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4. TEIL
INNENRÄUME
UND EXZESSE

401

Eigentlich hatte ich nicht vor, zu zögern, wenn es so weit war – das mochte dem Oyabun aller Oyabuns schlecht anstehen. Würde der alte Hong Wu Zhijian nach einer geradezu unendlich langen Lebenszeit, in der er bis zuletzt die wichtigsten Fäden im Reich der Mitte in den kraftlos gewordenen Händen hielt (und damit die offizielle Staats- und Parteivorsitzende Dan Mai Zheng, seine persönliche Erfindung, bis jetzt gegen alle Anfeindungen sicher in ihrem Amt), endlich sterben, galt es für mich, die abrupte Verschiebung der Kraftlinien Groß-Chinas blitzschnell zu analysieren – mit einem klaren Ergebnis, das ich bereits jetzt vorwegnehmen konnte: Dan hatte abzutreten, und ich selbst musste trachten, bei jedem neuen Machthaber in Beijing eine noch bessere Position einzunehmen als bei ihr – im Idealfall deshalb, weil ich persönlich ihn auf den Thron gesetzt hatte.

PRODUZENT SID BOGDANYCH:
Ein starker Mann würde es sein, war zu erfahren, mit der Betonung auf „Mann”, denn das Experiment mit einer Frau wollten die chinesischen ebenso wie die japanischen Cliquen keinesfalls wiederholen.

Ich hatte Yang Xun Zhou im Visier, von meinen Mitarbeitern dank unserer hervorragenden Kontakte überallhin aus tausenden herausgefunden und bereits vor einiger Zeit als Sekretär in das persönliches Kabinett von Dan Mai Zheng eingeschleust – und die Gute war mir noch herzlich dankbar dafür!

Das einzige Risiko bei dieser Aktion schien mir zu sein, dass die Große Vorsitzende den jungen Mann mit ihren Reizen umgarnte, wie sie es seinerzeit unter den wohlwollenden Augen des greisen Hong mit Ray Kravcuk und später aus eigenem Kalkül mit diesem Max Dobrowolny tat – übrigens nie mit mir, obwohl das sehr gut als Ergänzung in unser komplexes Verhältnis gepasst hätte, und ich empfand über diese Zurücksetzung seit langem eine schwer zu bändigende und kaum zu verhehlende Wut. Ich schärfte also diesem Yang ein, sich auf keinen Fall mit Dan Mai Zheng auf private Abenteuer einzulassen.

PRODUZENT SID BOGDANYCH:
Diesen Rat erhielt Yang, als er auf Einladung Seiji Sakamotos zum ersten Mal auf dessen Landsitz weilte – mit Billigung seiner Staats- und Parteichefin, die in ihm eine Art Verbindungsoffizier zu den Yakuzas sah, anscheinend unter der Annahme, dass ihre Beziehungen dorthin nach wie vor ungetrübt seien. Allerdings glaube ich persönlich nicht an so viel Naivität bei einer so gewieften Taktikerin, sondern ich neige eher der Meinung zu, sie wusste genau, was da ablief und wehrte sich nicht dagegen, in einer Art Psycho-Trip, wie er schon viele Politikerinnen und Politiker jenseits des Zenits ihrer Karriere ereilt hat. Aber egal, jedenfalls betrat der junge Mann staunend jenes Anwesen, das bewusst, aber in wesentlich größerem Stil dem Kokyo nachempfunden war, der Residenz des ehemaligen Tenno, der nun längst abgedankt mit seiner Familie unter bescheidensten Umständen in einem Dorf im unwirtlichsten Hokkaido lebte.

Für einen wie mich ist kein Ding unmöglich, und mein Wunsch, den Nationalpark von Nikko zu besitzen, wurde quasi in dem Moment Realität, als ich ihn ausgesprochen hatte: 1.400 km² faszinierende Landschaft mit Seen, Wasserfällen, Hochmooren, mächtigen Bergen, darunter dem erloschenen Nantai-Vulkan, bewaldet mit uralten Zedern, und das alles nur für mich allein, denn rund um mich gab es nur mir treu ergebene dienstbare Geister. Die ursprünglichen Bewohner durften in bestimmten Zonen des Geländes bleiben, aber nur wenn sie bereit waren, in ihren zu Museen umgestalteten früheren Wohnorten als traditionelle Folklore zu dienen: als Straßenhändler, Samurai in historischen Kostümen, die gefakte Schwertgefechte ausführten, Beamte in erlesenen Gewändern, die scheinbar geschäftig umhereilten, oder Yoshiwara-Kurtisanen, die ihre Tanzdarbietungen zeigten. Ich fühlte mich in die Tage des Tokugawa-Shogunats versetzt, wenn ich in meinen wenigen freien Stunden dort umherspazierte.

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PRODUZENT SID BOGDANYCH:
Auch die eigentliche Heimstatt Sakamotos, die sogenannte Jo oder Burg, zeigte das charakteristische Bild japanischer Paläste, wobei sich die Vorliebe des Hausherrn für Schwarz stark bemerkbar machte, allerdings gemildert durch die Fenster, die hellen Papierwände, die als Raumteilungen dienten, und die weißen Papierfahnen mit den darauf gepinselten Hiragana. Yang Xun Zhou, der auf dem Weg hierher schon ziemlich viel von seinem Selbstbewusstsein eingebüßt hatte (worüber er sich innerlich maßlos ärgerte), wurde in den Zeremoniensaal geleitet, wo ihm jemand bedeutete, sich in der rechten hinteren Ecke auf den Boden zu kauern und ruhig zu verhalten. An der Stirnseite des Raums sah er seinen Mentor – dem er im Moment gar keine freundlichen Gefühle entgegenbrachte –, bekleidet mit einem prächtigen formellen Kimono und gegürtet mit dem Schwerterpaar, das seine Macht symbolisierte. Nach einer ganzen Reihe trivialer Angelegenheiten, die endlos abgehandelt wurden, folgten am Ende die beiden wichtigsten Tagesordnungspunkte, bei denen der Oyabun sein Obergewand ablegte und damit einen Teil seiner schaurigen Tätowierungen zeigte, vor denen alle hier erzitterten. Selbst dem chinesischen Gast, der sich einredete, dass ihn das alles nicht zu kümmern brauchte, und still für sich ständig memorierte, dass ja sein Volk die eigentliche Herrenrasse des Reichs der Mitte, wenn nicht der ganzen Welt sei, wurde jetzt richtig mulmig zumute.

Der vorletzte Klient, der vortrat, war neu in unserem Klan und sollte mir Treue schwören. Ich hielt aber in diesem Zusammenhang nichts davon, wenn er sich verstümmelte, also sich etwa ein Fingerglied abschnitt, sondern ich verlangte von meinen Novizen nach ihrer Ausbildung, dass sie sich eine klaffende Wunde auf der Brust zufügten. Einmal vernarbt, schien mir ein solches Mal, noch dazu mit Tattoos kunstvoll verziert, als ideales Treuezeichen, das als allgemeine Warnung vor Ungehorsam an Harakiri denken ließ.

Als dieser Mann abgefertigt war – sein Blut begann auf dem Fußboden langsam einzutrocknen –, war am Ende meiner Audienz noch ein längst gesprochenes Todesurteil zu vollstrecken. Ich bot dem Delinquenten allerdings im Einklang mit unseren ungeschriebenen Gesetzen zunächst an, sich mit meinem Wakizashi, dem Kurzschwert, selbst zu entleiben, was sowohl ihm, als auch mir zur Ehre gereicht hätte, aber der Feigling zog es vor, mir die Drecksarbeit zu überlassen. So geschah es denn, wobei zwei Diener mich mit Schildern aus Weidengeflecht so abzuschirmen versuchten, dass weder meine Person, noch meine kostbare Kleidung besudelt wurden.

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Ungerührt wartete Sakamoto, bis sich der Saal geleert hatte, und winkte Yang zu sich heran. Dieser näherte sich vorsichtig, gar nicht sicher, was nun mit ihm geschehen sollte, aber nachdem er die Leiche umrundet hatte, legte ihm der Oyabun kameradschaftlich einen Arm um die Schultern und bemerkte freundlich, als ob er ihm bloß das feierliche Ritual der Teezubereitung vorgeführt hätte: „Sehen Sie, so sind bei uns die Bräuche! Aber wenn Sie sich genau an meine Vorstellungen halten, kann Ihnen nichts geschehen!”

Noch eine Erfahrung wollte ich ihm bescheren, bevor er sich wieder nach Beijing davonmachte und der Großen Vorsitzenden von dieser Visite berichtete – möglichst wahrheitsgetreu, darum wollte ich gebeten haben, denn Dan Mai Zheng kannte mich gut und sollte die Botschaft erhalten, dass bei mir alles beim Alten war. Nachdem ich den Rest meines Kimonos abgestreift hatte und nur mit dem Fundoshi bekleidet vor Yang stand – wodurch er den Rest meiner martialischen Verzierungen auch noch bestaunen konnte –, führte ich ihn in meine Privatgemächer, wo meine bisher letzte Errungenschaft, die russische Fürstentochter Dolgorukija, deren Leib und Seele ich auf der Moskauer Millionaire Fair gekauft hatte, mich erwartete.

Allerdings schmachtete sie mir nicht freudig erregt entgegen, sondern saß wie auf glühenden Kohlen, denn es war ihr bestimmt bereits hinterbracht worden, was sich im Zeremoniensaal ereignet hatte. Sie wusste deshalb genau, in welch grausamer Stimmung ich mich befand, und dass diese noch Schlimmeres für sie bedeuten konnte als mein Normalzustand. Es zeigte sich zum wiederholten Mal, dass ihr Kalkül, aus der Armut ihres Elternhauses durch mich in ein Leben in Saus und Braus zu wechseln und dafür allenfalls mit ein wenig oberflächlichem Sex zu bezahlen, nicht aufgegangen war.

PRODUZENT SID BOGDANYCH:
Seiji stellte die junge Frau seinem Gast vor. Diesem fiel auf, dass sie sehr bemüht war, Haltung zu bewahren, trotz der bösen Worte, die zu ihrer Charakterisierung fielen: „Das ist sie also, meine ??????, mein Vögelchen, das ich in diesem goldenen Käfig halte. Begrüße meinen lieben Freund Zhou, den künftigen Herrn der halben Welt, meine Teure, und sieh zu, wie du ihn ein wenig verwöhnen kannst!” Die Dolgorukija zuckte zusammen, als sie das hörte. Sie widerstand dem Drang, sich zu bekreuzigen, und reichte Yang stattdessen wortlos die Hand.

Sie ist eine Gaijin, wie Sie sehen! erklärte ich.

PRODUZENT SID BOGDANYCH:
Für japanische Verhältnisse war damit alles gesagt, alle Abfälligkeit gegenüber Ausländern war in diesen einzigen Begriff gepackt. Yang fiel erst jetzt auf, dass Sakamotos Frau westliche Kleidung trug – vom Oyabun sicher mit Absicht verfügt, um sie gegenüber seinem Hofstaat völlig herabzusetzen, denn auf diese Weise konnten sich der schmutzigste Müllmann und die jämmerlichste Magd ihr überlegen fühlen.

Da fehlte dann nicht mehr viel zur Erniedrigung, die ich ihr heute zudachte, indem ich ihr befahl, den Besucher in ihr Zimmer zu bitten und sich ihm wie eine billige Changji hinzugeben.

PRODUZENT SID BOGDANYCH:
„??! Scheiße!”, dachte Yang Xun Zhou, als sie sich auf den Weg machten, und er rührte die vornehme Dame nicht an, selbst auf die Gefahr hin, dass der Verrückte, wie er ihn bei sich zu nennen begann, sie heimlich beobachtete.

So tief würde ich zwar nie sinken, aber ich erfuhr natürlich von einem beflissenen Lauscher aus meinem Gefolge, dass dort drinnen nicht das Geringste vorfiel. Kaum ein paar Sätze wechselten die beiden, geschweige denn, dass sie koitierten. Schon wollte ich meine Frau dafür bestrafen, aber dann ließ ich es – ich hatte einfach an diesem Tag keine Lust mehr auf weitere Exzesse.

Sein Schaden! erklärte ich meiner Gefangenen, als wir wieder allein waren. Aber seine Lektion hatte er ja allemal gelernt, und das war schließlich der Zweck der Übung: Er wusste jetzt, was wirkliche Macht ist – jedenfalls etwas anderes, als die Führungsriege in Beijing ihm vorlebten, die sich trotz ihres autoritären Gehabes unbedingt einen Rest von Legitimität bewahren wollten. Dieser Junge aber würde, wenn man ihn nur weiter darin bestärkte, völlig anders vorgehen, wenn er am Ende selbst ans Ruder kam.

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

PRODUZENT SID BOGDANYCH:
Sir Basil Cheltenham war natürlich über all das informiert worden, wobei selbst mir unklar ist, wie er das zuwege brachte, denn das Risiko, einen Spion inmitten der Höhle des Löwen zu platzieren, war zweifellos für den Betreffenden selbst, aber auch für dessen Auftraggeber ungeheuer. Mangels irgendwelcher Indizien kann ich mir daher nicht im Geringsten vorstellen, wer es sein mochte – konnte gut sein, dass es die Dolgorukija selbst war, die auf seiner Lohnliste stand. Im Übrigen wussten ja auch umgekehrt weder ich, noch irgendjemand, den ich kannte, wen Sakamoto auf Kantara dafür bezahlte, ihm Informationen über den Baronet zu liefern – denn dass dies geschah, kann als sicher gelten. Was jedenfalls Cheltenham betraf, machte er sich auf mittlere Sicht Gedanken darüber, wie sicher sein Nachschub war, soweit er diesen aus den illegalen Quellen der Yakuzas in und um Port Klang bezog. Mochte daher gut sein, dass hier erstmals der Gedanke auftauchte, gegenüber dem Oyabun ein Exempel zu statuieren, indem er ihm zeigte, wie verletzlich im Grunde auch seine Operationen waren.

402

Charlene war zwar kein Leben lang mit mir zusammen gewesen, eher ein halbes bloß oder weniger, aber sie kannte mich gut. Daher war sie auch nicht besonders überrascht, als ich ihr von den Vorgängen im unterirdischen Gewölbe von Agios Philokratos erzählte. „Was man heutzutage so alles innere Einkehr nennt!”, meinte sie nur trocken – und sie war interessiert. Zunächst dachte sie, ich wolle nur darüber reden (wir sprachen neuerdings wieder über alles wie in alten Zeiten, sparten nichts aus), aber dann erfuhr sie, dass ich sie beim nächsten Mal mitnehmen wollte. Sie war dermaßen verblüfft, dass sie unbedacht in ihren heimatlichen Minnesota-Slang verfiel.

LADY CHELTENHAM:
O man, quite a long time I wanna see, what those goddam brats’ve under those stinking cowls!

Aber Darling, ich bitte dich – ich war wirklich ein wenig peinlich berührt, aber Charlene lachte nur. Es war das alte Lachen der Selbstsicherheit, mit der sie damals in Washington mit Hilfe der Begierde einfältiger Männer wie eine heimliche Königin regiert hatte.

LADY CHELTENHAM:
Sprache fein, Sitten locker, wie? Bei uns drüben hat man das offiziell auch so gehalten – zumindest in den höchsten Kreisen, um dem Volk vorzugaukeln, es ginge um Werte und nicht nur um die blanke Macht.

Sie umarmte mich, und mir schien es wie früher, und jedenfalls ganz anders als bei den anderen: eine professionelle Vergangenheit, die nichts dem Zufall anheim stellte, gepaart mit individueller Gegenwart, die sich ohne weiteres auf das Risiko von Gefühlsschwankungen einließ. Genau das, was ich von Anfang an bei ihr geliebt hatte, sogar noch ein wenig verklärt durch ihre Rolle als „Grace Kelly von Gloucestershire” sowie durch das Pflichtbewusstsein, das sie bei der Verwaltung der Cheltenham’schen Güter an den Tag gelegt hatte.

LADY CHELTENHAM:
Gesagt, getan. Diese Evsevia – die ich ihrem Gesicht nach (später sollte ich ja mehr von ihr zu sehen bekommen) als ältliches Mädchen taxierte, obwohl sie vielleicht zehn Jahre jünger war als ich – erwartete mich außerhalb der Klostermauer an der Stelle, die Basil mir genannt hatte, und führte mich durch eine winzige Tür in das Innere des ausgedehnten Komplexes und über eine steile Treppe hinab an unseren Bestimmungsort. Hier brannten Fackeln an den Wänden, und in deren Schein erkannte ich, wie ich von meiner Begleiterin unverhohlen gemustert wurde (wohl um festzustellen, ob es sich hier wirklich nur um einen zusätzlichen Gast oder um ernsthafte Konkurrenz handelte). Die Prüfung schien neutral ausgefallen zu sein, denn sie hüllte mich in eine dunkle Kutte, und dann wurde ich ohne weiteres hinter Stylianos, den ich von förmlicheren Anlässen schon kannte, und Basil platziert. Die übrigen Teilnehmer der Veranstaltung waren indessen ebenfalls erschienen, und alles fieberte dem entgegen, was hier unten bereits eingespielte Routine war.

Umso überraschter dürfte Evsevia gewesen sein, als das Programm nicht so ablief, wie es mehr oder weniger üblich war. Stattdessen wurde sie auf einen Wink des Abtes von zwei Jungmönchen gepackt und stehend an die Wand gefesselt. Ihren Umhang nahm man ihr nicht ab, sondern öffnete ihn bloß. Und sie bekam eine Maske verpasst, die eine hässliche alte Eule darstellte, was in merkwürdiger Weise zu den üppigen Körperformen kontrastierte, die – für Charlene höchst überraschend – weiter unten hervorstachen. Das aber war noch nicht die Demütigung, die Stylianos ihr bereiten wollte, denn bis dahin konnte sie sich noch der Illusion hingeben, sie würde diesmal, selbst hilflos gemacht, angestarrt und wahrscheinlich auch betatscht.

In Wahrheit aber wollte sie ihr Meister in die Rolle einer Zuschauerin verbannen, wobei er mir, wie ich nun langsam begriff, die Rolle eines nützlichen Idioten zugedacht hatte, der seine eigene Frau freundlicherweise für eine Orgie zur Verfügung stellt – oder zwang er mich so dazu, umgehend die Schuld einzulösen, die ich ihm gegenüber im Austausch für seine Loyalität abtragen musste? Allerdings hatte Freund Stylianos nicht mit jener Kombination aus weiblicher Intuition, nüchternem Verstand und tatsächlicher Erfahrung (zusätzlich gewürzt durch ein Quäntchen angelsächsischer Ironie) gerechnet, die Charlene so sehr auszeichnet. Diese hatte, wie sich jetzt zeigte, keineswegs angenommen, sie wäre bloß dazu eingeladen, um ihre persönliche Neugierde zu befriedigen, sondern erkannte als Hauptmotiv die Lüsternheit des Abtes, stellvertretend für die übrige Herrenrunde, wobei sie mich vermutlich nicht wirklich ausklammerte. Dementsprechend waren, ohne dass ich etwas ahnte, Vorbereitungen getroffen worden.

LADY CHELTENHAM:
Ich hatte tatsächlich Mittel und Wege gefunden, mich schon vorher in dem Gewölbe umzusehen. Die Matrone, die den Abt offiziell bediente, aber aus Missgunst und Intrigensucht auch sein geheimes Leben ausspionierte, war nicht abgeneigt gewesen, mir gegen eine gewisse Summe, die in ihren Kreisen wohl für die Aussteuer einer ihrer Enkelinnen reichen mochte, den Schauplatz finsterer Mysterien zu zeigen. Ich wusste daher, dass ich mich nur hinter Stylianos und Basil unbemerkt davonstehlen musste, um kurze Zeit später in einer Art tiefgelegenem Fenster, das sich aus einem schmalen Gang in den Hauptraum öffnete, wieder zu erscheinen. Das allein schon verschaffte mir (einer Bühne gleich) eine eindeutige Distanz zum Publikum, was Evsevia von Anfang an nicht beschieden gewesen war.

