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5. TEIL
PLÄNE ZUR
DEKONSTRUKTION

501

„Zwischen zwei autoritären Großmächten eingekeilt, noch dazu mit dem Manko einer äußerst ungünstigen strategischen Topografie, werden wir am Ende des Tages gezwungen sein, auch hier bei uns sämtliche verbliebenen Bürgerrechte außer Kraft zu setzen!” So zackig äußerte sich unser Oberleutnant Franz-Josef Kloyber, während er im War Room von Kantara Castle trotz seiner pummeligen Gestalt möglichst kerzengerade vor der riesigen Weltkarte stand, auf der die Umstände, die er eben angesprochen hatte, unübersehbar dokumentiert waren. Der Offizier, den Sir Basil mittlerweile zum Brigadegeneral und zum Chef seines Stabes sowie seiner Praetorian Guard befördert hatte, blickte gelassen in die Runde der Berater, denn nach seinem ungeheuren Karrieresprung, in der sich die Wertschätzung Cheltenhams für ihn überdeutlich manifestierte, konnte er das Murren einiger langjähriger Mitarbeiter des Baronets, die sich übergangen fühlten, getrost ignorieren.

CENTURIO QUINTUS RUBELLIUS TAURUS:
Als ich mit meinen Legionären endlich auf Cyprus eintraf, entsprach dies längst nicht mehr der ursprünglichen Intention des Feldherrn Scipio, denn die Hilfestellung, die er seinem Kameraden fernab von hier – auf der Statio Aetheria, die wir VEVA nennen würden – durch uns geben wollte, war aus den bekannten Gründen ausgeblieben. Gerade dass er es geschafft hatte, uns nach unseren diversen Sidesteps endlich nach Rhodus zu dirigieren, und nun standen wir belämmert vor Sir Basil: Nur wenn er uns überhaupt noch haben wollte, sollten wir als Cohors Praetoria seine Leibwache sein, und so geschah es denn auch. Wie der Africanus resignierend anmerkte, die Zeiten hatten sich geändert, und er brachte demzufolge nicht mehr die Energie auf, eine Militäreinheit dezimieren zu lassen, die sich derartiger Verfehlungen schuldig gemacht hatte wie wir – zu unser aller Bestem, denn auch ich, der unter Caesar in einer solchen Situation meine Brust bereitwillig dem Schwert eines Kameraden geboten hätte, war nicht mehr bereit, derlei zu akzeptieren, von meinen Legionarii ganz zu schweigen.

Dennoch brachte auch sein neuer Job den Centurio in die Bredouille, denn nun musste er jenen laxen Optio, von dem er vor geraumer Zeit in Wien im Streit geschieden war, plötzlich als Vorgesetzten akzeptieren.

CENTURIO QUINTUS RUBELLIUS TAURUS:
Ich fügte mich auch relativ problemlos, musste ich mir doch sagen, dass nur außergewöhnliche Virtutes, die ich bei Kloyber anlässlich unseres ersten Zusammentreffens in Vindobona (bevor wir nach Britannia gezogen waren) nicht vermutet hatte, bewirkt haben konnten, dass er nunmehr in der Hierarchie über mir stand. Dennoch fürchtete ich, dass die Res personales störend zwischen uns stehen könnten, und ich dachte an die wenig schmeichelhaften Dinge, die meine Jungs damals von sich gegeben hatten, ohne dass ich mich querlegte.

Aber die Besorgnis des Centurio erwies sich als unbegründet, denn der ehemalige Oberleutnant im Heeresnachrichtenamt ging an die Sache gemütlich (und damit auf seine Weise professionell) heran. Es mochte daran liegen, dass er es, so wie nur seine Autorität von keinem, der ihm wichtig erschien, in Frage gestellt wurde, nicht nötig fand, den Vorgesetzten heraushängen zu lassen. Zu Taurus pflegte er daher ein korrektes Verhältnis, ohne je auf frühere Ereignisse zurückzukommen. Er gewöhnte sich sogar daran, dass ihn sein nunmehriger Untergebener – sowie dieser sich seiner Sache völlig sicher war – als Franciscus Iosephus Picchius (eine ungefähre Übersetzung des Vogelnamens Kleiber) oder gleich als FIP apostrophierte, wobei ihm die Initialen fast noch lieber waren, denn bei diesen mochte nach einiger Zeit niemand mehr die wahre Bedeutung ermessen.

Ach, übrigens – da auch seine Geliebte, Doris de Dubois, von da an ebenfalls an diesem Kürzel Gefallen fand, konnte man hören, wie die beiden einander FIP und DDD nannten, was Außenstehenden zweifellos etwas seltsam anmutete: Man stellte sich vor (und das taten natürlich viele in der Umgebung des Paares), wie sich das im Liebestaumel anhörte. Ich selbst ging ja noch einen Schritt weiter, denn als Drehbuchautorin male ich mir solche Szenen fast zwanghaft bis in jedes Detail aus, schreibe sie auch meistens nieder und füge sie meinem Ideenfundus an. Und eines Tages, vielleicht, gibt es in einem neuen Film des großen Regisseurs eine Kameraeinstellung, in der sich jemand wie DDD – blond, von stattlicher Figur, herausfordend ihre Reize zeigend, sodass man erkennen kann, dass ihre Ähnlichkeit mit Marilyn Monroe sich nicht auf die Haarfarbe beschränkt – vor jemanden wie Kloyber hinstellt, und sie sagt: „FIP, hopp!” Und er folgt der Einladung, ins Vergnügen reinzuspringen: „Okay, DDD!”

Einerlei, jedenfalls war Taurus’ neuer unmittelbarer Chef ein gutmütiges Tier…

CENTURIO QUINTUS RUBELLIUS TAURUS:
Ein Animal benignum, das war es, was auch ich mir dachte, und als solches überließ er mir praktisch ohne Zögern die operativen Führungsaufgaben der Cheltenham-Garde uneingeschränkt – ein Grad von Selbstständigkeit, den ich von meiner ersten, der richtigen Lebenszeit nicht gewöhnt war und für den ich mir sogar einen neuen Habitus zulegen musste. Mit nicht wenig Wehmut erfüllte es mich allerdings schon (und das war FIPs Stachel in meinem Fleisch), dass mein Unteroffizier, der Beneficiarius Mannius Cattianus, dem Brigadier (oder wie wir sagen würden: Summus Dux) offenbar wesentlich mehr lag als ich. Kloyber erinnerte sich wohl nicht mehr daran, dass der Gefreite sich bei den seinerzeitigen Maledicta besonders hervorgetan hatte, aber ich hatte dennoch keine Lust, ihn geradezu darauf hinzuweisen. So kam es denn, dass zwischen den beiden eine Vertraulichkeit aufkam, die es eigentlich zwischen Gradus tam differentes nicht geben dürfte.

Die Idylle der beiden währte jedoch ohnehin nicht lange, denn als der Brigadier die gesamte Praetorian Guard zusammenstauchte (nachdem er selbst hinter verschlossenen Türen von Sir Basil sein Fett abbekommen hatte), machte er für den Beneficiarius keine Ausnahme, und sein Verhältnis zu Cattianus kühlte demnach rapide ab. Immerhin dauerte es lange genug, um über die persönlichen Verhältnisse des Centurio – die Kloyber brennend interessierten – und der einfachen Legionäre – auf die er weniger neugierig war – Einiges zu erfahren, was ihm einen unschätzbaren Vorteil bei seinen Führungsaufgaben verschaffen konnte.

Aber da war letztlich nichts. Wenn der Brigadier sein eigenes früheres Wesen als langweilig empfand, konnte Taurus damit leicht konkurrieren: Es gab bei ihm zwar einige Ecken und Kanten, aber keinerlei dunkle Falten in seinem Gemüt, und selbst in die Insubordination anlässlich des Durchhängers der Legion in Loca Deserta war er ja nicht aus eigenen Stücken, sondern auf Druck seiner Mannschaft hineingeraten.

Damit war also nichts anzufangen – abgesehen davon, dass man sich vielleicht auf Aussagen des Cattianus gar nicht verlassen konnte…

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

Anlass für Cheltenhams indignierte Irritation, die sich bei Kloyber schließlich in Form blanker Wut fortpflanzte, war – anlässlich der Begebenheit mit Seiji Sakamoto, von der man lediglich indirekt durch die Schnüffelei dieses Marconi erfahren hatte – die Pflichtvergessenheit der Leibwache, die ja nicht nur für die Sicherheit des Baronets, sondern auch für jene von Lady Cheltenham und insbesondere Master Nicholas verantwortlich gemacht wurde.

„Wie kann es sein, dass mein Sohn sich ohne Begleitung aus Kantara entfernt und mutterseelenallein am Strand spazieren geht?”, fragte Sir Basil gefährlich leise, aber er bekam von seinem Brigadier keine Antwort – einziger Effekt war, dass Kloyber seinerseits wenig später dieselbe Frage dem Centurio und seinen Männern entgegenbrüllte, mit dem gleichen stummen Ergebnis: Die Legionäre standen stramm und versuchten tunlichst, irgendwohin ins Leere zu blicken.

CENTURIO QUINTUS RUBELLIUS TAURUS:
Was sollte man auch antworten, wenn sich einer auf den anderen verlassen hatte, da bis dato kein verbindliches Propositum officiorum existierte, und ohne dieses passierte im römischen Militär nichts! Man denke nur nicht abfällig über diesen schematischen Zugang – es wurde ja bereits an anderer Stelle betont, dass selbst die feldherrliche Kreativität eines Hannibal am Ende vor unserem Dienst nach Vorschrift kapitulieren musste. Was ich vor 2000 Jahren nie gewagt hätte – nämlich meinem Legatus unaufgefordert einen Vorschlag zu unterbreiten – tat ich jetzt im Rahmen der mir übertragenen Befugnisse: Sir Basil, Lady Charlene und Master Nicholas wurden gebeten, uns jeweils rechtzeitig zu informieren, wenn sie den Burgbereich zu verlassen planten. In diesem Fall sollte sich einer der Legionäre, die stets die Wachstube neben dem Tor zu besetzen hatten, bereitmachen und mitkommen.

Cheltenham, der alte Fuchs, unterschrieb eine diesbezügliche Order höchstpersönlich, aber nicht ohne eine entscheidende Abänderung: Für seine Familie sollte diese Anweisung lückenlos gelten, aber er selbst behielt sich vor, ohne Babysitter auszugehen. Für diesen Spezialfall wurde präzisiert: Wenn Sir Basil keine Ankündigung machte, hatten die Soldaten einfach wegzusehen.

Dann konnte man sich im War Room wieder wichtigeren Dingen zuwenden, so etwa den Vorstellungen, die Brigadier Kloyber hinsichtlich der Bürgerrechte entwickelt hatte. Er stellte kurz die Eckpunkte seiner Überlegungen dar:

• Grundsätzlich sehr enge Definition der Rechtspersönlichkeit aller Bürgerinnen und Bürger der Föderation und a priori Beschränkung aller ihrer Möglichkeiten für öffentliches Auftreten, insbesondere der sogenannten Rede- und Versammlungsfreiheit.
• Keinerlei Schutz für Beschuldigte, selbst bei bloßen Verdachtsmomenten und ohne Vorliegen konkreter Beweise.
• Erlaubt sind die Beschattung, das Abhören und die Videoüberwachung sowie das Ausspähen von EDV-Anlagen ausnahmslos aller Bürgerinnen und Bürger, weiters Hausdurchsuchungen ohne weitere Formalitäten und auch ohne Wissen der Bewohner.
• Erlaubt sind ferner: Verhöre jeder Länge und jeden Härtegrades ohne Achtung der geistigen oder körperlichen Integrität der Betroffenen; Festnahmen ohne besondere Formalitäten und Verwahrung ohne zeitliche Beschränkung.

Zusammenfassend erklärte Cheltenhams Chief of Staff: „Es geht uns im Spannungsfeld zwischen Sicherheit und Freiheit darum, stets der Sicherheit den absoluten Vorrang zu geben! Wir müssen radikale Schritte setzen, um Straftaten nicht nur im Keim zu ersticken, sondern möglichst bereits deren Planung zu unterbinden! Dies gilt insbesondere auch für Ausländerinnen und Ausländer, die versuchen, auf dem Boden CORRIDORs unfreundliche Akte gegen unser Land zu setzen!”

CENTURIO QUINTUS RUBELLIUS TAURUS:
Wieder einmal war der Beweis erbracht für ein jahrtausendealtes Phänomen: Die staatliche Gewalt ist nicht – wie mir mein griechischer Lehrer unter Berufung auf diverse Philosophen zu vermitteln suchte – ausschließlich dazu da, dem eigenen Volk nach innen Sicherheit zu geben und es nach außen zu beschützen, sondern ihr ist immanent, sich gegen dieses Volk selbst zu wenden. Jedes auch noch so geringe Maß an Macht, das die Menschen vernünftigerweise an die Instanzen der Res publica delegieren, reicht aus, um damit Missbrauch zu treiben und die zentrale Autorität selbstständig und über Gebühr auszuweiten.

Bemerkenswert für einen einfachen Offizier!

CENTURIO QUINTUS RUBELLIUS TAURUS:
Alles, was anders klingt, ist bloße Vernebelungstaktik: Wenn ich etwa höre, unser großer Caesar habe polizeilichen Terror verabscheut, dann ist das genau jenes Bild, das er von sich in der Öffentlichkeit gezeichnet sehen wollte. Wir, die dabei waren, können aber von P.E.R.S., dem berüchtigten Militärgeheimdienst Procuratio Exercitus Romani Secreta, berichten, der die gallischen Legionen zwischen sich und den Feind zwängte, sodass ihnen gar nichts anderes übrig blieb, als tapfer zu sein. Um endlich der Wahrheit die Ehre zu geben, selbst auf die Gefahr hin, einen Mythos zu zerstören: Wir hatten einfach mehr Angst vor den Agenten des Imperator, als vor den Galliern – so funktionieren Soldaten eben! Und genauso funktionierte die normale Bevölkerung in den von Caesar kontrollierten Provinzen (sowie später im ganzen Reich): Sie fürchtete mehr als alles andere das Munus Investigandi Publicum vulgo „Officium Septimum” der zivilen Verwaltungsbehörde, das – genau wie es unser Summus Dux jetzt vorschlägt – ihre Iura civilia mit Füßen trat.

502

Beim Umsturz in Washington ging es, so weit wir in Beijing darüber informiert waren, definitiv nicht um einen Wechsel der Staatsdoktrin, sondern um den Austausch der handelnden Personen. Niemand stellte die Architektur des Amerikanischen Imperiums als solche in Frage. Anders bei uns in China: Infolge der islamisch-hinduistischen Aufstände gegen die Zentralmacht, der zwischen diesen Gruppen aufgeflammten Konflikte und der durch all das ausgelösten politischen, wirtschaftlichen und sozialen Probleme war die Lage immer bedrohlicher geworden, zumal sich die Administration Dan Mai Zhengs damit nur unzureichend auseinandersetzte.

Als Sekretär im persönlichen Kabinett der Staatsratsvorsitzenden habe ich das eigentlich nie verstanden, denn wenn ich auch von Seiji Sakamoto auf diesen Platz lanciert worden war, bewunderte ich doch Dans Intelligenz und Kompetenz sowie vor allem ihr Feingefühl für die Mechanik der Macht, abgesehen davon, dass ich unmerklich ihrem Charme zu erliegen begann. Genausowenig wie ich konnte sich irgendjemand in ihrer Umgebung die seltsame Lethargie erklären, von der sie nach dem Tod ihres Mentors Hong Wu Zhijian erfasst worden war. Allerdings – völlig sicher schien uns diese Koinzidenz nicht zu sein, und letztlich war es auch gleichgültig, warum Dan Mai Zheng die Dinge laufen ließ. Als Tatsache blieb, dass sie damit das Gesetz des Handelns anderen überließ, und hier gedachte ich mich nicht zurückzuhalten, zumal Sakamoto mir signalisiert hatte, dass ich für ihn „derjenige welcher” war.

DAN MAI ZHENG:
Langsam begannen auch Verwaltungsgebiete im chinesischen Kernland zu rebellieren: Offenbar erschien das von Mao Zedong geschaffene Reich lediglich von außen her homogen, respektive aus der Sicht von uns Machthabern. In Wahrheit gab es die bekannten Ethnien, die sich allesamt von den Han-Chinesen unterdrückt fühlten. Und es bestand selbst bei diesen noch immer das Identitätsbewusstsein der alten 10 oder 12 Provinzen, in denen vor der kommunistischen Zeit die Warlords geherrscht und einander bekriegt hatten – klingende Namen wie Zhang Zuolin, der „Alte Marschall?, Zhang Zongchang, der „Hundefleisch-General?, Wu Peifu, der „Jade-Marschall? und andere mehr. Ich vermisste Hong in dieser Situation mehr als ich zu sagen vermochte. Mir fehlte so sehr seine vertraute Hand, die mir – wenn sie, schon lange zittrig geworden, ihren Weg unter meinen Seiden-Qipao suchte – Ruhe und Sicherheit gab. Aber ich vermisste auch, am anderen Ende unserer bipolaren Welt, meinen alten Freund Ray Kravcuk, den sie als Präsidenten abgesetzt und in unser exterritoriales Liebesnest Palau verfrachtet hatten: Ich wurde das Gefühl nicht los, dass er ungeduldig auf mich wartete, an einem Ort, an dem wir bei unseren allzu seltenen intimen Treffen wahnsinnig glücklich gewesen waren, auch wenn wir selbst im Bett oft noch Staatsgeschäfte besprochen hatten. Natürlich besaß er dort kein Kommunikationsmittel, um direkt mit mir in Verbindung zu treten – am anderen Ende des Orangen Telefons saß jetzt Trudy McGuire, die ich zwar gut leiden mochte, aber nicht liebte. Ich war ziemlich sicher, welche Nachricht mir Kau Zhu Lai, wie ich ihn nannte, gesandt hätte: „Iron Butterfly, put down your armament and join me! Here, eventually, we’ll have all the time in the world!” Ich konnte eigentlich an nichts anderes mehr denken.

Nachdem die gewöhnlichen Mitarbeiter des Staatsrats und der anderen zentralen Behörden schon nach Hause gegangen waren, saßen die Chefin und ich, auch wenn unmittelbar nichts mehr zu tun war, abends oft noch zusammen, denn auf uns beide wartete ja niemand – auf mich nicht einmal eine gemütliche Bleibe, da ich während meiner kurzen Zeit in Beijing gar keine Zeit gefunden hatte, meine privaten Angelegenheiten zu ordnen. Da wusste ich durchaus die Annehmlichkeiten von Dans ausgedehnten Amtsräumlichkeiten zu schätzen, zumal sie mir erlaubte, mich nach Dienstschluss ein wenig legerer zu geben.

In einem dieser Momente schien es mir, als sei das Vertrauen, das sie mir praktisch von Anfang an entgegengebracht hatte, noch intensiver geworden, und ich sprach sie rundheraus auf ihre Passivität an: Wer, wenn nicht sie selbst könne das Steuer herumreißen und alles wie früher unter ihre Kontrolle bringen. Niemand in der gesamten Führungsschicht Chinas, so betonte ich, würde es offiziell wagen, gezielte Maßnahmen zur Wiederherstellung und Aufrechterhaltung der Stabilität des Reiches zu torpedieren. Und dann fasste ich mir ein Herz und ging noch einen Schritt weiter. Ich warnte sie – nicht der Gefahr achtend, die mir deshalb möglicherweise von Sakamoto drohte – davor, dass bestimmte Kräfte ihren Sturz planten!

DAN MAI ZHENG:
(lächelnd) Wo finde ich denn Sie in diesem Szenario, Zhou? Und wie verstehe ich den Umstand, dass Sie, mit wessen Zustimmung wem auch immer, eine ganze Reihe ehemaliger Kommilitoninnen und Kommilitonen von Tsinghua in alle möglichen Funktionen hierhergeholt haben – die Genossinnen Bao, Feng, Chan und Ai sowie die Genossen Kang, Long, Meng, Hu, Bo, Liang und Ning…

Zu meiner größten Verblüffung nannte sie alle aus dieser Schar geläufig bei ihren Vornamen…

DAN MAI ZHENG:
Naheliegend, Mingzhu, sehen sie doch alle wie Kinder aus in ihren hellgrauen Kostümen und dunkelgrauen Anzügen!

Ich wurde wütend. Wie kam dieses Weib dazu, mich ihren Schatz zu nennen? Aber dann fiel mein Blick auf den legendären Oberschenkel, der aus dem legendären Schlitz ihres legendären Cheongsam hervorblitzte, und ich war plötzlich wie besessen davon, sie zu besitzen. An dieser Stelle hätte sie alles von mir haben können, aber sie nützte ihre Chance nicht. Ich ging einen Schritt weiter: Sie nehmen mich nicht ernst, Große Vorsitzende, aber ich muss Ihnen leider sagen, dass die Pläne für Ihre Ablöse sehr konkret sind!

DAN MAI ZHENG:
Und warum ist es Ihnen so wichtig, mich zu überzeugen, mein Kleiner? Vielleicht weiß ich ja ohnehin alles, aber es ist mir gleichgültig!

In meinen Zorn mischte sich Trauer. Natürlich empörte es mich, dass sie mir offen ihre Geringschätzung ausdrückte, indem sie bloß ihre Spielchen mit mir trieb, gar nicht achtend, wie bedenklich es möglicherweise um sie stand. Aber es schmerzte mich, gleichzeitig auch zu erkennen, dass ich mir als Mann eindeutig keine Hoffnung auf sie machen konnte. In diesem Zustand ließ ich alle Vorsicht beiseite: Ich soll es sein, der Ihren Platz einnimmt, Chefin! Und die Kinder, auf die sie so hochmütig herabsehen, werden meine engsten Mitstreiter sein und die Schlüsselpositionen in Partei, Staat und Militär einnehmen!

DAN MAI ZHENG:
(sichtlich unbeeindruckt) Schön und gut, Mingzhu! Aber es gibt Formalitäten! Die Altherrenriege im Hintergrund – die schon damals bei meiner eigenen Bestellung Widerstand leistete, der nur durch die Starrköpfigkeit meines Mentors Hong gebrochen werden konnte – muss auch diesmal zustimmen. Immerhin leiten sie ihre Legitimation noch von ihrer direkten Kameradschaft mit Mao Zedong aus der Zeit des Langen Marsches ab…

Für mich gab es kein Halten mehr: Die sind doch alle von Sakamoto gekauft! Übrigens, mit dem müssen Sie ja eine bittere Rechnung offen haben, Große Vorsitzende!

DAN MAI ZHENG:
Es ist (respektive war, wenn es stimmt, was Sie sagen) eine Art Zweckgemeinschaft, die lange gut funktioniert hat – ähnlich der mit dem früheren amerikanischen Präsidenten. Nur dass ich mich Seiji anders als Ray niemals hingegeben habe, und das wäre für mich der einzige vorstellbare Grund, warum der Japs sich gegen mich wenden sollte: dass er, der glaubt, alles haben zu können, etwas nicht haben kann!

In Wahrheit sind Sie ein wirtschaftliches Problem für ihn geworden. Sie performen nicht mehr ausreichend. Sie gewährleisten ihm nicht mehr die ökonomischen Rahmenbedingungen, die er offenbar im Tausch gegen die widerstandslose Eingliederung Japans in unser Imperium und seine offizielle politische Enthaltsamkeit erwartet. Und er wirft Ihnen vor, was Sie angeblich einst Kravcuk gegenüber am Regime Grand Americas kritisiert haben – dass Ihre Diktatur nicht brutal genug ist!

DAN MAI ZHENG:
Und Sie, mein Junge, können ihm diese Zustände bieten – mitsamt Ihrem Youeryuan?

Es machte mir jetzt nicht einmal mehr etwas aus, dass die Chefin uns als Kindergarten bezeichnete.

DAN MAI ZHENG:
Könnten Sie beispielsweise Leute, mit denen Sie gerade noch harmlos zusammengewesen sind, zum Tod verurteilen und bei deren Hinrichtung zusehen?

Ich dachte nicht, dass ich es konnte, versetzte ich trotzig, aber Seiji hat mir gezeigt, dass ich dazu fähig bin.

DAN MAI ZHENG:
Wenn ich richtig informiert bin, mein Lieber, haben Sie auf Sakamotos Jo der rituellen Tötung eines Ihnen völlig Fremden zugesehen, gezwungenermaßen, aber das war es nicht, was ich meinte.

