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ORIONS LICHT

Müßiger Leser! – Wie kommt es, dass du ein Buch zur Hand nimmst? Hast du nichts Besseres zu tun? Ja, natürlich kannst du einen Roman konsumieren, aber nimm dich in acht: ein Roman, wie ich ihn sehe, hat neben der Person, die schreibt, neben der Hauptfigur und neben der Handlung auch eine Moral: oder sagen wir ein System von moralischen Normen, das dir aufgezwungen wird, wenn du liest (und das dich vielleicht gefangen hält, selbst wenn du nicht mehr liest). Jedenfalls ist als Tatsachenbericht gedacht, was man im Folgenden über die Hauptfigur erfährt, obwohl es zu Beginn nach purer Science Fiction klingt. So unwahrscheinlich es auch ist, so sehr es nach Erinnerungen an die Zukunft schmeckt: eines Tages landet in Wien ein fremdes Raumschiff. Wie sich später herausstellt, stammt das Objekt vom Planeten Amnor, der um eine Sonne kreist, die irgendwo in Richtung des Sternbildes Orion zu lokalisieren ist. In einer echten Science Fiction müssten jetzt genaue Angaben folgen, doch das interessiert mich offen gestanden nicht, weswegen ich herzlich ersuche, sich die Details selbst dazuzudenken.

Die Hauptfigur kommt abends auf dem Heimweg am Landeplatz vorbei. Ich weiß jetzt nicht genau, wie es weitergeht, ob ihn die Raumschiffleute einfangen oder ob er aus Neugier freiwillig einsteigt. Und dann ab mit der Kiste. Die Voraussetzungen, Tatsachen und Spekulationen von Weltraumreisen sind hinlänglich bekannt, sodass ich mir auch hier weitere Einzelheiten ersparen kann.

Jedenfalls sitzt die Hauptfigur schließlich in einem kaffeehausartigen Lokal auf dem fernen Planeten und hat vor sich ein kaffeeartiges Getränk: wenn ich es nicht einfach Flüssigkeit nenne, erspare ich mir damit nur, dass ich das Lokal eigentlich als Flüssigkeitshaus bezeichnen müsste. Aber ich lasse besser derartige Erklärungen, desgleichen eine Beschreibung der Örtlichkeit: den äußeren Rahmen für die mir viel wichtigeren geistigen Vorgänge mag sich der Leser wiederum selbst schaffen. Ich halte es auch für verfehlt, die Hauptfigur physiognomisch zu beschreiben, denn das hieße, im Leser völlig überflüssige Zustimmungs- oder Ablehnungsmechanismen auszulösen. Wenn die Hauptfigur sich selbst zu beschreiben wünscht, bitte sehr, soll sie es tun, ich habe nichts dagegen. Ich bin keine schreibende Person, die ihre Hauptfiguren gängelt – was Nebenfiguren betrifft, meinetwegen, da kann man schon ein wenig fester eingreifen, aber die Hauptfiguren sollen tun, was ihnen gefällt. Natürlich ist schon diese Feststellung allein ein Betrug am Leser, aber nur für jene, die das begreifen. Meine Hauptfigur zum Beispiel versteht das genau: dass sie bei aller Freiheit nur lebt, während ich schreibe. Sie versucht daher mit allen Mitteln, auch außerhalb meiner Schreibtätigkeit durch mein Bewusstsein zu spazieren, aber ich unterbinde diese Extratouren weitgehend. Ich habe schließlich auch noch andere Interessen als diesen – – – Roman?

Soeben erinnert mich die Hauptfigur daran, dass eigentlich sie die große Nummer im Roman ist (man sieht, sie zweifelt nicht so wie ich an dieser Kunstform), und dass ihre augenblickliche Situation denkbar wichtiger und interessanter ist als meine.

Die Hauptfigur sitzt also in einem Lokal auf dem Planeten Amnor und sieht sich der Neugier von Leuten gegenüber. Nun ist Neugier etwas, das sich hauptsächlich auf Äußerlichkeiten bezieht, und während meiner Abschweifung steht vor allem der Unterschied in der Kleidung im Mittelpunkt des Interesses, allenfalls die etwas fremd anmutende Physis – aber die interessiert wiederum mich als schreibende Person nicht. Die Leute erkennen jedenfalls, dass es sich bei der Hauptfigur um ein Wesen auf einer Evolutionsstufe handelt, die der ihren gleicht. Recht naheliegend daher der Gedanke, sich mit diesem Wesen zu verständigen. Mit einem Wort: die Leute verlangen, dass die Hauptfigur erzählt.