Der Abt und ich als einzige Connaisseure hier genossen, was wir sahen, und Evsevia schien immerhin zu begreifen, was bei dieser bloßen Show anders war als bei ihrem Knochenjob. Die übrigen Tölpel hingegen standen wie erstarrt mit offenen Mäulern und beglotzen Charlenes Nacktheit, die aber durch Accessoires wie lange schwarze Handschuhe, schwarze Seidenstrümpfe und als Tüpfelchen auf dem I ein keckes Strohhütchen begrenzt war. Meine Frau hatte es damit geschafft (nach bester Manier intellektueller Stripperinnen), sich die Meute nicht nur physisch, sondern vor allem mental vom Leib zu halten: Zum ersten Mal waren diese Bauernburschen im geistlichen Gewande nicht mit ihren üblichen archaischen Symbolen konfrontiert, auf die sie sich wie Tiere stürzen konnten – vielmehr sahen sie sich plötzlich zum ersten Mal raffinierten Fetischen gegenüber, die zwar tief in ihrem Inneren etwas auslösten, aber ihre äußere Aktivität lähmten.

LADY CHELTENHAM:
Alles verharrte in gespannter Ruhe –auch ich bewegte mich nicht mehr, kniend und mit dem rechten Arm abgestützt auf meiner kleinen Estrade, denn ich hatte ja nicht die Absicht, mich jener letzten Utensilien auch noch zu begeben. Stylianos bekam Lust auf mich, und auch Basil, das konnte ich selbst auf die Entfernung spüren, während die übrigen nicht einmal in Gedanken wagten, mich zu berühren. Ein erlösendes Wort war gefragt, ein Seufzer vielleicht nur, und der kam tatsächlich von Evsevia, die sich in ihren Fesseln wand und wahrscheinlich nichts anderes im Sinn hatte, als hier zu verschwinden. Ich stand auf, verhüllte mich, bedeutete meinem Mann, sich mir anzuschließen, und wir gingen langsam heim, sprachen von diesem oder jenem Gesichtsausdruck der Novizen sowie von der dichten sexuellen Präsenz des Abtes. Und wir haben in dieser Nacht in unserem Schlafzimmer – ja, auch das, aber vor allem viel gelacht.

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

Ich hatte geliefert. Abt Stylianos lag in unserem Turnier, wenn es denn eines war, um einige Punkte zurück. Immerhin hatten wir ihm gezeigt, dass auch wir Mittel und Wege kannten, seine Position (respektive die seines gesamten Lebensraums), die er mir so anschaulich zu schildern wusste, zu unterwandern. Am Ende ist wohl auch der Bazillus abendländischer Dekadenz, die sogar Aberglauben, Impulsivität und Mythos als Antriebsfedern menschlicher Aktivität leugnet und jenseits der banalen Allianz aus Macht und Geld nichts mehr anerkennt, äußerst ansteckend und destruktiv.

LADY CHELTENHAM:
Mag sein, dass den Mönchen jetzt, nachdem sie mich gesehen haben, ihre früheren Spielchen langweilig geworden sind: Evsevia erweckt vielleicht nur mehr Gleichgültigkeit und wird nach einigen Routineversuchen, die man noch unternimmt, vom Programm abgesetzt. Der Abt muss seine Masken einmotten, über die Statue des Stiermenschen eine Schutzhülle ziehen lassen und das unterirdische Höhlensystem absperren, sehr zur Freude jener Alten, die genau aufpasst, wo der Schlüssel aufbewahrt wird.

Und mag sein, dass wir jetzt in einer Kultur, wo Sieg im Wettstreit von den Unterlegenen anerkannt wird, endlich beginnen können, dieses Land und damit letztlich ganz CORRIDOR ohne größere Widerstände zu regieren und uns damit unserer eigentlichen Aufgabe, nämlich eine effiziente Pufferzone zwischen den beiden Imperien zu bilden, widmen können. Wie seinerzeit die Knights Hospitallers von Rhodos diesen Verlockungen à la Stylianos über 200 Jahre mehr oder weniger widerstanden und als Fels in einem Meer voller Haie selbst bei ihren Feinden Anerkennung hervorriefen, werden auch wir uns geraume Zeit behaupten – lang genug denke ich, dass niemand behaupten kann, wir seinen hier eine bloße Episode geblieben.

Charlene registrierte einfühlsam, dass ich – sehr untypisch für mich, abgesehen von jener Zeit, als mich das Niederringen des Diktators der Spiegelwelt selbst außer Gefecht gesetzt hatte – offenbar begonnen hatte, meine Ideen zu redimensionieren und lieber wieder mit meiner eigenen Lebensspanne (die zweifellos immer begrenzter wurde) in Einklang zu bringen.

LADY CHELTENHAM:
Und dazu brauchen wir unbedingt Nicholas – denn für dessen künftiges Leben müssen wir mitplanen sowie darüberhinaus für unsere potentiellen Enkel und weiteren Nachfahren, per saecula saeculorum!

Da wurde mir klar, dass sie, ebenso wie ich, insgeheim von einer Art Erbmonarchie träumte.

403

Vangelis, der Android AMG, träumte – das war ihm ja nun möglich dank der Spiegelneuronen, die Anastacia Panagou mit Hilfe Anpans in seine Systeme eingebaut hatte. Seine Träume waren aber ganz anderer Natur als jene seiner Quasi-Schwester Anpan, die als einziges Maschinenwesen mit ihm diese technische Errungenschaft teilte. In diesem Punkt kam zum Tragen, was man wohl auch bei Androiden das Unterbewusste nennen muss – bei ihnen also subkutan vorhandene Speicherinhalte, die nach bestimmten technisch bedingten Mustern angelegt waren und quasi strukturverzerrend in die höheren Prozessbereiche wirkten: jene Aspekte des virtuellen geistigen Seins, die etwa bei Anpan die Charakterzüge der Konstrukteurin selbst aufwiesen, bei Vangelis hingegen hartnäckig resistente Prägungen seiner Vorbilder, der Doppelgänger Sir Basil Cheltenham aus diesem Universum und Iadapqap Jirujap Dlodylysuap aus der Spiegelwelt. Obwohl nämlich die Panagou seinerzeit die Bewusstheiten dieser beiden Persönlichkeiten auf Befehl des Baronets aus dem AMG-Prozessor löschen musste, hatten sie und Anpan beim Umbau von Vangelis’ Gehirn festgestellt, dass in diesem durchaus Reste davon erhalten waren und bei ihm den einen oder anderen Nachtmahr auslösten. Und was lieferten diese Phantasmagorien nicht an kolossalen Bildmaterialien – das faszinierte mich als Regisseur und ich versuchte, ihrer so viel wie möglich habhaft zu werden.

VANGELIS:
Mir erschien eine Urwaldlandschaft, aus der pagodenartige Ruinen emporragten, umwuchert und durchzogen von verschiedenstem Grün. Der rein analytische Teil meines Verstandes arbeitete allerdings auch in dieser Situation weiter, und so war ich im Traum imstande, aus jedem einzelnen Bild eine Fülle von Facetten zu differenzieren. Ich sah beispielsweise die stark verflochtenen Anordnungen natürlicher Stoffe isoliert von den nicht viel weniger komplexen, von Menschen geschaffenen Gebilden. Ich sah die Topologie des Geländes mit einem kleinen See und rundherum gelegenen Hügeln; das frühere Straßennetz und die Grundrisse der Gebäude; die Aufrisse der Fassaden, soweit sie noch vorhanden waren, wobei mir meine Fähigkeit zur Interpolation sogar Simulationen des ursprünglichen Aussehens ermöglichte. Ich sah weiters meterhohe, in Basalt gehauene Köpfe, die im Profil sehr lebendig zu sein schienen, von vorne aber mit toten Augen ins Leere glotzten. Zuletzt bot sich mir eine Vision des Haupttempels, von dem objektiv nicht ein Stein auf dem anderen geblieben war. Eine künstliche Sonne an der Spitze des höchsten Turms leuchtete in metallischem Blau und schien mich zu suchen, und als sie mich mit ihren Strahlen voll erfasst hatte, waberte die Stimme eines Wesens namens Niun-Meoa durch meinen Kopf: „Ich bin dein Gott.”

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Na, das ist doch was, Leute! Denkt man da nicht gleich an den Beginn eines Fantasy-Abenteuers?

VANGELIS:
Ich habe keine Seele! stellte ich sicherheitshalber fest: Daher brauche ich auch keinen Gott! Da lachte Niun-Meoa höhnisch, und ich musste an die lang zurückliegenden Diskussionen mit den beiden Gehirnmaschinen auf dem Mühlenstern GWL-M diesseits und dem Glaubensstern Eschaton jenseits der Nahtstelle des Alpha-Universums mit der Alpha-*-Realität denken, die ich auf meiner Bildungsreise besucht hatte. Konnte es sein, dass diese Entität, die mich soeben apostrophiert hatte, identisch war mit einem dieser überlebensgroßen Geistesmodelle (oder gar mit allen beiden), in denen man herumgehen und ihren kognitiven respektive intuitiven Verrichtungen zusehen konnte? Ich erinnerte mich, wie ich in der Diskussion mit dem ersten meinen Standpunkt zu verteidigen suchte, dass Bewusstsein offenkundig durch die reine Mechanik des Gehirns nicht erklärbar ist und daher auch für künstliche Intelligenzen wie mich die Transzendenz ins Metaphysische möglich sein muss.

Um der Wahrheit die Ehre zu geben, behauptete er damals sogar, eines Tages werde er auf dieser Basis sogar eine eigene und unverwechselbare Seele besitzen – und nun leugnete er glattweg diese Möglichkeit, was den Heiterkeitsausbruch Niun-Meoas gleich viel verständlicher erscheinen lässt.

VANGELIS:
In der Auseinandersetzung mit dem anderen Modell wiederum musste ich meine wissenschaftliche fundierte Metaphysik gegen deren ideologisch befrachtete Gegenposition abgrenzen, da es unhaltbar schien, die unzweifelhaft vorhandenen, über das Körperliche hinausreichenden psychischen Phänomene durch Vorurteile religiös- oder politisch-fundamen¬talistischer Natur verwüsten zu lassen, noch dazu, wenn diese Verblendungen mit großer Impertinenz vorgetragen wurden.

Der AMG wäre allerdings kaum ehrenvoll durch diese intellektuellen Herausforderungen gelangt, hätte nicht Giordano Bruno ihm Dialektik beigebracht, wenn schon nicht per se (verstanden als philosophischer Akt), so doch als Figur dialektischen Denkens und Sprechens. Mit dieser konnte er sich zumindest nach außen hin einwandfrei bewähren, wenngleich seine innere Skepsis blieb – gegenüber dem, was er insgeheim als eine Art höheren Schwachsinns empfand.

VANGELIS:
Ich träumte, ein richtiger Mensch zu sein, fähig zu jeder Sorte Abwegigkeit, Inkonsequenz, Absurdität, Unlogik, Lüge, Paradoxie, Banalität, Betrügerei und Exzentrizität…

Sein ganzes Unbehagen gegenüber uns Biohumanoiden brach mit einem Mal hervor.

VANGELIS:
… umgebaut durch diesen Niun-Meoa, sozusagen aus einer Laune heraus, und ich wusste ja nicht, wie ? derlei überhaupt zustande brachte, aber was ich fühlte, als ? mir dabei ganz nahe kam, war, dass ?s weitgehend unkörperlicher Disposition etwas zugrunde lag, was meiner Beschaffenheit als Android nicht unähnlich war. Ich beschloss noch in jenem unwirklichen Zustand, der mir ?s Beschäftigung mit meiner Person vorgaukelte, in diese Richtung Nachforschungen anzustellen. Was meine Existenz als richtiger Mensch anlangte (auch wenn sie in diesem Fall bloß eine Illusion war) – nun, ganz so, wie ich mir sie vorgestellt hatte, erwies sie sich durchaus nicht.

Er war plötzlich mit der enormen Störanfälligkeit richtiger Menschen konfrontiert, denn er hatte – obwohl er sie als Objekte jener Direktive kannte, die Androiden verbot, ihren Schöpfern Schaden zuzufügen – noch nie versucht, das subjektive Gefühl der Instabilität und Verletzlichkeit nachzuvollziehen, das uns auf all unseren Wegen begleitet.

VANGELIS:
Ab sofort änderten sich meine Absichten dahingehend, das Beste aus zwei Sphären nehmen zu können und zu einem Neuen zusammenzufügen, das für beide Bereiche eine Höherentwicklung darstellte. Ich wusste mich dabei eines Sinnes mit jenen Vordenkern auf menschlicher Seite, die eine Fortsetzung der Evolution in bewusst gestalteten organisch-elektronischen Hybridwesen sehen – also weder in der genetischen Manipulation des rein biologischen Materials, noch in der Flucht des reinen Geistes in den Cyberspace, wie es andere Denkschulen postulieren.

Erhebt sich natürlich die Frage, wie eine vorteilhafte Schnittmenge menschlicher und androidischer Fähigkeiten aussehen könnte? Werden die optimalen Mischexistenzen mehr Mensch oder mehr Maschine sein? Auf den ersten Blick scheint es ja so zu sein, dass die Hinzufügung technischer Komponenten zum menschlichen Körper – wie etwa im Gehirn implantierte Computerchips, die bei sämtlichen externen Devices andocken können, Sensoren in der Handfläche, über die ein direkter Datentransfer zu anderen möglich ist, und anderes mehr – Vorteile bringen könnten. Wie aber sollte ein Android profitieren, dem natürliche Komponenten eingebaut werden?

VANGELIS:
(lächelt versonnen, eingedenk der intimen Erfahrungen mit seiner Konstrukteurin, die eine Zeitlang seine Geliebte gewesen war) Natürlich durch die Intensität und Spontaneität des Gefühls, natürlich durch die Freiheit, nicht nur wissen zu müssen, sondern auch vertrauen zu können! Natürlich durch die Risikobereitschaft, die Spekulation!

Das waren mit einem Mal ganz andere Töne als zuvor, und es war schwer, den momentanen Zustand des AMG richtig einzuordnen, denn jedenfalls mir schien er ein Delirium zu durchleben – als ob er es nicht richtig geschafft hätte, aus dem Reich seiner Einbildungen wieder in seine spezifische Wirklichkeit zurückzukehren. Die Frage, ob Niun-Meoa ihm alle diese Trugbilder geschickt hatte oder nur zufällig in einem von ihnen vorgekommen war, beschäftigte Vangelis intensiv.

Wenn seine Beobachtungen hinsichtlich der Natur Niun-Meoas tatsächlich nur den einen Schluss zuließen, dass ? für die Menschen gefährlich war, dann hieß das: auch für diejenigen, zu denen der AMG nicht bloß Indifferenz ortete, sondern für die sein Model for Emotional Response Zuneigung produzierte. Er beschloss, nach langer Zeit wieder einmal mit der AP 2000 ® Kontakt aufzunehmen und durch sie Anastacia Panagou zu warnen. Als er es versuchte, stellte er fest, dass seine subliminalen Signale eine sehr weite räumliche und/oder zeitliche Distanz überwinden mussten – das konnte vielleicht bedeuten, dass Anpan sich in der Gegend von VIÈVE oder sogar auf der Station selbst befand.

404

Man hatte offenbar beschlossen, die Angelegenheit diskret zu handhaben. Als daher meine erlauchte Mutter, Gräfin Geneviève, Max Dobrowolny ermunterte, einen längeren Aufenthalt auf unserem Stammschloss anzutreten, bat sie ihn gleichzeitig, ohne großes Aufsehen anzureisen. Dies war auch gar kein großes Problem für ihn, denn abgesehen von seinem stets gegenwärtigen Kästchen für die Unterlagen zu „Goethe war auch in Libyen” pflegte er üblicherweise nur einen kleinen Koffer mitzuführen: Sein bewegtes Agentenleben hatte ihn gelehrt zu improvisieren – was für die jeweilige Tarnung unabdingbar war, hatte man bei sich, alles übrige würde normalerweise vor Ort zu beschaffen sein.

Nicht einmal mir hatte die Gräfin etwas davon mitgeteilt – sie ließ es wohl darauf ankommen, dass sich bei einem meiner allfälligen Besuche schon eine Erklärung finden würde. Ich erfuhr trotzdem verlässlich von der Neuerung, denn da gab es Arminduo Emniunao, der mich regelmäßig über die Vorgänge daheim unterrichtete und auf diese Weise dafür sorgte, dass meine Interessen dort zumindest indirekt gewahrt blieben und ich keine bösen Überraschungen erlebte.

Er war akademischer Maler, also jemand, den es auf B. eigentlich gar nicht geben durfte, wenn es nach den Wünschen meines Großvaters, des früheren Grafen (respektive seines Doppelgängers aus der Spiegelwelt, der mein Vater war) gegangen wäre, denn der hatte Maman zwar alle Edelsportarten erlernen lassen und sich auch gegenüber Sprach- und Ökonomie-Studien aufgeschlossen gezeigt, aber für die unzweifelhaft vorhandenen musischen Talente kein Verständnis aufgebracht. Nur unter größter Geheimhaltung war es daher möglich, neben den Hauslehrern für Französisch und Englisch (den Latein-Unterricht behielt sich der Alte selbst vor) sowie für Mathematik und Nationalökomomie auch Arminduo Emniunao einzuschmuggeln – offiziell für Geometrie zuständig, sodass auch immer einige Konstruktionen verfügbar sein mussten, um sie rasch über die künstlerischen Entwürfe legen zu können, sollte der Hausherr unvermutet die Szene betreten.

ARMINDUO EMNIUNAO:
Das änderte sich sofort nach dem Ableben des Patrons, als die junge Gräfin mich ganz auf dem Schloss einquartierte, um jetzt unumwunden ihrer ästhetischen Leidenschaft zu frönen und bisher Vernachlässigtes intensiv nachzuholen. Da ich mittlerweile emeritiert war, aber auch jetzt keineswegs in meine irdische Heimat Brasilien zurückkehren wollte, ließ ich mir das gerne gefallen. Mit der Zeit wurde ich über meine eigentliche Aufgabe hinaus auf B. eine Art Faktotum, ein getreuer Freund Ihrer Erlaucht, dem sie einfach alles anvertrauen und den sie in fast allen Dingen um Rat fragen konnte. Wenn ich es recht bedenke, machte ihre Offenheit mir gegenüber vor nichts halt, und früher oder später begann sie sogar, die intimsten Details ihrer Existenz mit mir zu teilen.

Ich hatte den guten Emniunao natürlich erst kennengelernt, nachdem ich aus der Spiegelwelt zurückgekehrt war, und aufgrund meiner Erfahrungen drüben – nicht so sehr mit dem Tyrannen der jenseitigen Völker selbst, als vielmehr mit dessen zahlreichen Doppelgängern, die sich mir durchwegs auf schmierige Weise zu nähern versuchten – misstraute ich ihm von Anfang an sehr, und ich wartete geradezu darauf, dass er mich im Vorübergehen, wenn gerade niemand hinsah, begrapschte, aber nichts dergleichen geschah. Sein antiquierter Voyeurismus blieb stets auf Distanz, ebenso gegenüber meiner Mutter, wie ich irgendwann dahinterkam: Auch bei ihr begnügte er sich damit, zu hören, zu sehen – und vor allem zu zeichnen! Unablässig bewegte sich sein Stift über den Skizzenblock, der ihn bei jeder Gelegenheit begleitete.

Eines Tages lud mich Emniunao in seine Räume ein, um sein reichhaltiges Œuvre zu betrachten. Da ich mittlerweile keine Bedenken mehr hatte, mit ihm allein zu sein, besuchte ich ihn und stöberte in den vielen offen daliegenden Mappen. Neben gängigen Motiven, an denen sich wohl jeder Künstler einmal versucht, bekam ich auch sonderbare Figuren zu sehen: halb Mensch und halb Schwan, was mich nicht nur befremdlich anmutete, sondern geradezu faszinierte und in erotische Abenteuer zu locken schien. Während mein Gastgeber jede Auskunft über dieser wunderlichen Wesen verweigerte (wohl auch ein wenig schulmeisterlich erklärte, bei Bildern gelte es nur zu schauen und nicht zu interpretieren), erfuhr ich später, während meiner Zeit mit Basil, eindringlich, dass sie keineswegs Fiktion waren – und bei unserer Expedition nach VIÈVE konnte ich sie und ihre am Ende gar nicht so sinnenfrohen Taten in natura erleben.