Mich interessierte daran nur eins: Wie hatte sie von diesem Vorfall erfahren? Und wenn sie derart detailliert über mich Bescheid wusste, warum unternahm sie dann nichts gegen mich? Wie es schien, erriet sie meine Gedanken.

DAN MAI ZHENG:
Ich habe Sie genau deshalb dorthin reisen lassen, um Ihnen zu demonstrieren, wie gefährlich der Oyabun aller Oyabuns ist. Ich wollte Ihnen klarmachen, Mingzhu, dass sich hinter der geschliffenen Oberfläche ein Tier verbirgt – was sage ich, eine Bestie, die keinerlei Normen für sich gelten lässt. Ich wollte Sie dazu veranlassen, ernsthaft zu überlegen, ob Sie sich mit Ihrem Tsinghua-Wortgeklingel diesem explosiven Typen gewachsen fühlen!

Auch in Tsinghua wird nicht romantisierende Ethik gelehrt, Genossin Generalsekretärin! beharrte ich (bewusst adressierte ich sie jetzt als höchste Funktionärin der Kommunistischen Partei und damit oberste Hüterin der reinen Lehre). Wir beschäftigten uns mit Dialektik, um für die politisch-ökonomische Praxis vorbereitet zu sein, in der die Wahrheit, salopp ausgedrückt, nicht ewig, sondern eine Funktion der konkreten Sachlage zu sein hat. Indem wir gelernt haben, uns im Koordinatensystem der vorgefundenen Wirklichkeit sozusagen rechtwinkelig zum ethischen Spektrum zu bewegen, sind wir vom Gehabe eines Sakamoto gar nicht so weit entfernt.

Dan Mai Zheng antwortete darauf nicht mehr. Sie ließ mich darüber, was sie von meinem Ausbruch hielt, im Unklaren und schien äußerlich weiter entspannt. Ich aber fühlte deutlich, wie weit unser Zusammensein in emotionaler Hinsicht eskalierte, und war überzeugt davon, heute noch etwas Einmaliges zu erleben. Was würde mein in Grautönen gefärbtes Dasein, das selbst die Aussicht einer steilen Karriere unter den gegebenen Bedingungen nicht wirklich einzufärben imstande war, plötzlich für mich bereit halten?

DAN MAI ZHENG:
Ich fliege noch heute Nacht nach Shanghai, vielleicht ist es ja das allerletzte Mal. Ich habe Lust, mit Ihnen in den „Paramount Tanzpalast” zu gehen und Ihnen zu guter Letzt noch eine ganz andere Facette Ihrer Chefin vorzuführen. Auf meinen Befehl hin – denn noch habe ich das Sagen – macht man den Jet mit der roten Flagge, den „Himmelswagen der Großen Tante”, startklar und in nicht ganz zwei Stunden sind wir dort, bei meinen Wurzeln.

Ich stimmte begeistert zu, doch wusste ich sehr wohl, dass es sich für Dan um eine Art Déjà-vu-Erlebnis handelte, denn in der High Society von Beijing wurde offen über eine ähnliche Exkursion mit diesem Max Dobrowolny gesprochen, den man allseits für einen Agenten hielt, aber nicht aus dem Verkehr ziehen konnte, das er unter dem besonderen Schutz der Staatsratsvorsitzenden stand – und augenzwinkernd wurde ergänzt, was genau das bedeutete: asiatische Liebesfreuden für den Glückspilz (denn die Genossin Zheng pflegte, wenn sie sich schon auf etwas einließ, nicht zu simulieren, sondern verausgabte sich immer völlig, ganz wie die Parteidisziplin es gebot).

Auch für mich? dachte ich, als wir das Paramount betraten, während das Orchester das private Lieblingslied der Staatsratsvorsitzenden intonierte, „Stranger in Paradise”, und ein Kellner heransegelte mit den saloppen Worten „Hey, Baby, auch wieder mal im Land?” Offenbar kannten sich die beiden aus der Zeit, als der Nostalgie-Tempel, den die Roten Garden Maos devastiert und in ein Propaganda-Kino verwandelt hatten, während Dans Ära als Bezirksparteivorsitzende von Shanghai in altem Glanz wiederhergestellt worden war. Eigentlich schien jeder hier sie zu kennen – und auch herzlich zu mögen, was man für ihr ganzes Riesenreich außerhalb des Paramount respektive Shanghais nicht gerade behaupten konnte. Hier bedurfte es auch keiner Leibwächter, sodass diese sich dezent im Hintergrund hielten. Vielleicht gefiel ihnen ja auch, was sie da aus dem kapitalistischen Musikrepertoire zu hören bekamen, denn es wäre an jedem anderen Punkt Chinas verpönt gewesen, „Catch a Falling Star”, „Allegheny Moon”, „Smoke Gets in Your Eyes” oder „Twilight Time” zu spielen, aber das Verbotene übt doch immer den größten Reiz aus.

DAN MAI ZHENG:
(beiseite) Ein Traum, immer wieder ein Traum, selbst mit dieser Dumpfbacke! Aber vielleicht konnte man ihn doch zu einigen Tangoschritten bewegen, zur Melodie von „Hernando’s Hideaway”, zu der ich mit Ma-Shi–Max eine elegante Sohle aufs Parkett legte:

I know a dark, secluded place
A place where no one knows your face!
A glass of wine, a fast embrace
It’s called Hernando’s Hideaway, a-way!

All you see are silhouettes
And all you hear are castanets
And no one cares how late it gets
Not at Hernando’s hideaway, a-way!

Ich konnte doch richtig tanzen – wozu also dieser Aufruhr? In Tsinghua hatte ich schließlich Soziologie und Politologie studiert, und dazu gehörte auch, dass man – für den Fall eines dienstlichen Einsatzes im gesellschaftlichen Bereich (in früherer Zeit womöglich sogar im amerikanischen Ausland, das uns nun verschlossen war) – auch diese Fähigkeit erwarb.

Während wir die markanten Figuren des Tangos durchexerzierten, galt es, beherzt den immer wieder hervorblitzenden, seidenbestrumpften Oberschenkel der Chefin anzufassen. Dabei durchfuhr mich jedes Mal ein Gefühl, heißes Eisen zu berühren, was mich zu äußerstem Mut anstachelte. Wenn ich ihr schon nicht näher kommen konnte als im Tanz, so wollte ich wenigstens diese Intimität entsprechend auskosten. Ich beschloss, ihr zu beweisen, dass auch ich ein ganzer Kerl war.

Ich war noch ein zweites Mal auf Sakamotos Burg, zischte ich, ein wenig außer Atem, diesmal mit einem Kollegen aus dem Kindergarten…

DAN MAI ZHENG:
Ich weiß, Mingzhu!

Was Sie aber offenbar nicht wissen, Chica de Tango – unser zwei sind hingefahren, aber nur einer kehrte zurück! Oder haben Sie in letzter Zeit den gemütlichen Ning noch einmal gesehen?

DAN MAI ZHENG:
(streicht ihm mit einer raschen Geste durchs ölige Haar) Nicht dass ich wüsste! Hätte ich darauf achten sollen?

Er ist tot, verscharrt irgendwo in Japan, wo auch immer die Yakuzas die Leichen beseitigen, die sie produzieren. Und ich habe ihn mit eigener Hand getötet!

Jetzt war sie – endlich! – wirklich schockiert, aber nicht über meine Eröfnung, sondern über meinen Ton. Dennoch kam sie nicht aus dem Takt, genauso wenig wie ich selbst. Jetzt erfühlte ich nämlich erst so richtig diesen Rhythmus, der von Sex spricht – natürlich aber auch von Gewalt. Was nun von beiden die Ursache dafür war, dass Dan ab dem nächsten frontalen Körperkontakt eine beachtliche Ausbuchtung an mir feststellen konnte, ob nun ihre eigene Ausstrahlung oder die Erinnerung an meine Mordtat, blieb ihr allerdings verborgen.

Als die Musik abrupt stoppte, standen wir aneinandergepresst, aber meine Partnerin wich nicht zurück, eher im Gegenteil, und fragte, ob Seiji Sakamoto das von mir verlangt hatte. Aber dem war nicht so, widersprach ich vehement – ich wusste schließlich allein, was man von mir erwartete, nur dass ich das dargebotene Schwert des Oyabun ausschlug und statt dessen lieber die Pistole benützte, die einer seiner Krieger mir reichte. Ning blickte ungläubig in die Mündung, als ich abdrückte.

DAN MAI ZHENG:
Seiji dürfte zufrieden mit Ihnen sein, Mingzhu! (sie drückt sich noch enger an ihn, als sie ihn den Tränen nahe sieht) Erstens haben Sie vordergründig seine Sucht nach blutrünstigem Spektakel befriedigt. Zweitens wurde Ihre künftige Führungsgarnitur auf lange Zeit eingeschüchtert, sodass er sich immer nur mit Ihnen allein auseinandersetzen muss und sicher sein kann, dass seine Vorstellungen durch Sie widerspruchslos weiterverbreitet werden. Drittens hat er Sie persönlich auf ewig in der Hand, denn – das schwöre ich Ihnen, mein Kleiner – ein Sakamoto verplempert eine solche Situation nicht, um politisches Kleingeld zu machen!

Ich hatte plötzlich die Nase voll, wollte gar nicht mehr wissen, ob vielleicht endlich die Gelegenheit da war, um die Staatsratsvorsitzende zu bumsen. Wachen! rief ich laut, zerstörte damit die romantische Atmosphäre des „Paramount”. Dans eigene Leibgarde verhaftete sie.

Auf einen Wink von mir wurde ihr ein blauer Mao-Anzug gereicht, und ich bat sie, sich umzuziehen. Dort, wo Sie jetzt hinkommen, können Sie mit Ihrem sensationellen Cheongsam und all dem Flitter nichts anfangen! machte ich ihr klar. Ich persönlich hätte ihr gerne ein angenehmeres Schicksal beschert, etwa freies Geleit nach Palau, aber der Oyabun wollte sie im tiefsten Gefängnis sehen.

DAN MAI ZHENG:
(wendet sich nochmals um) Yang Xun Zhou, du kleiner Wichser!

Ich lachte bloß – an ihrer Stelle hätte ich auch nicht anders reagiert. Aber es war vielleicht wirklich das Beste, sie auf Nimmerwiedersehen verschwinden zu lassen!

DAN MAI ZHENG:
Eins sag’ mir noch: Wie willst du denn jetzt mit den Aufständen von Ahmed Al-Qafr und Ravindra Pramesh fertigwerden?

Großzügig gab ich Auskunft: Wir stellen zunächst auf jeden Quadratkilometer nicht-chinesischen Territoriums an die 20 Soldaten der stark erweiterten Volksbefreiungsarmee, zusammen mit der entsprechenden Bewaffnung und Logistik – und wenn dann noch nicht Ruhe herrscht, gibt es natürlich einen Guihua Buxing, einen „Plan Schwarz”!

Jetzt blickten sogar die Jungs, die Dan festhielten, neugierig zu mir herüber.

In diesem Fall, sagte ich laut und überlegen, rotten wir die muslimische und hinduistische Bevölkerung aus – dann können wir uns nicht mehr damit aufhalten, jedem Einzelnen nahezulegen, von seinem Glauben oder wenigstens von seinem Fanatismus zu lassen!

Die Wachen grunzten zustimmend. Endlich wieder ein Mann nach ihrem Geschmack! Vor allem wieder ein Mann!

DAN MAI ZHENG:
Und die Wirtschaft? Die äußere Sicherheit?

Was kümmerte es sie noch? Einerlei, ich beantwortete ihre Frage: Wir Chinesen sind uns selbst genug, und unsere Zahl wird immer ausreichen, um sowohl die Wirtschaft aufrechtzuerhalten, als auch dem Amerikanischen Imperium die Stirn zu bieten!

Ohne einen weiteren Gedanken an sie zu verschwenden, begab ich mich unverzüglich auf den Weg zurück nach Beijing, um mich als Dans Nachfolger in ihre bisherigen Funktionen wählen zu lassen.

503

Der Grey Wolf Platoon saß, wie so oft, um ein Lagerfeuer im Hualapi-Reservat, und man redete, redete, redete…

Die Argumente gingen hin und her, und am Ende waren sich alle einig: Sie konnten sich heute eigentlich nicht mehr erklären, warum sie damals so rasch bereit gewesen waren, die Regierung in Washington vorerst vor weiteren Naturkatastrophen zu verschonen, obwohl sie doch alles Recht auf ihrer Seite sahen, diesen Krieg zu führen. Natürlich, die Walemira Talmai hatte zu ihnen gesprochen, und sie hatten deren überaus starke Medizin gefühlt, und ihr Idol Murky Wolf, Grey Wolf, war neben die Schamanin getreten und hatte deren Aufforderung bekräftigt: „Lasst es gut sein für’s Erste!”

Noch jetzt hörten sie diese Worte als Wind in den Bäumen, als Wasser, das über die Felsen herabfiel, als Mondlicht, das sich auf das dunkle Moos zu ihren Füßen ergoss. Auf- und abschwellend hallte dieser Satz in ihren Köpfen, und während sie noch ergeben in diesen Befehl waren, keimte aufs Neue die Wut in ihnen auf und ließ sich kaum unterdrücken: Das Land war ihnen genommen worden, mit dem ihre Ahnen einst im Einklang lebten und von dem man nie mehr beanspruchte, als man benötigte. Das Leben so vieler war vernichtet worden, zwar auch im Kampf und damit ehrenvoll, aber vor allem durch Alkohol und Drogen, durch Krankheiten, mit denen sie hinterhältig angesteckt wurden, durch die Zersetzung ihres Verstandes mit der unseligen Zivilisation der Pale-faces und durch die Vergiftung ihrer Seelen mit deren unbarmherziger und machtgeiler Religion.

Die Woge ihres Zorns schwoll unversehens wieder an: Blut sollte fließen wie ehedem unter jenen großen Häuptlingen, die sich ein letztes Mal gegen die weiße Okkupation aufgelehnt hatten und gescheitert waren. Nun aber gab es die Möglichkeit, die Machthaber auf indirekte Art hinwegzufegen, indem man ihre Infrastruktur gezielt zerstörte. Warum also diese Waffe nicht nützen?

Woher ich all das weiß? Nun, als Produzent von Filmen, die dem Establishment des neuen Amerika durchaus suspekt waren (obwohl man das aus den einzelnen Themen nicht unbedingt hätte schließen können), hatte ich mich jenen weißen Persönlichkeiten und Gruppierungen empfohlen, die im Kernland des Imperiums selbst dem Regime kritisch gegenüberstanden und daher – wenn auch nicht unbedingt aus purer Zuneigung – Kontakt zu Repräsentanten der Afroamerikaner, Latinos und eben auch der Ureinwohner suchten.

Als ich wieder einmal in New York zu tun hatte, nützte ich die Gelegenheit und reiste in den alten Bundesstaaten umher. Offiziell auf Motivsuche für ein großes patriotisches Epos, traf ich dabei viele unterschiedliche Leute, die mir viele abwechslungsreiche Geschichten erzählten. Auf diese Weise erfuhr ich auch von den neuerlichen Zusammenkünften des Grey Wolf Platoon, der mir natürlich ein Begriff war, seit damals in Off-Washington gemunkelt wurde, die Phänomene, die Ray Kravcuks Administration beinahe in den Ruin getrieben hätten, seien keineswegs zufällig zustandegekommen. Für eine Neuauflage dieser Plagen fehlte aber offenbar noch der klare Wille…

BLACK RAVEN:
Einer von uns, mein Zwillingsbruder White Raven, den sie so genannt hatten, weil eine Laune der Natur ihm eine schneeweiße Strähne in das sonst glänzendschwarze Haar gesetzt hatte…

… aber das ist nur die Beschreibung einer Äußerlichkeit: denn sein Name bedeutete in Wahrheit, dass sein Tierformat der Rabe war, in dessen Gestalt er sich dank der wiedergewonnenen alten Fähigkeiten mühelos verwandeln konnte.

BLACK RAVEN:
Er beschloss jedenfalls zu handeln, während die anderen noch weiter diskutierten, und schlich davon. An einsamer Stelle erhob er sich, getragen von seinen kräftigen Flügeln, in denen eine einzige weiße Feder glänzte, hoch in die Luft und wandte sich westwärts, Richtung Großes Wasser. Am Rand des riesigen Los Angeles International Airport hockte er schließlich auf dem obersten Draht des elektrischen Zauns, der eigentlich Typen wie ihn abhalten sollte, und beobachtete aufmerksam den Flugverkehr. Er tat das für mehrere Tage, bis er verstand, dass er Südwestwind abwarten musste, damit er die Jets über das Stadtgebiet hinweg landen sah. Als dann eines Tages die Lage für ihn günstig war und sich von Nordosten eine Boeing 777 näherte, schraubte er sich empor, flog der Maschine entgegen und steuerte in den Sog des linken Triebwerks, den Kriegsnamen Murky Wolfs ausrufend.

Der Jet schien in der Luft stillzustehen, als ob ihn eine Riesenhand festhielt. Unmittelbar danach explodierte das Triebwerk, und die Maschine torkelte, von der anderen Turbine in wilde Kreise gejagt, auf Downtown L.A. zu, wo sie südlich des Echo Parks aufschlug und ungeheure Verwüstungen anrichtete: Ganze Straßenzüge brannten, Gasleitungen explodierten, Strommasten blitzten grell, Gebäude stürzten ein – unzählige Menschen starben (man sprach später von tausenden, ohne dass die Zahl je präzise festgestellt werden konnte).

Von White Raven blieb nichts – nichts außer jenem Amulett, das er auf dem Electric Fence des Airport hatte hängen lassen und das viel später, nach all den spektakulären Indizien – die allerdings zu keinerlei Aufklärung führten – als winzigste Auffälligkeit geborgen wurde: Es zeigte das Bild „of an alien-looking woman”, so die poetisch anmutende Formulierung im Polizeibericht (wir wissen es ja besser, nämlich dass es das Konterfei der Androidin Devteri war, die zusammen mit Sherman Yellowhawk und Murky Wolf zugrunde gegangen war).

BLACK RAVEN:
Ich beschloss spontan, im Sinne meines Bruders – dem ich bis ins Detail glich, abgesehen von jener weißen Anomalie – weiterzumachen und keine Rücksicht auf diese Weicheier vom Platoon zu nehmen, die sich zu keinen neuen Aktionen durchzuringen vermochten. Schließlich brauchte ich ja nur mein Cellphone zu benützen und die Begriffe „Grey Wolf” und „Amulett” einzustreuen, und schon fing entweder die riesige Antennenschüssel von Buckley Field oder jene von Medina Annex oder irgendeine andere Empfangsanlage des Echelon-Abhörsystems meine Signale ein und leitete sie zuverlässig auf schnellstem Weg zur CIA, worauf sich der Direktor dieses Vereins zur Berichterstattung ins Weiße Haus verfügte.
Die übrigen Mitglieder des Platoons, der wieder einmal palavernd ums Campfire saß, kamen wie die sprichwörtliche Jungfrau zum Kind – einzig Black Raven, scheinbar harmlos mitten unter ihnen, konnte verstehen, was ablief. Trudy McGuire trat plötzlich in ihren Kreis, auch als Präsidentin äußerst blond sowie kurz und blitzblau gekleidet. Dem kühlen Ort angemessen, dort am westlichen Rand des Coconino Plateau in Arizona hatte sie allerdings ein dunkles Plaid umgelegt, das ihr unbemerktes Näherkommen begünstigte – Wachen waren ja keine aufgestellt, wie die zwei Dutzend Marineinfanteristen erstaunt feststellten, die als Begleitung zu akzeptieren Verteidigungsminister Howland die Nummer Eins gezwungen hatte.

Trudy hieß die Soldaten mit einem energischen Wink in einiger Entfernung zurückbleiben und ging furchtlos allein weiter. Wer sich das nicht zutraut, ist es nicht wert zu führen! dachte sie bei sich und überwand ihre Befangenheit gegenüber dieser fremdartigen Szenerie, die sich doch deutlich von jenen Schauplätzen unterschied, an denen sie bis dato ihre geistigen und auch körperlichen Vorzüge ausgespielt hatte. Somit blieben als einziges, wenn auch triviales Problem ihre High Heels übrig, mit denen ein Fortkommen auf diesem Boden relativ schwierig war – aber was hätte es andererseits für einen lächerlichen Eindruck gemacht, wenn sie für ihren großen Auftritt hier in Worn-out Hooves erschienen wäre?

BLACK RAVEN:
Ich sprang als erster auf, dann alle anderen: Die Überraschung und (zu meinem ziemlichen Missbehagen mit mir selbst) sogar ein gewisses Maß von Respekt vor der Lady veranlassten uns, ihr unsere Reverenz zu erweisen. Unser Tribal Council Chairman, im Zwiespalt zwischen seiner diskreten Zugehörigkeit zum Platoon und seiner Funktion als Public Official, vergaß jene und kam dieser nach: Er hastete zu seinem Offroader, um wenigstens einen Campingstuhl für die Besucherin aufzustellen.

Trudy nahm mit einer Bewegung Platz, als ob eine Königin ihren Thron bestiege, was großen Eindruck machte bei diesen Leuten, die bedeutsame Gesten zu schätzen wussten. Langsam ließen auch sie sich wieder auf ihre Decken rund ums Feuer nieder, und an die zwanzig Augenpaare richteten sich auf die zusammengepressten Knie der Präsidentin, über die der Saum ihres Kleides, zugegeben nicht ganz queenlike, weit hinaufgerutscht war. Obwohl bedeutendere Dinge auf ihrer Agenda standen, erwog die McGuire, ihnen vielleicht im Verlauf des Gesprächs wenigstens für einen Augenblick das Vergnügen zu machen, zwischen ihre Schenkel blicken zu dürfen – irgendwie blieb sie, was sie ja eigentlich sympathisch machte, eine von den drei blonden und neonfarbenen Bienen, die ihren schwierigen Sex & Politics Working Complex in der Metropole Grand Americas mit Bravour und vor allem stets frohgemut bewältigt hatten.

BLACK RAVEN:
Sie versuchte zunächst den ausgetretenen Pfad: Ob wir nicht langsam, nach vielen Generationen, die realen Verhältnisse akzeptieren sollten, die unser aller Vorfahren, seien es Native oder European Americans gewesen, mit mehr oder weniger Verantwortungsbewusstein geschaffen hatten? Ob der Status quo für uns ein so furchtbarer wäre (wobei man ja durchaus an der Konstruktion der Reservate noch Verschiedenes nachbessern könnte, da würde es am Geld nicht scheitern)?

„Und wenn wir schon laut nachdenken”, platzte Bugger Raven (so sein ziviler Name) mitten hinein in den Vortrag der Präsidentin, „was wäre, wenn wir Sie jetzt einfach hops nähmen, Lady? Dann müssten wir nicht einmal mehr ein Erdbeben, einen Vulkanausbruch oder eine Überschwemmung bemühen, um unseren Forderungen Nachdruck zu verleihen…”

„… was immer die wären!”, meinte Trudy ungerührt: „Ich glaube nämlich nicht, dass Sie überhaupt wissen, was Sie wollen, Gentlemen – oder täusche ich mich da etwa?” Während sie das sagte, fand sie den Zeitpunkt gekommen, um die Beine leicht zu öffnen und dann lässig übereinanderzuschlagen. Ganz so ergiebig wie bei der lieben Amy, die keinen Slip zu tragen pflegte, war der Anblick bei ihr nicht, aber es reichte auch diese zartblaue Seide, um die Runde ein wenig durcheinanderzubringen. Dazu lehnte sie sich zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf – das Plaid rutschte von ihr ab und ließ als Draufgabe die bemerkenswerten Konturen ihrer oberen Körperhälfte erkennen. Pheromone breiteten sich aus und zogen die Männer in ihren Bann.

„Nun?”

Keine Antwort. Zwar hatten sich Trudys Gastgeber soweit in der Hand, dass sie nicht mir offenen Mäulern dasaßen, aber an der sprichwörtlichen indianischen Gelassenheit ließen sie es durchaus fehlen.