Bei mir als schreibender Person läuten jetzt aber die Alarmglocken: das ist natürlich ein sehr geschickter Schachzug meiner Hauptfigur, mit dem sie sich unversehens in meine Rolle hineindrängt. Auch die Tatsache, dass die Hauptfigur dank einer vollkommenen Übersetzungsmaschine jener Planetarier in ihrer gewohnten Sprache bleiben kann, gibt ihr jede Menge Bewegungsspielraum. Die Hauptfigur, nennen wir sie „Chemie der Sprache” oder kurz „Chemie”, einigt sich – immer rasch im Erfinden von Erzählformen – mit den Leuten, dass sie versuchen wolle, von mehreren Standpunkten aus zu erzählen. Sie kümmert sich dabei überhaupt nicht darum, ob mein Roman (ja, jetzt glaube ich, dass es einer werden könnte beziehungsweise geworden wäre, wenn mich jemand so ließe, wie ich wollte) – ob also mein Roman dieses unüberlegte Vorgehen verkraften kann. Immerhin bin ich der „Chemie” gut genug, ihre erzählerischen Querfeldeinläufe zu koordinieren.

Die „Chemie” befindet sich auf dem Planeten Amnor in einer einmaligen Situation: sie kann den Leuten erzählen, was sie will und sie müssen gläubig zuhören. Aber vielleicht täuscht sich meine Hauptfigur auch, und die Planetarier wissen über alles einschließlich Weltgeschichte Bescheid. Im anderen Fall nämlich, wenn sie nichts über die Erde wüßten, dann muss man es ihr Unglück nennen, dass sie sich gerade die „Chemie der Sprache” eingefangen haben.

Der Leser meint, ich wäre voreingenommen gegenüber meiner Hauptfigur? Das nicht gerade, aber wir trauen einander nicht. Die „Chemie” meint, dass ich eine mimosenhafte schreibende Person bin, und dessenungeachtet beflegelt sie mich mit ihren pseudoradikalen Schimpfworten. Andererseits graut ihr vor ihrem gegenwärtigen Aufenthaltsort, und sie zählt auf mich: dass ich sie zurückhole, wenn es ihr schlecht ergeht. Wer kann denn sagen, was die Amnoriten mit ihr vorhaben, wenn sie das fremde Wesen erst zu Ende bestaunt haben. Wer weiß, ob sie nicht vorzeitig das Interesse an derlei obskuren Erzählungen verlieren: denn leid könnten die Planetarier einem fast tun, wenn man bedenkt, dass die „Chemie der Sprache“ derzeit intensiv mit den philosophischen Strömungen des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts auf der Erde beschäftigt ist.

Wie sah der Hofnarr des Kaisers Marc Aurel aus? Die Hauptfigur weiß es selbst nicht, stellt also nur eine rhetorische Frage: umso weniger weiß sie, ob die Amnoriten es wissen und sie somit schon beim ersten Erzählansatz durchschauen.

Marc Aurel ist schlechter Laune, als er sich die Krone aufs Haupt setzt. Das bekommt auch sein Hofnarr zu spüren, denn der Kaiser findet den Vertreter der pluralistischen Wissenschaft heute gar nicht komisch. Das also ist der Krönungstag, sagt Marc Aurel. Scheußlich, wenn man nicht selbst herstellen kann, was man sich da auf den Kopf setzt. Die anwesende Priesterschaft der verschiedenartigsten Gottheiten wählt die gemäßigtentrüstete Maske als Reaktion auf diese Äußerung. Das ist der Rollenzwang, Majestät, sagt der Hofnarr: er beginnt bereits zu wirken – der Eisenreif verändert Habitus und Gestus.

Verändert er auch die Gedanken? Wie komme ich als schreibende Person dazu, mir dieses unsinnige Gefasel meiner Hauptfigur anzuhören? Aber Moment, es geht gerade weiter…

Mein Denken, sagt Marc Aurel, bezieht sich bei Staatsakten auf das zu erwartende Ende. Schließlich schreiben wir das Jahr 161 post Christum natum. Würde mich der Oberpriester der Göttin Roma hören, müsste er mich jetzt verbessern – 914 ab urbe condita –: höflich, denn ich bin der Kaiser, dem Gedankenfreiheit von Staats wegen erlaubt ist. Auch das mit Einschränkungen: Ketzer darf ich sein, denn das sind sie selbst. Nur Nicht–Kaiser darf ich nie mehr sein, denn sonst müsste ich sterben: ab heute. Der Hofnarr weiß es, denkt gerade dasselbe wie ich. Er lächelt zynisch, weil ich heute in eine tödliche geistige Abhängigkeit gerate, nicht unähnlich der seinen, weil mir heute dasselbe widerfährt wie ihm: die Rolle. Ab heute werde ich nicht mehr viel schlafen können, wenn mir mein weiteres Leben lieb ist. Er gönnt es mir, weil er selbst fast nie schläft.