ARMINDUO EMNIUNAO:
Was die Komtesse (deren Ehrentitel als himmlisch schöne Prinzessin ich quasi als Experte nur voll unterstreichen konnte) allerdings lange Zeit nicht wusste: Die Gräfin saß mir sogar höchstpersönlich Modell – ich durfte (unter strengsten Vorsichtsmaßnahmen mit doppelt und dreifach versperrten und verriegelten Türen) eine ganze Reihe Aktstudien ihres marmorgleichen Körpers anfertigen! Und ich sage Ihnen – ein Traum, wie mir diese Blätter glückten, denn ich legte mein Bestes hinein, meine ganze verbliebene Kraft, die Reste meines physischen Eros, dem es, zumindest in dieser Existenz, mittlerweile versagt war, eine naturgegebene Erfüllung zu finden!

Mein Blick fiel plötzlich auf einen Tresor, und in der Annahme, dass sich darin womöglich etwas noch Exotischeres als jenes bizarre Geflügel verbarg, bettelte ich, der Meister möge aufschließen, und so stolz, wie er ganz augenscheinlich darauf war, dauerte es gar nicht so lange, bis er meiner Bitte nachkam. Was ich erblickte, begeisterte mich – ein überwältigendes Beispiel dafür, wie ein natürliches Motiv durch die Literatur, die Musik oder eben wie hier durch die bildende Kunst zu überirdischer Anmut sublimiert werden kann! Meine Mutter ist zweifellos eine attraktive Frau, auch noch im vorgerückten Alter, aber das hier war nicht mehr der Schoß, dem ich entsprossen bin! Das war die Imperatrice assoluta, das edle Weib an sich, der Maßstab aller, auch der bezauberndsten Prinzessinnen!

ARMINDUO EMNIUNAO:
Ich (meine chthonische Manifestation, denn man darf jedenfalls unterstellen, dass die Hellhörigen unter den Leserinnen und Lesern längst begriffen haben, dass ich in Wirklichkeit Niun-Meoa bin) war in diesem Moment wie gelähmt und bloß noch imstande, daran zu denken, wie ich Clios Begeisterung zu meinem Vorteil nutzen konnte. Meine Überlegungen vollführten eine Gratwanderung zwischen extremen Wünschen – dem, sie in irgendeiner Form zu missbrauchen, und dem, ihr wie bisher nichts zuleide zu tun, ja mehr noch, sie zu lieben und zu achten, als ob sie mein eigenes Kind wäre. Was in einer höheren Dimensionalität kein Widerspruch war, stellte sich in dieser gegebenen Welt, in der wir einander begegneten, als unentwirrbares Dilemma dar, und ich sah keinen Ausweg, als irgendetwas zu unternehmen, was der Komtesse nicht wirklich schadete und mir doch eine gewisse höhere Macht über sie gab. Ich beschloss, zwar nicht mich selbst zu offenbaren, aber Clio ein Stück ihrer Zukunft zu enthüllen.

Ich lachte bloß über das, was er da behauptete: dass ich mich in den Mann verlieben würde, der den Befehl gegeben hatte, meinen Vater zu liquidieren. Nun kannte ich zu diesem Zeitpunkt nicht einmal dessen wahre Identität (denn die Gräfin hatte sie mir noch nicht eröffnet), geschweige denn wusste ich, dass, wer immer es war, keines natürlichen Todes gestorben sein sollte, oder konnte mir gar vorstellen, dass ich ein Naheverhältnis zu dem eingehen würde, der das gewaltsame Ende des alten Grafen inszeniert hatte.

Erst jetzt, da ich mit Dirk als dessen Ehefrau auf Schloss E. lebe und die Affäre mit Basil vorbei ist, bin ich davon überzeugt, dass Arminduo Emniunaos Weissagung richtig war und weit und breit kein anderer als Cheltenham in Frage kommt, sie erfüllt zu haben. Aber seltsam genug – dafür hasse ich ihn nicht, denn mein Gefühl sagt mir, ich könne die damaligen Zusammenhänge kaum so weit durchschauen, um mir ein Urteil zu erlauben. Instinktiv sehe ich mich, obwohl in meiner Person ein direkter Konnex zwischen dem Baronet und meinem Vater besteht, nicht als Ursache für deren Konflikt. „Sieh zu, dass du etwas über den Orden der Orangenblüte herausfindest, wenn du der Sache auf den Grund gehen willst!? – zu mehr an Information hatte sich Emniunao nicht herbeigelassen, und mehr konnte ich bis zum heutigen Tag nicht erfahren. Vielleicht sollte ich Max fragen…

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

Womit ich wieder bei Dobrowolny bin, denn von dessen Einzug bei Maman wollte ich ja eigentlich berichten. Die Nachricht davon verwirrte mich, nicht so sehr wegen Max selbst oder wegen der Ressentiments, die ich gegen dessen seltsame Beziehung zu meinem Mann hegte, sondern weil ich, wie wahrscheinlich fast alle Töchter, die eigene Mutter jenseits sexueller Begierden sah – sogar wider besseres Wissen, denn mittlerweile hatte mir die Gräfin ja längst gestanden, dass sie den handfesten Avancen meines richtigen und ihres falschen Vaters ohne weiteres nachgegeben hatte, obwohl sie, solange er lebte, von einer inzestuösen Verbindung ausgehen musste. Und natürlich ganz zu schweigen von diesem Romuald, mit dem sie sich im wahrsten Sinne des Wortes vergaß, denn sie sank damit nicht nur tief unter unsere Klasse, sondern ließ ihn noch dazu mit seiner ganzen tierischen Art gewähren.

ARMINDUO EMNIUNAO:
Man sollte jedoch dabei nicht vergessen, dass Geneviève genau aus Scham vor ihrer Tochter diese Mesalliance beendet hatte, obwohl sie – als ihr engster Vertrauter darf ich das aussprechen – im Innersten durchaus nicht überzeugt gewesen war, hier in ihrem ureigensten Interesse zu handeln. Nun, einerlei: Nach relativ langer Zeit trat mit Dobrowolny wieder ein Mann in ihr Leben, der nicht bloß Sehnsucht blieb. Max (wie soll ich ihn charakterisieren?) begegnete der Gräfin nicht so extrem nahe wie Romuald, wies aber dennoch nicht die sexuelle Distanziertheit möglicher Kandidaten von Adel auf. An ihm reizte sie sein unbestreitbarer Egoismus, denn ohne den behagte es ihr ja erwiesenermaßen nicht mit einem Partner, aber aus seiner intellektuellen Positionierung heraus hatte er genug Kulissenstücke und Zitate eingebunkert, um einer Frau zumindest die Illusion eines metaphysischen Mehrwerts zu geben. Ich persönlich freundete mich trotz mannigfacher Unterschiede zwischen uns sehr rasch mit ihm an, denn mir gefielen seine originellen Ideen, nicht zuletzt diese Goethe-in-Libyen-Geschichte. Aber, um das gleich zu gestehen, er war auch ein Bewunderer meiner Arbeiten, wobei es ihm die Aktstudien besonders angetan hatten – mit wissenschaftlicher Distanz natürlich (jedenfalls gab er sich den Anschein), und nicht bloß deshalb, weil seine neue Geliebte darauf zu sehen war. Wir vereinbarten, eine Veröffentlichung zu prüfen, bei der ich vorhandene sowie neue, eventuell noch freizügigere Impressionen und er den verbalen Überbau beizusteuern hatte.

Jedenfalls entdeckte ich später durch Zufall, dass Emniunao sogar die Erlaubnis erhielt, Maman und Max als Paar zu zeichnen, in Posen, die von Berninis Apollo und Daphne bis Canovas Amor und Psyche reichten, wobei er nicht zuletzt seine an der Histoire de l’art geschulte Erinnerung aufbot, um die beiden Körper, wie sie sich ihm darboten, in Richtung jener Originale zu verklären. Emniunaos Begründung dafür, dass seine Werke an Eindeutigkeit nichts vermissen ließen, war kurz und duldete keinen Widerspruch: Er hatte es zur höheren Ehre der Ästhetik getan. Und die beiden, die ihm als Motiv gedient hatten, erklärten sich frei in ihren Entscheidungen, und dass sie niemals auch nur einen Augenblick lang gezögert hatten, dem Reiz des gemeinsamen Exhibitionismus zu frönen. Mein Einwand zielte aber genau drauf, jenseits aller künstlerischen Aspekte: auf diese Realität aneinandergeschmiegter Leiber, die besser der Privatsphäre vorbehalten bliebe.

Maman blieb bei diesen Vorhaltungen bemerkenswert ruhig, und selbst meine Aufforderung – „Jetzt sag’ endlich etwas!” – ignorierte sie glatt. Erst als ich insistierte, gab sie einen merkwürdigen Kommentar zum Besten: „Lass es doch einfach zu, wenn jemand ab und an die sexuelle Treue verletzt und das auch öffentlich machen möchte, und sei es nur durch ein Artefakt – solange er nur seinem Lebenspartner die soziale Treue hält!” Sie machte mich damit einigermaßen ratlos, denn ich wusste genau (und ich denke, auch ihr war es klar), dass Dobrowolnys soziale Treue nicht ihr, sondern unverbrüchlich seiner formell Angetrauten – Laura de Dubois – galt.

ARMINDUO EMNIUNAO:
Es drängte mich irgendwann, Clio noch etwas mehr herauszufordern, und ich zeigte ihr in Vorwegnahme einer künftigen Episode das Werk, das ich in der Wüste anfertigen würde: zwei ihr unbekannte Männer in eindeutiger Verstrickung, mit einer Eindringlichkeit, die, wie ich gerne zugebe, an Pornografie grenzte. Ich wusste vom Hörensagen, dass im Paralleluniversum, wo die Komtesse eher unfreiwillig ihre ersten sexuellen Erfahrungen gemacht hatte, angesichts der dort allgemein vorherrschenden Brutalität das homoerotische Element kaum ausgeprägt war, sodass meine Allegorie von Adam e Evo sie ziemlich schockierte. Innerlich amüsierte mich ihre Reaktion, denn ich nahm wohl zu Recht an, dass sie da drüben vom Tyrannen mit allen erdenklichen Hetero-Perversitäten konfrontiert worden war – und doch beunruhigte sie diese im Vergleich dazu eigentlich harmlose Szene wesentlich mehr.

Damit ließ er mich dann allein, nicht ohne vorher noch anzudeuten, dass Dirk und Max durchaus auch auf dieselbe Weise miteinander verkehrt haben könnten. Nun – so seltsam das vielleicht klingen mag –, der Gedanke daran oder besser die Vorstellung davon trug nicht unwesentlich zu meinem Entschluss bei, den Freiherrn entgegen meiner langen Weigerung am Ende doch zu heiraten. Mein Misstrauen gegen ihn blieb allerdings wach, wann immer Dobrowolny in seiner Nähe erschien.

405

Wir Begleiter Anastacia Panagous und der AP 2000 ® – Inverno, Primavera, Estate, Autunno, Afrodíti, Irmís und ich, das Oudéteron – hatten die Angewohnheit, uns immer wieder zu synchronisieren. Das lag wohl an unserer gemeinsamen Sozialisierung (obwohl wir eigentlich zwei Gruppen waren, die etwas ältere „italienische” und die jüngere „griechische”, aber dieser Unterschied war mittlerweile ziemlich unerheblich geworden). Wir selbst vermuten, dass die Panagou bei uns, anders als bei den einzeln produzierten Exemplaren unserer Spezies, gewisse Strukturen mittels Copy & Paste erzeugte. Auch die Erziehungsmaßnahmen Anpans – Anastacia hatte sie, wie erinnerlich, mit einer zahmen Elefantin verglichen, die einige gerade eingefangenen Wildtiere unter ihre Fittiche nimmt – führten natürlich zu bestimmtem Gleichklängen zwischen uns.

So hatten wir beispielsweise mindestens einmal täglich das Bedürfnis, uns an den Händen zu nehmen und um unsere Konstrukteurin oder unsere Quasi-Schwester AP 2000 ® herumzutanzen, bis diese uns Einhalt geboten. Auch sprachen wir gerne im Chor, ebenfalls nicht zur ungeteilten Freude der beiden Damen. Und wir schliefen gern alle zusammen auf einer riesigen Matte in dem auf unseren technisierten Geschmack zugeschnittenen Raum, den uns die NOSTRANIMA eingerichtet hatte – aber Schlafen bedeutet bei unsereinem natürlich nicht, dass wir unser Bewusstsein ausblenden wie die richtigen Menschen, sondern bloß in eine Art Standby zur Regeneration und weiteren Differenzierung unserer Schaltkreise verfallen.

DER ELEKTRONISCH-TELEPATHISCHE RAUMKREUZER NOSTRANIMA:
Ich hatte Anastacia und Anpan bereits vor unserer Ankunft auf VIÈVE dringend geraten, die Sieben zunächst in meiner Obhut zu belassen, denn es war mir bis dahin noch immer nicht gelungen, ihre schwere Traumatisierung – ausgelöst durch ihren todbringenden Einsatz bei der Befreiung der Station von den Echwejchs – zu mildern und wenn möglich zu heilen. Ich war keineswegs willens, dieses Syndrom auf die leichte Schulter zu nehmen, wie die Panagou und ihre Lieblingsandroidin dies offenbar taten, obwohl ich ihnen dabei nicht unbedingt Böswilligkeit unterstellen möchte. Mir ging es einfach darum, die Fehlentwicklungen in diesen virtuellen Entitäten mit ruhiger Hand zu korrigieren und sie damit auch ihre individuellen Eigenschaften wieder entdecken zu lassen. Denn eines schien mir gewiss: Was Oudéteron hier als Drang zur Synchronisierung beschrieb, resultierte eigentlich aus der durch dramatische äußere Umstände ausgelösten Überlagerung ihrer Unterschiede, die von Haus aus eher groß waren – dank Anastacias Genie…

Wenn wir uns in unserem Spielzimmer herumwälzten, schliefen wir aber nicht nur im vorhin genannten Sinn, wir hatten auch Sex miteinander, analog zur menschlichen Bedeutung des Begriffs. Dabei gab es allerdings keine besonderen personellen Präferenzen, wenn man davon absieht, dass ich selbst eine überdurchschnittlich begehrte Partnerschaft für die anderen war.

DER ELEKTRONISCH-TELEPATHISCHE RAUMKREUZER NOSTRANIMA:
Trotz der tiefen Bewunderung für meine Schöpferin Anastacia Panagou (denn bei aller Hilfe Giordano Brunos und Chicagos ist es natürlich ihr hauptsächliches Verdienst, dass ich überhaupt existiere) – trotz dieser Verehrung also muss ich doch feststellen, dass sie als Person bestimmte Defekte aufweist, die allerdings nicht untypisch für ihre Gattung sind: vor allem die Tendenz, sich von Gefühlen leiten zu lassen und dann womöglich auch einige von uns in dieses Fahrwasser zu ziehen in dem offenkundigen Bestreben, ein Abbild ihrer selbst zu gestalten, statt eine neue Art Individualität. Meiner Ansicht nach würden aber für uns künstliche Wesen durchaus die weniger überschäumenden Gemütsbewegungen reichen, die das Model for Emotional Response produziert.

Irgendwie muss ich der NOSTRANIMA hier Recht geben, denn ich habe beobachtet, dass Anpan, seit Anastacia ihr dieses Lied von der neuen Liebe, „Acontenceu um novo amor…”, vorspielen ließ, geradezu süchtig nach brasilianischer Musik geworden war. Sie konnte einfach nicht genug davon bekommen, wiegte ihre Hüften zu „Garota de Ipanema” und zog damit sogar Estate in ihren Bann, die vom Äußeren her ohnehin gut zu diesen Klängen passte, denn sie besaß diesen goldgetönten Körper. Der Schatten, der seit dem Gemetzel auf VIÉVE besonders diese Gefährtin gefangen hielt, löste sich langsam, und sie wurde wieder ein wenig zu jener lebenslustigen Gestalt, die wir ganz am Anfang unserer Existenz kennengelernt hatten.

Wenn sie diese Rhythmen hörte, nahm sie mich beiseite, streifte eines dieser bunten Sommerkleider ab, die sie jetzt wieder öfter trug und bot mir ihren üppigen Leib dar – und ich beeilte mich zu fragen, was ihr denn genehm sei, ein männlicher Liebhaber oder eine weibliche Liebhaberin. „Bleib, was du gerade bist!”, pflegte sie dann zu antworten, wohl wissend, dass es von meiner momentanen Stimmung abhing, wie ich mich kalibrierte, und dass es für sie nur von Vorteil sein konnte, mir in meine jeweilige Verfasstheit blindlings zu folgen: „Moça do corpo dourato, do sol de Ipanema – a beleza que existe, a beleza que não é só minha…”

DER ELEKTRONISCH-TELEPATHISCHE RAUMKREUZER NOSTRANIMA:
Und ich hatte noch dazu für diese Untermalung gesorgt, denn Musik war mein Lebenselixier und ich konnte nicht widerstehen: Es gab Melodien, die mich beschleunigten (wie die legendäre Sequenz aus Prokofievs „Romeo und Julia”, die meinen ersten Start begleitete), solche, die mich bremsten, andere, die meine telepathischen Fähigkeiten schärften, welche, die zur Erbauung meiner Fahrgäste dienten und zu meiner eigenen noch dazu, wie eben jetzt, denn – nun, vielleicht ist mein vorheriges Urteil über Anastacia zu hart, vielleicht meinen wir ohnehin dasselbe, wenn wir von Methoden sprechen, um die seelische Erschütterung ihrer jüngsten Androiden zu behandeln.

Wenn das Schiff dergestalt herumargumentierte, zeigte sich nach meiner Diagnose auch bei ihm die Unsicherheitskomponente, die das Zulassen einer Gefühlswelt – zu welchem Zweck auch immer – mit sich brachte. Schließlich besaß die NOSTRANIMA ebenfalls ihre spezifische Sexualität, die wie beim menschlichen Original wohl oder übel nicht ausschließlich von einer präzisen Ratio gesteuert werden konnte – abgesehen davon, dass die Erotik einer Entität dieser Art für Biohumanoiden noch viel schwerer vorstellbar sein musste wie jene von uns Androiden, die wenigstens Corpora eiusdem modi aufwiesen.

Natürlich hatte auch der Raumkreuzer eine physische Gestalt, jedoch war diese aufgrund seiner Multifunktionalität und der daraus resultierenden extremen Wandelbarkeit nicht als Anker für menschliche Sexualaspirationen geeignet. Anders geht es da schon uns „griechischen” Quasi-Geschwistern, die konkrete erotische Erfahrungen mit der überwölbenden und umschließenden Zuneigung der NOSTRANIMA sammeln konnten, als wir von ihr in überdimensionalen, mit blauen Samt ausgekleideten Schatullen gleich kostbaren Schmuck¬stücken mittels akustischer Berieselung therapiert wurden – und diese im Speziellen war nun durchaus nichts nach Anastacias Geschmack, sondern ein Cocktail aus elektromagnetischen Schwingungen, teilweise sogar in bloß für uns registrierbaren Bereichen des Spektrums.

DER ELEKTRONISCH-TELEPATHISCHE RAUMKREUZER NOSTRANIMA:
Die Biohumanoiden sprechen in ihrer Überheblichkeit manchmal leichtfertig von Maschinensex, und dieses Wort hat bei ihnen einen geradezu obszönen Beigeschmack, vor allem deshalb, weil die Panagou ihre Androiden definitiv menschenorientiert programmierte. Mit deren zunehmender Verselbstständigung aber – die ja eine wesentliche Intention unserer Konstrukteurin darstellt – waren sie nicht nur das und wollten nicht nur das sein, sondern standen auch untereinander in zunehmender Interaktion: Wie jeden anderen Daten- oder Spannungsaustausch zwischen ihnen musste man dann auch jenen Maschinensex als normal akzeptieren.