BLACK RAVEN:
Wie schon einmal erschien uns auch jetzt als Vision die Walemira Talmai Hand in Hand mit unserem Idol Murky Wolf, der uns daran erinnerte, dass uns jene besonderen Fähigkeiten nur unter der Voraussetzung gegeben waren, naturgegeben zu handeln, und dass wir sie daher nicht missbrauchen durften. Und Berenice fügte – etwas kryptisch – hinzu, dass es keinen Sinn habe, zu kämpfen und zu zerstören, wenn ohnehin irgendwann das Ende der Welt bevorstünde.

Trudy McGuire hatte von all dem nichts bemerkt, da die beiden nicht in physischer Gestalt erschienen und daher nur für jene sichtbar waren, die sie sehen sollten. Auch vom jähen Ende der Vision bekam sie nichts mit – alles was sie erkennen konnte, war, dass die Gesichter der Männer einen Grad von Verblüffung zeigten, der offenbar nicht mehr in Zusammenhang mit dem von ihr gewährten Einblick stand.

„Wenn sie mich hier festhalten wollen”, bemerkte die Präsidentin leichthin, „wird es meine unmittelbare Umgebung in Washington freuen. Da der Staat nicht erpressbar ist, schickt mein aktueller Geliebter, der Verteidigungsminister, eine Staffel F-16 von der Luke Air Force Base herüber – in weniger als zehn Minuten sind sie über uns und machen alles dem Erdboden gleich. Ich höre den guten George schon, wie er vor die versammelte Presse tritt: ‚Unfortunately, the President was among the victims!’ Nur die Tatsache, dass er sich als Offizier keine Emotionen leisten darf, lässt ihn mit Mühe eine Träne unterdrücken! Und unmittelbar darauf nimmt er ohne zu zögern meinen Platz ein – dann, meine Freunde, gibt es für Sie nichts mehr zu verhandeln!”

BLACK RAVEN:
Wir waren völlig schockiert, ich vor allen anderen, die sich ohnehin nicht so sehr exponiert hatten. Beinahe hätte ich mich für die Tat meines Zwillingsbruders bei ihr entschuldigt. Und in diese meine Stimmung hinein schlug die Lady zu…

Trudy ergriff tatsächlich die Gelegenheit beim Schopf. Sie lud Black Raven ein, ihr individueller Leibwächter zu werden, und befahl ihm, nachdem sie ihn auf der Stelle auf ihre Person als Life-long Head of State vereidigt hatte, sie sofort zu begleiten. Sie stand auf – wobei den Mitgliedern des Platoon, die regungslos sitzen geblieben waren, ein neuerlicher Blick in den Schritt zuteil wurde –, hüllte sich in ihr Plaid und stolzierte, mit Raven im Schlepptau, in Richtung ihrer Marines.

Diese dachten zunächst, ihr Commander-in-Chief habe einen Gefangenen gemacht und wollten den langmähnigen Burschen in die Mangel nehmen. Die Präsidentin jedoch gebot ihnen Einhalt und erklärte ihnen die neue Aufgabe von „Mr. Bugger Raven”. Immerhin aber trug sie den Soldaten, ohne Rücksicht darauf, dass er das mitanhören konnte, auf, schon mal auf dem Weg nach Osten damit zu beginnen, einen Menschen aus ihm zu machen.

Damit hatte sie die Lacher auf ihrer Seite: Na, das erledigten sie doch gern! Erstaunlicherweise nahm Trudy mit ihren flapsigen Worten auch Bugger Raven endgültig für sich ein – er war gierig danach, auch auf dieser Seite der Grenze seinen Mann zu stellen und vor allem der Präsidentin zu zeigen, was in ihm steckte!

504

Da saßen sie nun in der Villa, die ich mit DDD in Yeni Iskele / Trikomo gemietet hatte: Fidschi, der für uns die westliche Seite des Limes erkundet hatte, und Khalid, sein Pendant von drüben. Seit sie vor geraumer Zeit in Sir Basils War Room ihren abschließenden Bericht erstattet hatten – dessen Erkenntnisse der Baronet übrigens summa summarum als nicht eben berauschend einstufte, und man konnte ihm da nur beipflichten –, waren sie für meinen Geschmack ziemlich unterbeschäftigt, und das fand ich nicht gut bei Typen wie diesen. Ich hielt es also für angebracht, mit den beiden ein wenig auf Social Interaction machen, denn ich plante, sie als Moderatoren für die weitere Integration unseres Staatsgebietes einzusetzen. Dafür lohnte sich allenfalls eine Intensivierung des persönlichen Kontakts.

Fidschi wusste, dass ich ziemlich überrascht gewesen war, als sich herausstellte, dass Cheltenham auf der anderen Seite der ursprünglichen Grenze für eine eigene Erkundungsmission gesorgt hatte – aber logisch war das ja, und dass er mich davon nicht a priori in Kenntnis gesetzt hatte, nahm ich ihm eigentlich nicht übel: Immerhin saß ich damals noch in Wien und war damit noch nicht ganz auf seiner Seite oder völlig in seiner Hand, wie immer man das sehen möchte. Retrospektiv betrachtet, konnte ich froh darüber sein, dass es nicht auch noch für mich selbst einen Doppelgänger gab, und ich betrachtete dies als einen sehr deutlichen Vertrauensbeweis.

Da saßen nun also die beiden Pfadfinder Seite an Seite auf einem Sofa, und gegenüber, vor dem Hintergrund der Bucht von Gazimagusa / Famagusta, schenkte ihnen DDD ihr Hap—py—Birth—day—Mi—ster—Pre—si—dent—Lächeln, während ich sie nur beobachtete. Wie aus Fidschis Funkspruch t + 18, zweiundzwanzighundert-50 zu entnehmen war, hatten die beiden miteinander keinerlei homosexuelle Berührungsängste, was sie aber offensichtlich nicht daran hinderte, dem anderen Geschlecht, so vorhanden, Priorität einzuräumen. Ich musste an die bekannte Biografie Friedrichs II. denken, die beschreibt, wie der Stauferkaiser, sonst der Weiblichkeit mehr als zugetan, sich auf langen einsamen Ritten an seinem Gefährten Ridwan verging, wenn es sein Körper verlangte.

Khalid schwieg beharrlich – er war mir gegenüber scheu, da er mich selbst nach einigen Monaten auf Kantara kaum kannte. Dessenungeachtet starrte er völlig unbefangen auf das Marilyn-Monroe-Blond meiner Partnerin, das ihm offenbar eine unbezähmbare exotische Reizflut bescherte. Dass Fidschi das Gleiche tat, muss, wer ihn kennt, nicht besonders betonen, nur war es bei ihm nicht das helle Haar, sondern die Tatsache schlechthin, dass DDD eine Frau war.

So eine Eroberung hättest du mir wohl nicht zugetraut, alter Freund? provozierte ich ihn und rächte mich damit für all die virile Geringschätzigkeit, die er mir zwar nie direkt, aber durch Mimik und Tonfall entgegengebracht hatte.

Er sah ein wenig dümmlich drein, und ich beschloss, einen Zahn zuzulegen, um mich im Gefühl meiner Ebenbürtigkeit mit solch ganzen Kerlen zu sonnen. DDD verstand meinen Wink und machte mit, im Gegensatz zu den erzwungenen Spielchen ihrer Jugend, als derlei sie nur irritiert hatte. Sie öffnete zwei Knöpfe ihrer Bluse, und ich stellte mit Befriedigung fest, wie zwei Augenpaare sich in das Tal zwischen ihren Brüsten verirrten.

He, Burschen! rief ich: Wacht’s auf, die party ist vorbei! Aber sie waren wie gelähmt.

Erst nach einer Weile regten sie sich wieder und wollten dem Objekt ihrer Begierde nähertreten. DDD war anzusehen, dass sie sich auf Einiges gefasst machte, aber ich durchkreuzte die Avancen ihrer Verehrer: Schauen ist okay, ihr Herzerln, aber mehr nicht! Ich musste daran denken, was erst die Nackt—unter—meinem—Mantel—Szene meiner Freundin in den beiden ausgelöst hätte.

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

Als ich Sir Basil davon erzählte, lachte er nur.

SIR BASIL:
Die Fähigkeiten Ihrer Geliebten sollten wir uns zunutze machen, Brigadier!

Er hatte ja so Recht, und ich genoss unsere Vertraulichkeit, die gar nicht wirklich zur Beziehung zwischen zwei Männern, die ursprünglich höchst unterschiedlich domestiziert worden waren, passte. Aber es gab diese seltsame Übereinstimmung, und so hatte ich mir angewöhnt, den anlässlich des Funkverkehrs mit Fidschi gebrauchten Code-Namen für Sir Basil, PRIME, auch zu verwenden, wenn ich ihn direkt ansprach. Ihm selbst schien’s zu gefallen, denn er protestierte nicht, und so ging ich dazu über, in meiner neuen Position auf diese Weise auch vor allen anderen meine besondere Nähe mit ganz oben zu demonstrieren, denn eines war klar: Jemand anderer hätte ihn wohl kaum so nennen dürfen.

PRIME, sagte ich daher bei der nächsten morgendlichen Lagebesprechung auf Kantara, ich denke, wir sollten die ehemaligen westlichen und östlichen Randstaatenvertreter stärker instrumentalisieren, als wir dies bis jetzt tun, denn heute sind sie ja nur unsere informellen Ansprechpartner in den Provinzen Ihres Reiches…

SIR BASIL:
Eigentlich konnte ich solche Schmeicheleien nicht ausstehen, aber genau das zu hören, aus welchem Mund auch immer, faszinierte mich stets aufs Neue – bedeutete es doch, dass die angeblich unlösbare Aufgabe, die mir der Tyrann der Spiegelwelt aus dem Grab heraus aufgehalst hatte, doch erfolgreich zu Ende zu bringen war, wenn nur möglichst viele und vor allem ich selbst daran glaubte. Ich gab mich dem bekannten erweiterten Körpergefühl hin, das jeder Autofahrer entwickelt von Stoßstange zu Stoßstange, jeder Pilot von Flügelspitze zu Flügelspitze, und natürlich jeder Staatenlenker im Rahmen der geografischen Ausdehnung seines Territoriums.

PRIME, fragte ich nach einer respektvollen Pause (während der ich die übrigen Teilnehmer der sogenannten Kleinen Lage hinausgeschickt hatte, denn sie mussten nicht unbedingt einen Moment der Zerstreutheit des Chefs mitbekommen), wie denken Sie über meinen Vorschlag? – aber er hatte offenbar abermals nicht zugehört. Daher wiederholte ich, als ich sicher sein konnte, wieder seine Aufmerksamkeit zu besitzen, meine Idee, die genannten Personen für einige Zeit nach Zypern zu holen, offiziell in allen Ehren selbstverständlich, in Wahrheit aber als Geiseln, um ihre Landsleute davon abzuhalten, gegen unser Regime aufzubegehren. Sowohl Fidschi als auch Khalid hatten ja einen Eindruck davon bekommen, wie groß tendenziell die Reputation dieser Persönlichkeiten in ihren jeweiligen Gebieten war.

SIR BASIL:
Und währenddessen – wenn ich Sie richtig verstehe, Brigadier – bilden wir sie hier zu einer Art Jerkwater Rulers aus, um sie dann zurückzuschicken und in unserem Namen effizienter Macht ausüben zu lassen, als wir das von hier aus könnten?

Bingo! Er hatte also auch meinen früheren Vorschlag zur Einschränkung der Bürgerrechte akzeptiert und seither offenbar bloß nachgedacht, wie man diesen am besten verwirklichen konnte. Ich beschloss, mit einigem Nachdruck vorzugehen: Es ist ein Geflecht von Maßnahmen, das mir vorschwebt, PRIME! Am Ende sollte aber stehen, dass kein Einwohner CORRIDORs einen Schritt wagen kann, ohne dass wir davon erfahren, denn nur so sind wir in der Lage, subversive Anstrengungen der beiden Supermächte hier bei uns – und ich rechne fix mit solchen – zu unterbinden!

SIR BASIL:
Sie werden ja geradezu unentbehrlich für mich, Kloyber! Ich beginne tatsächlich schon, Sie für mich denken zu lassen. Haben sie nicht Sorge, dass ich Sie eines Tages dafür hassen und vernichten könnte?

An diese zynischen Spitzen musste man sich gewöhnen – nur gut, dass sie unter Ausschluss der Öffentlichkeit geäußert wurden. Ich wurde nicht müde, mir selbst zu suggerieren, dass derlei hinzunehmen es mir ermöglichte, dort zu stehen, wo ich jetzt war, und das hieß weit weg von der Position eines HNA-Beamten, den jeder glaubte herumschubsen zu müssen.

Ich beschloss, PRIME zu toppen, denn jetzt erst erzählte ich ihm von meiner Königsidee – einer Armbanduhr, die, in großer Zahl hergestellt, jeder Einwohnerin und jedem Einwohner von CORRIDOR zum Geschenk gemacht wird! Bei der Rückkehr der Randstaatenvertreter in ihre Gebiete sollte diese Verteilungsaktion anlaufen, wobei unsere Gewährsleute diese, nachdem sie durch unsere Gehirnwäsche gegangen sind, in möglichst vielen persönlichen Begegnungen durchführen müssten! Alle, ausnahmslos alle würden sich darüber freuen, sowohl diejenigen, die aus Armut noch nie so ein Ding besessen hatten, als auch die anderen, die einfach den ideellen Wert der noblen Geste zu schätzen wüssten!

SIR BASIL:
(gefährlich leise) Eine Idee, so einfach wie trivial! Und was bitte soll das bewirken, außer dass wir a pretty Penny damit vernichten?

Es handelt sich selbstverständlich um keine gewöhnliche Uhr! trumpfte ich auf: Einmal angelegt, kann sie vom Träger nicht mehr entfernt werden, denn sie ist mit einem erstklassigen militärischen Sperrcode ausgestattet. Was aber das Wesentlichste ist: Diese kleine Aufmerksamkeit enthält einen Chip, mit dem der Besitzer stets genau geortet werden kann! Hier an dieser Stelle, von Ihrem Schreibtisch aus, können Sie auf einem Überwachungsmonitor jede Bewegung Ihrer Untertanen beobachten, und zwar sowohl die der einzelnen Individuen, wenn Sie dies wünschen, als auch jene ganzer Menschenmassen! Quintus Rubellius Taurus testet das System bereits seit geraumer Zeit mittels der Numeri ad designandum seiner Legionäre (III, MCXCVI, MMDCCCLXXVII, MMMMCDXLIV, XXIII, MCCLI, MMDCCCLXXXVIII, MMMMCDLXXV, CLXI, MCCLXXII, MMCMXXXII, MMMMDXXXVII, CCXVI, MCDXVI, MMCMLXV, MMMMDLXIV, CCXVII, MDXXIX, MMCMLXXIII, MMMMDXCII, CCLIX, MDCXXVII, MMCMLXXXIII, MMMMDCXLIX, CCLXI, MDCLVII, MMCMLXXXVIII, MMMMDCCXXVI, CCLXXII, MDXCIX, MMMXXX, MMMMDCCXLVIII, CCCXLVI, MDCCX, MMMCLXXIII, MMMMDCCCX, CCCLXXX, MDCCLI, MMMCCXVI, MMMMCMXX, CCCXC, MDCCCXIV, MMMCCLV, MMMMMXXXVII, CDLXI, MDCCCXLVI, MMMCDVIII, MMMMMLXIII etc.) – und siehe da, es funktioniert: Der Centurio weiß stets, wo jeder einzelne seiner Männer sich aufhält.

SIR BASIL:
Timete Danaos dona ferentes! Finden Sie nicht, mein Freund, dass es sich bei Ihrem Vorschlag um blanken Faschismus handelt?

So ist es, PRIME, und ich denke, genau das muss der Grund sein, warum Sie sich ausgerechnet einen österreichischen Offizier an Ihre Seite geholt haben, noch dazu einen nicht sehr eleganten, während Ihnen doch im wahrsten Sinne des Wortes die ganze Welt offenstünde, Ihre Wahl zu treffen! Einerseits bin ich gebildet genug, um Ihnen nicht auf die Nerven zu gehen (so verstehe ich etwa Ihre vielsprachigen Zitate meist direkt, ohne ständig irgendwo nachsehen zu müssen), andererseits bin ich geschmeidig genug, um Ihren Willen so zurechtzubiegen, dass er auf zweckdienliche Weise umgesetzt wird, selbst wenn dabei die Ethik unter die Räder kommt!

SIR BASIL:
Eine einzigartige Kombination, by Jove! Ich für meinen Teil behalte mein gutes Gewissen, und Sie tun nicht mehr und nicht weniger als Ihre Pflicht – oder das, was Sie dafür halten. Eines Tages werde ich Sie standrechtlich erschießen lassen, Sir!

Dieser Titel aus seinem Munde adelte mich, ungeachtet der halbherzigen Kritik in PRIMEs Worten. Offenbar hatte sich unser hierarchisches Verhältnis in seiner Einschätzung in einen ebenbürtigen ritterlichen Wettstreit verwandelt – immer vorausgesetzt, ich würde nicht so weit gehen, seine Vorrangstellung in aller Öffentlichkeit zu desavouieren, aber das hatte ich keineswegs vor: Auch ich war ja auf den Abstand bedacht, den alle Untergebenen mir gegenüber einzuhalten hatten – Taurus zum Beispiel, der ohnehin keinen Rückhalt in der alten Cheltenham-Clique besaß, aber auch die anderen, die meine Autorität, die sich zwischen sie und Sir Basil geschoben hatte, erst langsam und mühsam zu akzeptieren lernten.

SIR BASIL:
Fire away, Brigadier!

Ich hatte also grünes Licht, aber bevor ich mich in die Niederungen der Durchführung begab, wollte ich PRIME aus meinem Maßnahmenbündel noch einen Schachzug ans Herz legen, den er unbedingt selbst führen musste: Stoßrichtung Stylianios! sagte ich militärisch knapp, und er bedeutete kurz, dass er mich verstanden hatte. Er schien sich keineswegs darüber zu wundern, wie gut ich mich bereits in den zypriotischen Verhältnissen zurechtfand – das erwartete er eben einfach vom Chef seines Stabes.

Eines wollte ich noch klären – Khalid, ich konnte ihn noch zu wenig einschätzen, und Sir Basil sollte mir einige Anhaltspunkte liefern, da er es ja gewesen war, der den Burschen engagiert hatte, wenn auch vielleicht auf Umwegen.

SIR BASIL:
Stellen Sie sich einfach das arabische Gegenstück zu Ihrem alten Freund Fidschi vor, vielleicht noch mehr Macho, vielleicht von noch größerer Brutalität, aber mit Sicherheit mit viel mehr Selbstmitleid, als wir alle zusammen es bisweilen haben. Und jetzt verschwinden Sie endlich, FIP!

Jetzt kam der auch noch mit diesem Kürzel daher! Aber einerlei – nichts wie weg! Da Cheltenham, anders als meine Vorgesetzten in Wien, von mir keinerlei Kadavergehorsam erwartete – er war zufrieden, wenn ich nach angemessen erscheinender Zeit Vollzug meldete –, war ich an keinen fixen Arbeitsrhythmus gebunden. Spontan fuhr ich also von Kantara zu unserem Haus, um DDD zu sehen: Wie ich annahm, lag sie jetzt am späten Vormittag auf der Terrasse, nicht vielleicht, um sich zu sonnen, wenn Sie das vermuten sollten, sondern unter dem großen Schirm, der verhinderte, dass ihr Teint von ihrem selbstdefinierten blässlichen Schönheitsideal abwich.

Vielleicht war’s ja nur eine Geheimdienstmarotte ohne jede Bedeutung: Jedenfalls pflegte ich, wenn ich irgendwo hinfuhr, den Wagen in einiger Entfernung abzustellen und den Zielort weiträumig und zu Fuß zu umrunden, sei es nun ein Häuserblock im dichtverbauten Gebiet oder ein einzelnes Objekt wie zum Beispiel unsere Villa. Meine fallweisen Erfahrungen mit dieser Vorgangsweise sprachen eigentlich für deren Berechtigung, so auch diesmal, denn ich ertappte auf einer kleinen Anhöhe oberhalb unserer Bleibe zwischen einigen zierlichen Mandelbäumchen Fidschi und Khalid, die mit zwei hervorragenden Armeeferngläsern DDD anvisierten, die tatsächlich milchigweiß hingegossen dalag, wie Gott sie geschaffen hatte, da sie sich natürlich unbeobachtet fühlte.

Ich wartete noch zu. Mir schwante, dass ich nur gewinnen konnte, wenn ich die beiden nicht sofort zur Rede stellte, denn je tiefer sie in diese heikle Situation hineinschlitterten, desto besser würde ich sie künftig in der Hand haben. Und ich wurde nicht enttäuscht, denn sie ließen es nicht mit banalem Voyeurismus bewenden.

Khalid erhob sich aus seiner Bauchlage auf Hände und Knie, zog sich mit einer geradezu eleganten Bewegung die Hose ’runter und bot seinem Gefährten sein Hinterteil dar. Fidschi schien schon zu wissen, was von ihm erwartet wurde – die beiden waren offenbar ein gut eingespieltes Team –, und nachdem er sich ebenfalls seiner Hose entledigt hatte, vögelte er Khalid heftig, wobei dieses erotische Diptychon seine Blicke starr auf meine nackte Freundin gerichtet hatte. Da diese den beiden Helden unbewusst noch dazu den Gefallen machte, sich im Halbdämmer an verschiedenen Stellen ihres Körpers wohlig zu berühren, mochte ich mir gar nicht ausmalen, welches Feuerwerk an obszönen Bildern in diesen Gehirnen abgebrannt wurde. Das ging allerdings weit über das hinaus, was meine Bemerkung „Schauen erlaubt!” einräumte!

SIR BASIL:
Gerade an diesem Tag hatte ich – Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser! –Lust darauf verspürt, meinem Chief of Staff nachzuspionieren, einfach um einmal zu sehen, was er so trieb, wenn er sich zu den verschiedensten Tageszeiten aus der Burg davonmachte. Er war sehr vorsichtig, wie ich anerkennend feststellte, denn er näherte sich sogar seiner eigenen Behausung nicht, ohne die Umgebung zu sichern, aber er war immerhin fahrlässig genug, um mich als seinen Verfolger zu übersehen. Aber egal – was sich vor mir abspielte, faszinierte mich ungemein, und vor allem, wie Kloyber sich jetzt verhielt, bestärkte mich darin, mit ihm die richtige Wahl getroffen zu haben: Er zog seine Pistole, trat mit einigen raschen Schritten an das heftig keuchende Paar heran und drückte Fidschi die Waffe gegen die Rippen. „Zwei Fliegen mit einer Klappe!”, bemerkte er lässig: „Macht noch fertig, und dann knalle ich euch ab!” Das schien den beiden, die nicht einmal einen Moment zu zweifeln schienen, dass es ihm mit seiner Ankündigung ernst war, den ultimativen Kick zu geben. Sie kamen zum Höhepunkt und brüllten wie Tiere – man musste fast annehmen, selbst DDD könne das Geschrei noch bis hinunter auf die Terrasse hören. Ich selbst bedauerte, dass mein Freund Stylianos nicht dabei war – diese Szene müsste so recht nach seinem Geschmack sein.

Ich verharrte eine Weile so. Ich genoss es, mir vorzustellen, wie in Fidschi und Khalid ein panischer Countdown ablief bis zum erwarteten Schuss. Äußerlich war ihnen nichts anzumerken, denn sie machten keine Anstalten, sich voneinander zu lösen, schienen bereit, in dieser Position zu sterben. Ich aber befahl schließlich: Auseinander! Aufstehen! Kleidung in Ordnung bringen!

Jetzt ging alles sehr rasch: Im Nu standen die beiden tatsächlich einigermaßen wiederhergestellt vor mir und versuchten sogar, eine einigermaßen militärische Haltung einzunehmen. Jetzt war es an mir, dachte ich, ihnen einmal so richtig den Arsch aufzureißen, und genau in diesem Moment musste ich fast laut herauslachen angesichts der Doppeldeutigkeit meiner lautlosen Formulierung vor dem Hintergrund dessen, was man soeben zu sehen bekommen hatte. Aber weiter: Zehnmal hintereinander in die Hocke, ihr Ferkel, aber Zackzack! bellte ich und weidete mich daran, wie ihnen dabei die Knie zitterten. Ihre Blicke waren nach wie vor auf die Mündung meiner Pistole gerichtet – ob ich wohl wirklich imstande gewesen wäre abzudrücken? Und ob es vielleicht noch immer passieren konnte?

