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JADE DE PARIS

Sie war nicht unbedingt hübsch zu nennen – zumindest interessant war sie schon. Ihr Körper zeigte Anzeichen des regelmäßigen Besuchs eines Fitnesscenters und dementsprechend war ihr eine makellose Figur zu eigen. Ihr Boss, der Chef einer berühmten Anwaltskanzlei, begnügte sich weniger mit ihrem Anblick, als vielmehr mit der Tatsache, dass ihm mit Alina Winter eine hochintelligente Kraft zur Verfügung stand, die er praktisch über Nacht zu seiner persönlichen Assistentin gemacht hatte. Er erkannte mit sicherem Instinkt, was ihr spezifisches Merkmal war.

Ihr Vater, selber Advokat, war von Anfang an, praktisch von ihrer ersten Minute gegen sie eingenommen, und kam so: Alinas Mutter war bei ihrer Geburt leider verschieden, und da er die Verstorbene unsterblich geliebt hatte, pflegte er ein gewisses Ressentiment gegen die Tochter und gab sie während bis zu ihrem zehnten Lebensjahr in die Obhut einer Nanny, was ihn eine schöne Stange Geld kostete, aber so kaufte er sich von der Verpflichtung los. Dann ging es erst richtig los – der Vater führte von Stund’ an ein strenges Regiment und verlangte von ihr, dass sie ihm den Haushalt führen musste. Daneben peitschte er sie durch Gymnasium und Jus-Studium. Dann suchte er ihr eine geeignete Stelle.

Alina hatte schon lange versucht, ihrem verhassten Peiniger zu entkommen. Er war nicht nur für ihre freudlose Kindheit verantwortlich, sondern vor allem auch für ihr späteres Schicksal. Ihr Alter Herr verdiente derweil so gut, dass sie sich immerhin für die Wirtschaftsführung keinerlei Sorgen machen musste. Und der entscheidende Punkt war: Er kontrollierte niemals die Abrechnungen, was ihr Möglichkeit bot, sich frühzeitig ein Körberlgeld anzulegen. Es waren drei Monate ihrer Berufstätigkeit vergangen, als sie plötzlich aus ihrem Elternhaus auszog und eine eigene Wohnung nahm. Ihr Vater schäumte zwar, doch ihm waren auf Grund ihrer Großjährigkeit die Hände gebunden.

Damit war die Sache abgehakt. Sie hatte sich von der Vergangenheit abgewandt – was nicht bedeutete, dass nicht fallweise das Vergangene wieder hochkommen konnte…

Im Büro trug sie das übliche Businessoutfit – das heißt schwarz oder allenfalls dunkelgrau, die Knie bedeckt und ein Ausschnitt, der nicht allzu viel erkennen ließ. Darunter (und für unbefugte Beobachter unsichtbar) ging’s turbulenter zu. Zum Beispiel: ein Harness Top von Daniela Paradeis, Nipple Pasties von Velvet Dessous, ein Höschen von Intimisssimi. Und wenn sie besonders frivol aufgelegt war, was gelegentlich vorkam, ließ sie die Unterwäsche komplett weg.

Eine Freundin, der Alina sich nach langem Zögern anvertraut hatte, war nicht schockiert – sie sah es eher praktisch: „Was ist, wenn Du Dich plötzlich vor einem Arzt ausziehen musst? Wird es Dir dann noch immer egal sein?“ Die Winter wurde von einem nie zuvor wahrgenommenen Schauer erfasst. Von da an lief sie halbnackt oder sogar nackt in der Wohnung herum. Dazu hatte sie sich angewöhnt, nachts die Rollos oben zu lassen. Sie beobachtete kein einziges Mal einen Spanner, aber da machte sie sich keinen Kopf – es würde ihr schon jemand zuschauen. Es gehörte ja geradewegs zu dieser Spezies, dass sie sich nicht zeigten. Lange Zeit begnügte sich Alina mit dem Nervenkitzel, der mit dieser speziellen Exhibitionsshow verbunden war.

