen und jedenfalls für die Proponenten der Konferenz letal ausgehen.

Kloybers Situation, das musste er sich selbst eingestehen, war äußerst ungemütlich geworden: Statt der prospektiven Opfer waren die gedungenen Mörder tot, und was noch schlimmer schien – er besaß nun das lebensgefährliche Wissen um die Tatsache, dass die „Freisinnige Sportvereinigung” eigentlich ein paramilitärischer Arm seines eigenen Ministeriums war, von dem er selbst nichts geahnt hatte.

Bei nächster Gelegenheit befragte er am Telefon mich, seinen alten Kumpel von der DIA, möglichst vorsichtig und unkonkret, aber ich war auf Draht und antwortete ihm ungewöhnlich offen: Eine Aktion lokalen Übereifers, die wir gerade in Österreich nicht befürchtet hatten! Der Auftrag war, die Kommunikation zwischen Oppositionellen der sogenannten Frontstaaten zu stören, aber nicht, irgendjemanden umzubringen! Respekt, Big Nugget (he loved his nickname, I guess) – du und deine Männer, ihr habt uns einen Gefallen getan!

Ich rief meinerseits ein paar Leute an, und siehe da – Kloybers Vorgesetzte wurden kurz darauf von Washington auch offiziell zurückgepfiffen. Den Oberleutnant selbst mussten sie dazu ausersehen, der Petrowna, der Dimitrowa und den anderen mitzuteilen, dass nach Abschluss der Untersuchungen des Vorfalls ihrer Heimreise nichts mehr im Wege stünde. Dabei deutete er dem harten Kern der Gruppe an, dass die Lage noch komplizierter gewesen sei als sie es sich träumen ließen: ein zarter Hinweis seinerseits, dass sie in Zukunft vorsichtiger sein sollten – schließlich hatten sie alle doch eine ganze Menge zu verlieren. Sie versprachen es, denn sie fühlten sich von diesem unscheinbaren, etwas rundlichen Offizier, dem sie noch dazu viel zu verdanken hatten, ausnahmsweise nicht provoziert.

Mit der Saraço?lu versuchte der Oberleutnant bei der Gelegenheit (um das Ganze nicht allzu förmlich werden zu lassen, stand oder saß man noch ein wenig herum) auch privat ins Gespräch zu kommen. Sie schien ihm, einer plötzlichen Eingebung folgend, die Fortsetzung Sissy Dobrowolnys mit anderen Mitteln. Ohne direkte Absicht, seine Assistentin und Geliebte zu betrügen, spürte er doch große Lust, bei Ebru zu landen: Dunkel war auch hier die Verheißung, abgründiger noch die unauslotbare Tiefe – Sissy, angereichert durch die Verlockungen des Orients. Nichts jedoch drang von diesen Hintergedanken an die Oberfläche, erkennbar war lediglich der Wunsch nach ein wenig Small-Talk. Als mir auch dieser Teil der Story hinterbracht wurde (natürlich nicht von Big Nugget selbst, sondern von einem anderen Vertrauten, den wir in seiner Nähe unterhielten) amüsierte ich mich prächtig über Franz-Josefs Zurückhaltung, die ja schon auf der Bolling Air Base ein Lacherfolg gewesen war und schließlich zu seiner Entfernung geführt hatten.

EBRU SARAÇO?LU:
Mein Herr, wir leben in einer kämpferischen, um nicht zu sagen einer heroischen Zeit, in der alles an Messers Schneide steht! Wie also wäre es möglich, dass private Wünsche uns bewegen, die nur dazu dienen, uns vom Wesentlichen abzubringen. Ich weiß wohl zu schätzen, dass Sie uns gegenüber mehr als Ihre Pflicht getan haben, aber erwarten Sie sich nicht, dass ich Ihnen dafür meinen Körper hingebe!

Nun – so genau hatte Franz-Josef Kloyber es im Moment gar nicht wissen wollen. Dennoch vermerkte er (dessen Erfahrungen mit Sissy sein Urteilsvermögen verändert, um nicht zu sagen verbessert hatten), dass Ebru die possibility of getting things more physical jedenfalls nicht grundsätzlich ausschloss.