SIR BASIL:
Er wusste nicht, dass ich vor einiger Zeit gegenüber unserer Truppe durchblicken ließ, wie er auf dem Anwesen von Sir Percy Blakeney aufgeräumt hatte und dass es daher nicht ratsam sei, ihn zu unterschätzen. Mit mir als höchst glaubhafter Quelle machte die Geschichte die Runde, und ich registrierte mit Wohlgefallen den Respekt, den ihm die Männer und Frauen stumm entgegenbrachten, wenn sie ihm begegneten.

Ich lud die beiden in meine Villa ein, ging allerdings im Gegensatz zu meinen höflichen Worten mit gezogener Waffe hinter ihnen her. DDD klingelte ich mit dem Mobiltelefon an: Ich komm’ auf einen Sprung nach Haus’, Schatz, aber nicht allein, also zieh’ dir was an, ja!

„Glaubst du vielleicht, ich laufe hier nackt herum, FIP!”, schnaubte sie wütend, aber genau das tat sie soeben, als sie sich erhob, um ihr Ankleidezimmer aufzusuchen. Na dann! antwortete ich lakonisch und legte auf.

Wir drei nahmen im Schatten Platz, und schon dirigierte DDD – jetzt immerhin in einem wenn auch ziemlich durchsichtigen Strandkleid – unsere Haushaltshilfe stilsicher mit Getränken herbei: Heißen süßen Tee für Khalid, eiskaltes Bier für Fidschi, Limonade für mich. Sie selbst empfahl sich gleich wieder, denn sie verstand, dass es nicht wie beim ersten Besuch der beiden um Small Talk ging. Entsprechendes Bedauern bei meinen Gästen – sie starrten ihr nach wie einer Fata Morgana.

Ich hatte die wichtigsten Fakten zusammengeschrieben und ging mit den beiden die Unterlage durch:

1. Um die Seegebiete unseres Staates brauchen wir uns hier nicht zu kümmern. Dabei handelt es sich um reine Marineoperationen, die keinerlei zivile Tangente aufweisen.
2. Von den seinerzeitigen westlichen Randstaaten, mit deren Vertretern ich in meiner früheren Funktion bei ihrer dramatisch verlaufenen Tagung in Wien zu tun hatte, fallen für unser Projekt einige weg:
a. Malta, Australien, Mikronesien, Guam und die Nördlichen Marianen, da diese Länder keine Gebiete an CORRIDOR abgetreten haben, sondern sich weiter ganz in amerikanischer Hand befinden;
b. Palau, das auch künftig exterritorial ist, also weder von den beiden Supermächten, noch von uns beansprucht wird;
c. Zypern, die nunmehrige Zentraleinheit von CORRIDOR.
3. Die Vertreter der übrigen Gebiete müssen hierher kommen, zunächst – ich spreche jetzt offen, aber das sollten die Betroffenen nicht mitbekommen – als Geiseln und in weiterer Folge, damit wir sie indoktrinieren können: Fidschi holt also Verushka Dimitrowa (Natalia Petrowna wird beim Kind bleiben müssen) für unsere Landstreifen von Rest-Russland, Kasachstan westlich des Ural-Flusses und Chinesisch-Sibirien, Huseynagha Pa¬sheyev für Azerbeidjan, Aram Hovakimian für Armenien, Ebru Saraço?lu für die Türkei…

Die Erinnerung an die herbe orientalische Schönheit mit den unorthodoxen Ansichten und vor allem der spontane Gedanke, was hätte werden können, wenn Ort und Zeit besser gepasst hätten, ließ mich stocken. Würde ich sie wiedersehen? Sollte ich ein neuerliches Treffen eher vermeiden, DDDs wegen und überhaupt? Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen

… Faouzi Hassini für Tunesien (den ihr wegen seiner Unzuverlässigkeit besonders im Auge behalten solltet), Nouara Saadia Abad für Algerien, Mahamane Touré für Mali, Sougalo Kodjo für die Côte d’Ivoire und Francesca Boi für Papua-Neuguinea.
4. Zusätzlich bringt Khalid zum selben Zweck die Repräsentanten der östlichen Randstaaten, mit denen wir in der Zentrale von CORRIDOR noch sehr wenig Kontakt hatten: Aigul Sultanova für unseren Landstreifen von Kasachstan östlich des Uralflusses, Said Yazdi für den Iran, Nazir Al-Hariri für den Irak, Alima Lahhan für Syrien, Taqwa Rashed für Libyen, Ousmane Abou für Niger, Marie-Louise Bamiba für Burkina Faso, Stephen Owusu für Ghana und Moses Wenda für die indonesische Provinz Papua.

[ Grafik 504 ]

Meine Herren, wurde ich förmlich, das ist ein delikater Auftrag, sehr viel anders als alles, was Sie bisher gemacht haben, heikler als Ihre vorherige Mission. Lassen Sie daher das Frontschwein zuhause, reißen Sie sich zusammen und versuchen Sie, diplomatisch vorzugehen. Seien sie höflich und zuvorkommend zu den Damen, achten Sie religiöse Vorurteile und schlucken Sie im übrigen Einiges ’runter, was diese zum Teil sehr sensiblen Personen von sich geben mögen.

SIR BASIL:
Ich beobachtete den Brigadier und seine beiden Emissäre noch ein wenig, bevor ich mich zurückzog. Ohne hören zu können, was gesprochen wurde, konnte ich an der Körpersprache des Trios erkennen, wie Kloyber klare und präzise Anweisungen zu geben schien, die von den anderen gehorsam akzeptiert wurden: Da wusste ich meine Sache in guten Händen. DDD zeigte sich zu meinem Bedauern nicht mehr, aber das zu ändern, lag ja ohne weiteres in meiner Macht – schließlich war ich hier der Herr über alles, genau so, wie es meine ehrenwerten Vorfahren in früheren Jahrhunderten auf dem Cheltenham-Besitz gewesen waren.

Ich zögerte, aber es musste heraus: Lassen Sie Ihre Finger insbesondere von Ebru Saraço?lu! befahl ich Fidschi und Khalid, aber so wie ich es sagte, bereute ich es auch schon, als ich das dreckige Grinsen der beiden sah. Ich beschloss, diesmal eine besonders dicke Haut zu zeigen und mich nicht weiter darum zu kümmern. Ich schickte die beiden jetzt fort – sie sollten sich alles Nötige in Kantara beim Offizier vom Dienst aushändigen lassen.

Hier in Zypern brach um diese Tageszeit Pans Stunde an. Auf mich wartete DDD.

505

Seit ich wieder im Tauchgeschäft aktiv geworden war, wenn auch nicht mehr als Showstar, sondern als Trainerin, hatte ich mir angewöhnt, das Internet regelmäßig nach Seiten für Breathholding Freaks zu screenen. Obwohl man von einem CORRIDOR-Standort nur sehr begrenzte Operationsräume im Web hatte – beide großen Reiche unterbanden mittlerweile die Freiheit des Mediums, Amerika stark und China fast völlig –, gab es auch unter diesen Bedingungen genug zu finden. So stieß ich etwa eines Tages auf eine Website namens www•apnea-woman•com, und dort fand ich ein interessantes Angebot.

WEBSITE CHEYENNE DE LA CRUZ:
Welcome to Apneawoman!
As a teaser I have uploaded my first video, that shows me struggling to hold my breath for 3:00 minutes, until the air explodes out of me. More videos will be uploaded soon, starting with soft clips and getting into adult scenes eventually. As I don’t know anything about marketing, please spread the word that I am here. Thanks, Cheyenne, the Apneawoman.

Sie hatte sich offenbar nicht einmal die Mühe gemacht, ein anderes Pseudonym zu suchen als ihren Nom de Guerre bei den SeaBirds. Sie – das musste auf jeden Fall Maria de la Cruz, das Paradegirl meiner Schar, sein. Ohne noch eigentlich zu wissen, wie ich reagieren sollte, geschweige denn, ob ich überhaupt etwas unternehmen musste, las ich gespannt weiter, und ich kann nicht behaupten, dass mich das hier kalt ließ. Erinnerungen stiegen auf…

WEBSITE CHEYENNE DE LA CRUZ:
Please send me encouraging comments and requests. Unfortunately I’m too busy to answer every individual email but I promise you that I read every one of them. If enough people request a certain scene, I will film it. What do you want to see? Besides, all video is shot in 1920×1080 high definition, and the clips keep their widescreen aspect ratio. The detail, lighting and colors of my videos, each being 5 to 10 minutes long, are amazing. And – now heads up! – if things go well I will add some of my hot female friends to this website.

Jetzt wurde mir plötzlich klar, dass ich tatsächlich in der einen oder anderen Weise aktiv werden musste: All das konnte sich ja keinesfalls in der Kaserne der SeaBirds abspielen. Vielmehr hatte Cheyenne offenbar irgendwo in der Umgebung von Akrotiri ein Flat oder noch wahrscheinlicher eine abgelegene Lodge gemietet, wo sie die Zeit ihrer Freigänge verbrachte – und das war zumindest hart am Rande der Legalität. Was mich weiter stutzig machte, war überdies die offenkundige Absicht einiger von Marias Kameradinnen, an diesem Projekt teilzunehmen, was wohl kaum im Sinn unserer Navy sein konnte.

Lange musste ich mich nicht umhören, denn von N. M. Village Houses Ltd. war ziemlich einfach zu erfahren, dass Cheyennes Wahl auf die Ortschaft Omodos, keine 40 km von Akrotiri entfernt, gefallen war, wo man ihr etwas außerhalb an den Ausläufern des Troodos-Gebirges einen zum Landhaus ausgebauten ehemaligen Bauernhof vermietet hatte. Ich nahm das Objekt unauffällig in Augenschein und fand es sehr bequem, sogar mit gepflegtem Garten samt Swimmingpool ausgestattet, und es lag jedenfalls abseits genug, dass nicht jedes neuartige Geräusch, das sich durch die Aktivitäten meiner Paradesoldatin ergeben würde, bis ins Dorf hinein zu hören war. Ungeachtet dieser Erkenntnisse beschloss ich aber, vorerst mit keinem meiner Vorgesetzten darüber zu sprechen, sondern die Dinge bloß weiter zu beobachten. Meine eigenen Erfahrungen mit extremen Performances besagten schließlich, dass man da unter Umständen recht schräge Vögel (und durchaus nicht nur Männer) aus ihrer Reserve lockte, und das mochte für die Autoritäten von CORRIDOR vielleicht doch ganz aufschlussreich sein. Ich entschied, Cheyenne gegebenenfalls dafür zu instrumentalisieren.

WEBSITE CHEYENNE DE LA CRUZ:
Would you like to meet me in person? I bet you would… – Want to put your hands anywhere on my body while I hold my breath? Yummy… – How would you like me following your explicit directions? I would like that too! – I love to be under control, especially when my lungs are so full that my stomach is stretched tight as a drum! – So here’s my plan: You visit me at my secret place and consume my services. So have a look at the prices and rules:
• Touch me anywhere while I hold my breath 4 times in a row, wearing clothing or a bikini. How would you like it if I layed on top of you while you grope me with both hands? That would be hot. I will rest for a few minutes between each breathhold. You can continue to touch me during this time. – CORRIDOR-$ 400 (each additional breathhold over 4 = C$ 75).
• Touch me anywhere while I hold my breath 4 times nude. Same rules as above with more explicit opportunities for your hands and the remainder of your limbs. – C$ 500 (each additional breathhold over 4 = C$ 100).
• Ten minutes straight of breathholding. I will hold my breath as long as I can, let it out and take a new breath over and over again. This will stop being fun for me after a few minutes but I’m sure you’ll have a great time. – C$ 700.

Mir wurde sentimental zumute. Im Prinzip war das ja mein eigener Ansatz gewesen – sich in hilflos scheinende oder tatsächlich hilflose Situationen zu begeben, gierig beobachtet von einem sensationslüsternen Publikum, das nur darauf wartete, dass etwas passierte. Was auch eines Tages prompt der Fall war, aber mein späterer Mann, Don Julio Sanchez-Barzon, holte mich glücklicherweise vom Tod zum Leben zurück. Allein an meine frühere Karriere zu denken, brachte mich auf Hochtouren, und ich fasste zärtlich zwischen meine Beine, um mir eine kleine Freude zu bereiten – die sexuelle Komponente des Tauchens im Allgemeinen oder des Atemanhaltens im Besonderen war für mich einfach das Überwältigendste geblieben.

WEBSITE CHEYENNE DE LA CRUZ:
If you’ve always dreamed of touching a hot chick while she’s holding her breath, this is your chance. I’ll be holding my breath for the rest of my life in front of lovers who don’t appreciate it but this opportunity may only come this once for you. If interested, email me and tell me exactly what you want to do to me in explicit detail. Let’s not have any surprises when we meet. I’m the one you can tell your fantasies without any worries. After all: Want to go even further than what I outlined above? It might be possible! Hey, I’m excited, are you too?

Ich jedenfalls war’s, allein schon, wenn ich nur – süchtig geworden – täglich die Website meines besten Trainees öffnete, aber meine Erregung steigerte sich sogar noch, als ich eines Tages das erste Feedback und die daraus folgende Korrespondenz las.

WEBSITE CHEYENNE DE LA CRUZ:
Mail: How much will it cost if you did that straight thing for half an hour lying in front of me with your legs spread wide apart? – Answer: Hi dear, I have tried to hold my breath for 10 minutes to see how hard it was and I discovered that it was pretty hard to go for 10 minutes straight without any breaks. There is no way I could do 30 minutes. 10 minutes at a time is the maximum. I don’t have a problem with my legs being spread in front of you but I can’t go for 30 minutes. XOXO – Mail: I feel okay with your statement. But let me insist, just for fun: How far would you go in your nude breathholding business, if someone would offer you a very big amount of money, testing the very extent of your physical abilities? – Answer: Each little step on my side to go further and further to my limits will increase costs by a power of ten on your side, such as C$ 7,000, C$ 70,000, and so on… XOXO anyway

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

Damit endete bedauerlicherweise diese Website. Die CORRIDOR Navy sandte mir einen Einsatzbefehl, und ich musste einige meiner besten Girls losschicken, Cheyenne natürlich unter ihnen – in ein todbringendes Abenteuer, das war uns allen klar. Die SeaBird-Gruppe bildete den Kern eines umfassenden Plans, dessen Sinn mir zwar verborgen blieb, aber es war nicht meine Aufgabe, Fragen zu stellen.

Cheltenhams Kommandotruppen überfielen eine ausgewählte Zahl der verstreuten Lager Seiji Sakamotos an der Westküste der Malaiischen Halbinsel in und um Port Klang. Zum Vorteil gereichte unserer Seite dabei, dass die Japaner, obwohl Untertanen Beijings, die chinesische Marine erfolgreich davon abhielten, hier zu patrouillieren, sodass keine Konfrontation mit den Seestreitkräften des Reichs der Mitte zu befürchten war – diese hatten es längst aufgegeben, in diesem Gebiet zahlloser Inseln, die wiederum massenhaft Buchten und Höhlen aufwiesen, Ordnung zu schaffen. Ungestört konnte Sakamoto daher dort eine breitgestreute Palette von Militärgütern horten, von Landfahrzeugen, Waffen und Munition bis hin zu Schiffen und Flugzeugen.

[ Grafik 505 ]

Nicht überall waren Kamikaze-Aktionen erforderlich – dort wo der CORRIDOR-Geheimdienst eine gewisse Sorglosigkeit der schwarzgekleideten Aufseher registriert hatte, ging man in Form der bekannten „Cobra Bites” vor: Kleine Gruppen in Booten drangen vor, überwältigten blitzschnell die Wächter, brachten Sprengladungen an und zogen sich wieder zurück. Meine SeaBirds kamen hingegen beim momentanen Hauptquartier der Yakuzas zum Einsatz, das aus einigen mobilen Einheiten bestand und von dem man mittlerweile wusste, dass es unter anderem den physischen Schatz der Japaner enthielt: Bargeld in amerikanischer und chinesischer Währung, Gold in Münzen und Barren sowie säckeweise Edelsteine jeglicher Art.

Cheyenne – als einzige nicht im Camouflage-Outfit, sondern attraktiv zurechtgemacht und mit einem winzigen Bikini bekleidet – landete mit einem harmlos erscheinenden Sportmotorboot direkt vor dem HQ und versuchte, die Aufmerksamkeit der Posten auf sich zu ziehen, indem sie sich diesen aufreizend näherte. Während sich die Männer mit ihr beschäftigten und sich bereits die eine oder andere Handgreiflichkeit abzeichnete, lief um diese Szene herum ein präziser Einsatzplan ab, den Stabschef Kloyber mit kühlem Kopf ausgearbeitet hatte:
• Zwei der Frauen schwammen unter Wasser zu einem Zerstörer, der hier vor Anker lag, und dienten mit ihren Transmittern als Ziele für zwei Lenkwaffen, die breite Lecks in das Schiff rissen und dieses versenkten.
• Im so entstandenen Chaos landeten weitere SeaBirds und gewannen nach kurzem Lauf über den Strand die Gebäude: je zwei von ihnen drückten sich mit Rucksäcken voll Sprengstoff der Marke „Bad Boy Adv-2” gegen die Außenwände und pulverisierten auf diese Weise den Yakuza-Schatz.
• Die letzte überlebende Soldatin außer Cheyenne rannte zu dieser hin und warf ihr ein leichtes Maschinengewehr zu – beide töteten so viele Wachen, wie sie nur konnten, bis sie selbst mit zwei gezielten Schüssen aus einer Jagdflinte niedergestreckt wurden.

Der Schütze war Sakamoto, der hinter einem Felsen hervortrat und mit kaltem Blick die Verwüstungen begutachtete. Er konnte sich natürlich vorstellen, um wen es sich beim Urheber des Desasters handelte, und musste sich wohl auch eingestehen, dass dieses in Kenntnis seiner Anwesenheit vor Ort angerichtet worden war, sich also nicht zuletzt direkt gegen seine Person richtete.

Hier lag er nicht ganz falsch, aber obwohl er der Liebhaber von Lady Charlene gewesen war, hatte Sir Basil keinesfalls den Vorsatz, Seiji töten zu lassen, denn er schätzte den Mann immerhin als angenehm kalkulierbar ein. Hingegen wollte er dem Ober-Oyabun einen Schuss vor den Bug verpassen, und zwar aus mancherlei Gründen: Da war einmal das berühmte Cheltenham-Motto „Speak Roman with Romans!” – es schadete auf keinen Fall, dem Japs zu zeigen, dass man seine übliche Sprache ebenfalls beherrschte; dann war natürlich ein Motiv, den ungeheuren Reichtum der Yakuzas zu schmälern; nicht zuletzt aber wurde damit das Schicksal Dan Mai Zhengs gewendet, die unter unsäglichen Bedingungen in einem chinesischen Gefängnis schmorte. Die Aufforderung, in Beijing die Freilassung der früheren Staatschefin und deren Verbringung nach Palau zu erwirken, wollte Sir Basil Sakamoto direkt überbringen: In dem ganzen Wirrwarr trat nämlich der Baronet – von dem niemand gewusst hatte, dass er sich persönlich der Operation angeschlossen hatte – plötzlich von hinten an Seiji heran, packte ihn an der Kehle und setzte ihm seine Pistole an die Schläfe.

Bevor er aber ein Wort sagen konnte, hatte sich der Japaner bereits wieder aus der Umklammerung befreit und rannte weg, Cheltenham ihm hinterher. Sie waren noch nicht weit gekommen, als sie eine magnetische Stimme „Halt, nicht so eilig!” rufen hörten, begleitet vom charakteristischen Ladegeräusch einer Pumpgun. Sir Basil erkannte als erster Nicholas, und sein erster Gedanke war, dass dieser plötzlich der Stimme seines Blutes folgte und seinen Stiefvater zu erschießen beabsichtigte, um seinen richtigen Vater zu schützen. Er konnte sich weder vorstellen, wie der Junge hierhergeraten, noch wie er an diese gefährliche Waffe gelangt war (für beides hatte ich auf Nicholas’ Bitten gesorgt).

Es kam anders als befürchtet. „Bleib gefälligst stehen, Sakamoto-sama, und höre, was wir dir zu sagen haben! – Bitte sprich, Cheltenham-dono!”

Es erfüllte den Baronet, der bekanntlich mit den Feinheiten des Japanischen vertraut war, mit großem Stolz, dass der Junge zwar Seiji mit der gebotenen formalen Höflichkeit apostrophierte, ihn selbst aber mit größter Ehrerbietung ansprach, und er sah zu seiner Befriedigung auch, dass Sakamoto diese Differenzierung genau mitbekam und seine Wut darüber nur schwer unterdrücken konnte.

Cheltenham sagte, was zu sagen war, und dann ließen sie Seiji laufen. Abgesehen von der Schwierigkeit, Dan Mai Zheng zu berfreien, wofür der Oyabun zum neuen Machthaber in Beijing pilgern und ihn um etwas bitten musste (obwohl eigentlich er Xun an der Leine führen wollte), würde er jetzt genug zu tun haben, seinen eigenen Leuten zu erklären, was vorgefallen war. Die Theorie, dass dies nicht mehr als ein unbedeutender Nadelstich gegen die Organisation gewesen sein sollte, wie er gegenüber den Führern der einzelnen Yakuza-Klans zu argumentieren suchte, konnte wohl kaum lange aufrechterhalten werden. Bei einer eilig einberufenen Geheimbesprechung in Tokio, wo Seiji seinen Unterführern – die er seit langem nicht einmal um ihre Meinung gefragt hatte – Rede und Antwort stehen musste, bevor er in die chinesische Hauptstadt weiterreiste, gab es seit seinem Amtsantritt das erste Mal Risse in der blinden Gefolgschaft dieser harten Männer: Sie sahen ihr Ziel darin, Macht und Geld anzuhäufen, und sie wählten ihren Chef zu dem Zweck, alle Unbill, die ihnen bei der Ausführung dieser Bestrebungen widerfahren konnten, von ihnen fernzuhalten.

Die Kommandotruppen kehrten nach Zypern zurück, was angesichts der politischen Geographie unseres Globus nicht einfach war. Sir Basil ließ mich rufen und belobigte mich zum perfekten Einsatz meiner SeaBirds: „Ohne es zu ahnen, haben Sie dadurch einem alten Freund geholfen – Ray Kravcuk, der seine Zheng wiederbekommt, woran er schon gar nicht mehr geglaubt hat, und jetzt noch dazu für immer, nicht nur für kurze Intermezzi!”

Kein Wort verlor er über die Gefallenen, im Besonderen nicht über Cheyenne de la Cruz. Er nahm es offenbar als ausgemacht, dass der Totaleinsatz der Girls nicht nur postuliert, sondern auch als Realität hingenommen wurde. Ich sprach ihn gar nicht darauf an, denn ich ahnte, was er mir geantwortet hätte: dass wir mit dem Verlust einiger weniger SeaBirds das Leben einer größeren Zahl normaler Soldaten bewahren und vor allem eine Menge teures Kriegsmaterial sparen konnten (und genau so war’s ja auch gedacht). Ich beschloss, meiner Superheldin wenigstens ein schlichtes Denkmal zu setzen.

WEBSITE CHEYENNE DE LA CRUZ:
Alex Sanchez-Barzon
on behalf of Cheyenne de la Cruz
Dear all, your idol and, as I suppose, beloved Apneawoman Cheyenne, who was earning her living as a soldier, was killed in action only recently. There was a tragical paradox with her end: Trained to fight and most probably perish in watery domains she died on dry land. Please honor her memory, and, ladies and gentlemen, don’t abuse her dead body with your dirty thoughts, as you may have done admissibly when she was alive!

505-A

DER RICHTIGE AUTOR:

Freunde, da ist Einiges aus dem Ruder gelaufen, und offenbar nur, weil ich es nicht so genau nehme mit meiner Oberhoheit über diese Geschichte! Ist es denn zuviel verlangt, wenn ich mir erwarte, dass bei aller Freiheit des Erzählens durch euch alle wenigstens meine von vornherein skizzierten Leitlinien beachtet werden? Ich kann schließlich nicht andauernd hinter euch her glucken, sprich meine normale Biografie völlig aufgeben, um nur noch für euch da zu sein!