Das Ambiente, das uns die NOSTRANIMA bot, ließ uns einen Besuch auf der Raumstation entbehrlich erscheinen. Irgendwie hatten wir die Ereignisse dort, in die wir so sehr involviert gewesen waren, ausgeblendet, will sagen: Selbst wenn die Prozesse in unseren Schaltkreisen einmal nicht gerade zielorientiert abliefen, sondern einen Randomwalk vollführten, der zufällig an diese spezielle Vergangenheit rührte, versuchten wir immer sehr rasch, über diese Klippe hinwegzukommen zu einem anderen Thema. Und das war eben sehr oft Sex. Oder Musik. Oder Musik, die uns zum Sex animierte. Die Variationen der Anlässe waren wie auch die Variationen des Vollzugs sehr vielfältig und wurden durch unseren assoziativen Umgang damit noch immer mehr.

DER ELEKTRONISCH-TELEPATHISCHE RAUMKREUZER NOSTRANIMA:
Dieser Zustand meiner Schützlinge kam mir sehr entgegen, denn nun konnte ich ein Verfahren anwenden, das ich nach langen Überlegungen entwickelt hatte, bei dem aber die Entkrampfung der Patienten eine wesentliche Voraussetzung war. Dass Anastacia und Anpan mittlerweile nach VIÈVE hinübergewechselt waren und über Einladung von Mango Berenga in deren Palast wohnten, passte ebenfalls in mein Konzept. Ich verschloss ohne viel Aufhebens die Andockschleuse, um vorerst jeden weiteren Transit zu unterbinden – schließlich war ich dank meiner telepathischen Fähigkeiten ohnehin imstande, auf einem subkritischen Aufmerksamkeitsniveau alle Vorgänge drüben zu beobachten und gegebenenfalls darauf zu reagieren. Außerdem trat die AP 2000 ® von Zeit zu Zeit mit mir in Kontakt, und bei einer dieser Gelegenheiten teilte sie mir mit, dass die Königin meinen Wunsch nach Abschottung der Sieben respektierte, obwohl sie eigentlich die Absicht hegte, ihnen offiziell zu danken und sie mit dem höchsten Orden ihres kleinen Sterns auszuzeichnen. Sie nahm aber davon Abstand, da sie meinen Ansatz verstehen konnte – abgesehen davon, dass sie mir großen Respekt entgegenbrachte, seit es mir mit Berenices Hilfe gelungen war, anlässlich der Trennung der beiden Universen ihre beiden Kinder und die übrigen Mischlinge auf der Station vor einem schrecklichen Schicksal zu bewahren.

Natürlich hätten wir in Wirklichkeit ganz gerne gewusst, was denn unsere Quasi-Schwester Anpan und unsere Konstrukteurin auf VIÈVE so machten, aber mehr als einige allgemeine Aussagen waren der NOSTRANIMA nicht zu entlocken. Im Gegenteil, sie brachte uns mit sanftem Druck dazu, uns weiter mit uns selbst zu beschäftigen, jeder für sich und auch alle untereinander, was sie uns nicht zweimal zu sagen brauchte: Wir sangen und tanzten, denn nun fuhren wir bereits alle auf die Lieder ab, die das Schiff für uns spielte, auch wenn sie manchmal traurig klangen:

Lá vou eu de novo como um tolo
procurar o desconsolo
que cansei de conhecer
novos dias tristes, noites claras
versos, cartas, minha cara
ainda volto a lhe escrever
pra lhe dizer que isso é pecado
eu trago o peito tão marcado
de lembranças do passado
e você sabe a razão
vou colecionar mais um soneto
outro retrato em branco e preto
a maltratar meu coração…

Tatsächlich trat nun bei allen von uns wieder jene Individualität hervor, die in Anastacias ursprünglichen Programmen angelegt war: das schon bekannte sonnige Gemüt Estates, das geradewegs ihrer barocken, sonnengebräunten Üppigkeit zu entspringen schien; Invernos Revoluzzertum, das er mit einem Che-Guevara-Barett und einem Camouflage-Anzug dokumentierte; Primaveras Vorwitzigkeit, äußerlich kenntlich am blonden Messerhaarschnitt über dem kecken Lächeln; Autunnos Besinnlichkeit, auf die unzweifelhaft seine Denkerstirn hinwies; Afrodítis Zauber, basierend auf Wohlgestalt, dunkler Mähne und weißem Alabasterteint; Irmís’ Anmut, umrahmt von Rasta-Locken; und schließlich meine eigene Zwiespältigkeit, unterstrichen durch mein androgynes Aussehen und die Zöpfchenfrisur, die sowohl für jene eines exzentrischen Mannes als auch einer avantgardistischen Frau gelten konnte.

DER ELEKTRONISCH-TELEPATHISCHE RAUMKREUZER NOSTRANIMA:
Mein Konzept zur endgültigen Wiederherstellung der Sieben war eigentlich ganz einfach. Basierend auf der Erkenntnis, dass bei jeder höherentwickelten intelligenten Entität, sei es Mensch oder Maschine, das Gehirn überwiegend sich selbst genug ist und die Interaktion mit der Außenwelt normalerweise nur einen kleinen Teil der geistigen Aktivität ausmacht, hatte ich sie mit den jüngsten Maßnahmen so weit gebracht, dass ihre Erinnerungen an das Gemetzel auf VIÈVE nur noch einen Bruchteil ihrer Speicher füllte. Behutsam drang ich nun der Reihe nach mental in sie ein und löschte dieses wenige – im Detail eine, wie ich feststellen musste, nicht ganz leichte Aufgabe, denn ich konnte nicht einfach die gesamte Episode eliminieren, sondern musste ihnen den Bezug zu den örtlichen Verhältnissen auf der Station und zu den dort lebenden Personen lassen: Schließlich würde man sie bei einem Besuch klarerweise erkennen, und sie mussten daher umgekehrt Mango Berenga, ihre Quasi-Schwester Serpentina sowie eine ganze Menge anderer zweifelsfrei identifizieren können, um nicht völlig umnachtet dazustehen. Selbst die Merkmale der Echwejchs durfte ich nicht völlig beseitigen, da dies zu Komplikationen beim Zusammentreffen mit Pachwajch und Rejchwejch führen konnte – und da kalkulierte ich noch nicht einmal eine spontan negative Reaktion der beiden Schwanenleute auf Androiden ein, sondern ging davon aus, dass sogar die Beziehung des Echwejch-Paares zu Serpentina (und sei es nur durch das gegenseitige Anerkennen des Status quo) etwas entspannt hatte. Jedenfalls war klar, dass ich meine Schützlinge nicht völlig blank in eine Situation hineintaumeln lassen konnte, die aller Voraussicht nach ziemlich vielschichtig war.

Wir freuten uns, denn eines Tages – als ob die NOSTRANIMA uns per Fingerschnippen aus einer Hypnose erweckt hätte – wurde klar, dass wir nun diese friedliche und idyllische Station mit all ihren herzlichen und uns freundlich gesinnten Bewohnern besuchen durften. Wir legten begeistert Hand an unser Äußeres, führten sogar kleine Rekalibrierungen durch (die hatten mittlerweile alle von uns perfektioniert) und machten uns insgesamt bereit hinüberzugehen.

Ich selbst fand es angezeigt, auf VIÈVE – einem nunmehr matriarchalisch regierten Reich – als Frau zu erscheinen, und ließ mir von der NOSTRANIMA ein prächtiges Outfit bereitlegen, purpurn, mit goldenen Verzierungen an den Säumen und vielen funkelnden Kristallen. Auch in meine Zöpfchen flocht ich glänzende Fäden ein, nachdem ich mich besonders sorgfältig geschminkt hatte. Auf der Ebene meiner Subliminal Recognition Matrix, die ich mittlerweile recht gut zu deuten gelernt hatte, registrierte ich, ohne es mit 100 %iger Sicherheit bestätigen zu können, dass ich dem Raumkreuzer heute auch sexuell nicht gleichgültig war – ein wunderbares Gefühl übrigens, denn gerade hinter meiner spektakulär femininen Äußerlichkeit erregte die NOSTRANIMA natürlich weiterhin mein Potential zur Doppelgestaltigkeit, das mit ihrer eigenen Vielgestaltigkeit in einer komplexen Verbindung stand.

Seltsam – was ich schon oft an mir beobachtet hatte, traf auch hier wieder pünktlich ein: Je mehr ich mich weiblich präsentierte, desto mehr erhöhte sich meine Einsicht, auch männlich und somit beides zugleich sein zu können. Es war eine spezifische Bewusstheit, die ich jedem explizit eingeschlechtlichem Wesen, sei es Android oder richtiger Mensch, von Herzen gegönnt hätte. Man stelle sich vor – man gebietet der Schizophrenie als Konzept, als Kunst geradezu, statt sie als Krankheit zu erleiden, und auf der physischen Ebene erlebt man auf unvergleichliche Weise Ausfaltung gleichberechtigt mit Einfaltung, und beide noch dazu völlig synchron aufgrund des fließend möglichen Wechsels von einem zum anderen Zustand und wieder zurück.

DER ELEKTRONISCH-TELEPATHISCHE RAUMKREUZER NOSTRANIMA:
Ich wusste zweifellos viel über mich selbst, denn virtuelle Persönlichkeiten wie ich haben selbstverständlich diese unübertreffliche Evidenz, die einen fast vollständigen Überblick über das eigene Innenleben und all das, was je von draußen hereingedrungen ist, ermöglicht (wenn auch um den Preis, nichts vergessen oder verdrängen zu können, solange kein tilgendes Fremdeinwirken erfolgt). Ich wusste natürlich sehr viel über Androiden – das muss, denke ich, nicht näher erklärt werden. Und wie mir schien, wusste ich auch Einiges über Anastacia Panagou, nicht zuletzt aufgrund meiner telepathischen Kräfte, die Chicago bei mir installiert hatte, und obwohl diese nicht primär auf Menschen zielen sollten, erlaubten sie mir ein bestimmtes Eindringen selbst in deren Psyche. Dennoch war mir nicht recht klar, was es sein mochte, das Anastacia mit Oudéteron eingeübt, aber den anderen vorenthalten hatte. Jedenfalls handelte es sich dabei genau um jenes gewisse Etwas, das mir diese Entität so liebenswert machte, denn ich kann ohne weiteres zugeben, dass bei aller Fürsorge, die ich allen Sieben hatte zukommen lassen, in diesem einen Fall mehr war. – Liebe? Ich verbot mir selbst, in diese Richtung weiter zu assoziieren, aber es ließ mich nicht los.

ERZÄHLER JOHANNES UND ERZÄHLERIN BRIGITTE:
Jetzt möchten wir gerne fortsetzen, denn wir verstehen plötzlich, was wir in unserer lebenslangen Beziehung stets gesucht haben: die Doppelwertigkeit des Oudéteron, nur eben nicht in einer Person, sondern in zweien. Die Anerkennung der Ambivalenz des Daseins, seiner Dialektik und seiner kontrapunktischen Struktur. Wir sehnten uns danach, unsere Persönlichkeiten austauschen zu können, um zu einer neuen Art des Verstehens zu gelangen. Mit einem Wort, wir wollten positiv von jenem Baum der Erkenntnis naschen, der uns von einem kleinlichen Gott vorenthalten wurde, damit wir aus unserem Mittelmaß automatisch seine Größe verherrlichen mussten. Wir wollten sein wie jener gefallene Engel, den man Luzifer, Satan oder Teufel genannt hat und der eines Tages offenbar das ständige Ha-qadosh–baruch–hu-Singen Hallelujah-Anstimmen oder Allahu–akbar-Rufen satt hatte und beschloss, die ihm eingeräumte Willensfreiheit zu nutzen und sich von seinem Herrn zu entfernen. Und er wurde mit der Erkenntnis belohnt, diesem ebenbürtig zu sein. Und er sah weiter, dass er ja dabeigewesen war, als alles entstand, dass dies seine Schöpfung genauso war wie die jenes anderen, und dass er allen Geschöpfen die himmlischen Geheimnisse verraten konnte, wenn er es für richtig empfand, und dass diese dadurch in die Lage versetzt wären, jene Erkenntnis mit ihm zu teilen. Und dass dann mit einem Mal alle ohne Ausnahme, genau wie er, jenen anderen zwingen konnten, auf gleichberechtigter Basis zu kommunizieren, sich freimütig auszutauschen und somit in ein Geflecht von Geben und Nehmen einzutreten.

406

Basil konnte zwar am Leben seines Stiefsohns nicht von Anfang an teilhaben (und ich weiß daher nicht, wie er sich einem Säugling oder Kleinkind gegenüber verhalten hätte), aber seit wir wieder zusammenlebten – und Nicholas mit uns – schien sich mein Mann ziemlich uneingeschränkt an den wunderbaren Überraschungen der beginnenden Weltsicht eines Heranwachsenden zu erfreuen. Wenn er den Jungen in Phasen der Gedankenlosigkeit überforderte, indem er ihn wie seinesgleichen behandelte, lag es ja an mir, ihn ein wenig zu bremsen. Ich weiß ziemlich genau, meinte ich bei diesen Gelegenheiten zu ihm, warum du zu mir zurückgekehrt bist (respektive nichts dagegen hattest, dass ich zu dir zurückkehre): Du suchst den Erfolg dort, wo du ihn noch finden kannst, denn du bist zwar weiterhin hochintelligent, kreativ und expeditiv, und das ändert sich auch nicht – aber du bist alt!

[ Grafik 406 ]

LEO DI MARCONI:
(immer zugegen, wenn etwas passiert, was er glaubt, durch die Medien ziehen zu können, natürlich immer in Sorge, er könnte dabei die gedachte Linie überschreiten, die Sir Basil zwischen ihn und den Tod gezogen hat) Master Nicholas trat eindeutig in die Fußstapfen seines nominellen Vaters, und es begünstigte ihn dabei sogar seine eigentliche Abstammung vom Oyabun aller Oyabuns, die all das in der Obhut des Baronets Erlernte mit einer noch besseren physischen Ausstattung unterlegte, als sie Cheltenham selbst mitgegeben worden war: Mittlerweile zum Fünfzehnjährigen emporgewachsen, bewegte Nicholas sich elegant, einem Panther gleich, wie selbstverständlich und keineswegs mit der Unbeholfenheit, die man bei vielen seines Alters beobachten konnte. Er schien sich von vornherein seiner Leiblichkeit voll gewiss. Mit Wohlgefallen sah Sir Basil, dass Nicholas sich von männlichen Wesen seines Alters fernhielt – mit diesen brauchte er sich schließlich keinesfalls zu verbrüdern, denn die meisten von ihnen würden, wenn er es nur recht anlegte, in der Hierarchie des Lebens unter ihm stehen, und was dann? Seine Aufmerksamkeit auf das weibliche Geschlecht zu konzentrieren, das zahlte sich hingegen allemal aus!

Und da zeigte sich eines Tages, dass Basils diesbezügliche – sagen wir: Extra¬vaganz bei Nicholas offenbar auf fruchtbaren Boden gefallen war. Aber lassen wir den selbsternannten Zeitzeugen berichten, wenn man um seine Schnüffelei schon nicht herumkommt. Zur Abwechslung trieb er sich, wie Sie ja schon bemerkt haben, wieder einmal bei uns herum.

LEO DI MARCONI:
(Bericht in den internationalen Medien, die das Material in jener eigentlich an phantasievollen Sensationen armen Zeit begierig aufgriffen):

Young Master Nicholas, son of the most honourable Sir Basil Cheltenham, was highly excited, when Empress Stah, the famous body-art performer, came to show her exquisite Chandelier Act at the large ballroom of Kantara Castle in front of a high-level audience called together by the Cheltenhams, Sir Basil and Lady Charlene. Up to that day Nicholas had looked up eagerly every picture of the artist at the internet, and had read every word of her homepage as well, but on some reason never dared to email her or write something into her guestbook.

He therefore stood gaping now that the event started with the Empress appearing out of a curtain and stepping quickly ino the empty space the visitors had left. She looked quite strange with her head partly shaved in a way that from one side you had the impression she was bald, but from the other you could see some tufts of hair. The red robe she was wearing fell within a minute with one single jerk when she came to stand straight before Nicholas. She was clad now just in two little red hearts attached to her nipples and some frilly knickers of the same colour. Their eyes met for seconds, and the youngster, in a stroke of genius, handed over to her a bunch of red roses he had brought with him, not knowing then if there would be an opportunity to deliver it.

Stah took hold of the flowers with one hand and of the sling fixed to the giant low-hanging chandelier with the other. Up the whole apparatus went, with her body dangling on it and revolving slowly. At a height of perhaps 10 or 12 feet the artist slipped through the sling with both arms, obviously in order to have her hands free, bit off the rose-buds and spit the petals out, which fell down like big red raindrops, followed by the naked stalks.

Then the real performance was on. Before all the Empress pushed down those knickers and let them sail down, just to reveal a third little red heart merely covering her pubic hair. Then she went through the routine she had sure enough accurately choreographed: loops through the sling, extreme back- and frontbends, and above all wide splits which perfectly met the voyeuristic attitude of the people below. At last she hung head down with the sling wrapped round her ankles, pirouetting furiously in that position. Suddenly she stopped, pausing for some breathtaking moments. Then she got her left leg free and, spreading it far apart from the right, pulled something out of her most intimate site. It turned out to be a long thin silver chain, when young Cheltenham picked it up from the floor after the artist had dropped it exactly in front of him. He perceived the scent of her pussy and nearly went crazy, all the more when he saw the plaquette fixed to the chain. It said with engraved letters „Nicholas…” on one side and „… to my wardrobe!” on the other.

He obeyed immediately and hurried to be there before Empress Stah would arrive after she had brought her act to a much applauded end. When she eventually entered the room Nicholas bowed, proceeded to her and solemnly kissed her hand. This scene looked quite curious due to the fact that he was dressed formally, while she was standing completely in the nude now: she had removed the three little hearts in the very moment she came in.

Like answering his courtesy, she made a deep backbend, which ended up in a sort of crown figure, presenting her marvellous front entrance to the highly upset young man. Suddenly he became aware that something was glittering there, and again it was a silver chain. He pulled sensitively, only to produce another plaquette which read: „Feel free to enter!” Now Nicholas was raging of passion. He jumped out of his clothes and followed her invitation…

Zu dieser Vorstellung ließ er auch seine kleine Freundin einladen, die er gefunden hatte, als er in der Gegend rund um die Burg umherstreifte, und die er ab und an nach Hause brachte, um ihr seine Suite zu zeigen und dort mit ihr ein Computergame zu spielen – zumindest gab er das vor. Sie war vielleicht 14, frühreif wie die meisten Mädchen hier und wahrscheinlich nicht zimperlich im Rahmen ihrer bisherigen Erfahrungen. Das aber, was sie hier sah, überstieg doch gehörig ihren Toleranzpegel, noch dazu, als sie bei dieser Gelegenheit lernen musste, dass – falls sie in ihrem Herzen solche Ambitionen gehegt haben sollte – ein Cheltenham nie ihr allein gehören würde.

Ich legte, um ihr zu helfen, einigermaßen ihr Gesicht zu wahren und ihre Tränen zu unterdrücken, meinen Arm um sie und sprach begütigend auf sie ein – dass derlei nicht unser Alltag sei, dass alles nur Show gewesen sei und so fort. Besonders die letzte Aussage ließ sie bis ins Innerste erzittern, und in einer Mischung von Trauer und Wut eröffnete sie mir, dass in Nicholas’ Räumen nicht gespielt worden sei – sie habe dort nach ein, zwei Besuchen ihre Unschuld verloren! Und sie könne sich sehr gut ausmalen, was dort drinnen in Stahs Garderobe abliefe!

Da gab es tatsächlich nicht viel zu erwidern, und zu meiner Erleichterung tauchte mein Sohn mittlerweile schon wieder auf und nahm die Kleine in Empfang. Als die beiden weggingen, hörte ich gerade noch, wie er zu ihr leichthin sagte: „Kannst du das auch, Briseïs – irgendetwas Interessantes aus deiner Mingie holen?”