Und ich auch nicht als schreibende Person, denke ich, während ich die „Chemie der Sprache“ fabulieren höre, wie ein Hofnarr erfindet, was sein Kaiser gesagt haben könnte. Nein, das stimmt nicht, das ist zu kompliziert, in Wirklichkeit ist alles viel einfacher, nein, es ist alles noch viel komplizierter. Aber hört, es geht weiter…

Erlöser, leiern die Priester. Erlöser vor Barbarennot. Feldherr, Führer, Schwert des Reiches, Schwert des göttlichen Caesar. Überwinder der östlichen Flut, Vertilger der nördlichen Horden. Erhalter und Vermehrer der Welt. Himmelsgesandter, nein selbst Gott.

Ob sie die Vorstellung eines dreigestaltigen Gottes kennen, denkt Marc Aurel? Ich weiß es nicht, denn ihre Gesichtsmuskel sind durchtrainiert, kräftig genug, um die Masken zu tragen, plastisch genug, dass eine Hand ihren Abdruck hinterließe. Auch ihre Augen verraten nichts: flach seit Generationen in der inneren Emigration. Auch das ist eine Art Adel. Immerhin nicht so vordergründig wie die Augen der Legionskommandanten, die ich vor der Krönung in Privataudienz empfangen habe. Sie senkten ihre Feldzeichen vor mir in den Staub, damit ich symbolisch hätte darauf treten können, und eines Tages wird einer von ihnen mich mit seiner traditionsreichen Standarte aufspießen. Was muss ein neuer Kaiser tun, um sich einen guten Start zu verschaffen? fragte ich. Im Perserreich einmarschieren! brüllte Semion, Oberbefehlshaber am Euphrat, alter Kriegskamerad von mir, nicht unbeteiligt daran, den Marc Aurel auf den Schild zu heben. Keiner der anderen hatte einen besseren Vorschlag, und seither weiß ich, dass ich mein erstes Tagebuch als Kaiser im Feldlager schreiben werde.

Die Perser gefährden unsere Gesellschaftsordnung, erläutert man mir. Wir müssen den römischen Frieden verteidigen – den Frieden schreit der Hofnarr dazwischen, unter dessen Schutz die Zinsen wuchern. Da lacht der Ritter Gnaeus Serenus, Armeelieferant und Großgrundbesitzer, und dröhnt zum Hofnarren: Hättest du Macht, würde ich dich zertreten. Und deinen Kaiser, flüstert er leise (der Kaiser hört es nicht, wohl aber der Narr), wenn er so denkt wie du. Und noch im Lachen verneigt sich der Ritter, und ich konnte die Audienz beeenden.

Mittlerweile haben die Priester ihre Litanei beendet. Die persönliche Gratulationstour kann beginnen. Marc Aurel erfährt aus jeder Verneigung (er wusste zuvor gar nicht, wieviele Freunde und Verehrer er hatte), dass er etwas für den Betreffenden tun solle, vorausgesetzt: er käme jemals dazu, etwas zu tun. Der Krieg gegen die Perser, Majestät, sagt der Hofnarr töricht lächelnd, ist der Weg des geringsten Widerstandes.

Brav erzählt, kann ich als schreibende Person nur sagen, brav erzählt und als Hauptfigur sich selbst trefflich ins rechte Licht gerückt. Das ist der Vorteil der Hauptfiguren bei schreibenden Personen, die mit sich reden lassen, vor allem zulassen, dass widerstandslose Zuhörer dem Erzählten schutzlos ausgeliefert werden.