Ob es euch nun gefällt oder nicht, es gibt diese ganz gewöhnliche Praxis: Ich stehe morgens auf, mache mir Früh¬stück, absolviere das Badezimmer-Ritual, fahre mit öffentlichen Verkehrsmitteln ins Büro. Dort wird’s dann weniger konventionell, denn ich übe gottlob keine Routinetätigkeiten aus, sondern betreue Sonderprojekte, für die ein gewisses Maß an Format vonnöten ist, keinesfalls aber urbanes Proletentum oder rustikale Dumpfheit. Abends und am Wochenende wieder Business as usual daheim mit Gartenarbeit, Hausputz und dergleichen. Wenn dann nach all dem noch Zeit ist und ich nicht zu müde bin, beschäftige ich mich mit diesem Buch, sehe natürlich sofort, wo überall schon wieder weitergeschrieben wurde durch die handelnden Personen, sei es aus Geltungsdrang, Sendungsbewusstsein oder einfach Mitteilsamkeit, und ich akzeptiere das normalerweise ohne Widerspruch – genaugenommen gibt es Schlimmeres, was man über einen Roman sagen kann, als dass sich sein Personal verselbständigt hat.

Mir ist klar, wie sehr ich gerade wegen dieses Umstandes ANASTACIA liebe, ebenso wie ich zuvor BERENICE oder NOSTRANIMA geliebt habe und noch immer liebe. Schon um dieses Bekenntnisses willen war es gerechtfertigt, aus der Anonymität herauszutreten, mit allen Konsequenzen, die da und dort schon in so bemerkenswert akribischer Weise aufgezeigt wurden: Dass ich mich nämlich damit auf das Niveau von euch Figuren degradiere, also eingestehe, dass es über mir noch jemanden gibt, der sich das hier ausgedacht hat – der geneigt ist, bei mir, den er vorschützt, um selbst mit all seinen Vorzügen und Fehlern, Tugenden und Lastern im Verborgenen bleiben zu können, die Zügel schleifen zu lassen, sodass ich wiederum dazu tendiere, dies bei euch zu tun.

Aber Himmel noch mal, was sollen die Leserin und der Leser davon halten?

Dieser Ihrwisstschonwer, ich und der Rest der Crew veranstalten diese Show doch wohl zu dem Zweck, dass jemand sie sich ansieht, und ebenso wie Hässliches wenigstens ästhetisch zu sein hat, um in ein Kunstwerk zu gelangen, muss erzählerisches Chaos zumindest Spannung aufbauen, diese eine Zeitlang aufrechterhalten und schließlich eine wohlige Erlösung herbeiführen.

Aber vielleicht geht es ja in Wirklichkeit doch nicht um irgendwelche Leserinnen und Leser (und sie zu adressieren ist bloß eine seit langem geübte und daher nicht mehr in Frage gestellte Konvention von uns Autorinnen und Autoren)! Glaubt man nämlich diversen schlauen Untersuchungen, erwächst der Impetus für das Schreiben nicht primär aus dem Wunsch, verehrt zu werden – den man auf tausendfach andere Weise (etwa durch charmantes Nichtstun) befriedigen könnte –, sondern zentral aus der Lust an der Möglichkeit, neue Welten zu schaffen, die mit der Realität gar nichts oder nur ganz am Rande etwas zu tun haben; an der Möglichkeit, viele verschiedene, wenn auch fiktive Biografien zu verkörpern, mit Erlebnissen, an die man normalerweise nie herankäme; an der Möglichkeit, Dinge zu tun, die einem im zivilen Leben nie einfallen würden oder die einen mit den Gesetzen der Gesellschaft in Konflikt bringen müssten.

Die Schranken zwischen den Altersstufen sind aufgehoben – man kann gleichzeitig jung und betagt sein. Mehr noch – man kann die jeweiligen Grenzen zwischen Nationen, sozialen Schichten, Rassen, Hautfarben, Sprachen, Religionen, politischen Überzeugungen und (für mich die schwierigste Transformation) zwischen den Geschlechtern problemlos überschreiten. Man kann das Gefängnis des Ich, in dem eine rege Phantasie mit Dutzenden Stimmen zu einem spricht, verlassen und all diesen verbalen Verlockungen nachgehen bis in ihre alleräußersten Verästelungen.

Und je mehr das passiert, desto weniger „Continuity” gibt es…

Auf dieses Stichwort hin melden sich der große Regisseur und sein Produzent Sid Bogdanych, und obwohl an sich befehlsgewohnt, kommen sie ausnahmsweise ganz bescheiden rüber: „Wir wissen natürlich, was wir Ihnen zu verdanken haben, Sir!” und „Wir wollen uns ja nicht wirklich in ihre Gedankengänge drängen, Sir, aber wer wüsste besser als Sie, dass wir von der Branche sind, in der dem Continuity Supervisor eine elementare Funktion zukommt, hat er doch die Aufgabe, die Qualität unserer Arbeit quer durch die regellose und typischerweise nicht-lineare Vorgangsweise zu sichern. Das heißt – eigentlich nannte man, als wir begonnen haben, Filme zu drehen, diese Person etwas abwertend Scriptgirl, und sie war (wie der Begriff schon sagt) in der Regel weiblich und die von den eigentlichen Verantwortlichen vorgeschobene Zielscheibe aller Kritik. Jegliches Ungemach hatte sie zu schlucken, und wenn’s einen von uns überkam, ihren Busen anzutatschen, und sie vor Schreck ihren ganzen Wust aus Drehbuchseiten, Fotografien und Skizzen fallen ließ, pflegte man der am Boden Knienden noch an den Hintern zu fassen!”

Sid Bogdanych, der immer glaubt, ein bestimmtes Image aufrechterhalten zu müssen (und er hat nicht unrecht damit, denn man erwartet in den Koordinaten, in denen er sich bewegt, nicht so richtig den Intellektuellen, abgesehen davon, dass man in der heutigen politischen Landschaft Amerikas weniger gefährdet ist, wenn man Oberflächlichkeit demonstriert) – Sid also denkt, er sei es sich schuldig, diese Szene noch ein wenig auszuwalzen: Ob ich es wissen will oder nicht, ich erfahre, dass er sich gerade an solchen Cuties immer besonders gern vergriffen hat und nach mit ihm verbrachter Nacht von ihnen verlangte, ihre Unterlagen peinlichst genau wieder einsatzbereit zu haben, wohl wissend, wie er sie damit um den letzten Rest Schlaf brachte. Wenn das Scriptgirl am nächsten Morgen auf dem Set erschien, mit dunklen Ringen unter den Augen und etwas trägen, breitbeinigen Bewegungen, pflegte man im Production Staff zu raunen „Bog was here!” Der Master Electrician, ein handsome Guy mit schwarzem Haar und feurigem Blick, war hocherfreut, denn das bedeutete seine Chance – immer wenn der Produzent ein solches Objekt seiner Begierde ablegte (grundsätzlich nach bloß einmaliger Benützung) war dieses höchst dankbar dafür, wenn ein anderer Mann, und noch dazu einer von ansprechendem Äußeren, zur Verfügung stand…

„Aber unabhängig von all diesen Unofficial Affairs”, beeilt sich der Produzent zu versichern, „entsteht ein wirklich guter Film tatsächlich nur durch eiserne Disziplin und das heißt, dass sich der Continuity Supervisor gegen alle beruflichen wie persönlichen Widerstände durchgesetzt hat!”

Schön und gut, ich nehme das zur Kenntnis – aber ein Roman ist nun einmal kein Film: Er muss nicht nur keine Kontinuität aufweisen, sondern ist wahrscheinlich geradezu berufen, diese zu zerstören und so die Absurdität unserer Existenz aufzudecken!

Der große Regisseur – wenn’s um seine Belange geht, durchwegs sehr intelligent, aber manchmal wiederum von geradezu genialer (pardon!) Ignoranz – möchte allerdings auch seiner Branche die Absurdität nicht absprechen lassen: „Sir, wir haben doch alle miteinander Filme gesehen, die übertrafen alles Literarisch-Kafkaeske mit Leichtigkeit, allein durch die Opulenz ihrer Bildsprache: Sie waren, wie mein Freund Sid hier sich auszudrücken beliebt, ‚fun-fuck-tastic’, und wenn ich auch derlei Ausdrücke nicht gerade schätze, muss ich doch einräumen, dass er damit den Nagel auf den Kopf trifft!”

Umso besser dann, denn Ihrwisstschonwer wünscht jedenfalls, dass diese Geschichte am Ende in Widersprüchen versinkt. Was ich daher zuvor kritisiert habe – dass all dies hier nicht mehr beherrschbar ist dank eurer unterschiedlichen Interessen –, trifft sich demzufolge genau mit seinen Absichten. Selbst für mich als impliziten Autor hat es daher keinen Sinn, sich dagegen zu wehren.

Meinem Freund Wendelin Schmidt-Dengler, dem weltberühmten Germanisten, hätte ein solcher Ansatz gefallen, und ihm wären auch sofort die Analogien in der neueren Literaturgeschichte zugeflogen, die man jedenfalls kennen sollte, ehe man ein bestimmtes typologisches Feld betritt: Heimito von Doderer würde er als Zeugen aufrufen, Fritz von Herzmanovsky-Orlando, Albert Drach und Thomas Bernhard. Er ist es ja, der dieser meiner Schreibe (respektive unser aller Schreibe, denn wiewohl eine objektive Person, bin ich hier am Set durchaus nicht allein) spontan den ehrenvollen Gattungsnamen Trash gegeben hat, und ich habe diesen Terminus bereits frühzeitig adoptiert und für mich genauer definiert als die wirre Substanz, die man uns heutzutage als unser Dasein vorsetzt.

Jetzt aber hat WSD sich uns entzogen, und – man möge das nicht falsch verstehen – ich glaube fast, er lächelt auf seinem Olymp über unsere Trauer, denn er sieht für sich ausschließlich den Gewinn, von seinem heutigen Standpunkt aus mit einem Mal alles zu wissen, alles zu begreifen. Diese Situation braucht keine Kunst und auch kein Reden über Kunst, denn sie selbst ist Kunst! Und vielleicht steht am Ende unserer leiblichen Präsenz, das zu ergründen WSD uns vorausgegangen ist, das Nichts – die kühnste Abstraktion alles Seienden. Oder aber da ist nicht nichts – sondern ein Etwas, das in seiner maximalen Entfaltung bei weitem unsere Vorstellungskraft übersteigt …

506

Cheltenham verfiel auf den uralten Gedanken, mit Brot und Spielen die Moral der Bevölkerung aufzubessern – keine schlechte Idee, wie ich anerkennen muss, obwohl es nicht direkt seine war, denn König Keyhi auf VIÈVE hatte bereits vor ihm diesen Weg beschritten (von gewissen antiken Vorbildern ganz zu schweigen). Vor allem die erste Komponente (Panis) war leicht zu erfüllen, denn nach wie vor standen Sir Basil ungeahnte Geldmittel zur Verfügung, mit denen er es in einer ersten Phase jedenfalls schaffte, rund um die Randstaatenvertreter ein Netzwerk aus Begünstigten zu bilden, dessen Mitglieder bereit waren, ihre eigenen Familienmitglieder, Freunde und Bekannten in seinem Namen zu lenken. Ebenso wichtig schien ihm aber die zweite Komponente (Circenses), denn sie sollte die große Mehrheit derer, die noch immer benachteiligt blieben, in ihrer Freizeit von einem Show-Event zum nächsten drängen und sie so in einem Zustand neugieriger Spannung halten, der keine Fragen aufkommen ließ. Die Originalveranstaltungen, die auf Zypern stattfanden – natürlich in einem der Etablissements des neugeschaffenen Vergnügungszentrums im Troodos-Gebirge (dessen Reingewinne übrigens in die Cheltenham’sche Privatschatulle flossen) –, sollten via Fernsehen in alle Teile des Reiches übertragen werden.

Wieso der Baronet dabei ausgerechnet an mich gedacht hatte, erforderte die eine oder andere Erklärung, wobei ich merkte, wie genau offenbar in seinem Auftrag meine Person, ja meine Psyche erforscht worden war.

SIR BASIL:
Erstens sind Sie freiwillig hierhergekom¬men, DDD, das macht Sie in meinen Augen authentisch genug, um in meinem Sinne zu agieren. Zweitens gefällt mir ihre unvergessliche Chinchilla-Nummer, und ich denke, wem das eingefallen ist, der besitzt genügend Phantasie, auch größere Auftritte zu gestalten (wobei Ihnen die Bühnenerfahrung, die Sie meines Wissens ja ebenfalls haben, zugute kommt!). Drittens haben Sie den ehemaligen First Lieutenant und jetzigen Brigadier Kloyber begleitet, und dieser wird als mein Chief of Staff, ohne dass ich konkret mit ihm darüber gesprochen habe, in dieselbe Richtung wie ich denken. Mit seinem allgemeinen militärischen Organisationstalent sowie den höchstpersönlichen sexuellen Aspirationen eines kleinen, dicklichen und im Grunde unbedeutenden Mannes wird er Ihnen wertvolle Unterstützung geben können!

Eine überzeugende Ansprache und auch eine sehr ausführliche eines hohen Herrn, der sonst eher dem Prinzip des „Never complain, never explain” Henry Fords II huldigte (ein Amerikaners zwar, aber wo er Recht hatte, hatte er Recht!). Ich fühlte mich irgendwie geschmeichelt und auch beschützt, irgendetwas dazwischen, in dem Bewusstsein, das er kein direktes körperliches Interesse an mir hatte (ebensowenig wie an meiner Halbschwester Laura, obwohl diese vermutlich noch heute so weit ihm gehörte, dass sie ihr gemütliches Anwesen jederzeit verließe, um einen heiklen Auftrag für ihn zu erfüllen). An die Arbeit also!

SIR BASIL:
Einen Hinweis noch, meine Liebe, wenn Sie mir gestatten: Ich gehe davon aus, dass man möglichst oft Sie selbst als Hauptakteurin unserer Circenses sehen wird!

Das war eindeutig – es ging also wohl darum, mich selbst gleich mit dem ersten Programm, das wir gestalteten, an die Rampe zu katapultieren! Franz-Josef wurde befragt – mit dem dringenden Zusatz, er solle sich jetzt ja nicht hinter irgendeiner peinlichen Berührtheit verstecken, sondern frei heraus bekennen, was er in seinen kühnsten erotischen Träumen mit mir, mit anderen Leuten oder aber mit sich selbst geschehen lassen würde. Zu meiner Überraschung brachte er eine kleine Mappe zum Vorschein, in der er ganz wenige, aber umso eindrucksvollere Bilder gesammelt hatte, in denen bestimmte Eckpunkte seiner geheimen Vorstellungswelt fixiert waren. Manches schien mir bekannt, anderes aber nicht, was mich insofern verwunderte, als er doch, indem er mich vor gerichtlicher und gesellschaftlicher Verfolgung beschützte, de facto von mir Besitz ergriffen hatte und sich daher ohnehin einiges herausnehmen konnte: Dennoch hatte er offenbar mit manchen seiner Wünsche hinter dem Berg gehalten!

Ich suchte drei Sujets aus, die auch mich selbst besonders ansprachen:

#1 Dame mit Hut und Sonnenbrille:
Ich stellte mir vor, ich würde weißgekleidet auf einem zierlichen Sesselchen sitzen, was angesichts meiner nun schon etwas reiferen Formen einen besonderen Kontrast ergeben müsste. Davon ausgehend die traditionelle Striptease-Nummer, die zieht jedenfalls immer, so oft und so allzeit gleich sie im Prinzip schon abgespult wurde. Der Clou meiner Version war allerdings (und das wussten Genießer durchaus zu schätzen, wie ich später den Reaktionen des Publikums entnehmen konnte), dass ich bis zuletzt Hut und Sonnenbrille aufbehielt, und als ich beides am Ende doch abnahm und die gewisse Anonymität beendete, die mir diese Requisiten geboten hatten, wirkte es, als würde ich mich erst an dieser Stelle völlig entblößen, sprich mein innerstes Selbst preisgeben.

#2 Überall Olivenöl:
Ich stellte mir vor, ich würde bereits völlig nackt das Szenarium betreten, das mit Plastikbahnen ausgekleidet war. Dazu hingen seltsame Kanister von der Decke. Die Zuschauer fragten sich mit Recht, was daraus werden sollte, und ihre Geduld wurde auch nicht lange auf die Probe gestellt. Ich begann, intensiv an mir herumzufummeln, massierte meine Brüste fuhr mir aufreizend durchs Haar, streichelte meine Schenkel und fasste mir am Ende mit einer obszönen Geste zwischen die Beine. Dann floss Öl, grüngelb schimmerndes Olivenöl aus den Kanistern und verbreitete sich langsam über die gesamte Bühnenfläche, ergoss sich vor allem über mich, die sich hatte zu Boden sinken lassen, wo ich mich hemmungslos in der zähen Flüssigkeit wälzte. Meine Selbstentäußerung gegenüber der gaffenden Meute war eine wesentlich größere als bei jedem abgelegten Kleidungsstück meiner ersten Nummer – sie war vielmehr absolut: Ich reduzierte mich zu einem Lebewesen niedriger Ordnung, und jeder dort fühlte sich gleichsam im Zoo, wo er irgendwelche Reptilien beobachtete.

#3 Zur Benützung freigegeben
Ich stellte mir vor, mit verbundenen Augen und eingehüllt in ein schwarzes Tuch von Franz-Josef in den Saal geführt zu werden, in dessen Mitte sich eine Art Katafalk befand. Das Tuch wurde weggezogen, ich selbst aufgefordert, mich hinzulegen und festschnallen zu lassen. Nun durfte das Publikum nicht nur schauen, sondern auch hinfassen, und davon wurde reichlich Gebrauch gemacht, zu Franz-Josefs und meiner Überraschung nicht nur seitens der Männer, sondern auch der Frauen, und natürlich quer durch die Ethnien, wobei diesbezügliche Unterschiede lediglich in der Intensität des Zulangens zu finden waren. Ich konnte zwar nichts sehen, versuchte aber mittels Form und Beschaffenheit der Hände, die mich berührten, Genus und Herkunft zu erkennen. Subjektiv gewann ich den Eindruck, dass meine Geschlechtsgenossinnen es waren, die an mir die aggressivsten und zudringlichsten Übertretungen begingen. Mein militärischer Assistent bestätigte mir das und bot in seiner akribischen Art ein ganzes Bündel Erklärungen: dass, wenn sich schon eine von uns für so etwas hergab, die anderen fanden, sie solle auch die empfindlichsten Konsequenzen erleiden; dass, wenn sich einmal die Gelegenheit bot, die Versuchung zum Missbrauch der Macht bei jenen am größten war, die gemeinhin in einer schwächeren Position waren; dass es unter Menschen immer nur um Sieg oder Niederlage, sprich um Triumph oder Unterwerfung ging.

SIR BASIL:
Der Gedanke, derlei Theorien praktisch zu testen, ließ den Brigadier von da an nicht mehr los, und eines Tages (ich hatte dabei ein wenig nachgeholfen) kam ihm die Erleuchtung: Die Nummer wurde schlussendlich auch spiegelverkehrt geboten, und er selbst stellte sich, seines Ranges nicht achtend, zur Verfügung. DDD verband ihm die Augen, führte ihn zur Bahre, zog das bewusste Tuch weg und schnallte ihn fest: Besonders attraktiv war er ja nicht zu nennen in seiner ungesunden Schwabbeligkeit, an der auch die Sonne Zyperns nichts ändern konnte, aber dennoch schien seine Hilflosigkeit die Zuschauer zu reizen, vor allem aber sein aufragender Pfahl, der Kloybers schon allein durch die Vorbereitungen aufs Höchste gesteigerte Erregung erkennen ließ.

Aber abgesehen davon, wie Franz-Josef von den Herantretenden behandelt wurde – an Details möchte ich nennen, dass die einen versuchten, ihm spürbare Schmerzen zuzufügen, während die anderen sich bemühten, einen Samenerguss zu herbeizuführen –, lernte er persönlich ganz neue Facetten von sich selbst kennen. Sein bisheriges inneres Koordinatensystem war einerseits von der Verankerung in einer starren Kommandostruktur geprägt, andererseits von seiner querdenkerischen Intelligenz, die es ihm erlaubte, Abstand vom extremen Kommiss-Dasein zu halten – ein bequemer Zustand eigentlich, der sich noch verstärkte, als er damals von der Truppe ins Heeresnachrichtenamt wechselte, wo der geistige Freiraum, den er sich selbst stets zugebilligt hatte, durch die bloßen Umstände noch ein wenig größer wurde. Außerdem brachte es die geheimdienstliche Tätigkeit, von ihm mit der entsprechenden beruflichen, aber auch privaten Neugier betrieben, mit sich, dass er mehr und mehr erkannte, wie trügerisch die Welt ihm vorzuspielen versuchte, zu sein wie sie nicht war: einfach statt komplex, linear statt in großen Kreisbewegungen verlaufend, voller Doppelgänger, Klone und Androiden statt voller Originale.

Die erste Begegnung, damals in Wien, mit dem Offizierskollegen (ihn Kamerad zu nennen, widerstrebte FIP) Quintus Rubellius Taurus hatte entscheidend zu diesem Bewusstsein beigetragen: All die Energien, die jahrhundertelang von den Römern dafür aufgewendet wurden, ein Riesenreich zu errichten, das am Ende doch ausgelaugt und total korrumpiert in nichts zerfiel! Und selbst das, was davon übrig war, was sich als kultureller Fallout bis in ferne Zeiten fortpflanzte – war es all die Opfer wert gewesen? Selbst Scipio Africanus und Hannibal, so viel bekam mein Freund mit, hatten sich mittlerweile über unbeschreibliche Distanzen hinweg die Hand gereicht, überwältigt von der Sinnlosigkeit ihres Kampfes.

SIR BASIL:
Das ging dem Brigadier durch den Kopf, als er so dalag, den Zudringlichkeiten des Publikums ausgesetzt, und als schließlich eine feingliedrige Hand ihn mit Akribie zur Ejakulation brachte, war es nicht nur die Triebbefriedigung, die ihn (wie wahrscheinlich jeden gesunden Mann in dieser außergewöhnlichen Situation) überfiel, sondern auch eine neue Sicht auf seine eigene Person: Er lernte sich selbst endgültig – auch körperlich – zu akzeptieren, wie er war, denn wenn er sogar Fremden solche Lust bereiten konnte, dann musste doch mit ihm alles stimmen! Als Fesseln und Augenbinde entfernt waren und Kloyber sich mit neugewonnener Grandezza verneigte (wobei es ihm völlig einerlei erschien, dass er hier nackt unter Bekleideten stand), sah er seinen alten Freund Fidschi am Saalausgang stehen, der ihm grinsend das Victory-Zeichen zeigte.

Aber wessen Hand war es gewesen? Ich verriet nichts, und so versuchte FIP, aus den Mienen der Umstehenden zu erkennen, ob sich die Betreffende darunter befand. Fidschi schob sich durch das noch immer dicht gedrängte Publikum und konnte, als er nahe genug war, der Verlockung nicht widerstehen, seinen Freund zu verulken. „Respekt, Herr General!”, trompetete er und salutierte zackig: „Die Feinde CORRIDORs werden erzittern vor der Wunderwaffe, die wir da im Köcher haben!”

„He, du Arsch!”, drängte Franz-Josef ungeduldig, „Sag schon, wer es war!” – „Immer mit der Ruhe, Big Nugget! Die Frage ist doch eigentlich, wer es nach deinen Wünschen hätte sein sollen!” – „Nun, ich bin ziemlich sicher, dass es eine Frau war, und ich weiß, dass es nicht DDD war, denn die habe ich sozusagen im Gefühl!”

Da lachte Fidschi dröhnend (in der übertriebenen Weise, die er sich angeeignet hatte, als es ihm ganz schlecht erging – damals um die Angst zu besiegen). Er murmelte etwas davon, dass dieser Mann etwas dazugelernt habe seit den Tagen Sexy-Hexys, um dann weiter zu bohren: „Na los jetzt, sag schon, was du vermutest! War es Alex Sanchez-Barzon? Oder vielleicht Briseïs? Oder am Ende deren Mutter Evsevia?”

SIR BASIL:
Wie ich hörte, ging er sogar so weit, den Namen Charlenes – Lady Charlenes! – in den Mund zu nehmen, was ihm Brigadier Kloyber entsetzt verbot. Mit Recht fürchtete er meinen Zorn, denn wenn auch meine Frau in ihrem früheren Leben in die verrotteten Zirkel der Washingtoner High Society verstrickt gewesen war, besaß dies keinerlei Relevanz mehr, und von ihrem aktuellen Auftritt in den Katakomben des Klosters war verlässlich nichts nach außen gedrungen: Ein geistliches Machtwort des Abtes versiegelte den dort Anwesenden die Lippen.