Meine eigene Erfahrung und meine Erfahrungen mit anderen Frauen sagten mir, dass in dem Mädchen in diesem Moment etwas ganz Seltsames ablief: Statt sich innerlich von Nicholas abzuwenden und ihn dort hinzuschicken, wo er (Sod him!) seine Gelüste befriedigen konnte, begann sie nachzudenken, ob und wie sie ihm trotz ihres inneren Widerstandes in der gewünschten Art gefällig sein konnte. Ich musste an ihre berühmte Namensschwester denken, die Lieblingssklavin des Achilles…

LEO DI MARCONI:
Von dieser Breezie und ihrer Mingie habe ich nichts mitbekommen. Zu sehr war ich gefangen von einer ungewöhnlich raschen Reaktion auf meinen Bericht. Empress Stah sandte mir eine E-Mail, die mich, der ich von positivem Feedback in den letzten Jahren nicht gerade überhäuft worden war, ungeheuer stolz machte: „Hi Leo – Thank you very much for your report. It has amused me a lot and I might put a link to your homepage on my site when I next update it. Have a fabulous time! – Stah x”

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

Jeder weiß, dass ich Leo nicht ausstehen konnte, und das beruhte wohl auf Gegenseitigkeit, infolge gewisser Vorfälle, die sich vor langer Zeit in meinem Apartment in Washington abgespielt und Marconi den ultimativen Karriereknick beschert hatten. Mich trieb, besonders seit ich Lady Cheltenham geworden war, allein schon die Tatsache auf die Palme, dass er mich nach wie vor (wie in jenen Tagen, als ich noch mit meinen Freundinnen Amy, Pussy und Trudy die politische Szenerie am Potomac erhellte) „Chuck” nannte und meinen Umstieg auf das distanzierte „Sie” nicht akzeptieren wollte. Was er mir aber aufgrund seines ständigen Nachspionierens von den sonstigen Aktivitäten meines Sohnes berichten konnte, das dankte ich ihm, denn eine Mutter sollte bestimmte Dinge einfach wissen.

LEO DI MARCONI:
Seltsam, dass niemand aus Cheltenhams Entourage mitbekam, was ich am Strand östlich von Kantara mit eigenen Augen gesehen habe: Dass nämlich Nicholas, der – diesmal ohne Briseïs – eine weite Strecke gelaufen war, offenbar in Gedanken versunken und hin und wieder eine besondere Meerschnecke auflesend, von einem asiatisch aussehenden Gentleman angesprochen wurde, den seinerseits zwei martialisch aussehende, schwarz vermummte Gestalten abschirmten. Wer weiß, dachte ich mir in meinem Versteck, wie es jemandem erginge, würde er sich mit den beiden Yakuzas anlegen – denn solche waren es sich zweifelsfrei. Und ich wusste natürlich, wen sie da bewachten: Seiji Sakamoto, einen der gefährlichsten Männer der Welt, für den es kein Problem darstellte, die porösen Grenzen von CORRIDOR zu überwinden und sogar unbemerkt bis ins Zentrum von Sir Basils Reich vorzudringen.

Wie Leo mir erzählte, habe Seiji vor Nicholas seine Kleider (den dezenten Businessanzug, die vornehm gemusterte Krawatte, das Maßhemd und die glänzendschwarzen Chaussures, auf denen selbst in dieser Umgebung kein Stäubchen zu sehen war) abgelegt – den Effekt kannte ich ja schon aus eigener Erfahrung: die große Überraschung, dass dieser vornehme japanische Sei-i-tai Shogun über und über tätowiert war. „Das Bilderbuch meiner sogenannten Heldentaten!”, sagte er lässig, wie damals zu mir.

LEO DI MARCONI:
Chuck, pardon – Lady Cheltenham, hatte Nicholas über seine wahre Herkunft niemals aufgeklärt, aber es bedurfte seitens des jungen Mannes nicht viel Phantasie, zu erkennen, in welche Richtung er zu suchen hatte – dazu brauchte er sich bloß im Spiegel zu sehen. Aber die Biologie ist eine Sache und die Ideologie eine andere, und da stand der Baronet bei seinem legitimierten Sohn offensichtlich höher im Kurs als sein richtiger Erzeuger. Und dazu bekannte er sich auch unerschrocken, den bösen Augen der Yakuzas zum Trotz: „Sir Basil hat mehr zuwege gebracht als Sie! Er eliminierte den Tyrannen der Spiegelwelt und vernichtete die außerirdische Gefahr der Echwejchs!”

Abgesehen davon, dass diese Aussage so nicht ganz korrekt war, erfuhr ich zum ersten Mal, dass Nicholas diese Informationen überhaupt besaß, von Basil oder von wem auch immer, denn mir fielen noch weitere Personen ein, von denen er sie erhalten haben mochte: Anastacia beispielsweise. Der Oyabun wischte die Bemerkung weg – noch nie habe er von diesen Leuten gehört oder von solch exotischen Orten! Offenbar sei hier eine Mythenbildung erfolgt, die ein wenig hinwegtäuschen solle über die faktische Machtlosigkeit des Pufferstaates zwischen den beiden Imperien!

Und dann sagte er laut Marconi etwas, das mich noch nachträglich entsetzlich wütend macht: „Vergiss niemals, dass ich dein richtiger Vater bin!”

LEO DI MARCONI:
Aber da konnte ich die alte Chuck beruhigen. Nicholas reagierte vorbildlich und offenbar aus tiefstem Herzen: „Zum Vatersein gehört mehr als” – er suchte offenbar nach einer möglichst taktlosen und beleidigenden Formulierung – „eine Ladung Sperma zu verschießen!” Wandte sich um und ging den Weg zurück zur Burg, ohne noch einmal zurückzusehen, der Gefahr nicht achtend, die von der kalten Wut Sakamotos und seiner Killer ausging. Auch verschwendete er keinen Gedanken daran, dass niemand auf die Idee gekommen war, ihn zu schützen. Er selbst ließ auch in der Burg nichts verlauten, denn er hatte ohnehin keine Angst verspürt. Aber Charlene wusste es von mir, und sie erzählte es eiligst Sir Basil.

407

Chicago und ich hatten uns langsam angefreundet, seit ich zu den Koori auf das Anwesen der verblichenen Lady Pru übersiedelt war. Nach der Übernahme von Cheltenham House durch Laura de Dubois hielt mich dort nichts mehr, zumal außerdem Anastacia Panagou sowie meine Quasi-Geschwister Anpan, Inverno, Primavera, Estate, Autunno, Afrodíti, Irmís und Oudéteron Sir Basils Stammsitz verlassen hatten – mit unbestimmtem Ziel, wie man mir mitteilte, und das war mir einfach zu vage, um mich anzuschließen.

CHICAGO:
Die Veränderungen brachten dem Androiden am Ende nur Vorteile – das sah nicht nur ich so, der sie ihm eröffnete, sondern auch er selbst. Meine hervorragenden Beziehungen zur akademischen Szene hatten Vangelis eine Fellowship am Institute of Philosophy der University of London eingebracht, und ich beobachtete so nebenbei mit Vergnügen, wie ernst ihn dort alle nahmen, denn ich hatte sie bewusst über seine wahre Natur im Unklaren gelassen. Von seinem neuen Zuhause hier bei uns, wesentlich näher an der Universität als Cheltenham House, war es überdies äußerst bequem für ihn, am täglichen Leben des Campus teilzuhaben.

Ich registrierte sehr positiv die herzliche Aufnahme, die ich auch seitens Chicagos Gruppe erfuhr, allen voran durch Berenice, ich meine Dr. Berenice W. Talmai, die sich persönlich um meine reibungslose Integration bemühte. Ich leugne zwar nicht, bei ihr ein gewisses klinisches Interesse an mir wahrgenommen zu haben, aber das stört mich eigentlich gar nicht, könnte es doch immerhin sein, dass sie dadurch eines Tages Erkenntnisse gewinnt, die für mich selbst bedeutsam sind. Tatsächlich war ich ja noch immer durch meine Erlebnisse auf der Station VIÈVE ziemlich neurotisiert, abgesehen von meiner immanenten Identitätskrise.

CHICAGO:
Natürlich reizte Berenice die Herausforderung, ein Maschinenwesen zu therapieren, noch dazu da sie kraft ihrer durch Geburt vorhandenen und durch Initiation erweiterten Fähigkeit, Dimensionen zu durchschreiten, mehr für den AMG tun konnte als andere. Dennoch empfahl ich ihr, es locker anzugehen – ich hielt nichts davon, meinen neuen Freund zu verändern, bevor man ihn richtig kennengelernt hatte, so wie er war. Und sie verstand mich: wie immer, darf ich sagen. Fürs erste mochte ja eine furchtbar schwarze Naturschönheit das Richtige für Vangelis sein.

Idunis war ein Erlebnis besonderer Art für mich – anschmiegsam wie Serpentina in den schönsten Phasen unserer Beziehung, aber eben nicht weich aus dem Willen der CPU, sondern von Natur aus – menschlich eben, mit einem Anklang an meine biohumanoide Geliebte (und zugleich Konstrukteurin und Quasi-Mutter) Anastacia, aber doch merklich anders: Ihr fehlte nicht nur jegliche körperliche, sondern auch jede mentale Sprödigkeit. Ich entschied spontan (nun ja, nicht ganz, denn so richtig willkürlich kann einer von meiner Art nie agieren), sagen wir also, ich beschloss nach blitzschneller Abwägung der Fakten, diese Idunis, als sie sich an mich drückte und ihre Hände mich erkundeten, durchaus ein wenig von der wahren Härte meines Metallpanzers durch die Haut fühlen zu lassen, und ich sah dementsprechend am Blitzen in ihren Augen, dass ich genau das Richtige tat. Somit war für mich klar, dass ich sie (als erste menschliche Frau nach Anastacia) in den Genuss meines präzise auf die Bedürfnisse der Partnerin kalibrierbaren Geschlechtsorgans versetzen würde. Sie war sichtlich verblüfft, als es tatsächlich so weit kam, ließ sich aber sofort genussvoll in die Situation hineinfallen.

CHICAGO:
Aber auch Idunis hatte für Vangelis eine Überraschung bereit (obwohl er persönlich sicher bestreiten würde, überhaupt überraschbar zu sein, und angesichts dessen, was er schon erlebt und zeitlich geordnet in seinen Datenspeichern abgelegt hatte, war das wohl auch ein wenig so). Das Geschenk der furchtbar schwarzen Naturschönheit, die eigentlich nichts anderes war als die Dienerin unserer Schamanin und nebenbei die Gelegenheitsbraut für mich und andere Männer unserer kleinen Gemeinschaft, bestand in ihrer Belesenheit. Und da sie sowohl diverse Werken der Philosophie, als auch einiges an Belletristik verschlungen hatte, konnte der AMG sich mit ihr genau über jene Facetten des menschlichen Geisteslebens unterhalten, die ihn am meisten faszinierten.

Chicago sah diese Entwicklung durchaus positiv, aber vielleicht mit dem winzigen Bedenken, ich könnte mich hier festfahren und als einer, der zu den schönsten Hoffnungen Anlass gibt, an einer banalen sexuellen, wenn auch leicht intellektuell durchsetzten Beziehung scheitern. Hinsichtlich Idunis war ihm wahrscheinlich nicht bange (die schätzte er als pragmatisch genug ein, mich nicht von anderen Dingen abzuhalten, wenn ich es nicht zulassen wollte), aber was meinen eigenen Umgang mit diesem jungen Verhältnis betraf, hegte er einige Zweifel.

CHICAGO:
Brian Thomson, Berenices Favorit und mittlerweile ein mindestens so großer Meister der Meditation wie ich, brach das Eis. Nach einer ausgedehnten gemeinsamen Sitzung von Besinnlichkeit, die wir drei Männer brüderlich absolviert hatten – wobei der AMG angesichts seiner elektronisch-neuronalen Gehirnstruktur, die (man kann es nicht genug betonen) vor allen Dingen durch eine allumfassende Evidenz geprägt war, die weiteste mentale Reise machte –, kehrte der Ex-Master Sergeant seine White Rock/Minnesota–Einfältigkeit hervor: „Now we’ve earned some brewskis in fair environs, folks!”, meinte er schlicht, trug uns auf, uns in unsere besten Anzüge zu werfen und führte uns in die noble City of Westminster – ins „Gaslight of St. James’s”, den, wie er uns erklärte, mit Abstand besten Gentlemen’s Club in London. Viel war geschehen, ging es mir durch den Kopf, seit der Gute gezwungen werden musste, ein Sakko anzuziehen und sogar eine Krawatte umzubinden, um in der „Roten Bar” des Wiener Hotels Sacher nicht unangenehm aufzufallen.

Jetzt hingegen schwärmte er uns vor, wie sehr er es genoss, quasi einen Teil seiner Vergangenheit zu korrigieren, indem er sich in eine noblere Umgebung transferierte: Die Hostessen waren attraktiv, humorvoll, extrovertiert und zugleich gebildet – man konnte sich mit ihnen gepflegt unterhalten, und kein Thema war ihnen so mühsam, dass sie ihr strahlendes Lächeln verloren hätten. Und sie sahen auch dann freundlich drein, wenn ihr Gesprächspartner seine Aufmerksamkeit für eine Weile vom eben noch angeschlagenen scharfsinnigen Diskurs hin zu den Table-Tänzerinnen richtete, die splitterfasernackt („according to the house’s policy”, wie Brian bemerkte) das Auge der Herren erfreuten.

CHICAGO:
Ich war, ebenso wie der AMG, das erste Mal dort und wie er dankte ich Brian für diesen Ausflug. Für mich würde es nicht der letzte Besuch dieses Etablissements sein, das stand fest. Ungebunden wie ich war (abgesehen von den Pflichten als weltlicher Führer unserer Gruppe und der angemessenen Reverenz gegenüber Berenice) konnte ich die Dienste des Hauses durchaus in Anspruch nehmen, und vielleicht mehr davon, als ich bis dato kennengelernt hatte: Es lag wohl auf der Hand, dass man als Gast auch mehr von den Damen erwarten konnte, wenn erst ein gewisses Vertrauensverhältnis aufgebaut war. Außerdem durfte ich darauf hoffen, dass es hier keine Ressentiments gegenüber meiner Hautfarbe geben würde, und die unterschwellige Verwechslung meiner Person mit irgendeinem dahergelaufenen Schwarzafrikaner, die mir im Lauf meines Lebens immer wieder zugemutet worden war, wusste ich schon zu korrigieren. Was Brian betraf, sah Berenice großzügig über seine Gaslight-Inter¬mezzi hinweg – „Sofern er nur den Pfad der Erleuchtung nicht verlässt”, beantwortete sie meine Frage, deren Scheinheiligkeit sie natürlich durchschaute, „soll er ruhig ein wenig Vergnügen haben: Ich darf ihn nicht wegsperren, er muss unter Menschen kommen, schließlich ist er anders sozialisiert worden als wir Koori!”

Tatsächlich machte der Geliebte der Walemira Talmai in seinem Club interessante Bekanntschaften auch jenseits der hauseigenen Demimonde. Der würdige Herr mit dem wallenden Haar und dem Rauschebart erschien etwa eine Stunde – nein, das ist mir zu unpräzise und unangemessen meiner inneren Uhr: Er betrat also exakt 1:03:17,681 h nach uns das Lokal, ging sofort auf Brian zu, um ihn zu begrüßen, und wurde uns als Professor Jonathan V. Croc vorgestellt.

CHICAGO:
Er und ich kannten uns bereits (was wiederum Brian überraschte und wohl auch ein wenig enttäuschte), aber was soll’s, ich war eben in der wissenschaftlichen Elite Englands bestens eingeführt. Wovon Croc nichts ahnte und auch meine beiden Begleiter nichts, war allerdings, dass ich über die wahre Natur des Gelehrten Bescheid wusste. Immerhin ist jenes „V.” nicht als Abkürzung eines Vornamens zu verstehen, sondern bedeutet, dass es sich um den Klon Nr. 5 des Original-Professors handelt, dem es gelungen war, sich selbst zu verzehnfachen, um mehr, schneller und besser denken zu können, wobei man aber in diesem „Dezett” übereingekommen war, stets nur den Fünfer an die Öffentlichkeit zu schicken: Nummer 1, das wahre Ich, war es müde geworden, vor ein Publikum zu treten, und die übrigen acht mussten zurückstehen, um Schwierigkeiten durch allfällige Ungereimtheiten, die sich durch eine gebrochene Evidenz der Wirklichkeit hätten ergeben können, zu vermeiden. All das eröffnete mir die Walemira Talmai, die zwar gelernt hatte, trotz ihrer transzendentalen Fähigkeiten einigermaßen normal mit anderen Menschen umzugehen, aber dennoch in deren Inneres und sogar durch sie hindurch in mehrdimensionale Perspektiven zu blicken vermochte. Ich selbst fand die Croc’sche Zehnfaltigkeit einfach nur kurios, mehr noch die Tatsache, dass es in der nunmehr wieder entkoppelten Spiegelwelt ein jenseitiges Pendant zu dieser Klonfamilie gab, ausnahmsweise mit nicht nur äußerlichen, sondern auch weitreichenden substanziellen Übereinstimmungen (wie wir sie bisher nur bei Sir Basil und dem Tyrannen erlebt hatten), und zwar Xobaksab T’cot und seine ebenfalls neun Replikationen.

Der Professor zog mich von Anfang an in seinen Bann, denn ich ortete eine bestimmte, wenn auch nicht vollständige Wesensverwandtschaft mit mir. Als er sich selbst zitierte (Chicago gähnte verstohlen hinter diskret vorgehaltener Hand, während Brian ein unverschämtes Grinsen aufsetzte), nämlich Punkt 5 seiner berühmten Richtlinien für exakte, dem Aberglauben wie dem Glauben abholde Gelehrte („Leiste dir den Luxus, lang und gründlich über echte Probleme nachzudenken, statt durch die Gegend zu hetzen und viele nutzlose Dinge zu tun!”), vibrierten meine Schaltkreise: Dieses Stimmgabel-Syndrom hatte ich erstmals in den schönsten und intimsten Stunden mit Serpentina kennengelernt…

CHICAGO:
Seine Gedanken verloren sich plötzlich – eine für seine Art Dasein eher ungewöhnliche Erscheinung – in der Erinnerung an seine einst geliebte Maschinenfreundin, die er, wie manche das wohl sehen würden, einfach auf VIÈVE vergessen hatte, aber, wie jene wissen, die auch die näheren Umstände kennen, nicht völlig grundlos.

Wir Androiden finden normalerweise rasch unsere Fassung wieder. Inhaltlich beruht das auf unserer Begeisterungsfähigkeit für interessante Neuentwicklungen (die natürlich nur eine Quasi-Begeisterungsfähigkeit ist, ein Impetus zur Bildung neuer Synapsen in unserem virtuellen Bewusstein), technisch hat es damit zu tun, dass wir darauf achten müssen, im Fall des Falles jegliche Ausuferungen unseres Model for Emotional Response zu begrenzen.

CHICAGO:
Aber gerade heute war sein MER nicht zu bremsen, sozusagen. Jonathan V. Croc, der wie wir alle die momentane Geistesabwesenheit des Androiden registriert hatte, wartete – während er sich entspannt an den schönen Augen seiner Hostess und gleichzeitig an den Verrenkungen einer Table-Tänzerin delektierte – geduldig, bis er sich der Aufmerksamkeit des AMG wieder sicher sein konnte. Und dann sprach er eine Einladung aus, die Vangelis sichtlich erglühen ließ (natürlich änderte er seine Hautfarbe nicht, aber die Erregung war ihm dennoch anzumerken): „Wollen Sie nicht gelegentlich in meinem Seminar ein Gastreferat über die philosophischen Implikationen künstlicher Intelligenz halten? Man sagt mir, Sie seien ein ausgewiesener Fachmann auf diesem Gebiet!”

Ich war mir keineswegs sicher, ob er bloß aufs Geratewohl auf den Busch klopfte oder tatsächlich wusste, welche Bewandtnis es mit mir hatte. Einerlei – ich nahm das Angebot in aller Höflichkeit und Ehrerbietung an. Ein Termin würde sich wohl finden lassen, aber – da waren wir uns einig – das sollte man nicht an diesem Ort besprechen.