Sie hatte keinen Freund, schon gar keinen Geliebten – nur ihre Arbeit. Und die machte sie gut, eigentlich hervorragend. Ihr Chef verließ sich mit der Zeit völlig auf sie, begab sich auf diese Weise total in ihre Abhängigkeit. Und sie enttäuschte ihn niemals…

Ein besonders kniffliges Problem hatte sie zu lösen, für ihren Boss, den berühmten Strafverteidiger. Es ging um häusliche Gewalt, angetan einer Dame der Gesellschaft durch ihren Göttergatten, wobei letzterer durch Alinas Vorgesetzten verteidigt werden sollte. Sie hatte eine lupenreine Argumentation ausgearbeitet – sie schlug vor, das angebliche Opfer direkt zu attackieren, in der Art „Hat’s Ihnen doch gefallen!“ Das unrechtmäßige Vorgehen, wodurch jemand zu etwas gezwungen wird, woraus sich der Vergewaltigungsfall konstruieren ließ, blieb unbeweisbar. Die Anklage wurde abgeschmettert. Die Winter stieg in der Achtung ihres Chefs ins Unermäßliche.

Sie ging fast gar nicht aus, außer ins Büro. Wenn sie aber ausging, dann hatte sie ein Kleid an, das sie selbst das „Unkeusche“ nannte. Es hatte an den entscheidenden Stellen, wie Brustwarzen, Venushügel und Po, eine Verstärkung, und war sonst transparent. Wenn die Winter das trug, war es mehr als bloß einmal ein Hingucker: die Herren (und auch die eine oder andere Dame) konnten ihre Blicke nicht zügeln, ja es gab sogar welche, die sie mit offenen Mäulern anstarrten. Sie ging nur mit diesem einen Stück – sonst hatte sie lediglich schwarz oder dunkelgrau. Und es war jedes Mal ein durchschlagender Erfolg – so oft konnte sie es gar nicht anziehen. Alina hatte wie gesagt ein Dutzendgesicht, aber was in diesem Fall zum Tragen kam, war ihr High-Definition-Körper – er schmiegte sich wohlgeformt in dieses „unkeusche“ Kleid!

Auf die Dauer war der Winter das nicht aufregend genug – da dämmerte ein Hauch von dem, was später noch alles passierte! Seit sie im Alter von Zwölf in Mamas hochhackigen Schuhen herumgestiefelt war (der Alte hatte die Kleider ihrer Mutter wie eine Reliquie aufgehoben, was sie nicht hinderte, sich in seiner Abwesenheit aus dem reichhaltigen Fundus zu bedienen), blitzte schon etwas davon auf. Später, als sie längst das elterliche Haus verlassen hatte, fand sie in einer Zeitschrift einen Artikel über „Burlesque“ – dieser war an sich langweilig, aber mit zahlreichen Bildern versehen, und die hatten es in sich. Die Fotos, die ein reichhaltiges Repertoire an erotischen Zauber boten, ließen sie nicht mehr los.

Die Aufnahmen inspirierten sie geradezu und ließen schon einiges erahnen, was in über kurz oder lang in der geordneten Form eines Entkleidungstanzes zu sehen war.
„Natürlich hat das Tanzen viel mit einem gewissen Exhibitionismus zu tun!“ Alina streckte sich behaglich. „Ich mag es, nackt zu sein, meinen Körper zu zeigen. Ich liebe es, wenn meine Sexualität Fantasien anregt, meine ebenso wie die von anderen. Das ist eine gewisse Form von Narzissmus.“

Kanalisiert wurde dieses Bedürfnis letztendlich im „Club Orion“. Dieser warb einprägsam um Kunden: „Ein unterhaltsamer Striptease ist nicht nur sehr glamourös, sondern auch witzig, verrucht angehaucht und verdammt verführerisch. Veranstaltungen sind ideal, um ein vielschichtiges Publikum anzusprechen. In dieser erotischen Strip-Show wird jedes getragene Kleidungsstück stilvoll abgelegt. Es begann bei den Handschuhen und endete beim String Tanga – denn dieser bleibt in dieser Show entweder an oder wird am Schluss in einer bestimmten Stellung so aufgemacht, dass man nichts Verwerfliches erkennen kann, der Auftritt bleibt geheimnisvoll sexy. Niemals wirkt die Sache, von Profis ausgeführt, ordinär. Unsere edlen Tänzerinnen erwarten Sie…“

Nach einer gewissen Zeit nähte die Winter ihre Kleider selbst, „tunte“ ihre Dessous, choreografierte ihre Auftritte. Und fühlte sich verdammt wohl dabei, Erotik, Hingabe und Leidenschaft in Entblätterungsauftritte zu verpacken, die ihren Zuschauern den Kopf verdrehten. Im „Club Orion“ nannte sie sich „Jade de Paris“!