Da Franz-Josef auffiel, dass keine der erwähnten Damen im Saal zugegen war (und es ihm auch kaum möglich schien, dass diese sich während seiner Demaskierung so rasch aus dem Staub gemacht hatten), tappte er weiter im Dunkeln. Fidschi beschloss, ihn zu erlösen: „Was hältst du von der geschniegelten Pfote deines Centurios Quintus Rubellius Taurus, die trotz seines Berufs als Weiberhand durchgehen kann? Er war es, er nutzte die Gelegenheit, einmal einem seiner Befehlshaber dermaßen nahezutreten!”

SIR BASIL:
Kloyber war gar nicht so entsetzt, wie man das hätte annehmen können – eigentlich enthob ihn diese Meldung der Sorge, was denn der Anführer meiner Cohors Praetoria zu seinem Ausritt in militärfremde oder wenigstens militärferne Gebiete sagen würde. Übrigens: Stylianos genoss es, gemeinsam mit mir auf dieses bunte Treiben hinabzusehen, aus einem Fenster hoch oben direkt unter der Saaldecke, wo niemand uns bemerkte. Sehen Sie, ? ???????, flüsterte ich ihm zu, auch wir Abendländer können zügellos sein! Und als er mich fragte, was denn eigentlich DDD bedeutete, folgte ich einer plötzlichen Eingebung und antwortete: Deathly Defiance Deterrent.

Äußerst schmeichelhaft, wie Sie in meiner Abwesenheit über mich sprechen, Sir Basil! Aber natürlich: Es gibt hier zwischen uns diese gewisse gnädige Anonymität des normalen Lebens nicht, insofern wir entweder direkt aus dem Willen eines anderen agieren oder – wenn dieser sich gleich einem deistisch gedachten Gott verweigert, nachdem er uns geschaffen hat – nach eigenem Gutdünken handeln, aber in beiden Fällen miteinander vernetzt und daher weitgehend ohne Schamgrenze. Daher kann es auch durchaus sein, dass unsere Drehbuchautorin sich der Hand des Centurio bedient hat, um Franz-Josef anzufassen…

507

Wenn wir jetzt schon mitten in solchen Frivolitäten sind…

Also, jeder weiß, wenn ich wollte, hatte ich auch ’ne tolle Masche drauf à la DDD. Leo Di Marconi bat mich wieder einmal um ein Treffen, „to take a trip down memory lane”, aber bei ihm konnte man natürlich nie so genau wissen, was privates und was berufliches Interesse war – im Klartext: ob nicht eine Situation, die man selbst als höchst intim empfand und in der man bereit war, etwas mehr als üblich aus sich herauszugehen, schließlich irgendwo publizistisch ausgeschlachtet wurde. Aber einerlei – wer sich mit diesem Typen einließ (und das hatte ich für mich längst positiv entschieden, wenn ich auch nicht dauerhaft mit ihm zusammenleben wollte), der musste sich über diesen Punkt im Klaren sein. Es bedeutete ja eigentlich nichts anderes, als dass man bereit war, jemanden, der persönlich etwas gegen dieses Techtelmechtel hatte (wie mein ewiger Geliebter Johannes) oder sogar de iure etwas dagegen haben durfte (wie mein Mann Romuald), vor den Kopf zu stoßen, wenn alles aufkam.

Wir trafen uns in Salzburg. Marconi, reiste zwar über Wien an, als er aus CORRIDOR zurückkehrte und sich auf dem Weg nach London befand, aber ich beorderte ihn lieber an einen anderen Ort, sodass ich bei den Kindern eine Dienstreise vorschützen konnte (mich vor Romuald zu rechtfertigen, hielt ich ohnedies längst für überflüssig). Als Leo im Arrival des SZG Airport erschien, wartete ich bereits auf ihn, ging auf ihn zu und eröffnete ihm DDD-like, ich hätte bloß drei Kleidungsstücke an.

Er ließ die Reisetasche fallen und setzte die teure Kamera vorsichtig ab (soviel Verstand brachte er gerade noch auf). Man konnte ihm beim Denken zusehen: Es war heiß, und ich trug ein dünnes Sommerkleid – Nr. 1. Die Schuhe, zählten die zusammen als Nr. 2 oder einzeln als Nr. 2 und 3? Egal, so oder so war da wohl nicht mehr recht viel zu finden, und er konnte es kaum noch erwarten, nähere Erkundungen vorzunehmen. Diese erlaubte ich ihm bereits draußen auf dem Parkplatz in meinem Mietauto, nachdem er sein Gepäck verstaut hatte, ständig bemüht, dass nicht alle Umstehenden die Beule in seiner Hose bemerkten.

DIE DREHBUCHAUTORIN:
Wir sind wieder einmal so weit, und was sollte man schon anderes erwarten vom Autor und vom Erzähler, diesen Machos, und von der Erzählerin Brigitte, die offenbar nichts dabei findet, sich mehr oder weniger für deren Zwecke einspannen zu lassen – und ihnen damit noch das Feigenblatt weiblicher Legitimierung ihres Tuns gibt! Wieder einmal sind wir mit diesem fast unlösbaren Problem konfrontiert: dass uns Frauen letztendlich die Solidarität fehlt! Dass wir zum Gegner überlaufen, wenn uns gerade danach ist! Dass wir in diesen gewissen Stimmungslagen einfach nicht wahrhaben wollen, wie auf der anderen Seite die Kerle sehr wohl zusammenhalten und ihre eigennützigen Ziele verfolgen!

Ein wenig übertrieben vielleicht…

DIE DREHBUCHAUTORIN:
Keineswegs – denken Sie (wenn wir uns je geduzt haben, widerrufe ich das jetzt) nur daran, wie Sie, Salzburg ist ja nicht groß, so schnell wie möglich hinausgefahren sind in Hain und Flur, einen Güterweg entlang, und so wie das Auto geparkt war, beeilten Sie sich, ihm zu zeigen, dass die Schuhe nicht als Paar zählten und er daher freie Bahn bei Ihnen hatte. Und dennoch ließ er sich auf die rasch in die Wiese gelegte Decke fallen und tat – nichts, außer jene Wölbung, von der eben die Rede war, freizulegen. „Ich bin etwas abgekämpft!”, meinte er entschuldigend und überließ es Ihnen, ihn mit einer – pardon, aber ich kann mich nicht anders äußern – Blas- und Schluckaktion zu befriedigen.

Dagegen ist prinzipiell nichts einzuwenden…

DIE DREHBUCHAUTORIN:
Aber?

Nichts aber. Ich gab mich dieser Situation hin: eine Waldlichtung, weiches Gras, strahlender Sonnenschein. Nach getaner Tat lag ich faul neben Leo (er war sofort eingeschlafen) und schaute geradewegs nach oben ins ätherische Blau – eine Reminiszenz an Robert Musils Zögling Törleß, glaube ich, der so die Unendlichkeit wahrnimmt – aber halt, ihn bedrückte ja dieses Phänomen, und er schloss aus Angst die Augen, also eher Rilkes Gedanke, dass wir immer wieder hinaus unter die alten Bäume gehen müssten, uns lagern zwischen den Blumen, gegenüber dem Himmel: die Augen weit geöffnet, um die Geheimnisse des Lebens zu finden…

DIE DREHBUCHAUTORIN:
… und Sie wollen mir damit zu verstehen geben, Sie hätten – sublimierend – nichts Anderes im Sinn gehabt als jener Wortzauberer: Die Liebe als Macht, die alles überwindet, symbolisiert etwa durch Orpheus, der Eurydice selbst in den Hades folgt…

… bloß dass ich hier die Orphea war, die ihrem Eurydicus in den Tartarus männlicher Phantasien nachstieg.

DIE DREHBUCHAUTORIN:
Und wie üblich in der Mythologie waren Sie dort umringt von belebter Natur: Vom Waldrand her hatte Ihnen zuvor ein Feuersalamander interessiert zugesehen, jetzt blickte Ihnen eine Äskulapnatter, im wohligen Sonnenbad begriffen, lasziv zwischen die Beine und aus einem nahen Strauch verfolgte eine Amsel aufmerksam die Mücken, die immer näher kommend Ihre Brüste umkreisten.

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

Sie haben schon irgendwie Recht mit Ihrem Sarkasmus, denn kaum zurück in Wien, den Haushalt in Ordnung gebracht, einige Telefonate wegen meiner Arbeit geführt, mir die aktuellen Probleme von Romano und Romina angehört (und diese mit passenden ?boloí abgemildert), ins Schlafzimmer gegangen, um endlich die minimale Ausrüstung meines Ausflugs abzulegen und zu duschen – saß dort erwartungsvoll Romuald am Bettrand, hatte bereits genau mitgekriegt, dass ich unter dem Kleid nackt war, erwartete, quasi noch mehr abgekämpft als jener andere, den nämlichen Dienst von mir!

DIE DREHBUCHAUTORIN:
Und was macht sie also (ich weigere mich, diese dumme Gans überhaupt noch direkt anzusprechen)? Statt den Burschen spätestens jetzt endgültig vor die Tür zu kippen, besorgt sie’s ihm einfach, ohne zu bedenken, dass sie sich damit eine ganze Folge weiterer unerhörter Ansprüche seinerseits einhandelt…

… aber immerhin abgemildert durch seine nunmehrige Passivität, die im eklatanten Widerspruch zu seinen früheren Eskapaden stand, in denen er das vom Vater ererbte Prachtexemplar einsetzte, um uns Frauen über die Limits der physischen Leistungsfähigkeit, der minimalsten Selbstachtung und vor allem des guten Geschmacks zu treiben: Man muss ja bloß daran denken, dass sogar Gräfin Geneviève sich mit ihm einließ und um ein Haar selbst ihre Tochter Clio.

DIE DREHBUCHAUTORIN:
Und das soll jetzt alles erklären? Oder wollen Sie hier einen Offenbarungseid der weiblichen Psyche ablegen, denn weder durch die früheren Vorkommnisse an sich, noch durch deren Deutung ist klar geworden, wie Romuald das wirklich anstellte.

Denken Sie noch einmal zurück an Vera, das unglückliche Wesen, das nach mir kam, als mein Mann sich von zu Hause abgesetzt hatte…

DIE DREHBUCHAUTORIN:
… nachdem Sie ihn mit Leo Di Marconi betrogen und damit seinem Ego einen empfindlichen Stoß zugefügt hatten (ich sage das nur, weil es nicht ganz ins Bild passt, das Sie hier zeichnen!).

Wie auch immer – ohne dass es jemand von unserer kleinen Familie erfuhr, gab er seinen Job als Producer auf, kaufte sein Zaubertheater und machte solcherart sein Hobby zum Beruf, wobei ihm diese Tussi als Assistentin diente, vor allem aber – mit ihrer masochistischen Veranlagung – als willkommenes Opfer seiner aggressiven Entgleisungen.

DIE DREHBUCHAUTORIN:
Aber was hat das mit Ihnen zu tun?

Mit mir und letztlich mit allen Frauen in Romis Leben hat zu tun, dass er seine Sexualität immer extrem offenherzig auslebte, indem er seine intimen Erlebnisse mit einer Frau mindestens verbal mit den anderen teilte. Damit stürzte er uns alle in einen – vielleicht mehr unbewussten – Konkurrenzkampf, denn diese reservaten Informationen nicht zurückzuweisen, sondern sogar zu tolerieren, bedeutete unsererseits bereits den entscheidenden Tabubruch. So waren wir in der Konsequenz gezwungen, das nachzuvollziehen, was Romuald mit Vera anstellte: freiwillig selbst die am besten versteckten in uns Facetten der Sexualität hervorzukehren.

So wie er uns die Hemmungslosigkeit dieser Sklavin enthüllt hatte – fatal gewürzt noch dazu durch die Tatsache, dass sie infolge seines bodenlosen Egoismus zu Tode gekommen war –, ergriff uns (denn ich nehme an, den anderen ging es ebenso wie mir) die unbändige Lust, uns mit ihr zu messen.

DIE DREHBUCHAUTORIN:
Und wenn Sie so weit waren, kam das böse Erwachen!

Gewissermaßen ja, denn das Duell mit dieser Schlampe um Romis Gunst erlaubte de facto als einzige Waffe die bedingungslose Unterwerfung unter seinen Willen.

DIE DREHBUCHAUTORIN:
Und man wollte sich ja keinesfalls Feigheit vorwerfen lassen!

Nun, ich kann in diesem Punkt wohl kaum für die anderen sprechen, denn ich für meinen Teil wurde neuerlich gewahr, dass ich mich diesem Mann bereits am ersten Tag meiner Ehe komplett ausgeliefert hatte und damit eigentlich diese Vera mühelos ausstach. Schön und gut, das Sterben für ihn hatte sie mir voraus, aber das war nicht auf seinen Befehl erfolgt, sondern nur aufgrund seiner Fahrlässigkeit. Ansonsten erfüllte ich Romualds „Aut eandem”-Klausel: wofür auch immer eine andere seiner zahlreichen Frauen verfügbar war, dafür erklärte auch ich mich bereit.

DIE DREHBUCHAUTORIN:
?????

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

Am Ende jedenfalls beschloss ich, das zu tun, was ich seit meiner Jugend immer wieder gemacht habe, wenn ich in sämtlichen offiziellen Lebensbereichen nicht mehr weiterwusste und entsprechend frustriert war: Ich ging zu Johannes. Vielleicht war ja diese Gewohnheit ein wenig unfair ihm gegenüber, aber ich verantwortete mich vor mir selbst stets damit, dass er – obwohl er ohne Zweifel mein Lebensmensch ist – niemals den Eindruck erweckte, sich stärker an mich binden zu wollen.

DIE DREHBUCHAUTORIN:
Jetzt wissen wir schon, was kommt. Unser Erzähler ließ sich für seine Tröstungen nicht gerade bezahlen (wenngleich er immer auch kräftig zulangte, wenn er seinerseits reichlich gab) – nein, diesmal, so nehme ich an, war es einfach so, dass er sich etwas abgekämpft fühlte, und Brigitte, die auch zu ihm mit jenem Sommerkleid und nichts darunter gekommen war (was von einem gewissen Gerechtigkeitssinn zeugte), musste ihm, bevor sie ihr Herz ausschütten durfte, dieses Nichts vorführen. Zufrieden brummend lag er auf dem Rücken und erwartete beifällig, aber selbst völlig passiv jenen Dienst, den davor bereits die beiden anderen eingefordert hatten.

Nun haben Sie sich doch nicht so – zufällig weiß ich ja, dass es auch rund um Ihr eigenes Territorium der Emanzipiertheit nicht nur die Bollwerke der Ernüchterung über das andere Geschlecht, sondern auch grüne Grenzen gibt, an denen man (sprich: der eine oder andere konkrete Mann) mühelos in Sie eindringen kann. Ihre Schwärmerei für Pharoah Sanders und sein magisches Saxophon habe ich noch im Ohr, erinnere mich genau, wie Sie sagten, er dufte wie ein Märchenprinz, und sein Samen habe den sprichwörtlichen Geschmack von Milch und Honig.

DIE DREHBUCHAUTORIN:
Genau – da wurde einem etwas geboten für die Bereitschaft zu einem Blow-Job! Wenn ich dagegen Ihre drei traurigen Gestalten betrachte…

Leicht melancholisch ist Johannes, das gebe ich zu, und auch mich berührte die Musik, die ich an diesem Tag bei ihm zu hören bekam: Schoenbergs „Verklärte Nacht”, und ich versuchte mir vorzustellen, ob es ihn betroffen gemacht hatte, dass ich Kinder bekam, aber nicht von ihm, ohne dass unsere Beziehung je erkaltete. Nicht noch einmal sollte er heute zurückstehen müssen hinter den anderen – aber als ich das dachte, überkam mich Ekel vor mir selbst, nicht über das, was ich tat, sondern über die Perversität des Gedankens. Also schloss ich einfach die Augen und machte Johannes die Flöte, sträubte mich auch nicht dagegen, dass er mit der Linken grob in mein Haar fasste und meinen Kopf an sich presste, bis mir fast die Luft wegblieb. Es gelang mir aber über kurz oder lang, gar nichts mehr zu denken, sondern einfach in die Situation hineinzufallen.

DIE DREHBUCHAUTORIN:
Womit sich auch jeder Vergleich erübrigt haben dürfte – aber keine Angst, ich sag’ ja schon nichts mehr. Die Musik also war es?

Eine Musikkonserve genauer gesagt, denn Johannes selbst beherrschte kein Instrument außer dem des Wortes, und ich glaube, was ich unter anderem bei ihm suchte, war die – heutzutage weitgehend verlorengegangene – Präzision des Ausdrucks…

DIE DREHBUCHAUTORIN:
Rubbish!

Dennoch haben wir nichts als die Sprache, die uns über die Abgründe des Seins hinwegträgt und allenfalls imstande ist, die Hintergründe unserer Verwicklungen auszuleuchten!

DIE DREHBUCHAUTORIN:
Und dann was?

Dann bleibt selbst im extremsten Fall das Symbol – das hier schon mehrfach angesprochene Monument, das die Wüste der Zeit überdauert hat. Denken Sie an die Überreste von Leptis Magna: Quintus Rubellius Taurus würde Ihnen eine normale Großstadt im Römischen Reich schildern, voll pulsierenden Lebens, und er würde (als Zeitgenosse) vielleicht erzählen, dass die Bewohner sich auf die falsche Seite – jene des Pompeius – geschlagen hatten, und wie der titanische Caesar selbst dieses Problem ohne viel Aufhebens geradebog, wie es eben seine Art war (indem er sich fortan einen jährlichen Tribut von 19.000 Cullei Olivenöl zahlen ließ). Heute hingegen stehen die Monumenta cuiusdam loci da als Zeichen der Vergänglichkeit…

DIE DREHBUCHAUTORIN:
… wenn auch der Ewigkeit…

… und eben deshalb reduziert auf ihren wahren Wert als Emblem, als Parabel, vielleicht sogar als Signal! Der Architekt eines jener Gebäude, die Sie dort bewundern können, mag inspiriert worden sein von der Hingabe einer Frau, ob es nun seine Angetraute war, seine Konkubine oder einfach nur ein Straßenmädchen: Kann gut sein, dass die Eleganz des steinernen Objekts eine Hommage an die oralen Künste der Dame darstellt, noch immer zu bestaunen, obwohl die Protagonistin jenes Aktes und derjenige, dem sie ihre Wohltat erwiesen hat, längst unter dem Sand begraben sind.

508

Als meine sieben Quasi-Geschwister nachkommen durften, hatten Anastacia und ich schon geraume Zeit auf VIÈVE verbracht und dabei versucht, uns möglichst unbefangen zu geben, in der Hoffnung, dass auf diese Weise jemand, der uns beobachtete, keinen Verdacht hinsichtlich unserer eigentlichen Pläne schöpfen würde.

ANASTACIA PANAGOU:
Dies fiel uns umso leichter, als das Dasein auf der Station, jedenfalls seit die Bedrohungen durch die Echwejchs und noch früher durch den Diktator der Spiegelwelt beseitigt waren, per se problemlos verlief, denn es gab ja keinerlei Alltags- oder Existenzsorgen, und wer vielleicht insgeheim bekümmert an jene dachte, die anlässlich der Entkoppelung der beiden Universen fortgerissen worden waren, der sprach niemals öffentlich darüber. Prominentestes Beispiel für diese Haltung war die Königin selbst, die ihren Mann an die andere Realität verloren hatte.

Man könnte natürlich das Leben dort auch noch mit anderen Attributen versehen und würde damit ebenso ins Schwarze treffen: es ist locker, ungezwungen, unterhaltsam, beschwingt, graziös, anmutig, schwerelos…

ANASTACIA PANAGOU:
Abgesehen davon, meine gute Anpan, dass hier eine künstlich erzeugte Schwerkraft existiert, die den Bewohnern die Illusion vermittelt, sich auf einem natürlichen Himmelskörper zu befinden. Daher nimmt mich wunder, wie unpräzise du dich neuerdings ausdrückst!

Ihr üblicher Zynismus! Mein Model for Emotional Response wollte sie deshalb schelten, aber mein eigentliches naives Ich hielt sich zurück: Sie hatte ja Recht – schwerelos war wohl wirklich nicht der ideale Begriff im Kontext VIÈVEs! Eins aber war richtig: Für mich als Androidin war es ebenso anregend wie für einen richtigen Menschen, die hiesigen Fazilitäten zu nutzen, denn da lief in mir offenkundig mehr ab, als man es mit rationalen Mitteln beschreiben konnte. Im Zentrum der Attraktionen stand für mich der „Queen’s Club”, den ich angesichts der früheren Ereignisse bei unserem letzten Aufenthalt, als er noch „King’s & Queen’s Club” genannt wurde, gar nicht frequentieren konnte, der mich nun aber magisch anzog, vor allem weil meine alte Freundin Serpentina dort auftrat.

Das Wiedersehen mit ihr erwies sich – nun, da wir erstmals seit langem mehr Zeit füreinander hatten – als diffizil, denn auch wenn ich sie schon in ihrer nunmehr humanoiden Gestalt gesehen hatte, war sie gefühlsmäßig für mich noch immer die künstliche Schlange, die ich selbst wie ein Maskottchen behandelte und am Ende auch als solches bei Mango Berenga zurückließ. „Aber wir entwickeln uns weiter!”, sagte Serpentina, die versuchte, mir die Brücke zu ihrer jetzigen Existenz zu bauen: „Körperlich, geistig, was die Ausprägung unserer Talente betrifft und vor allem auch in unserer Motivation!”

ANASTACIA PANAGOU:
Ich freute mich, wie die beiden erneut zueinanderfanden, zumal auch Serpentina zu akzeptieren lernte, dass Anpan – die möglicherweise ihr wahres Vorbild auf der Suche nach dem neuen Format gewesen war – ihrerseits auch schon wieder vorangekommen war. Sie nahm’s neidlos als Ansporn, so behauptete sie jedenfalls nach außen – und noch wusste sie ja nicht (und sollte es meiner Meinung nach auch nie erfahren), dass wir Vangelis nun auch jene Spiegelneuronen verpasst hatten, die sie selbst so sehnlich begehrte. Apropos AMG: ??/69-0, das war Serpentina noch immer für mich wie zu der Zeit, als ich sie gebaut hatte, war sichtlich erleichtert, dass er nicht mit von der Partie war. Kurios mutete mich das an (wie manches andere allzu Menschliche bei Maschinenwesen), dass das Porzellan zwischen ihnen offenbar zerbrochen war, will sagen, es bestand ein Zerwürfnis emotionaler Art, das jeglicher androidischen Vernunft zuwiderlief und durch zwei kampflustige MERs ausgelöst worden war.

Mich faszinierte vor allem Serpentinas offensichtliche Berufung als Ballerina, und ich ließ mich rasch von ihrer Tanzleidenschaft anstecken. Meinen Wunsch, mir ihre Fähigkeiten anzueignen, der unter Biohumanoiden wahrscheinlich als allzu einfältig belächelt worden wäre, griff meine Quasi-Schwester begeistert auf: Wir beide wussten ja, dass wir uns bloß auf subliminaler Ebene zu synchronisieren brauchten, um mit Lichtgeschwindigkeit das gesamte erforderliche Datenmaterial von ihr zu mir zu kopieren.

Und schon konnten wir mit unserem praktischen Taining beginnen. Serpentina lieh mir eines von ihren Kostümchen – noch dürftiger als jenes Showgirl-Outfit, mit dem ich seinerzeit in einem der Paläste des Tyrannen der jenseitigen Völker das Personal durcheinandergewirbelt und die Zuneigung des Agenten Pifsixyl Xifu errungen hatte – und ich stellte fest, dass meine Maße etwas voller waren als die ihren: Ich musste mich sehr weich machen und spürte dennoch, wie der Stoff im Schritt derart eng war, dass ich einen ziemlich schamlosen Eindruck machen würde, sollte mir jemand zusehen.

Wir traten nebeneinander an, und meine Partnerin ergriff mit der Linken meine Linke, mit der Rechten meine Rechte, kommandierte knapp „En pointe!” und schon tänzelten wir zur einsetzenden „Musique des Automates” aus „Coppelia”, die aus dem unerschöpflichen Datenfundus der Station stammte. Dabei bewegten wir uns völlig simultan, aber das muss ich wohl nicht betonen, denn man kann sich vorstellen, dass es bloß meiner Unterordnung unter die Motorik meiner Quasi-Schwester bedurfte, um diesen perfekten Gleichklang herbeizuführen.