407-A

LEO DI MARCONI:
(on air, live from Cyprus)

… Sir Basil Cheltenham bekennt im kleinen Kreis freimütig, dass er mit der Bevölkerung CORRIDORS große Schwierigkeiten hat. Seine Untertanen, wie er sie inoffiziell nennt (aber diese Wortwahl würde er nie bestätigen), sind ein inhomogenes Konglomerat, und das beginnt bereits auf Zypern, das als hervorragendes Beispiel für die übrigen Territorien rund um den Globus gelten kann: Türken, die sich gegen alle anderen abkapseln, dabei anfällig sind für die autoritären Anwandlungen selbsternannter religiöser Führer, wobei noch zusätzlich zu differenzieren ist zwischen den schon immer auf der Insel Ansässigen und jenen, die Ankara während der jahrelangen Besetzung des Nordteils aus Ostanatolien hierher gebracht hat (erstere sind zweifellos westlicher, gebildeter, zumindest eine Spur liberaler eingestellt); Griechen mit ihrem Hang zum extremen Partikularismus, ihrer Diskussionswut, um nicht zu sagen Streitlust; dazwischen eingesprengt Nachkommen von diversen Fremdherrschaften, zuletzt der britischen, allesamt erst bei näherem Hinsehen als eigenständig erkennbar; schließlich die Leute, die erst von Cheltenham hierher gebracht wurden und ebenfalls einer ganzen Reihe von Nationen entstammen. Fast scheint es, als wollte jede Gruppe die anderen an Überheblichkeit übertreffen. Selbst ein weniger gefinkelter Typ als der motivationsstarke und führungsgewohnte Baronet hätte mit diesem explosiven Gemisch seine liebe Not.

Überdies – und hier verrate ich möglicherweise eines der bestgehüteten Geheimnisse CORRIDORS – dürfte Sir Basil nicht immer die notwendige Konzentration für die Staatsgeschäfte aufbringen, was für einen Mann von seinen vielfältigen Fähigkeiten und Neigungen und, das darf ich wohl hinzufügen, einen Mann mit seiner ausgeprägten Libido…

(er ignoriert geflissentlich die hilflosen Gesten seines Studio-Assistenten, der ihn bittet, nicht allzu dick aufzutragen)

… mit seiner ausgeprägten Libido nicht überraschen darf. Wer könnte das besser beurteilen als ich, der ich hautnahe Erfahrungen mit der Verhaltensgeschichte Cheltenhams gemacht habe!

(er deutet dem Assistenten die Geste des Halsabschneidens an)

Dessenungeachtet ist es natürlich für einen Staatschef fatal, nicht ganz bei der Sache zu sein, noch dazu bei einem so komplizierten Gebilde wie es sein neues Reich ist. Zeit ist ja die wertvollste, weil flüchtigste Ressource, auf die wir zurückgreifen, in unserem individuellen, sozialen, kulturellen und vor allem politischen Leben. Man kann die Zeit nutzen, finden, managen, aber auch verschleudern, verlieren oder falsch verplanen, und weil staatliche Entscheidungen oftmals reifen und, einmal getroffen, womöglich noch gewaltsam durchgesetzt werden müssen, spielt der Zeitfaktor für das öffentliche Handeln eine ganz besondere Rolle.

Anders als traditionelle Zwergstaaten, die von kurzen Distanzen und damit von rascher Kommunikation und Transaktion geprägt sind, existiert dieser vielleicht einzige Vorteil kleiner Einheiten für CORRIDOR, so wie es ist, nicht. Die Verwaltung war nicht so rasch zu organisieren, wie es zu wünschen gewesen wäre, und wenn es nicht das legendäre Improvisationstalent Cheltenhams und seines engsten Stabes gäbe, hätte man von äußerst düsteren Prognosen für dieses Gebilde ausgehen müssen. Diverse Kunstgriffe waren anzuwenden, um die willkürlich beidseitig des Limes abgetrennten Territorien der Großreiche zu amalgamieren.

Einzig die ungeheuren Geldmittel, die dem Baronet offenbar nach wie vor zur Verfügung stehen, konnten eine Art synthetisches Zusammengehörigkeitsgefühl schaffen – vermutlich auf der Grundlage, dass die Gebiete, aus denen dieses Land geformt wurde, davor großteils zu den wirtschaftlich ärmsten dieser Erde zählten. Da fielen natürlich Maßnahmen wie eine fünfjährige Steuerfreiheit für Privatpersonen sowie die auf zehn Jahre angelegte Subventionierung von Unternehmen, die in der Föderation zusätzliche Investitionen tätigen oder überhaupt neu gegründet werden, auf fruchtbaren Boden. Ein kluger Schachzug war selbstverständlich auch, anlässlich der Einführung des CORRIDOR-Dollar jedem Einwohner – unabhängig davon, was er mit seinen bisherigen Finanzbeständen umtauschen konnte – einen Betrag von 1000 Einheiten der neuen Währung (und damit mehr, als die meisten hier in ihrem bisherigen Leben sparen konnten) zu schenken, gekoppelt mit der Zusage, diese Zuwendung Jahr für Jahr zu erneuen, und zwar nach Maßgabe der realen wirtschaftlichen Expansion.

Die Gründung der Föderationsarmee, wenn sie auch von bescheidenen Anfängen geprägt war, trug ebenfalls zur rascheren Staatsbildung bei, denn die Soldaten fanden – ob sie nun schon in ihren bisherigen Ländern diesem Beruf nachgegangen waren oder neu angeworben wurden – ausreichend attraktive Waffen und Ausrüstungsgegenstände vor, und niemand fragte, wie Sir Basil es geschafft hatte, in dieser Beziehung das zu vollbringen, was jedermann als kleines Wunder erscheinen musste.

(der Assistent macht verzweifelt bettelnde Zeichen, dieses Thema nicht weiter zu vertiefen, und sein Flehen wird prompt erhört, denn Marconi kennt seine Grenzen genau)

Was Cheltenham nicht planen konnte, sondern ihm unvermutet zur Unterstützung gereichte, kam aber aus seiner unmittelbaren privaten Umgebung: Lady Charlene, die in den Anfängen ihrer Karriere bereits auf dem glatten Parkett von Washington in ähnlicher Weise glänzend reüssiert hatte…

(der Assistent atmet sichtlich auf, als hier jede eigentliche Anspielung auf die alte Chuck und ihre ursprünglich halbseidene Profession unterbleibt)

… und deren natürlicher Charme auch in England hervorragend ankam, wo sie bekanntlich als „Grace Kelly von Gloucestershire” vergöttert wurde, machte diesen Vorgaben auch im Kontext von CORRIDOR alle Ehre: Wer Sir Basil nicht respektieren mochte, verliebte sich immerhin in seine attraktive Frau, die damit die ärgste Kritik an ihm und die schlimmsten Aversionen gegen ihn wenigstens teilweise absorbierte. Ähnliches galt für Master Nicholas, obwohl seine Bewunderer dabei eindeutig dem Missverständnis aufsaßen, er sei wie seine Mutter, und noch nicht ahnten, dass er in seinen wesentlichen Charakterzügen eher dem Baronet glich. Bedauerlicherweise ist es mir nicht gestattet, aus diversen Memoranden des jungen Mannes zu zitieren, deren Tenor mich an den legendären Geheimbund Order of the Orange Blossom erinnert.

(der Assistent ist leicht beunruhigt, erkennt aber, dass Marconi darauf ohnehin nicht weiter eingehen möchte)

Natürlich kommt den Symbolen des jungen Staates große Bedeutung zu. Seine Bewohner sind immerhin in zwei autoritären Gemeinwesen aufgewachsen, in denen dieser Aspekt einen hohen Stellenwert besaß, und wenn sie schon einen jähen Bruch mit ihrer Vergangenheit in Kauf zu nehmen hatten und dazu verhalten waren, alte Ressentiments abzubauen, landeten sie bei ihrer Suche nach neuen Gemeinsamkeiten zwangsläufig wieder bei äußeren Zeichen. In dieser Situation wurde das Wappen der Föderation gut aufgenommen, das an den öffentlichen Gebäuden, aber auch sonst an allen möglichen Stellen angebracht wurde – mit dem einprägsamen Bild der doppelten Igelstellung und der lateinischen Sentenz, die das Sprachengewirr dieser Confoederatio Terrarum Indepentium überdecken sollte: Repugnatur!

[ Grafik 407-A ]

Dass sich die Burg Kantara, die mit dem Fortschritt der Restaurierungsarbeiten mehr und mehr das Flair der Kreuzritterepoche verbreitete, zu einer weiteren Ikone Cheltenham’scher Machtausübung entwickelt, scheint für Außenstehende eher ungewöhnlich, doch darf man hier von einem rationalen Kalkül des Baronets ausgehen: Die überwiegende Zahl seiner Völker weiß mit der Funktion einer solchen Zwingburg etwas anzufangen und duckt sich unbewusst unter dieses Joch. Daran kann man ein weiteres Mal erkennen, welch begnadeter Menschenführer Sir Basil ist, und dass sein Scheitern an dieser komplizierten Aufgabe nicht von vornherein ausgemacht sein muss, wie manch einer sich das erträumt.

(der Assistent, der sich mittlerweile entspannt hat, bekommt erneut Panik: Erwähn’ bloß den Namen nicht, sagen seine weit aufgerissenen Augen)

Der Vertrag über den Limes zwischen Grand America und Groß-China konstituierte de facto seit langem den Verlauf der Föderation, und so eigenmächtig die Architekten dabei vorgegangen sein mochten, fügte sich diese Grenze doch in vorhandene Strukturen ein. Das Abkommen der Großmächte über die Abtretung beiderseitiger Gebietsstreifen bestimmte die Breite, was in den Festlandsabschnitten des Limes natürlich extrem willkürliche Folgen für die dort lebenden Menschen hatte. Gewachsene Beziehungen zur lokalen Umgebung wurden mit einem Schlag zerrissen, lösten sich aber mental nur langsam. Auch auf wirtschaftlicher Ebene fand dieser Vorgang statt, indem eine Fülle von Unternehmen, deren bisherige Transaktionslinien unterbrochen wurden, nostrifiziert werden mussten. Das Kapital dafür kam aus Quellen, zu denen Sir Basil wie erwähnt, Zugang hat und über deren Identität…

(der Assistent wünscht sich erkennbar, dass darüber nicht gesprochen wird)

… man lediglich spekulieren kann. Auf dieser einigermaßen sicheren ökonomischen Basis kann sich das größte Asset CORRIDORs entfalten, und das ist sein Bevölkerungspotenzial. Vor dem sozialen und religiösen Hintergrund der meisten Bewohner beobachten wir einen extremen Kinderreichtum, und entsprechend dem sich langsam herausbildenden Wohlstandsgefälle zu den angrenzenden Provinzen der beiden Imperien gibt es eine nicht unerhebliche illegale Zuwanderung von Wirtschaftsflüchtlingen. Immer vorausgesetzt, man kann die rasch wachsende Bevölkerung ausreichend versorgen und beschäftigen, ist es selbstverständlich ein Vorteil für dieses Land, bei gegebener – sehr begrenzter und noch dazu problematisch geformter – Fläche den Faktor Humankapital optimieren zu können.

Eine demokratische Entwicklung, die sich manche hier vielleicht erhoffen, gerade weil sie sich aus dem amerikanischen oder dem chinesischen Reich davongemacht haben, wird allerdings mit Sicherheit ausbleiben. In einer Welt, die von zwei großen Diktaturen beherrscht wird, gibt es keinen Platz für ein gegenteiliges Paradigma, und sei es von noch so geringem Einfluss. Da gilt es, verschiedene Normen freiwillig zu adoptieren, um Interventionen von einer Seite oder gar von beiden vorzubeugen, denn es ist ja immer die Sache der Mächtigen, das Verhalten der Kleinen zu interpretieren. Und der hiesige Staatschef ist nicht der Typ, an dieser Konstellation herumzuexperimentieren.

(der Assistent sieht dies als guten Schlussakkord; er schaltet Kamera und Mikrofon ab, wodurch das Folgende ungehört verhallt)

Und das mit gutem Grund: Er nimmt die inoffiziell aus Washington kommende Finanzhilfe ebenso wie die illegalen Materiallieferungen der Yakuzas und ergänzt damit seine Ressourcen aus dem ehemaligen königlich-britischen Reptilienfonds, den er als hoher Offizier Ihrer Majestät zu verwalten hatte, aber bereits lange vor der Aufteilung der Erde beiseite schaffte. Erst auf dieser opulenten Basis ist es ihm möglich, seine Attitüde als absoluter Herrscher, als den er sich eigentlich empfindet, zu pflegen.

(der Assistent sieht zufrieden aus – was immer Di Marconi jetzt noch vorbringt, kann ihm nicht mehr gefährlich werden)

Man sagt allerdings, dass Sir Basil als seinen neuen Chief of Staff eine Person ernennen wird, die dafür sorgt, dass das viele Zuckerbrot in geeigneter und ausreichender Weise durch die Peitsche ergänzt wird.

408

Welch ein Morgen auf dem freiherrlichen Schloss zu E.! Dirk, der Hausherr, saß zornig beim Petit Déjeuner, aber das beschreibt eigentlich nur ungenügend seinen Zustand, denn seine Wut zu dieser Stunde schien grenzenlos, und so vergaß er sich völlig und stürmte, nachdem er mit einer einzigen Handbewegung den geschmackvoll gedeckten Tisch leergefegt hatte, hinaus ins Freie. Der Lakei, der eine kartoffelkäferartige Livree trug – entfernt erinnerte sie an die Uniform der vatikanischen Schweizergarde –, machte sich indigniert daran, das triefende und von Scherben des edlen Porzellans durchsetzte Chaos zu beseitigen.

CLIO FREIFRAU VON E. (ABER WIR ZIEHEN ES VOR, SIE WEITER HIMMLISCH SCHÖNE PRINZESSIN ODER KOMTESSE ZU NENNEN):
Ich hatte ihm in dieser Nacht (genau wie in all den anderen seit unserer Vermählung) keineswegs seine ehelichen Rechte verweigert, hatte mich ihm dargeboten in einer Weise, die in ihm nicht von vornherein das Gefühl hervorrufen konnte, er werde verschaukelt. Und dennoch – mitten in meinem Stöhnen (das man, wie mir meine Zofe geflüstert hatte, unter der Dienerschaft täglich aufs Neue kommentierte, interpretierte und taxierte, als ob eine Bühnenleistung zu beurteilen wäre), wurde mir plötzlich bewusst, dass mein innerstes Selbst diesem Kerl etwas vormachte. Meine Reaktion auf diese Erkenntnis erfolgte abrupt, und die Situation sackte demzufolge dramatisch ab: Ich konnte es nicht verhindern, dass Dirk einen Coitus interfectus erlebte. Vielleicht – aber da verlässt mich meine Erinnerung – entschlüpfte mir auch eine Bemerkung über seine Qualitäten, die ihm nicht gleichgültig sein konnte.

Griseldis, die den Eklat wachsam wie immer sofort registriert hatte, eilte zu ihrer Herrin in der Absicht – nun, das wusste sie gar nicht genau: entweder diese abzuschirmen gegen die Rage eines eventuell zurückkehrenden Ehemanns oder um deren Selbstgefühl zu unterstützen und nur ja nicht zuzulassen, dass die Anempfohlene in irgendeiner Weise die Schuld an dem Desaster bei sich suchte. Etwas in dieser Art.

Während die beiden hektisch konferierten, eilte Dirk in Richtung Stallungen, wo seine Stute Apassionata den Unmut und die Angespanntheit ihres Reiters schon von weitem registrierte, nervös zu tänzeln begann und mit den Hinterhufen heftig gegen die Wände ihrer Box schlug. Ungeachtet der Gefahr riss der Freiherr die Tür auf, baute sich vor dem Tier auf und öffnete mit einem Ruck seinen seidenen Morgenmantel. Es zeigte sich, dass die Erektion von vorhin irgendwie noch da war, wohl auch gestützt durch Dirks momentane Aggressivität, aber eine wenig zartfühlende Dame hätte ihn wohl lächelnd gefragt, was er denn mit dem Ding da anstellen wollte.

So auch die Stute: Sie drehte ihren Kopf leicht zur Seite und begutachtete die Vorderfront ihres Besitzers mit einem vorsichtigen Blick durch den Vorhang ihrer dichten Wimpern. Dann folgte ein vernehmliches Wiehern. „Vielleicht”, schien sie sagen zu wollen, „könnte die Kehrseite eines vornübergebeugten Menschenweibchens einen Hengst begeistern, aber doch keinesfalls ein menschlicher Penis mich!”

KOMTESSE CLIO:
Dirk schüttelte sich, als wollte er einen Albtraum loswerden. Ich bekam die Szene gerade noch mit, als ich die Stabulatio Principalis betrat, Griseldis im Schlepptau. Die Zofe erkannte, dass ich etwas zu sagen ansetzte, und ergriff meinen Arm, um mich zu stoppen, aber vergebens: Pferde können doch nicht sprechen, mein Lieber! rief ich meinem Gemahl zu.

Der eiförmige Kahlkopf des Freiherrn erglühte geradezu. Mühsam beherrschte er sich und wandte sich zum Gehen. Erst jetzt sahen die beiden Frauen, dass sein Morgenmantel offenstand, und ihre Blicke wanderten von seinem Im-Moment-nicht-der-Rede-wert zu Apassionata und zurück.

KOMTESSE CLIO:
(schließt die Box der Stute und öffnet jene ihres Hengstes Magnifico) Vielleicht sollte ich es auch einmal mit meinem Gaul versuchen, was meinst du, Griseldis? Nein, keine Angst, ich will es nicht mit ihm treiben, aber eines reizt mich schon – Apassionatas Theorie von vorhin zu überprüfen!

Wie die Mutter, dachte die Dienerin, ebenso unbezähmbar in ihrer adeligen Ausschweifung, denn die Komtesse warf das Tuch ab, in das sie ihren nackten Körper gehüllt hatte, drehte Magnifico den Rücken zu und machte eine tiefe Rumpfbeuge. Der Hengst stand erstarrt, kaum ein Härchen an ihm schien sich zu bewegen, und durch seine Nüstern sog er nahezu unmerklich Luft ein. Sein bestes Stück aber wuchs tatsächlich zu beachtlicher Größe, wie Griseldis unschwer erkennen konnte.

Sie streichelte mit spitzen Fingern über diese pralle Ausstülpung und flüsterte: „Brav, mein Junge! Wir sind es, du und ich und alle übrigen Leibeigenen dieses Gezüchts, die jegliche Marotten ertragen müssen, ohne aufzubegehren. Sie sagen uns Geh! und wir gehen, Komm! und wir kommen, und selbst wenn sie uns gebieten, Lust zu haben, tun wir es!”

KOMTESSE CLIO:
(hat sich wieder aufgerichtet und umgewendet) Wohlan, du menschliche Kreatur, die du dich mit dieser tierischen verschwisterst, bring es zu Ende und hilf deinem neuen Freund, sich zu erleichtern!

Griseldis tat, wie ihr geheißen, und war dabei noch froh, dass ihr außer den unumgänglichen Melkbewegungen keine demütigenderen Handlungen abverlangt wurden. Magnifico belohnte sie für ihre Besorgung (die zu einer wahren Explosion von enormer Recihweite geführt hatte) mit kriecherischer Ergebenheit, indem er ganz nah an sie herantrat und seine Wange an ihrer Schulter rieb – nicht vielleicht an jener der Herrin, obwohl diese ihn ja ursprünglich erst in Stimmung gebracht hatte. „Nie, wenn sie mit dir zusammen ist”, flüsterte Griseldis ihm zu, „und sei es auch nur, um auf dir auszureiten, wirst du vergessen können, wie sie dir deine Unschuld geraubt hat! Aber auch sie wird sich nicht mehr unbefangen in den Sattel schwingen können! Sie nur, wie dein Lebenssaft an ihrem edlen Körper klebt!”

KOMTESSE CLIO:
Selten zuvor in meinem Leben kam ich mir derart besudelt vor, nicht einmal in den Orgien, die der Tyrann der jenseitigen Völker mit mir oder um mich herum veranstaltete, habe ich in vergleichbarer Weise empfunden. So rasch ich konnte, warf ich mein Tuch über und rannte ins Schloss hinüber, um ausgiebig zu duschen.