Neugier darauf, was hinter den Dingen steckt, ist auf dem Planeten Amnor öffentlich verpönt: soviel hat die „Chemie der Sprache“ jedenfalls erkannt. Anders wäre es gar nicht möglich, dass sie als Märchenerzählerin solchen Zulauf zu verzeichnen hat. So lebendig kann Literatur nur in toten Gesellschaftsordnungen sein, wenngleich die mündliche Überlieferung natürlich auf die Qualität drückt. Es wird immer nur weitererzählt und nicht originär erzählt. Das darf ich aber meiner Hauptfigur nicht sagen, die keines ihrer Worte je verändert sehen möchte und auch sonst noch zeigt, was an derart geniehaften Anwandlungen noch möglich ist. Meine Hauptfigur ist ein Genie, und ich gebrauche ihr zum Hohn diesen Begriff. Ich darf das, denn sie ist mein Geschöpf. Aber es geht weiter…

Rom ist in Aufruhr: Heeresreform! Eine richtige Heeresreform, das bringt Gewinne! Vaterländische Reden im Senat. Kundgebungen zu Ehren des Kaisers, der endlich durchgreift. Das Volk freut sich, Majestät, sagt der Hofnarr: Du gefällst ihnen, bist ihr Held, ein Staatsmann. Halt’s Maul, ruft Marc Aurel seinem Hofnarren zu.

Der Kaiser geht seit einer halben Stunde auf und ab. Die wartenden Befehlsempfänger treten von einem Fuß auf den anderen, wenn die Majestät gerade nicht hinschaut: normalerweise wölben sich die Brustkörbe (Arschbacken zusammengekniffen! heißt das entsprechende Kommando am Exerzierplatz). Die Bemerkung des Hofnarren und die rüde Antwort Marc Aurels löst die Spannung in empörtem Getuschel. Gemeinsam mit dem Vermögen des Serenus rette ich auch meine Nächte vor den Persern, sagt der Kaiser. Nächte kannst du überall haben, grinst der Narr. Bevor er aber weitersprechen kann, bringt Semion seine dringenden Angelegenheiten vor: Messbares. Aber Marc Aurel hört ihn nicht.

Nachtstraße: Leere der Welt, sagt der Hofnarr. Keimen im Untergrund. Wie soll man auf den bevorstehenden Untergang der materialistischen Gesellschaftsordnung reagieren? Würde nicht jeder vernünftige Mensch seine letzten öffentlichen Funktionen quittieren und ein karges Zimmer in der Vorstadt Roms beziehen: dort sich bei Tag verbergen, nachts aber die Konfrontation grausamer Prinzipien fördern, um ihre gegenseitige Vernichtung zu beschleunigen?

Das kann ich auch als Kaiser, gerade als Kaiser, der seine Funktion ad absurdum führt, antwortet Marc Aurel hoheitsvoll (aber nicht mit der Hoheit seines äußeren Amtes, sondern mit der seines inneren Wesens – na ja, denke ich mir als schreibende Person, das hätte ich vielleicht doch anders formuliert, weniger pathetisch). Wenn nämlich nicht ich es bin, sagt Marc Aurel, gerade ich, dann nehmen sie einen anderen: und sie müssen mich töten, mich der Form halber zum Gott machen, bevor sie einen anderen nehmen. Es unterhält mich, Kaiser zu sein, aber die Rolle ist mir zu absolut. Auch Nicht–Kaiser zu sein (ist gleich sterben) ist mir zu absolut: es handelt sich in Wahrheit nur um Interessenskonflikte zwischen persischen und römischen Kapitalisten. Aber macht es nicht jedenfalls Spaß, dass sie warten müssen, während wir uns unterhalten? Sie wollen marschieren, brüllt Marc Aurel, aber sie müssen warten, weil für den Kaiser ein Augenblick so schwer wiegt wie der andere, und jeder Augenblick zählt wie die Ewigkeit. Also los, Hofnarr: Heeresreform! Einmarsch in Persien! Nächte im Feldherrnzelt!

Die Planetarier staunen über diesen Kaiser, mehr noch über die „Chemie der Sprache“: wie die in der Verkleidung eines Hofnarren mit dem Kaiser spricht. Meine Hauptfigur hat ihre Stellung bei Hof mit ganz kräftigen Strichen gezeichnet. Es ist ja nur eine Erzählung im Roman, in deinem Roman, sagt sie schmeichelnd. Ich wollte schon immer Hofnarr bei Marc Aurel sein, Hölzchenwerfer für den kaiserlichen Philosophen: damit es scheint, als hätte ich seinerzeit dessen Äußerungen provoziert.

Da denke ich mir als schreibende Person: Soll die „Chemie” meinetwegen in die Vergangenheit fliehen. Vielleicht gelingt es über diesen Umweg, dass die Hauptfigur die schreibende Person in die Gunst des Lesers bringt, oder sich selbst oder den Roman (unseren Roman!), oder alle drei. Wenn alles gut geht, soll es mein Werk sein – andernfalls wäre mir die „Chemie der Sprache“ entglitten.