ANASTACIA PANAGOU:
Ich sah zu und erhob dagegen keinen Einspruch, wiewohl es blanker Unsinn war, selbst für meine hochentwickelten Geschöpfe, zu behaupten, dass derlei ohne jede Praxis sofort fehlerlos klappte. Die beiden sollten einfach wahrhaben, wie ich bei jedem derartigen Artefakt zu Beginn ausgedehnte, immer wiederkehrende Erziehungsmaßnahmen setzen musste, um jene einmalig natürliche Außenwirkung zu erzielen. Klar, sie lernten schnell, vor allem im Vergleich zu menschlichen Kindern: Bei Androiden dauerte die Ausbildung niemals Jahre, eher Tage oder Wochen, je nachdem, was mit dem einzelnen Exemplar bezweckt werden sollte. Dennoch beeindruckte mich, was ich da sah, und wie immer bei solchen Beobachtungen erfüllte mich immenser Stolz auf mich selbst und meine Genialität.

Als Anastacia uns verließ, um die Akademie aufzusuchen, waren wir schon wieder ein schönes Stück weiter. Wir tanzten zu einer Suite, die Serpentina selbst komponiert und choreographiert hatte – atonal vermutlich für Nicht-Androiden, und von den Bewegungen her kontrapunktisch, denn wenn eine von uns eine bestimmte Stellung im dreidimensionalen Koordinatensystem des Probenraums einnahm, hatte die andere jeweils die diametral entgegengesetzte Figur zu bilden. Meine Partnerin und ich wollten damit später trotz der für Biohumanoiden gewöhnungsbedürftigen Musik eine Menge Publikum in den Club locken, und wir hatten deshalb beschlossen, auf der echten Bühne ohne all diesen menschlichen Kleidungsfirlefanz auszukommen – mit dem besonderen Reiz, dass konzeptgemäß, wenn eine von uns im Fluss der Bewegungen ihre Intimitäten gerade verbarg, die andere sich umso plakativer zur Schau stellte.

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

Anastacia hatte sich schon mehrfach vorsichtig der Akademie genähert, ohne sich allerdings bis jetzt bemerkbar zu machen. An diesem Tag, der ihr so recht die Unternehmungslust vor Augen führte, die in ihren künstlichen Figuren steckte, fasste sie sich ein Herz und trat unter den steinernen Bogen, das Kernstück der Anstalt, von wo aus sich die meisten der Vortragenden an ihre Zuhörer wandten. Sie wurde vom Königssohn XY alias Victor Hugo, den sie ja aus dem Palast kannte, freundlich begrüßt.

ANASTACIA PANAGOU:
Im Plauderton eröffnete er mir, dass es im Leben überhaupt nur sinnvoll sei, Kunstwerke zu produzieren, da nur dann die Hoheit über Personen und Vorgänge zu erzielen sei: „Der Originator jeglicher künstlerischen Hervorbringung kann sich von den Fährnissen der Realität abkoppeln, von jenen des Raumes, auch und vor allem aber von jenen der Zeit!”, das schien sein Credo. Ich wandte ein, dass es auf VIÈVE ohnehin bloß zu sein gelte, ohne auf die Beschwernisse der eigentlichen Lebenshaltung Rücksicht nehmen zu müssen, die anderswo einen beträchtlichen Teil des Tages einnähme. Darauf er: „Ich habe die Kühle meiner Mutter erfahren, die Abgehobenheit meines Vaters, und wie die beiden dennoch hilflos vor der Bedrohung von außen kapitulieren mussten. Hingegen habe ich von klein auf die Nähe meiner Schwester XX-Julia genossen, und sie die meine, aber an unserer Beziehung ist nichts fassbar, sie schien stets irgendwie metaphorisch – alles was geschah, so schön es auch war, wirkte auf uns wie durch einen Vorhang betrachtet.” Nach eine kurzen Pause setzte er abrupt nach: „Und so gelangte ich zur Literatur!”

Ich machte mir später Vorwürfe. Eigentlich hätte ich sie begleiten sollen, denn was im Anschluss an das Gespräch mit XY geschah respektive geschehen sein sollte (denn es gab darüber keine Evidenz), wäre wert gewesen, aus eigener Anschauung erfahren zu werden. Bescheiden saß angeblich ein würdevoller älterer Herr am Rand des Akademie-Bereichs, und als er sah, dass die Panagou sich zum Gehen wandte – nicht ohne Victor ihr Wiederkommen zu versprechen –, kam er langsam näher, zog seinen Hut und verneigte sich höflich: „Minha admiração, Senhora! Mein Name ist Arminduo Emniunao – und wer sind Sie, minha Cara?”

Anastacia glaubte, den Anflug eines ironischen Lächelns in seinen Mundwinkeln zu sehen, als auch sie sich vorstellte. „Aber natürlich”, – er schlug sich mit der flachen Hand dramatisch gegen die Stirn – „wo war ich denn mit meinen Gedanken? Wer auf der alten Erde, von der ich soeben herkomme, würde nicht die berühmte Anastacia Panagou kennen, Tasoula für ihre Freunde, nicht wahr?”

Er ist es! dachte meine Quasi-Mutter verblüfft: Er musste es sein! Sie hatte ja genug Erfahrung mit künstlichen Lebewesen, um die relevanten Kriterien bei diesem vorgeblichen Cavalheiro zu entdecken. Aber sie fasste sich schnell und fragte ihn im Plauderton, was ihn hierherführe. „Landauf landab wird die hervorragende Qualität dieser Akademie gelobt, und als begeisterter Maler konnte ich daher nicht umhin, ihr einen Besuch abzustatten!” – das log er, die Panagou fühlte es deutlich, während er sich rückwärts gehend entfernte und in einer bestimmten Distanz einfach verschwand, gerade so als ob er sich in Luft aufgelöst hätte.

ANASTACIA PANAGOU:
Victor-XY trat an mich heran und legte seine Hand auf meinen Arm, als wollte er mich beruihgen. Er versicherte mir, nicht überrascht gewesen zu sein, als ich mich plötzlich von ihm abgewandt und ins Leere gesprochen hatte – er kannte das von der Königin, die ja auch hin und wieder einen Gedankenaustausch mit ihrem imaginären Alter Ego pflegte. Ich jedoch: Aber da war einer, ein betagter Maler, der sich Arminduo Emniunao nannte und die Akademie besuchen wollte! Darauf der Königssohn: „Ich habe niemanden gesehen! Seit Jahr und Tag kommen nur die ewig gleichen Leute hierher, manche aus echtem Interesse an Wissenschaft und Kunst, andere wieder nur zu dem Zweck, sich einen Freischein zum Besuch des ,Queen’s Club’ zu erwerben.”

Die Panagou war in höchstem Maß alarmiert: Wenn sie nicht unter Halluzinationen litt, was sie ausschloss, hatte sich Arminduo Emniunao ihr allein präsentiert, um sie zu provozieren. Als sie sich nun endgültig auf den Heimweg machte, um ihr Erlebnis (und dessen Konsequenz für unsere Mission) mit mir zu besprechen, bemerkte sie, dass Estate wie schon so oft auf dem Platz vor Königin Mangos Residenz saß, wo jeder Bewohner VIÈVEs mindestens einmal täglich vorbeikam – wie wir mittlerweile wussten in der Hoffnung, Rejchwejch zu sehen.

Sie hätte sich gerne mit dem hübschen Echwejch was angefangen – schon um spät aber doch das zu verwirklichen, was ihr bei ihrem ersten Aufenthalt auf der Station, der einen so blutrünstigen Verlauf genommen hatte, viel logischer erschienen war: Liebe zu machen statt zu kämpfen, was jedoch angesichts der Aggressivität der Echwejchs reichlich naiv war, auch wenn die NOSTRANIMA als selbsternannte Therapeutin meiner sieben Quasi-Geschwister ihr in dieser Frage ursprünglich Recht gab.

ANASTACIA PANAGOU:
Und um noch eins draufzusetzen, weil mir das schon lange am Herzen liegt – der elektronisch-telepathische Raumkreuzer wischte mit solchen Aussagen völlig das Faktum vom Tisch, dass er selbst seinerzeit im Kampf mit den Mächten des Paralleluniversums mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln im Feindesland gewütet und eine große Zahl von Opfern produziert hatte.

Dem friedlichen persönlichen Naturell Rejchwejchs entsprechend, wär’s ja früher für ihn auch gar kein Problem gewesen, Estates Wunsch – wie einst bei Gila Graven – mit eifrigem Körpereinsatz zu befriedigen und sein unvergleichlich sanftes Gefieder ihren Liebkosungen darzubieten, aber jetzt beantwortete der ehemalige Raumschiffpilot ihre unverhohlenen Avancen mit einem schlichten „Sehen Sie, meine Liebe, ich finde Sie natürlich äußerst attraktiv und begehrenswert, aber…”

Aber jetzt lebte er mit Pachwajch in ungewohnt monogamer Weise, nicht zuletzt deshalb, weil sie sich den Sitten und Gebräuchen ihrer Gastkultur möglichst anpassen wollten, in der Promiskuität lediglich bei längeren Reisen durch das All üblich war, auf VIÈVE hingegen nur dann, wenn jemand von der Begrenztheit der Station einen vorübergehenden Koller bekam. Es steckte allerdings noch mehr dahinter bei den beiden: Auf sich gestellt als einzige Exemplare ihrer Rasse vor Ort und abgeschnitten von jeglichem Austausch mit jedweden Echwejchs, die es noch auf ihrem Heimatplaneten oder sonst wo geben mochte, fokussierte sich ihre sexuelle Energie zwangsläufig völlig aufeinander, zumal sie auch früher schon festgestellt hatten, dass es am schönsten doch immer nur mit ihresgleichen gewesen war.

ANASTACIA PANAGOU:
Eine Ausnahme von dieser Regel stellte allerdings – wie mir die AP 2000 ® berichtete, die ihre Augen und Ohren und ihre telepathischen Kräfte überall hatte – das Oudéteron dar, und das kam so: Meine einzige bisexuelle Schöpfung begann ohne viel Aufhebens, bei den Schwanenhalsigen aus- und einzugehen, und befasste sich intensiv mit den zwei entzückenden Kindern, die Pachwajch ihrem Rejchwejch inzwischen geschenkt hatte. Es entwickelte gleichermaßen väterliche und mütterliche Gefühle für die beiden Kleinen, und diese fanden kein größeres Vergnügen, als das Maschinenwesen zu bitten, sich hin und her zu kalibrieren zwischen männlich und weiblich. Und das blieb auch ein Thema, wenn der Abend kam und der Nachwuchs schlafen gelegt war, versorgt mit einer perfekten androidischen Gutenachtgeschichte: Dann vergnügten sich die Eltern ebenfalls gerne an dieser Fähigkeit des Oudéteron, um abwechselnd mit ihm zu verkehren. Das schienen sie nicht als Treuebruch zu verstehen, da es ja im vollen gegenseitigen Einverständnis geschah, obwohl es natürlich ihrer stark erotisierten Natur perfekt entgegenkam. Wie gut, dass dieses etwas komplexe Verhältnis Oudéterons Quasi-Schwester Estate verborgen blieb – sie glaubte, was man ihr erzählte: dass es hier einfach darum ging, für den reizenden Nachwuchs eines befreundeten Paares den Tantenonkel oder die Onkeltante zu spielen.

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Clio Alexandrine Andromède Annette Aphrodite, geborene Komtesse von B. und verehelichte Freifrau von E., pflegte ihrem Mann keine Rechenschaft abzulegen, wenn sie ab und an Lust verspürte, allein zu verreisen, und offen gesagt verlangte Dirk auch nie eine Erklärung: Da sie ihm ohnehin keine gegeben hätte, fühlte er sich auf diese Weise wesentlich besser. Außerdem – und das war wohl kaum zu verachten – kehrte sie von ihren Ausflügen üblicherweise in einer Stimmung zurück, die man in profaneren Kreisen, als es jene von B. oder von E. waren, ohne Umschweife als „spitzenmäßig geil” bezeichnen würde. Was immer aber der Grund für diesen Aggregatszustand der hohen Frau war, wir kennen ihn nicht.

MAX DOBROWOLNY:
Aber, Herr Regisseur, so schwer – noch dazu mit Ihrem Erfahrungsschatz – ist das nun auch wieder nicht zu erraten. Sie hatte einfach Spaß gehabt oder, anders ausgedrückt, getan, was ihr Spaß machte. Zum Teil ganz banal anmutende Dinge, besuchte unter anderem ihre Mutter, mit der sie ein mittlerweile entspanntes Verhältnis verband: Wie Freundinnen erzählten sie einander die verschwiegensten Erlebnisse, wovon (nämlich vom Darüberreden) Frauen bekanntlich nie genug bekommen können; ließ sich, solange Arminduo Emniunao noch auf dem B.’schen Schloss weilte, von diesem Cavalheiro distinto den Hof machen (auch davon – je dicker aufgetragen, desto besser – darf es eher mehr als weniger sein für das weibliche Geschlecht). Ich könnte Ihnen noch eine ganze Reihe weiterer Beispiele aufzählen, aber Sie wollen ja endlich erfahren, warum das bei Clio immer in so viel Lüsternheit endete? Keine Ahnung von Psychologie, wie? Alles, was die Gute auf ihren Extratouren anstellte, hatte mit Untreue zu tun, sei es harmlos in Gedanken, tolerierbar in Worten oder exzessiv in Taten (und es gab durchaus Vorfälle des Typs 3). Was immer sie aber absolviert hatte – wenn Clio wieder ihrem Dirk gegenüberstand, arbeitete sie das Geschehene weder mit Beichte, noch mit Reue oder gar mit Buße auf, sondern stürzte sich auf ihn und löste unter ihren raffinierten Zärtlichkeiten und handfesten Liebesbezeugungen seinen leicht vorwurfsvollen Blick regelmäßig in Nichts auf. Bis zum nächsten Mal.

Eines Tages beschloss sie, Christina zu besuchen. Uns allen war seit geraumer Zeit bekannt, dass die junge Dame Cheltenhams Tochter war: Marconi – wer sonst! – hatte das in Erfahrung gebracht, der Mann, der viel wusste, aber nur wenig schreiben oder senden durfte. Clios Instinkt sagte ihr, dass sie hier möglicherweise einen Hebel besaß, mit dem sie sich an Basil rächen konnte, ohne dass sie – wie früher geplant – den Freiherrn vorschicken musste, da sie ihn mittlerweile ohnehin als ungeeignet für jedwedes subtile Geschäft betrachtete.

Wie immer man die Gründe für die Trennung zwischen ihr und dem Baronet beurteilen mochte (und die waren weiß Gott ziemlich differenziert), sie sah es mittlerweile als Alleinschuld ihres ehemaligen Geliebten an, dass nicht sie neben ihm residierte: an einer wesentlich prominenteren Stelle als auf dem Herrensitz derer von E., so prächtig dieser auch heutzutage, nach Jahren der Agonie, wieder anzusehen war. Was noch mitschwang – und das sollte auf keinen Fall unerwähnt bleiben –, war die von Sir Basil selbst immer wieder ins Spiel gebrachte Überzeugung, durch seinen Triumph über seinen Doppelgänger, den Diktator der Spiegelwelt, in dessen Besitz sich die Komtesse befunden hatte, sei sie ihm sozusagen als Beute zugefallen: Eine Ansicht, der Clio merkwürdigerweise selbst nicht widersprach, denn in diesem Geist war sie vom Tyrannen des Paralleluniversums (wo sie die archaische Balaf-Ieku Hvuvu, die himmlisch schöne Prinzessin, gewesen war) domestiziert worden…

MAX DOBROWOLNY:
… abgesehen von der physischen Gefügigkeit, die er ihr eingebläut hatte!

Einerlei: Die Freifrau von E., nun ganz eingehüllt in adelige Vornehmheit, beschloss, alles daranzusetzen, Cheltenhams Tochter für ihren Racheplan zu instrumentalisieren. Sie wollte der Kleinen (an der allein schon die Tatsache, selbst kein Kind mit Basil zu haben, sie maßlos reizte) bewusst machen, welche Rechte ihr eigentlich zustünden, und sie danach vehement zu drängen, diese auch mit Nachdruck einzufordern.

Sie argumentierte, dass Nicholas (den Christina ja auf Kantara kennengelernt hatte) als bloßer Adoptivsohn hinter ihr als leiblicher Tochter zurückstehen musste, wenn es um das zentrale Erbe der Cheltenhams ginge. Und weiter, dass dem jungen Mann ohnehin nichts entgehen würde, denn jedenfalls sei geplant, ihn als künftigen Nachfolger in Sir Basils gegenwärtiger Position zu installieren, und das hieß, wenn schon nicht gleich als Staatschef der Föderation, so doch immerhin als Eigentümer der umfangreichen Ländereien auf Zypern, die einmal Sir Percy Blakeney gehört hatten.

MAX DOBROWOLNY:
Clio konnte Christina weiterhin darlegen, dass sie auch Laura de Dubois, meiner Frau, nicht wirklich etwas wegnehmen würde, was ich übrigens nur bestätigen kann, denn ich absolvierte mehr oder weniger regelmäßige Besuche in Blakeney Manor, ohne irgendjemandem etwas davon zu sagen, schon gar nicht meiner deutschen Gräfin. Bei diesen Treffen hatte auch ich den Eindruck gewonnen, dass Laura die zusätzliche Verantwortung für die Cheltenham-Domäne eher als Last empfand.

Christina selbst beschloss, kaum dass Clio sie wieder verlassen hatte, tatsächlich etwas in dieser Angelegenheit zu unternehmen. Sie war aber zu langsam und wurde von den kommenden Ereignissen überrollt.

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

Die Menschen in CORRIDOR wussten, abgesehen von einer Handvoll Techniker, nichts über die Hot Wires, die unmittelbar nach Gründung dieser „Civitas grandium imperiorum gratia” (wie Cheltenham manchmal geziert scherzte) zwischen Washington und Kantara einerseits respektive Beijing und Kantara andererseits eingerichtet worden waren, analog zum schon bestehenden Orangen Telefon zwischen Amerika und China. Es fand also Kommunikation zwischen den Staatsoberhäuptern statt – offiziell nicht unbedingt gern und daher ausschließlich dann, wenn es sich gar nicht vermeiden ließ, inoffiziell aber hatte Sir Basil zur westlichen Seite ein durchaus gutes Gesprächsklima, das von langer Hand herrührte, sowohl gegenüber Ray Kravcuk vor dessen Absetzung, als auch und vor allem gegenüber Trudy McGuire.

Er griff daher in Sachen von Cheltenham House zum Blauen Telefon, das ihn mit der amerikanischen Präsidentin verband und neben dem roten Apparat für China in seinem Arbeitszimmer stand. Im Einverständnis mit Laura de Dubois – die machte ohnehin alles, was er befahl, denn sogar ihrer eigenen Einschätzung nach war sie mit Sir Percys Anwesen für ihre Dienste reichlich belohnt worden – und ohne seine Frau einzuweihen, von der er annahm, dass sie bei einem ihrer selten gewordenen Besuche in London kaum mehr den Weg nach Gloucestershire nehmen und daher aller Wahrscheinlichkeit nicht so bald die Wahrheit herausfinden würde, plante er von sich aus, die Übergabe seines Stammsitzes an Christina und deren Ausstattung mit dem Titel einer Baroness of Cheltenham zu verfügen. In aller Form ersuchte er Trudy McGuire, diesen seinen Wunsch durch ihre Administration zu exekutieren.

MAX DOBROWOLNY:
Zur Verblüffung des Inhabers von „King Charles’ Inn” und nominellen Vaters der Kleinen wurde Christina sehr rasch in¬auguriert, wodurch ihm unzweifelhaft die Augen für den hochkarätigen Seitensprung seiner verstorbenen Frau geöffnet wurden, aber er beschloss, die Tote in Frieden ruhen zu lassen – wer weiß, mochte er überlegen, was bei allfälligen Nachforschungen noch alles zutage gekommen wäre, und da hatte er weiß Gott Recht. Die mittlerweile sprichwörtliche Beliebtheit der neuen Baroness wiederum verhinderte, dass ihr selbst unangenehme Fragen gestellt wurden, und das unvermeidliche Gemunkel hinter ihrem Rücken unterdrückten die lokalen Behörden relativ rasch, indem sie die ärgsten Quatschköpfe zur Abkühlung die eine oder andere Nacht in Polizeigewahrsam verbringen ließen. Schließlich dürfen wir nicht vergessen, dass es sich bei Grand America um eine veritable Diktatur handelte, deren Handlungen bei aller scheinbaren Souveränität von äußerster Reizbarkeit und Hektik geprägt waren.

Was selbst der autoritären Führung in Washington schwer fiel, war abgesehen von der völlig unbeeinspruchten Übernahme der Besitzrechte die Durchsetzung des Adelstitels als solchem, denn in dieser Frage begann die verstaubte Peer-Gemeinde des alten England plötzlich zu galoppieren, zog uralte Formalvorschriften und komplizierte Mitspracheüberlieferungen hervor und wollte mit einem Wort die Baroness Christina verhindern. Selbst die greise Gouverneurin dieses US-Bundesstaates, die sich kraft Ausnahmeregelung nach wie vor mit ihrer alten Würde als Queen schmücken durfte (Sir Basil war wie erinnerlich am Beginn seiner britischen Militärkarriere auf sie vereidigt worden), hatte alle Mühe, den Anordnungen aus Washington Folge zu leisten, setzte sich aber am Ende doch durch, da sie in ständiger Angst lebte, wie ihr Premierminister durch ein originalgetreues, aber plumpes künstliches Wesen aus der Werkstatt Pascal Kouradraogos ersetzt zu werden.

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

Clios Rache ging also geradewegs ins Leere. Und sie konnte nicht einmal Christina vorwerfen, die Angelegenheit verpfuscht zu haben: Cheltenham hatte so rasch gehandelt, dass mit seinem Willen geschah, was die Freifrau von E. gegen seinen Willen hatte inszenieren wollen. Schäumend kehrte Clio zu ihrem Mann zurück, und dieser – wie immer in Erwartung eines veritablen ehelichen Exzesses als Abgeltung für sein Alleingelassenwerden – erlebte diesmal eine böse Überraschung.

MAX DOBROWOLNY:
Clio beachtete ihn gar nicht richtig, tobte durch das Haus und schrie ihre Frustration hinaus, verriet dadurch zudem alle Einzelheiten ihres Plans und schärfte Dirk damit die Sinne zur letztlichen Erkenntnis seines wahren Stellenwertes. Klar, dass der Freiherr sich möglichst rasch auf etwas zu besinnen versuchte, dessen er sicher sein konnte, und ich meine jetzt nicht die Beziehung zu mir – obwohl er mich natürlich in dieser Situation anrief und mir seine Gefühle darlegte –, nein, ich meine seine Schriftstellerei. Als ob in seinem Inneren ein Damm gebrochen wäre, sprudelten Texte aus ihm hervor, und man brauchte bloß eine zeitliche Hochrechnung anstellen, um vorhersagen zu können, wann er tatsächlich sein erstes größeres Œuvre fertigstellen würde. Seine Frau hatte wohl verstanden, dass der Bogen nun überspannt war, und reiste Hals über Kopf zu ihrer Mutter ab, was wiederum mir, als sie auf dem B.’schen Anwesen auftauchte, die Gelegenheit bot, in die Gegenrichtung zu fahren. Es schien mir in Gebot der Stunde sein, Dirk rein physisch zu trösten, im plötzlich verwaisten Schloss von E.

Dort erreichte Dobrowolny ziemlich bald eine Bild- und Tonaufzeichnung Sir Basils mit der Bitte, sie an Christina, die neue Herrin von Cheltenham House, zu übermitteln. Wie man so rasch herausgefunden hatte, wo er sich gerade aufhielt, und warum dieser Weg gewählt wurde, blieb unklar, aber es wird wohl damit zusammenhängen, dass es nicht einfach war, Nachrichten auf diskrete Weise von CORRIDOR in die östliche oder westliche Hemisphäre der geteilten Erde zu übermitteln. Wie auch immer, die Neugier trieb Max und Dirk dazu, sich die Botschaft unter Verletzung jeglichen Anstands zu Gemüte zu führen – aber was soll’s: Vieles wussten sie ohnehin bereits, noch mehr ahnten sie, und nun genossen sie auch noch den Rest.