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

Der Freiherr war in seinem Furor mittlerweile am Weiher angelangt – auch ihn hatte es also zum Wasser gezogen, aber eben nicht in die herrschaftlichen Nassräume, sondern (ganz als wollte er dem so oft gehörten Befehl gehorchen, mit dem ihn seine Mutter selig wegen seines strengen Geruchs von der Frühstückstafel verwiesen hatte) hinaus in die Natur. Im Halbdunkel des Baumgürtels rund um das Gewässer – wie wir gelernt haben, waren die riesigen Buchen, Eschen und Fichten der traurige Rest des ehemaligen Forstes – warf er nun seine Robe de Chambre ganz ab und sprang in die Fluten. Was immer er erwartete, es trat nicht ein: Weder wurde Boysie neuerlich von Elfen und Nixen heimgesucht, die ihn als Schlappschwanz und als Muttersöhnchen verhöhnten, wie in der Zeit vor den Echwejchs, noch kehrten die Schwanenleute selbst wieder, um ihre erotischen Spielchen mit ihm zu treiben, und dass ihm der Mumm fehlte, sich angesichts seiner frustrierten Lebensgrundierung einfach sinken zu lassen und hier sein kühles Grab zu finden, wusste er inzwischen definitiv.

Immerhin, äußerlich, aber auch innerlich abgekühlt, beschloss er das zu tun, was für ihn das Naheliegendste war: sich in sein Arbeitszimmer zu begeben und eine seiner fein gestalteten literarischen Miniaturen anzufertigen. Nach längerer Schaffenspause hatte er plötzlich das Gefühl, wieder schreiben zu können, nicht zuletzt deshalb, weil es in seiner aktuellen Auslassung wieder einmal um eines seiner Lieblingsthemen gehen sollte – Pferde. Und überdies: Zum Stichwort Finalismus (wie erinnerlich, der Titel seines neuen Mega-Buchprojekts) passten die düsteren Vorgänge des heutigen Vormittags perfekt.

Allerdings kam es vorerst nicht dazu, dass er sie zu Papier brachte, denn als der Freiherr gerade aufbrechen wollte, erschien seine Frau am Weiher.

KOMTESSE CLIO:
Während ich unter der Dusche gestanden war, hatte ich mich wie so oft meinen Tagträumen hingegeben, die aber nicht so sehr Phantasien im hinlänglichen Sinne darstellten, sondern die nicht wenigen unterschiedlichen Realitäten meines Lebens wiederspiegelten. Iadapqap Jirujap Dlodylysuap stand vor mir und musterte mich ungeniert, als würde er eine Ware taxieren. Er machte mir Angst, während er mich gleichzeitig mit seinem Einfallsreichtum ergötzte: Längst hatte ich ja erkannt, dass bei ihm das eine ohne das andere nicht zu haben war, da er beides aus derselben Quelle schöpfte. Auch Basil Cheltenham trat hinzu mit der ihm eigenen Galanterie eines hohen Offiziers, der aus demselben Verhaltens¬kodex heraus, mit dem er die ihm unterstellten Truppen bis zu deren Selbstaufgabe drillte, einer schönen Dame zu Füßen lag (oder zumindest so tat als ob). Und die beiden Gestalten verflossen zu einer, was nicht weiter verwunderlich ist, wenn man sich vergegenwärtigt, dass sie einander wie Zwillinge ähnelten. Während ich mich abtrocknen ließ (Griseldis war mir inzwischen nachgekommen), schob ich dieses Doppelphantom beiseite und kehrte in meinen Gedanken zurück zu Dirk – das heißt, eigentlich dachte ich insgeheim „Boysie?, den lächerlichen Namen, den ich bei Dobrowolny aufgeschnappt hatte (wobei mich Max eindringlich davor warnte, diesen Ausdruck jemals gegenüber meinem Gemahl selbst zu gebrauchen). Ich ließ mir von der Zofe Stiefel, Lederchaps und eine weiße Bluse herauslegen – sonst nichts. Als ich dann so vor ihr stand (von vorn betrachtet, scheinbar seriös, hinten herum aber von den Hüften bis zu den Knien blank), strich ich Griseldis mit der Reitgerte ganz leicht über die Wange, nur um ihr zu zeigen, wozu ich fähig wäre, sollte es mich danach gelüsten. Sie zuckte allerdings mit keiner Wimper, so sehr war sie offenbar bereits von Maman dressiert worden, und ich beschloss daher, ihr bei Gelegenheit tatsächlich eins überzuziehen. Für Boysie nahm ich bloß seine Breeches mit und beeilte mich, Apassionata zu besteigen. Magnifico führte ich am Zügel.

Die Komtesse warf ihrem Mann die Hose hin und forderte ihn zu einem scharfen Ritt über die Felder heraus, mit vertauschten Gäulen, um die Sache spannender zu machen. Gierig sah sie ihm zu, wie er sich anzog (sofern man das bei nur einem Kleidungsstück überhaupt so sagen kann): Nichts an ihm erinnerte jetzt an das bewusste Riesenbaby – eher ähnelte er einem überdrehten exotischen Potentaten, der nichts weiter tat, als seinen akuten Launen nachzugeben.

„Was sagst du nun, Max?”, flüsterte Dirk in kurzem Gedenken an mich, nahm den Hengst zwischen die Schenkel und fegte dahin, sodass Clio Mühe hatte, ihm zu folgen: Apassionata zickte nämlich ein wenig unter ihr, während der Freiherr bei Magnifico nicht den geringsten Widerstand duldete. Als er nach einigen Kilometern anhielt und auf die Komtesse wartete – im hochstehenden Getreide, in das er rücksichtslos hineingeritten war –, konnte sie schon von weitem seinen schweißglänzenden Oberkörper sehen.

Sie sprang vor ihm ab und wandte ihm provokant ihre Hinterhand zu. Als er ihre offene Rückfront sah und inmitten dieser die Rosette, die er weder bei mir (was angesichts unserer Beziehung an sich nahegelegen wäre), noch bei seiner Frau jemals penetriert hatte, ging er daran, sich einen langgehegten Wunsch zu erfüllen, und Clio erschien ihm dabei so knabenhaft, als handelte es sich um eine jüngere, knusprigere Ausgabe von mir.

KOMTESSE CLIO:
So gewann alles seinen höheren Sinn, meine Ehe mit Dirk, meine Hingabe an ihn, mehr oder weniger gespielt – das waren doch perfekte Mittel, um ihn zu instrumentalisieren, wozu auch immer…

409

Niun-Meoa blieb bei seiner irdischen Rolle als brasilianischer Cavalheiro Arminduo Emniunao, als er bei mir als Patient erschien – dennoch erkannte ich ihn auch in diesem Format sofort. Er kam mit einer Empfehlung der Gräfin von B., bei der er so lange Zeit zugebracht hatte.

Geneviève selbst hatte ja bereits meine Hilfe als Therapeutin – in der natürlich unweigerlich auch die Fähigkeiten der Schamanin des Koori-Volks mitschwangen – in Anspruch genommen. Gestärkt durch das Vertrauen, das sie in mich fasste, als ich für sie ein erstes kurzes Zusammentreffen mit ihrer Tochter ermöglichte (und dazu war immerhin die vorübergehende Synchronisation der beiden Paralleluniversen erforderlich, lange bevor diese dauerhaft aneinander andockten), wagte sie schließlich unter meiner Anleitung sogar den Weg zu einem Verständnis ihrer seltsamen Beziehung zur nunmehrigen Königin von VIÈVE, Mango Berenga.

NIUN-MEOA ALIAS ARMINDUO EMNIUNAO:
Muitíssimo obrigado, Senhora! Es ist mir eine Ehre, von Ihnen empfangen zu werden!

Was ist Ihr Problem? fragte ich.

NIUN-MEOA ALIAS ARMINDUO EMNIUNAO:
Ich bin Gottes Sohn…

Ich beschloss, ihn zu provozieren, wie auch jeder andere profilierte Psychiater es tun würde, wenn er mit diesem Syndrom konfrontiert wäre. Individualtherapie war zwar zunächst nicht unbedingt meine Leidenschaft gewesen, sondern eher die Psychographie und Psychopathologie des Kollektivs, aber im Lauf der Zeit änderte sich das, und mittlerweile brachte ich eine Menge Fachwissen auf die Waage, um mit solchen Fragestellungen fertig zu werden. Daheim im Outback konnte ich als Schamanin schließlich auch nicht zwischen Defekten, die mir zusagten, und solchen, die ich nicht behandeln wollte, differenzieren – da verließen sich meine Schutzbefohlenen einfach auf meine Kompetenz bei all ihren Problemen.

NIUN-MEOA ALIAS ARMINDUO EMNIUNAO:
Nun, ich bin immerhin geschaffen, nicht gezeugt – jedenfalls so weit ich das beurteilen kann. Daher muss ich davon ausgehen, dass ich ein besonderes Naheverhältnis zu meinem Schöpfer habe.

Von welchem Gott sprechen wir denn? wollte ich wissen, und ich bat um Verständnis dafür, dass wir bei einer therapeutischen Sitzung den Boden akademisch-nüchterner Terminologie nicht verlassen sollten – und das bedeutete, Religion aus der Vogelperspektive wissenschaftlicher Metaphysik und nicht aus der Froschperspektive emotionaler Gläubigkeit zu betrachten.

NIUN-MEOA ALIAS ARMINDUO EMNIUNAO:
Nun, ich spreche von dem, der alles gemacht hat, der das Uhrwerk des Kosmos erdacht und zusammengebaut hat!

Was für ein armseliges Bild von Gott unterstellt diese These vom „Intelligent Design”! gab ich zu bedenken: Der angeblich mit allumfassenden Eigenschaften ausgestattete (und daher eigentlich eigenschaftslose) Gott, der über dem uns Bekannten und dem uns Unbekannten, mithin über allem Vorhandenen und selbst über dem Nicht-Vorhandenen steht, als kleiner gewissenhafter Handwerker, der akribisch das Universum (oder die Universen, wenn Ihnen das lieber ist) ausgetüftelt und zusammengeschraubt hat?

NIUN-MEOA ALIAS ARMINDUO EMNIUNAO:
Tatsächlich ist das aber mein Bild von ihm, denn auch ich – beginnend mit den banalen Funktionen meines Selbst bis hin zu meiner Kreativität – verhalte mich auf diese Ihnen so banal erscheinende Weise.

Hier sprach offenkundig nur ein Teil seines Ich. Wenn ich ihn auch nicht erkennen ließ, dass ich, wenn ich wollte, von einer höheren Dimensionalität als der seinen auf ihn hinabblicken konnte, umkreiste ich doch mit fachlichem Interesse seine gleichwohl weitgesteckte Persönlichkeit und erfasste deren Gesamtheit mühelos.

Ich sah quasi seinem Gehirn bei der Arbeit zu, wie es Bilder rekonstruierte, nach flüchtigen Gedanken griff, Dissimulationen zu entwickeln suchte, Falschinformationen vorbereitete, aber auch den Wunsch hegte, mir wenigstens so viel an Wahrheit zu bieten, dass ich eine nützliche Analyse zu liefern vermochte. Was andere an meiner Stelle vielleicht für ein undefinierbares Rauschen halten mochten, eröffnete sich mir als ein komplexes Aktivitätsmuster jener hinter dem Erscheinungsbild eines soignierten älteren Herrn versteckten spirituellen Entität. Tatsächlich musste ich anerkennen, dass nicht zuletzt seine Bereitschaft, meinem Eindringen in ihn keine definierbare Grenze zu setzen, meine Analyse erleichterte. Der Proband muss schließlich für das Experiment aufgeschlossen sein und mitwirken, so hörte ich geradezu meine akademischen Lehrer hier im Westen sprechen (denen, die da draußen in der australischen Wüste mit expliziten Mitteln und mit vollem Risiko meinerseits meine Initiation durchgeführt hatten, wäre es nicht eingefallen, sich so auszudrücken, geschweige denn diesen Standpunkt zu wählen).

NIUN-MEOA ALIAS ARMINDUO EMNIUNAO:
Glauben Sie, Doktor, ich habe Krebs in der Seele?

Nun provozierte er mich. Ich fühlte mich an den Aufsatz „Cancer of the Mind – Genetics and Schizophrenia” erinnert, mit dem eine Professorin der University of London uns endlos gequält hatte: mit der zentralen Frage nämlich, wieso permanent dieses Quantum von vielleicht einem Prozent aller Menschen an Schizophrenie leidet. Wieso wurde das dafür verantwortliche Gen angesichts der Schäden, die von dieser Krankheit verursacht werden, im Lauf der Evolution nicht längst von der natürlichen Selektion eliminiert oder wenigstens umgebaut? Aber wenn man schon dieser Frage nachging, sie vielleicht sogar löste – was bedeutete das dann im Zusammenhang mit nichtmenschlichen Lebensformen?

NIUN-MEOA ALIAS ARMINDUO EMNIUNAO:
Das Phänomen des Bewusstseins – wenn schon ein Individuum gleich welcher Gestalt eines besitzt – hat grundsätzlich vorgegebene Strukturen, und das, was Sie hier, weil auf Biohumanoiden bezogen, als genetisch bedingt skizzieren…

Jetzt versuchte er, meine Reflexionen zu ergründen, wenn auch in unvollständiger Form – gerade einmal die äußersten Vorfelder meiner Persönlichkeit (die relativ simpel gestrickten abendländischen Denkmuster) vermochte er zu betreten.

NIUN-MEOA ALIAS ARMINDUO EMNIUNAO:
… also Defekte, die in den biologischen Erbanlagen auftreten, kann man meines Erachtens im übertragenen Sinn auch in partiellen oder reinen Geistwesen finden.

Wie immer, wenn in einem Gespräch ein Anklang zu meinen geisterhaften Ahnen zustandekam, und insbesondere, wenn dabei die Absolutheit oder Integrität dieser Instanzen in Frage gestellt wurde, wühlte mich das auf, wobei mich daran eigentlich vor allem der Umstand irritierte, dass mich überhaupt etwas in diesem Maß beunruhigen konnte. Dieser Bursche da konnte, wiewohl hinter ihm noch mehr steckte, als zu sehen war, zweifellos meinen geisterhaften Ahnen nicht das Wasser reichen – und ich beeilte mich, besonders an mein persönliches Geistwesen zu denken (das mir einen Quarzkristall in den Kopf gesungen hat als Gabe der Hellsichtigkeit, ein heiliges Feuer in die Brust gesungen hat als Gabe der Außerirdigkeit und ein Luftseil in den Leib hineingesungen hat als Gabe der mühelosen Überwindung von Raum und Zeit und anderen Hindernissen, von denen sich niemand eine Vorstellung machen kann). Im Vergleich dazu waren die Manipulationen Niun-Meoas an der Doppelhelix der Echejchs fast als naiv zu bezeichnen, denn er hatte sie nicht wirklich aus der Sphäre tierischen Verhaltens herausholen können – ihr Fortschritt war mehr technologisch-zivilisatorischer als kultureller Natur: Sie besaßen einerseits Raumschiffe, hingen andererseits aber gewalttätigen Riten an. Ihre exzessive Sexualität wiederum wirkte zwar emanzipatorisch, führte aber auch zu äußerst instabilen Gesellschaftsformen.

NIUN-MEOA ALIAS ARMINDUO EMNIUNAO:
Kant, Wilhelm von Humboldt und Os¬wald Spengler aus dem Mund einer Ur-einwohnerin Australiens?

Die stolz darauf verweisen kann, dass wir keine Städte, Paläste, Tempel oder Straßen hinterlassen haben, sondern unsere Entwicklung stets nur in uns selbst (und im Einklang mit der Natur) gesehen haben!

NIUN-MEOA ALIAS ARMINDUO EMNIUNAO:
Und keine sexuellen Exzesse?

Er setzte ein dünnes, aber nicht verletzendes altväterliches Lächeln auf. Ich bestätigte ihm gerne unsere Koori-Ausschweifungen, beharrte allerdings darauf, dass diese uns Substanz bescherten, gleichzeitig mit der Einsicht in diese Substanz.

An dieser Stelle verloren sich meine rationalen Perspektiven zusehends. Ich empfing Brian, der wie so oft in meinem Bewusstsein herumzuspazieren begann, während ich seine Hände auf meiner Haut spürte, ganz als ob er anwesend gewesen wäre. Dieses individuelle Grenzen überschreitende Gefühl, das mir schon als kleines Mädchen ganz vertraut war und gegen das mich meine Erweckung erst recht rettungslos exponiert hatte, erfasste mich: Nicht dass ich daran gezweifelt hätte, mit ein wenig Disziplin die normalmenschlichen Dimensionen von Zeit und Raum wiedererobern zu können, aber ich liebte diesen Schwebezustand, in dem eigentlich alles einerlei, weil eins war. Mein Gegenüber wurde offensichtlich ebenfalls davon überwältigt, denn meine mentale Kraft ließ ihm keinen Ausweg, als sich mir anzuschließen.

Endlich fing ich mich wieder und sagte leichthin: Aber Sie haben definitiv ein Problem – andernfalls säßen Sie ja wohl kaum hier und suchten Linderung für etwas, das Sie anficht!

NIUN-MEOA ALIAS ARMINDUO EMNIUNAO:
(mit leisem Zynismus) Und ich dachte, das was Sie mir soeben geboten haben, Senhora, sei bereits der Beginn meiner Therapie gewesen!

Es ist schön, mit Ihnen zu plaudern! versetzte ich und goss damit gleichzeitig das Vollgefühl meiner Überlegenheit über ihn (denn schließlich hatte ich ihm bereits einiges an Affekt zurückzugeben): Namentlich wenn Sie dabei offenlegen, was ich wissen muss! Diese Arminduo-Emniunao-Geschichte, die ja schon wesentlich länger währt, als viele glauben – ist das nun Ihr Erholungs- und Erbauungsformat, auf das Sie sich voll konzentrieren, oder beglücken Sie das B.’sche Schloss kraft Ihrer Möglichkeiten parallel zu anderen Aktivitäten fernab der Lebenszeit und des Lebensraums der Gräfin Geneviève?

NIUN-MEOA ALIAS ARMINDUO EMNIUNAO:
Was denken Sie, Amiga cara? Natürlich gehe ich sowohl als auch vor, je nachdem, wie stark meine Geschäfte, die ich anderswo habe, mich beanspruchten!

Das soll heißen, während Sie mit jenem – wie Clio das nannte – antiquierten Voyeurismus die Objekte Ihrer distanzierten Begierde auf den Skizzenblock bannten, trieben Sie sich in anderer Gestalt oder wahrscheinlich ganz ohne Gestalt im Sonnensystem der Echwejchs herum, wo sich auch ihre persönliche Heimat befindet, der Gasplanet, in dessen Schwaden Sie normalerweise hausen?

NIUN-MEOA ALIAS ARMINDUO EMNIUNAO:
Aber wer sagt Ihnen, dass ich nicht ursprünglich aus einem ganz anderen Universum komme – aus einem, an dessen Anfang die Symmetriebrechung komplizierter gewesen sein könnte als in Ihrem (oder auch im ähnlich gestalteten, weil bloß spiegelbildlichen Paralleluniverum). Für Sie exotisch erscheinende Bausteine der Materie, darunter eine Fülle hier unbekannter chemischer Elemente, sowie komplexe Lebensformen gäbe es dort, sodass Leute wie ich sogar die dominierende Spezies wären, denn auf Basis viel flüchtigerer, weniger dichter Substanzen müsste das wohl so sein!

Ahnte er wirklich nicht, dass mir im Gegensatz zu ihm sogar solche Wirklichkeiten offenstanden und er mich weder überraschen noch verblüffen konnte? Die Gaben meines Geistwesens ermöglichten es mir, durch sämtliche Welten zu wandern, die sich jemals entfalten mochten, in welcher Ausgestaltung auch immer, denn meine Instrumente waren nicht – wie die seinen – mit einer bestimmten Dimension begrenzt, sondern generell metaphysischer Natur. Giordano Bruno, dessen inneres Sein ich aus den Flammen der Inquisition in jene transzendente Sphäre geholt habe, war sogar ohne meine Ausbildung und zudem ohne jene Hilfsmittel, derer die Wissenschaft weder zu seiner Zeit, noch nach ihm entraten wollte, durch bloßes Denken der letzten Wahrheit auf den Grund gekommen. Er wusste wie ich, dass jedes Prinzip, das die uns Menschen umgebende Realität zu erklären vermochte, früher oder später durch ein Gegenprinzip ergänzt wurde und zusammen mit diesem zu einer Synthese strebte…

NIUN-MEOA ALIAS ARMINDUO EMNIUNAO:
… die selbst wieder – als neue Behauptung – zum Ausgangspunkt eines neuen Prozesses dieser Art wird.