Im Gegensatz zu ihrer bürgerlichen Existenz, wo wenig Französisches erkennen war, steigerte Alina sich als Jade de Paris immer mehr in einen Gemüts- und Bewusstseinszustand, von dem sie kaum loskam. Und das wollte sie auch nicht – sie war diese Kunstfigur! Abend für Abend auf der kleinen Bühne im „Club Orion“. Und was das Dramatische war: Es fiel zunehmend schwer, sich wieder in den kleinkarierten Trott ihres Alltags hineinzufinden !

Dessenungeachtet konnte sie eigentlich zufrieden sein – wäre da nicht die Versuchung groß gewesen, einem Boulevardblatt ein Interview zu geben. Damit war die Katze aus dem Sack, denn nun ließ sich nichts mehr verheimlichen. Wenn’s nur der Artikel gewesen wäre, aber die Zeitung hatte reichlich Bildmaterial hinzugefügt, das sie selbst zur Verfügung gestellt hatte. Und da wurde ihr Chef, der das Blatt abonniert hatte, auf seine Mitarbeiterin aufmerksam. Er schoss wie eine Rakete zur Tür herein: „Was haben sie sich in aller Welt dabei gedacht!“

Alina fühlte sich bloßgestellt, ungerecht behandelt, in eine Welt versetzt, die man schon hinter sich gewähnt hätte. „Weibliche Sexualität,“ sagte sie, „beziehungsweise der Umgang mit dem weiblichen Körper ist nach Jahrhunderten auch hierzulande noch immer ein Machtthema der Männer, das immer dann vorgeschoben wird, um die eigene Interessen durchzusetzen. Frauenrechte oder Sitte und Moral interessieren dabei niemanden.“

Sie wurde stantepede gekündigt, wegen Unvereinbarkeit. Die Winter wollte eine Intrige orten, habe sie doch im Kollegenkreis nie ein Geheimnis aus ihrer Leidenschaft gemacht. „Heuchlerische Doppelmoral“, nannte sie es. Das Unternehmen will wohl nicht in die unseriöse Ecke gestellt werden: Kunst hin oder her. Es ist nämlich doch ein Unterschied, ob ich weiß, dass meine Mitarbeiterin in ihrer Freizeit praktisch nackt auftritt oder ob ich die Zeitung aufschlage und Alina in erotischer Pose auf mehreren Seiten „bewundern“ kann. Und zwar nicht nur ich, sondern Kunden und Klienten. Eben jeder auch…

Vielleicht hatte es Alina insgeheim auch genau darauf angelegt, gekündigt zu werden. Wäre ihr viel an dem Job gelegen, hätte sie ihren medialen Durchbruch als Nackedei mit ihrem Vorgesetzten auch besprechen können. Der hätte vermutlich „Nein, bitte nicht!“ gesagt und sie wäre nicht groß rausgekommen. Jetzt kannte jeder ihre „arge“ Geschichte. Gekündigt wegen Nackt-Hobby! Skandal! Alina will jetzt erotisch durchstarten! Für das Gesamtkunstwerk „Jade de Paris“ kein Grund, Trübsal zu blasen – der Auftrittsdichte tat das unfreiwillige Mehr an Zeit auch ziemlich gut. „Letzten Endes mache ich das alles nur für mich selbst,“ merkt die Winter an. „Würde ich für andere tanzen, könnte ich mich der Erotik nie so selbstbewusst hingeben.“ Das merkt man – in jeder Sekunde. Insofern hat der prüde Arbeitgeber den Fans vielleicht sogar einen großen Gefallen getan. Es hat auch viel mit Selbstbewusstsein zu tun, wenn man eine Leidenschaft (nämlich die professionelle Seite der Angelegenheit) wie diese mit erst knapp 30 Jahren entdeckt.