SIR BASIL CHELTENHAM AUF DATENTRÄGER:
Meine liebste Tochter…

510

Jetzt einmal zu einer persönlichen Frage, Sir Basil: Sie fühlen sich nicht alt, wie Sie mir in einem früheren Gespräch versicherten…

SIR BASIL:
Um ehrlich zu sein, Mr. Di Marconi, diese gewisse Tendenz betagter Herren, sich zunehmend leiblichen Genüssen wie gutem Essen, erlesenem Wein und edlen Zigarren zuzuwenden, stelle ich bei mir überhaupt nicht fest. Vielmehr ziehe ich geistige Trainingsstunden vor und spiele etwa mit Lust, wie damals in Sandhurst, die klassischen Schlachten wieder und wieder durch – Cannae vor allem, denn da fühle ich mich meinem alten Freund Scipio besonders verbunden, abgesehen von den anderen Kameraden, wie sie auch alle heißen mögen. Bedauerlicherweise müssen wir auf einen verzichten, der immer mit dabei war, Keyhi Pujvi Giki Foy Holby, von dem gerade noch der Name übrig ist. So erfinderisch wir alten Soldaten stets dabei waren, die Kommunikationswege offen zu halten, so wenig sind wir jetzt, nach der Entkoppelung der beiden Universen, imstande, noch mit ihm in Verbindung zu treten.

Cheltenham hatte mich mit seiner ausufernden Suada schon wieder aus dem Konzept gebracht. Jeder, der weiß, wie viele Interviews ich mit ihm geführt habe, kennt bereits das System: Wenn ihm eine Frage nicht passte, konnte er sich endlos über Belanglosigkeiten verbreiten, bis entweder die vorgesehene Zeit vorüber war oder ich entnervt aufgab und das Thema wechselte. Auf diese Weise vermittelte er den Zuseherinnen und Zusehern stets das Gefühl, der Chef im Ring zu sein, und er vergaß auch nie, durch unterschwellige Bemerkungen sogar die begriffsstützigste Seele im Publikum merken zu lassen, dass ich faktisch auf seiner geheimen Lohnliste stand.

So war es von dem Tag an, als der Baronet mir, begleitet von den beiden Brutalos Murky Wolf und Brian Thomson, die Schneid abgekauft hatte – begleitet von Charlenes kreischendem „Cut off his tail!”, und Brians Schwester, in deren Wohnung das Ganze geschah, klatschte dazu noch vor Vergnügen in die Hände. Aber bereits in dieser bedrohlichen Situation, die mich überdies eine Million Bucks kostete, regte sich mein innerer Widerstand: Obwohl ich seither daran gehindert war, in der alten Schärfe an meine Themen heranzugehen und nur noch Wish-wash produzieren durfte, recherchierte ich doch so nebenher das, was mich wirklich interessierte, wenngleich ohne Hoffnung, je etwas davon veröffentlichen zu können.

So kam es, dass mich manche Leute – schulterklopfend zwar, „Hey, Leo!”, und nicht mehr devot wie früher – weiterhin nach Dingen fragten, die ich ihrer Ansicht nach wissen sollte, und wenn ich mir auch genau überlegte (überlegen musste!), was ich denen erzählte, überkam mich doch manchmal der Stolz, und ich brillierte aus meiner Ohnmacht heraus mit Informationen, die Top Secret waren, weil sie die öffentliche Sicherheit gefährdeten, oder wenigstens deshalb vertraulich, weil sie für jemand Bestimmten eine Peinlichkeit bedeuteten. Und nicht selten, aber das wird niemanden überraschen, war Cheltenham das Objekt der Neugier.

SIR BASIL:
Ich hatte diesem Bloke von Anfang an genaue Regeln darüber mitgegeben, was er sagen durfte und was nicht – eher eng gefasst übrigens, um ihn zur Übertretung zu verleiten und ihm damit das subjektive Gefühl zu geben, besonders dreist zu sein, während er sich in Wahrheit noch immer im Rahmen meiner Intentionen bewegte. Was ich ihm ausführlich zu beackern erlaubte, waren Fragen nach meinem persönlichen Lebensstil – da hatte ich mir meines Erachtens nichts vorzuwerfen, denn ich entfaltete ein gewisses Gepränge nur auf der Grundlage meiner Abstammung oder aus meiner jeweiligen Position heraus, also weil entweder die Rolle, die mir in die Wiege gelegt worden war, oder eine Charge, die ich mir durch eigene Fähigkeit erworben hatte, es erforderten. Als Person betrieb ich hingegen lediglich einen sehr spartanischen Aufwand.

So sehr das aus seiner individuellen Sicht stimmen mochte, lachte es natürlich den realen Gegebenheiten Hohn, da selbst die einfacheren Bedürfnisse des Baronets nicht auf billige Weise zufriedenzustellen waren. Aber ich wusste, was er meinte, und das kommunizierte ich auch, da es durchaus eine Art Wahrheit darstellte: dass er sich niemals selbst bereicherte, nicht bestechlich war, in seiner Umgebung keine Korruption duldete – und damit niemals nachließ, solange er lebte. Was von den ungeheuren Mitteln, die ihm zur Verfügung standen, nicht in seine vielfältigen Projekte floss, das investierte er – nach Abzug seiner Ausgaben als Pater familias seines stets umfangreichen Hofstaats, damals in England ebenso wie jetzt in Zypern – in die sogenannte Cheltenham Foundation.

Somit scheint es an der Zeit, diese Institution einmal näher vorzustellen, obwohl wir ihr indirekt schon begegnet sind, etwa als wir gelernt haben, dass Sir Basil das Genie Anastacia Panagous erkannte und großzügig förderte. Und genau das war der offizielle Zweck der Stiftung: wissenschaftliche Arbeiten mit unterschiedlichen Schwerpunkten auf alle erdenkliche Art zu unterstützen, wobei es allerdings einen bedeutsamen Filter gab – die relativ autoritäre Entscheidungsgewalt des Board of Trustees mit dem Baronet höchstselbst an der Spitze. Obwohl man sehr darauf bedacht war, nur möglichst wenig aus der Foundation nach außen dringen zu lassen, riefen diese Marginalien immerhin Kritiker auf den Plan, die bestimmte Schieflagen orteten: die Bevorzugung britischer Wissenschaftler beispielsweise (was objektiv nicht richtig war) oder die Tatsache, dass äußerst prominente Professoren wie Pascal Kouradraogo, Fritz Schreiner, Pjotr Ivanovich oder Larry Migschitz niemals zum Zug kamen, obwohl sie sonst sehr begabt im Erschließen von Subventionsquellen waren (dass Cheltenham die Vier nicht nur nicht förderte, sondern im Gegenteil mittels einer seiner straff organisierten Kommandoaktionen für längere Zeit aus dem Verkehr zog, war allerdings der breiten Öffentlichkeit nicht einmal bekannt).

SIR BASIL:
Nachdem die Aktivitäten der Cheltenham Foundation während meiner Rehabilitation bei Dr. Berenice W. Talmai brach gelegen waren, begann ich sie von der Zentrale CORRIDORs aus wiederzubeleben. Was mir schon lange vorschwebte, war eine Katalogisierung menschlicher Ideenwelten zum Motto „Der Sinn des Lebens” und deren systematische Verarbeitung und Evaluierung. Die Grenze dabei war bewusst weit gesteckt. Nicht nur die Disziplin der Philosophie als solche erachtete ich als geeignet, dieses Meaning of Life aufzuzeigen, sondern auch die Sozialwissenschaften, die Medizin und am Ende eigentlich das gesamte universitäre Spektrum (wobei das Board, das ich aufgrund der veränderten politischen Verhältnisse in Zypern neu formieren musste, mir darin blindlings folgte).

Wenn Cheltenham also seine militärischen Sandkastenspiele gerade langweilten, unterhielt er sich mittels der Möglichkeiten, die ihm die Foundation bot. Dann pflegte er einen sorgfältig gewählten Terminus in die akademische Arena zu werfen und mit Vergnügen zuzusehen, wie die gelehrten Gladiatoren sich darum quasi auf Leben und Tod balgten, denn der erhobene Daumen des Baronets bedeutete für die so bezeichneten Sieger bares Geld – die materiellen Mittel, um das, was ihnen vorschwebte, zu verwirklichen, und dabei schien es am Ende fast gleichgültig, wie dieses Ziel der Wünsche eigentlich beschaffen war.

Von dieser Vorgangsweise gab es nur wenige Ausnahmen in personeller wie in inhaltlicher Sicht, wobei die beiden Aspekte meist ursächlich miteinander verbunden gewesen sein dürften. Eines der wenigen Beispiele dafür war eben die Panagou mit ihrem kühnen Unterfangen, menschengleiche Maschinenwesen herzustellen, und in einem solchen Fall wurde auch mit äußerster Diskretion verfahren, wie wir Eingeweihte wissen. Schließlich ging es hier um die konkrete Verwertbarkeit der Ergebnisse für Cheltenhams Interessen, und diese machte nur dann Sinn, wenn potentielle Gegner dadurch das Nachsehen hatten.

In diesem Punkt beschloss ich nachzuhaken: Warum bedient sich CORRIDOR eigentlich nicht der Hilfe Anastacia Panagous? fragte ich Cheltenham (und dachte dabei: Wenn du schon solche Unsummen in das Weib investiert hast!).

DREHBUCHAUTORIN CLAUDETTE WILLIAMS:
Die üblichen Dummheiten Leo Di Marconis – Sir Basil hat Anastacia finanziert, aber nicht gekauft! Mir ist zufällig bekannt, dass sie gern nach Zypern mitgekommen wäre (immerhin entspräche diese Insel ihrer eigenen Heimat in der Ägais doch eher als das feuchte kühle England), und sie musste daher gravierende Gründe dafür haben, sich anders zu entscheiden.

PRODUZENT SID BOGDANYCH:
Faktum ist, dass der Baronet die Panagou nicht einmal gefragt hat, ob sie mitkommen wollte. Er mochte ihr plötzlich, nach all den Jahren, in der die beiden in enger Verbindung gestanden waren, nicht mehr nahe sein – gekränkte Eitelkeit, meine Liebe! Schließlich waren er und Chicago auf VIÈVE bei ihrem Versuch, die Echwejchs aufzumischen, kläglich – was sage ich, jämmerlich gescheitert, indem sie dem Geflügel wie die aller¬ersten taktischen Anfänger in die Falle gingen. Dafür konnte zwar Anastacia nichts, aber dass sie es war, die dann mit ihren Androiden auf der Station Ordnung machte, unterschied sich maßgeblich von dem Szenario, das Sir Basil sich zurechtgelegt hatte, und erfüllte ihn mit unüberwindlicher Bitterkeit.

DER GROSSE REGISSEUR:
Ich könnte mir außerdem gut vorstellen, dass er der Panagou die dramatischen Ereignisse anlastete, die – ich betone: anscheinend – durch die Exekution der Schwanenherrscherin Majchwajch ausgelöst wurden, wobei ihn weniger störte, dass die Nahtstelle zum Paralleluniversum sich löste, als vielmehr das Verschwinden des Königs von VIÈVE, mit dem ihn offenbar mehr verband, als er jemals zuzugeben bereit war.

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Man sieht, ich konnte nicht einmal mehr den einfachsten Job erledigen, ohne dass ein Schwarm von Leuten auftrat, die unbedingt glaubten, etwas beitragen zu müssen – mehr noch: alles viel besser zu wissen als jeder andere. Dazu das süffisante Grinsen des Baronet, das mir zu sagen schien: Sehen Sie, Marconi, diese international anerkannten Mediengurus verstehen, worum es wirklich geht!

Bleiben wir sachlich, Sir Basil! forderte ich und negierte diesen unausgesprochenen Affront: Ist es eigentlich der Breite der durch die Cheltenham Foundation geförderten Sachgebiete zuzuschreiben, dass auch ein gewisser Rodrigo Sanchez-Barzon unterstützt wurde, einer der Söhne des mittlerweile verstorbenen Julio Sanchez-Barzon? Hat er sich nur origineller verkauft oder gab es wie bei Anastacia auch bei ihm einen strategischen Grund, der ihn außer Konkurrenz förderungswürdig machte?

SIR BASIL:
(gönnerhaft) Ich werde Ihnen in Umrissen seine Geschichte erzählen, mein Guter…

Wieder eine seiner Stegreifdarbietungen, vermutete ich. Aber wie immer, das musste ich mir eingestehen, war man gezwungen, ihm zuzuhören: Neben seinen anderen Vorzügen war er ein begnadeter Komödiant – wenngleich ihm dieses Wort zu seiner Charakterisierung zutiefst missfallen hätte…

SIR BASIL:
Seit dem Tag, als Don Julio seine zweite Frau Alex ins Haus gebracht hatte, fühlte sich Rodrigo zu seiner Stiefmutter hingezogen (ebenso heftig übrigens, wie sein Bruder Santiago diese ablehnte). Es dauerte nicht lange, und er war dem Geheimnis der ehemaligen Excape-Artistin auf der Spur, ihrer Affinität zu extremen Atemübungen und spektakulärer Aquatik. Dazu bedurfte es allerdings nicht viel, denn je mehr der alte Sanchez-Barzon sich in seiner traditionellen Vorstellungswelt bemühte, jene ihm gefährlich scheinenden Neigungen totzuschweigen, desto umfangreicheres Text- und Bildmaterial förderte der junge, neugierig geworden, aus dem Internet zutage. Als er Alex damit hinter dem Rücken ihres Mannes konfrontierte, war sie ihm keineswegs böse, sondern präsentierte ihm voller Stolz diesen High Definition Body in natura. Rodrigo zeigte sich erwartungsgemäß überwältigt, und da er selbst ein rassiger Bursche war, von keinerlei Selbstzweifeln geplagt, was seine eigenen körperlichen Vorzüge betraf, kam es, wie es kommen musste: Wenn Don Julio seiner immer ausgedehnteren Siesta pflegte, zurückgezogen in die angenehme Kühle seines Zimmers, brachten die beiden im Swimmingpool des meist unbewohnten benachbarten Landsitzes das Wasser zum Kochen. Alex war im wahrsten Sinne des Wortes in ihrem Element – endgültig überwunden schienen die Traumata, die sie so lange von ihren wahren Bedürfnissen abgehalten hatten, und ihr Stiefsohn ließ sich willig in dieses komplizierte Geflecht aus technischen Leistungen und ungehemmter Lust hineinziehen.

Aber die Foundation, Sir Basil? unterbrach ich ihn, der richtig ins Schwärmen gekommen war: Was genau haben Sie eigentlich an Rodrigo gefördert?

SIR BASIL:
Es kam nicht von ungefähr, dass er Alex’ Begeisterung für das nasse Element teilte, denn er hatte in Meeresbiologie promoviert, schon bevor er sie kennenlernte – gegen den Willen seines Vaters, der nicht bereit war, dieses Orchideenstudium, wie er es nannte, zu finanzieren. So kam Rodrigo auf die Idee, unsere Stiftung, die damals noch in London domiziliert war, anzuzapfen, und wir griffen ihm zunächst bei seiner Dissertation, für die zeitlich und finanziell aufwendige Studien vor Ort nötig waren, später aber auch bei weiteren Forschungsreisen in verschiedene Gebiete, die für Bürger des amerikanischen Imperiums zugänglich waren, unter die Arme. Seiner Stiefmutter ermöglichten seine so gewonnenen Erkenntnisse, ihre amphibischen Anlagen weiterzuentwickeln, unter anderem mit dem sensationellen Ergebnis, dass sie ohne Atemgerät bis zu sieben Minuten tauchen konnte, selbst unter intensiver Bewegungsbelastung und in namhafter Tiefe. Das geschah, wie gesagt, heimlich, aber als Don Julio das Zeitliche segnete, beendete sie auch offiziell ihre Wasser-Abstinenz und stellte sich unserem mittlerweile formierten Staat als Trainerin der SeaBird-Truppe zur Verfügung. Rodrigo folgte ihr nach Zypern und wurde von mir damit beauftragt, seine durch die Analyse von Meerestieren entwickelten Methoden nicht nur auf Alex, sondern auf alle Frauen dieser Einheit anzuwenden – mit durchschlagendem Erfolg, wie jeder zugeben wird. Dabei kam es mir besonders gelegen, dass er weiter nur Augen für seine Stiefmutter hatte und für deren Trainees lediglich ein klinisches, mehr noch – ein ausschließlich objekthaftes Interesse an den Tag aufbrachte, denn das war für die Moral der Truppe eindeutig besser.

Ganz nebenbei erwähnte Cheltenham, dass die Foundation schon damals in Sevilla auch Rodrigos Bruder das Angebot machte, ihn – man stelle sich das bloß vor – „bei was auch immer” zu unterstützen, aber Santiago hatte dankend abgelehnt. Mehr erfuhr ich darüber nicht, nur gerade so viel: Alex, der angesichts der Tatsache, dass Doña Margharita vermisst war, Don Julios Hinterlassenschaft anvertraut wurde, musste dem zweiten der Sanchez-Barzon-Söhne sein Erbteil auszahlen, worauf dieser schnurstracks abreiste, offenbar um sich auf die Suche nach seiner Mutter zu machen.

Eine Frage stellte ich dem Baronet in diesem Interview noch, aber off-records, denn diese Passage, das wusste ich von vornherein, würde ich niemals senden dürfen (ebenso wie all jene, in denen das Paralleluniversum auch nur erwähnt wurde): Was sind eigentlich die bedeutendsten, aber zugleich vertraulichsten Projekte, die bisher von der Foundation verfolgt wurden? Die Antwort war diesmal ungewöhnlich klar, denn Cheltenham schien von dem, was er mir da eröffnete, emotional ziemlich bewegt.

SIR BASIL:
Ich trage eine schwere Hypothek mit mir herum, die aus meinem Antagonismus mit Iadapqap Jirujap Dlodylysuap resultiert und die weder durch das gewaltsame Ende meines Doppelgängers, noch durch die Loslösung seiner Realität von unserer gelindert wurde…

Ich vermutete, dass er sich jetzt über diesen seltsamen Umstand auslassen würde, dass angeblich der gesamte Entwurf dieser Federation of Independent States nur deshalb existierte, weil der Tyrann der jenseitigen Völker sein hiesiges Pendant an einer materiell, organisatorisch und metaphysisch unüberwindlichen Aufgabe scheitern sehen wollte. Aber das war es gar nicht, was Cheltenham bewegte.

SIR BASIL:
Mein strukturelles Manko gegenüber Dlodylysuap, das auch durch meinen Sieg über ihn und schon gar nicht durch den simplen Umstand, dass ich ihn getötet habe, wettgemacht werden kann, besteht darin, dass er auf seiner Seite an der obersten Spitze stand und praktisch absolut herrschte, während ich herüben zwar an vielen bedeutenden Rädern drehte, ja sogar den Gang der Geschichte wesentlich beeinflusste, aber nicht kraft eines allerhöchsten Amtes, sondern quasi als Graue Eminenz.

Das war es! Das war die Achillesferse des Basil Cheltenham! Überreich mit sämtlichen Gaben ausgestattet, die ein Mensch sich nur ersehnen konnte, blieb ihm dennoch sein geheimster Wunsch versagt!

Aber es würde mir nichts nützen, das zu wissen, und recht schnell dämmerte mir, dass es sogar sehr gefährlich für mich war, dieses Wissen als wahrscheinlich Einziger auf der Welt zu besitzen. Es war nämlich beim gegebenen Naturell des Baronets eine zweifelhafte Auszeichnung, dass ein Mann wie er mich auserkor, in sein Innerstes blicken zu dürfen – an eine Stelle, die selbst seine Frau nicht kannte, mit der er so viel geteilt hatte, auch nicht sein Sohn oder irgendjemand anderer in seiner Umgebung. Aber ich. Und natürlich auch seine Dublette Iadapqap Jirujap Dlodylysuap, denn die beiden taten sich schwer, etwas voreinander zu verheimlichen.

SIR BASIL:
Es könnte mir heute völlig gleichgültig sein, was in der Spiegelwelt anders war als bei uns, denn das Alpha-*-Universum ist als solches verschwunden, wenngleich unter Zurücklassung eines dünnen Schleiers seiner Existenz, der sich über unsere Realität gelegt hat und dauerhaft, wenn auch sehr leise davon kündet, dass hüben und drüben doch bloß die Kehrseiten ein und derselben Medaille sind. Was aber wirklich an mir nagt (und womit sich mein Machtdefizit gegenüber dem Tyrannen besonders manifestiert), ist die Gewissheit, dass es im Paralleluniversum eine fortgeschrittene Kolonisierung des Weltraums gab – immerhin war bereits das Sonnensystem, dem Olxo, die Spiegelerde, auch genannt die „Erlauchte Geburtsstätte Iadapqap Jirujap Dlodylysuaps”, angehörte, unterworfen worden – trotz immer katastrophaler werdender wirtschaftlicher Bedingungen und trotz fortschreitender Anarchie. Wir hingegen sind bis jetzt bloß rund um unseren Globus gekrebst und haben nicht einmal die raumfahrttechnischen Mittel entwickelt, mit denen wir die Invasion der Echwejchs hier bei uns hätten wenigstens erkennen, geschweige denn abwehren können, und dass sie drüben auf der Zeitachse um 100 Jahre weiter waren als wir, bedeutet in diesem Zusammenhang gar nichts, denn was ist das schon für eine lächerliche Differenz in Bezug auf die Menschheitsgeschichte? Selbst die Existenz der Station VIÈVE, die beweist, dass wir es eines Tages schaffen werden, liegt um dieses Jahrhundert in der Zukunft und ist ja lediglich durch die bekannte Anomalie im kosmischen Mechanismus in unser Bewusstsein gerückt.

Was ihm also zu schaffen machte, mehr als jedem anderen Menschen mit geringeren inneren Antriebskräften, war das offensichtliche Unvermögen, die langfristige Entwicklung so weit zu beschleunigen, dass ein Aufschließen zu seinem Konkurrenten, wenn nicht gar ein Überholen gelang. Und er musste sich eingestehen, dass er als Staatschef von CORRIDOR weniger denn je dazu in der Lage war, wenn doch nicht einmal die de facto viel mächtigeren Spitzen der beiden großen Imperien frei waren, Prioritäten in die von ihm ersehnte Richtung zu setzen.

Unter Ray Kravcuk wurden sämtliche Pläne für eine bemannte Raumfahrt schleunigst ad acta gelegt – man erinnert sich in diesem Zusammenhang an seinen „Back to Earth”-Befehl, und Dan Mai Zheng schloss sich hier für ihren Teil an: Beide hatten sich darüber verständigt, dass derlei Vorhaben ohnehin nur gemeinsam verfolgt werden konnten, was aber die sie umgebenden Machtstrukturen niemals billigen würden – die jeweiligen Hierarchien perhorreszierten engere Kontakte zwischen den Institutionen Grand Americas und Groß-Chinas, wobei sie schon die gute, um nicht zu sagen herzliche Beziehung zwischen ihren damaligen obersten Führern bekanntlich nur mühsam akzeptierten.

Nach deren Ablöse durch Trudy McGuire und durch Yang Xun Zhou wurde derlei Projekte endgültig als reines Nice-to-have abqualifiziert, und das Thema erübrigte sich: Woran man interessiert gewesen wäre – extraterrestrische Eroberungen mit anschließender Ausbeutung der Kolonien (wie im Paralleluniversum) – schienen aus Kosten-Nutzen-Überlegungen beider Supermächte vorerst aussichtslos. Eine entsprechende Studie, die der Cheltenham Foundation angeboten wurde, wies Sir Basil persönlich ab.

SIR BASIL:
Selbstverständlich habe ich mich von den Höhenflügen meiner Phantasie niemals so weit hinreißen lassen, dass ich das Augenmaß für das Mögliche und Machbare verloren hätte. Einmal kam jemand sogar mit dem Entwurf einer künstlichen Wasserstrasse entlang des afrikanischen Limes. Ich wischte seine Argumente über den zweifellos vorstellbaren strategischen Wert eines solchen Bauwerks für CORRIDOR mit einigen Zahlen vom Tisch: Panamakanal 82 km, Suezkanal 163 km, Entfernung von der Kleinen Syrte bis zum Golf von Guinea ungefähr 3500 km…