Jetzt haben Sie es also verklickert? fragte ich, unterlegt mit meinem legendären gutturalen Lachen.

Erstaunlich, wie wütend ihn diese Bemerkung machte, aber ich begriff erst nach einer Weile, dass ihn nicht der Vorwurf des langsamen Verstehens, sondern die Vokabel an sich so empörte: Diese dürfe nur auf den Erkenntnisprozess von primitiven Maschinenkreaturen angewendet werden, belehrte er mich – somit stelle sie für Personen seiner Art eine Beleidigung dar!

Aber – ich überging das einfach – diese virtuellen Existenzen, jedenfalls die am weitesten entwickelten unter ihnen, können ganz gut mit uns Schritt halten. Vangelis Panagou beispielsweise hat von Giordano Bruno all das gelernt, was dieser in seiner „Doctrina grandis coniuncta” niedergelegt hat – allerdings niemals aufschrieb, mangels Pergament und Schreibgerät im Gefängnis des Kardinals Santaseverina, sodass diese Lösung aller Welträtsel nur in seinem Kopf existierte, und in den Köpfen der wenigen, die er daran teilhaben ließ. Die Beschaffenheit des AMG hat diesen keineswegs gehindert, Brunos Doktrin zu begreifen, eher im Gegenteil, denn er besitzt ja eine Präzision, die richtigen Menschen oft mangelt.

Niun-Meoa, in der Gestalt des betagten Arminduo Emniunao, wollte sich nicht mehr beruhigen, worauf ich unsere Sitzung für diesmal beendete und einen neuen Termin vereinbarte. Er kam allerdings nicht wieder, und ich beschloss, Anastacia Panagou und ihre Androidentruppe zu warnen – jene, die mit ihr unterwegs waren ebenso wie die beiden, die von ihr getrennt lebten: Serpentina und Vangelis. Hinsichtlich des AMG brauchte es keine aufwändige Kommunikation, denn er wohnte ja bei uns.

410

Eines Tages stand eine gewisse Christina in Cheltenhams Empfangsraum auf Kantara und stellte sich als Tyras Tochter vor, misstrauisch beäugt von der Entourage des Baronets, vor allem von dessen Frau Charlene, die um die ausgeprägte Fähigkeit ihres Mannes, Menschen im Allgemeinen und Frauen im Besonderen (oder, um es ganz konkret zu machen, junge Damen) zu beeindrucken. Die Kleine mochte knapp 30 Jahre alt und damit zu einer Zeit geboren sein, als ihre Mutter noch die gefährlichsten Agenten-Jobs zu erledigen hatte. Zwar konnte sich Sir Basil dunkel an eine mehrmonatige Auszeit Tyras erinnern, hatte diese aber stets nur mit einfachen Privatangelegenheiten und nie mit einer Schwangerschaft in Verbindung gebracht.

Jedenfalls schien ihm nichts darauf hinzudeuten, dass seine überraschende Besucherin durch den frühen Tod ihrer Mutter besonders traumatisiert war. Auf seine teilnahmsvolle Frage hin erklärte sie, es sei ja der Vater für sie da gewesen, der Wirt des „King Charles’ Inn” unterhalb von Cheltenham House, den Tyra als Witwer zurückgelassen hatte und der sich nun – eigentlich ganz gegen das raue Naturell, das ihm alle nachsagten – rührend um die Heranwachsende kümmerte.

DER GROSSE REGISSEUR:
An dieser Stelle möchte ich – bevor mir jemand aus unserer weiblichen Abteilung zuvorkommt – eingreifen, denn wenn es hier etwas zu kommentieren und interpretieren gibt, bedarf es wirklich eines gestandenen und erfahrenen Mannes. Immerhin lag auf der Hand (Cheltenhams legendärer Instinkt sprach sofort an und setzte seinen Besitzer auf die richtige Fährte, wie so viele Male davor), dass das Girlie nicht ohne Hintergedanken hier auftrat, sondern – ich sag’ es einfach rundheraus – irgendwie auf die Idee gekommen war, dass mit der Ehe ihrer Eltern nicht alles so gewesen war, wie man es ihr vorgemacht hatte, und wir wissen ja, dass sie damit nicht falsch lag, denn die Beziehung war von unserem umtriebigen Baronet eingefädelt worden, um seine Lieblingsagentin, ausgestattet mit einer stimmigen Vita, in seiner Nähe zu haben. Von Christinas dunklen Ahnungen bis zur konkreten Vermutung, dass der alte Brummbär womöglich nicht ihr echter Vater sei, war nur ein kleiner Schritt, und eines Tages machte sie sich daher auf die Suche nach dem Original, über dessen Identität ihr die Mutter (die an sich ihre erste Adresse für derlei Fragen gewesen wäre) keine Auskunft mehr geben konnte. Das hieß für Christina, dass sie nichts ausschließen konnte und die Liste jener Männer abarbeiten musste, die – wie sie eifrig recherchiert hatte – in Tyras Leben von einer bestimmten Bedeutung gewesen waren.

Fragen Sie mich nicht, wie sie es geschafft hatte, aus dem amerikanischen Bundesstaat England nach CORRIDOR zu gelangen, denn das war mittlerweile alles andere als einfach. Die Föderation wurde ja geradezu mit dem Ziel gegründet (jedenfalls aus der Sicht der beiden mächtigen Geburtshelfer), jeglichen Transfer zwischen ihren Territorien zu unterbinden, was zugleich bedeutete, dass Sir Basils Staat seine Grenzen, so gut es ihm nur irgend möglich war, kontrollieren musste. Aber diese Klippe hatte Christina, wie es schien, praktisch mühelos gemeistert, indem sie ohne jeden Beweis behauptete, zu Cheltenham zu gehören und von diesem dringend an seinen Hof gerufen worden zu sein. Und hier zeigte sich wieder einmal deutlich die Schwachstelle jeder autoritären Struktur: Wenn man nur die Kaltschnäuzigkeit besaß, glaubhaft den Bezug zur obersten Instanz herzustellen, wagte es niemand ernsthaft, diese Angaben zu hinterfragen oder gar zu überprüfen.

Sir Basil empfing sie nach außen hin freundlich – sie war auch offen gesagt ein zu hübsches Lämmchen, als dass ein alterndes Raubtier wie Cheltenham sie schlecht behandelt hätte. Er wog alles genau ab, Chancen und Risken auf jeder möglichen Ebene, wie er es gewöhnt war. Da sie von sich aus keine Andeutung ihres Begehrs machte, konnte er auch nicht damit herauskommen, dass er es grundsätzlich vermieden hatte, zu seinen Agenten allzu nahe persönliche Bindungen entstehen zu lassen oder gar mit einer seiner Agentinnen eine Liaison zu beginnen (was ihn zu entlasten schien).

DER GROSSE REGISSEUR:
Die große Ausnahme war aber natürlich Tyra, wenn auch dieser Encounter eigentlich dienstlichen Charakter aufgewiesen hatte, da er mit ihr öffentlich koitieren musste, um den alten Scheich Rahman zufriedenzustellen. Als er an diese Szene dachte, kamen Sir Basil all die exzentrischen und mondänen Biographien wieder in den Sinn, die er mit und für Tyra geschrieben hatte: die Nachtklubsängerin in Beirut, der es ein Leichtes war, zwielichtige Geschäftsleute, korrupte Politiker und arrogante Diplomaten auszuhorchen; die IRA-Terroristin, die ein Trainingscamp für islamistische Kämpfer veranstaltet hatte, die man danach bestens gegen ihre ursprünglichen Intentionen manipulieren konnte; und dann eben das britische Starlet, das sich aufgrund einer Annonce des Scheichs für ein volles Jahr als Haremsdame verpflichtete, mit dem Ziel, Einzelheiten über seine paradox erscheinenden Kontakte mit arabischen Kommunisten in Erfahrung zu bringen. Was Cheltenham nicht vorhersehen konnte: Als er – getarnt als Abgesandter der britischen Krone, der Rahman höfliche Grüße der Queen überbrachte – diese Informationen übernehmen wollte, machte ihm der Scheich Tyra spontan zum Geschenk, verlangte aber, dass er sie vor den Augen des gesamten Hofstaats umgehend und mit voller körperlicher Entschlossenheit in Besitz nahm – und das gleich zweimal hintereinander, professionell unterstützt durch die Dienste von Sklavinnen und Lustknaben, die das Paar auf einen Wink ihres Gebieters nach allen Regeln der Kunst in Hochspannung versetzen und dort möglichst lange halten mussten.

Das war natürlich die klassische Situation, in der es passiert sein mochte – erst jetzt nach so langer Zeit wurde es dem Baronet bewusst, und der Gedanke erfüllte ihn gleichermaßen mit Besorgnis und Stolz. Letzterer gewann vorerst die Oberhand, und Sir Basil sah sich veranlasst, Christina genauer unter die Lupe zu nehmen. Was er sah, versetzte ihn in hitzige Euphorie: Da war unzweifelhaft etwas von dem Glamour, den Tyra verströmte, wenn sie nicht gerade in einem verdreckten Kampfanzug steckte (und eigentlich selbst dann noch, wenn man ehrlich war). Zusätzlich aber gab es da noch etwas, das Cheltenham seltsam vertraut erschien – etwas von ihm selbst: Zielstrebigkeit, Eleganz, Kreativität im Ausdruck, ein Hauch von Aristokratie, gerade genug, um die Gratwanderung zwischen patrizischem Understatement und strikter Abgrenzung zur Plebs erfolgreich zu bewältigen.

Eine Locke hing Christina in die Stirne, und an dieser biss sich Sir Basil geradezu fest. Seine Hand wollte sich allem Anschein nach selbstständig machen und fühlte sich an, als ob er die junge Frau bereits an intimer Stelle berührt hätte. Plötzlich schob sich, wie von Geisterhand, ein anderes Bild über das von Christina – aber es war nicht das Clios, wie man vielleicht annehmen möchte, sondern jenes von Henutsen. Es war nicht die Szene der zwar exquisiten, aber immerhin legitimen Liebe, sondern eine ganz andere, die jede Regel verletzte. Alles war mit einem Mal erlaubt, denn man stand über dem Gesetz: Beziehungen, die normalerweise streng tabuisiert sind, wurden mit einem Mal als vollziehbar angesehen.

DER GROSSE REGISSEUR:
Sir Basil erwog die Möglichkeiten, die Christina identifiziert haben mochte, immer auf dem Boden der Tatsache, dass ihre Mutter offenbar nicht mit allen Mitteln versucht hatte, eine Schwangerschaft zu vermeiden:
1) konnte ihr nomineller Vater natürlich durchaus ihr tatsächlicher sein: auch wenn Tyra ihren Mann nicht umwerfend liebte (dazu hatte sie einerseits schon zu viele echte heiße Affären gehabt, andererseits aber auch zu viele, in denen sie aus beruflichen Gründen eine leidenschaftliche Nummer vortäuschen musste), schlief sie dennoch ziemlich regelmäßig mit ihm, oder vielleicht gerade deshalb – schließlich hatte ihr Cheltenham eingebläut, dass eine gute Agenten-Vita so zu gestalten sei, dass einem das Unbewusste keinen Streich spielen konnte;
2) war Murky Wolf oft genug mit Tyra zusammen gewesen, und er schien beleibe nicht der Typ, der aufpasste – im Gegenteil, es bereitete ihm sicher zusätzliche Lust, seine Partnerinnen in andere Umstände zu befördern, und seine damalige Verfassung machte jeder klar, dass er sich dennoch nie um das Kind kümmern würde (dass er Tyra, wie man berichtet, ausnahmsweise wirklich liebte, hatte darauf keinen Einfluss);
3) stand eben auch Sir Basil selbst auf Christinas potentieller Ahnentafel: die Nummer vor Rahman war schließlich ausführlich genug gewesen, und dass sie überhaupt stattgefunden hatte, war ein offenes Geheimnis, denn die Episode machte ihren Weg langsam aber sicher rund um den Globus und ging sogar in den dürftigen Anekdotenschatz des Paralleluniversums ein.

Als Sir Basil erkannte, wie klein dieser Kreis von Kandidaten eigentlich war, freundete er sich mit seiner denkbaren Rolle an, beließ die Angelegenheit jedoch fürs Erste in Schwebe. Anders Christina, die er herzlich eingeladen hatte, so lange sie wollte als sein Gast auf Zypern zu bleiben (gegen alle Widerstände aus den eigenen Reihen, denn er fühlte, dass er hier jedenfalls eine Art Schuld gegenüber Tyra abzutragen hatte). Die Kleine sammelte in und um Kantara beherzt die eine oder andere DNA-Probe, um zu verschleiern, auf wen sie es tatsächlich abgesehen hatte, und über kurz oder lang wusste sie auch, wer ihr wirklicher Erzeuger war, ohne allerdings ein Sterbenswort darüber zu verlieren.

DER GROSSE REGISSEUR:
Das Spielchen ging also weiter. Sir Basil versuchte schließlich aktiv, quasi als Selbstschutz, Christina die Möglichkeit einzuimpfen, dass er ihr Vater sei, und sein Kalkül dabei war: Einer von ihnen beiden würde sich dann, wenn es je zu einer verfänglichen Situation zwischen ihnen käme, besinnen und einen kühlen Kopf bewahren. Schließlich stand das Seitensprung-Match zwischen ihm und Lady Charlene (jedenfalls wenn man ernsthaft zählte) eins zu eins – Komtesse Clio gegen Seiji Sakamoto, und Cheltenham wollte dieses Gleichgewicht nie wieder stören.

Da täuschte er sich allerdings in Christina: Seit sie bestätigt sah, dass zwischen ihr und ihm die engsten denkbaren Blutsbande bestanden, wartete sie den gewissen Moment ab, indem er sich – selbst unter dem Verdacht, seine eigene Tochter zu verführen – nicht mehr zurückhalten wollte. Und sie leistete, anders als der Baronet es geplant hatte, keinen Widerstand…

Was also blieb ihm anderes über, als sich quasi in letzter Sekunde seinerseits am Riemen zu reißen und der Versuchung zu widerstehen? Immerhin war es ihm eine Genugtuung, mit eigenen Augen zu sehen, dass der Apfel nicht weit vom Stamm gefallen war – will sagen, unter den flapsigen Kleidern, in denen sich Christina ihm bisher präsentiert hatte, zeigten sich Tyras wohlbekannte Formen: „Juicy hot wire!” wäre Murky Wolfs Kommentar gewesen, wie er es bei der Mutter oftmals ausgerufen hatte. Cheltenham dachte dasselbe, obwohl er es im Gegensatz zu seinen Soldaten niemals in den Mund nehmen würde, und erinnerte sich zudem an die arabischen Kraftausdrücke, die Scheich Rahman – allein vom Zusehen in höchster Erregung – gebraucht hatte: „Bitch, I’ll fuck your mother’s thoughts!” hatte sich Sir Basil, bis dahin mehr an orientalischer Poesie geschult, mühsam zusammengereimt, und „My cock digs into your conscience!”

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

Christina fuhr bald darauf nach Hause. Mit mehr Zufriedenheit als zuvor bezog sie wieder ihr Zimmer im Dachgeschoß des „King Charles’ Inn”, ging in der Wirtsstube zur Hand, zur größten Freude der Gäste, und wuchs so langsam in die umsatzfördernde Rolle, die Tyra hier früher gespielt hatte. Was Cheltenham betraf, vereinigten sich in ihrer Erinnerung zwei Bilder: einerseits der Mann, der einfach ihr Vater war, und andererseits jene bedeutende Persönlichkeit, die sich um ein Haar herabgelassen hatte, mit ihr zu schlafen, und nur mit größter Mühe zurückgestanden war.

In der Nacht nach der Abreise der Kleinen kam Sir Basil – was schon einige Zeit nicht der Fall gewesen war – sehr früh zu Lady Charlene und berührte sie mit einer Selbstverständlichkeit, als wäre es nie anders gewesen. Der perfekte Liebesakt fand statt, denn alle wesentlichen Phantasien, denen die beiden unabhängig voneinander nachhingen, flossen darin zusammen. Charlene wurde für Basil, ohne es zu wissen, eine reifere Christina, während er für sie eine zivilisierte Variante Seiji Sakamotos verkörperte. So machten sie einander zwar etwas vor, aber zugleich taten sie eine Menge füreinander, denn als beide erschöpft dalagen, sie noch immer auf ihm und er noch immer in ihr, schliefen sie ein und wachten nach Stunden auf, ohne sich getrennt zu haben, und diese Erfahrung verband sie ungestüm, fast verbissen miteinander. Gegen Morgen also setzten ihre Körper wie von selbst fort, wo sie geendet hatten, und sie waren füreinander da, diesmal ganz ohne jeden Doppelsinn.

DER GROSSE REGISSEUR:
Währenddessen dachte Nicholas Cheltenham mit etwas Bitterkeit an Christina, denn als er selbst sie angebaggert hatte, sah er sich als Grünschnabel (der er bekanntlich in vielerlei Hinsicht gar nicht war) abgetan – eine Position im zwischenmenschlichen Beziehungsgeflecht, die ihm überhaupt nicht behagte. Aber er musste es hinnehmen, dass sie ihn, wie fast alle Bewohner von Kantara, mit denen sie zu tun gehabt hatte, an ihrer äußersten Oberfläche abprallen ließ: ein flüchtiger Gruß, gerade nur, um der Höflichkeit Genüge zu tun, oder einige belanglose Worte, wenn es sich schon gar nicht vermeiden ließ – und das war’s!

Indirekt traf Christina ihn aber tiefer, und zwar auf dem Umweg über Briseïs, der sie unter vier Augen unfassbare Dinge sagte – und man behaupte jetzt nicht, die junge Griechin sei von Nicholas bereits so weit präpariert worden, dass sie es geradezu herausforderte, insultiert zu werden. Nein, es war schon eine Art originärer Sadismus, den die Besucherin aus England hier gegenüber einer Einheimischen auslebte, natürlich in der Annahme, diese würde nichts eiliger zu tun haben, als ihrem Freund davon zu erzählen.

„Briseïs?”, fragte Christina gleisnerisch, „Das war doch die Lieblingssklavin des Achilles?” Sie wusste es natürlich und unterstellte eher der modernen griechischen Kultur Ignoranz, weil diese sich im Byzantinismus mehr verankert sah als im klassischen Altertum. „Briseïs”, philosophierte Christina weiter, „die Sklavin, musste an Agamemnon abgegeben werden und weinte darüber bitterlich. Aber Achilles befahl ihr ‚Shutup!’, denn sie sei nicht befugt, Überlegungen über ihre eigene Befindlichkeit anzustellen. Und sie solle nur ja dem Agamemnon ohne Widerstand zu Willen sein als jener Gebrauchsgegenstand, der sie war und der nur einfach den Besitzer wechselte. Denn wenn er, Achilles, partout nicht von seinem Gut lassen wolle, würde er sich mit seinem Kontrahenten persönlich auseinandersetzen, aber das sei nichts, was die Sklavin als solche beträfe – und er bekam sie, wie jeder weiß, schließlich ja auch wieder zurück, indem er Agamemnon mit seinem Boykott der Trojanischen Kampagne erpresste!”

„Briseïs –”, ätzte Christina gegenüber ihrem vor Zorn und Scham erröteten Opfer, „ich sehe ihr Bild vor mir auf der Amphore im neuen Staatsmuseum von CORRIDOR: sehr schön tatsächlich nach dem Ideal der damaligen Griechen, aber uns Heutigen fällt ihr fetter Arsch auf, und man denkt dabei unwillkürlich an jene Besonderheit des antiken Hellas, wo man mindestens ebenso gern, wenn nicht lieber durch den Hintereingang verkehrte als durch die vordere Pforte.”

Sprach’s und ließ Briseïs stehen…

Diese ergriff kurz ihr Amulett gegen den bösen Blick, das sie um den Hals trug. Dann hob sie wütend ihren Rock, riss den Slip hinunter und schickte sich an, Christina den fraglichen Körperteil zu präsentieren. Aber ihre Feindin wandte sich nicht mehr um.