Und so machte ihre Liebhaberei zum Beruf, nicht ohne Federn zu lassen, denn da ging es aus einem anderen Ton. Alina war bewusst, dass ihr zum Rang einer „Dita von Teese“ noch einiges fehlte – und nicht nur das blendende Aussehen. Aber sie arbeitete darauf hin und sie studierte ihr heimliches Idol. Dabei kam ihr ein Video aus der Frühzeit von Ditas Karriere unter, auf der sie völlig unverhüllt zu sehen war, und nicht nur das, die Nacktfotos waren von der üblen Sorte, bei denen der offene Schritt der Betroffenen deutlich wurde.

Eingedenk der Tatsache, dass die Geschäftsphilosophie im Club Orion eine komplett andere war, nämlich viel diskreter, schätzte die Winter sich glücklich. Aber auch die Teese hatte sich weiterentwickelt – zu höheren Weihen der Burlesque-Kunst – ihr eiferte Alina nach! Wenn sie auch bei weitem nicht so schön war wie die Teese, sie konnte zumindest das Interesse der Zuseher wecken – nicht zu vergessen ihr makelloser Körperbau!

Und so baute Jade de Paris einfach die gängigen Nummern von Dita nach: so zum Beispiel den „Martini Glass Act“, bei dem sie sich zuerst auszog und dann, nur mit dem Nötigsten bekleidet, in ein überdimensionales Glas stieg. Dort räkelte sie sich lasziv und ließ das Wasser über ihre Hüften und ihre Schenkel gleiten. Oder „The Bird of Paradise“: Hier ging es um einen Käfig, angemessen auf ihre Größe, in dem sie ablegte, bis nur mehr kleine Reste vorhanden waren.

Das „Rhinestone Cowgirl“: Ein angedeuteter Stier mit zwei Riesenhörnern war das Thema – Jade de Paris nahm auf dem Bullen, der sich heftig bewegte, Platz, von vorhinein leicht geschürzt, und sie wand sich und stöhnte, bevor sie in einem gespielten Orgasmus verfiel. „Merry Go Round“: Hier wartete ein Schaukelpferd auf sie und Alina entkleidete sich im Ritt.

„Feather Woman“ zeigte prunkvolle Federn, mit denen sie ihre Blöße bedeckte. Spielerisch verführte sie ihr Publikum – am Ende offenbarte sie, dass sie außer dem Slip nichts anhatte. In „Caged in a Net“ war sie eine Fliege, die sich im Netz einer Spinne verfangen hatte und gegen Ende der Performance war sie halbnackt.

Und so bewegte Alina von Montag bis Samstag ihre Zuschauer und riss sie mit. Sie gab ihr Herzblut für ihre Shows! In relativ kurzer Zeit hatte sie sich zu einem „Rising Star“ der heimischen Burlesqueszene entwickelt.

Sie träumte insgeheim bereits von einer Karriere im Pariser „Crazy Horse“ – sie hatte nicht von ungefähr diesen Namen gewählt! Und dann kam prompt dieser Anruf, der alles veränderte. Sie war tatsächlich auf Gastspiel in diesen renommiertesten und angesehensten Tempel des Showgeschäfts in der französischen Hauptstadt eingeladen worden. Müßig zu sagen, dass Alina sich intensiv darauf vorbereitete. Sie ging die ganzen Tage seit dem Gespräch wie auf Wolken, nicht achtend der Dinge, die herum passierten. Sie hatte schon eine genaue Vorstellung davon, was sie ihren Pariser Besuchern anbieten wollte – größtmögliche Nacktheit, ohne ordinär zu wirken!

Eines Abends sie spät nach ihrer Vorstellung nach Hause ging, sprach sie ein Mann an. „Ich habe ihre Darbietungen gesehen – ich war mehr als beeindruckt!“ Sie antwortete zerstreut: „Das freut mich, dass es Ihnen gefallen hat. Das ist ja letztlich der Zweck der Übung!“

Übergangslos vergewaltigte er Alina…

Der Täter wurde nie gefunden.

Und die Moral von der Geschicht’: Frauen werden für ewige Zeiten Freiwild für das männliche Geschlecht bleiben. Wenn die Welt vollkommen wäre, würde so etwas nicht passieren. Aber sie ist nun einmal nicht vollkommen…