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LAZARUS

Lazarus, komm heraus!

Ich war verwirrt, denn eben noch war ich an einem Ort gewesen, der nach irdischen Erwartungen zwischen den Anschauungen des himmlischen Gartens und des höllischen Feuers lag. Ich wusste dort jedenfalls, dass ich tot war, nur noch darauf wartete, was weiter mit mir passieren würde. Und aus diesem Zustand holte mich der Befehl meines Freundes in die bisherige Umgebung zurück.

Um es ehrlich zu sagen, ich fand mich danach nicht mehr in der Welt zurecht, denn in jenem Schwebezustand war alles, was meine diesseitige Existenz betraf, in einer ungeheuren Klarheit zurechtgerückt worden. Eigentlich gab es dem nichts mehr hinzuzufügen, und damit fiel auch jeder Grund für ein Weiterleben weg. In einem ersten Impuls wollte ich ihn, der mir das angetan hatte, dafür hassen, fühlte allerdings, dass ich des Hassens gar nicht mehr fähig war –, sagen wir also besser, er fand mich verständnislos für sein Tun. Die Bitten meiner Schwestern hätten ihn nicht zu rühren brauchen: unter Hinweis auf das Naturgesetz konnte er sie über kurz oder lang beschwichtigen – tot ist tot. Den angeblich göttlichen Auftrag, manchmal seine Macht aufblitzen zu lassen, hätte er nicht gerade an mir demonstrieren müssen.

Meine Nächsten empfanden ohnehin keine rechte Freude mehr an mir, denn von diesem Tag an saß ich nur noch teilnahmslos da und dachte nach, dachte so breit und vor allem so tief nach, dass Weniges von draußen in mein Innerstes vorzudringen vermochte. Es beschäftige mich nämlich vor allem die Frage, woher er mich eigentlich zurückgeholt hatte?

Ich erinnerte mich deutlich daran, dass was wir hier Himmel und Hölle nennen, dort drüben lediglich die menschlich verständlichen Synonyme waren für die möglichen Evaluierungen eines begrenzten irdischen Daseins: Um Belohnung oder Bestrafung wie bei Gericht handelte es sich nicht, sondern um die selbst herbeizuführende Erkenntnis, die auf jener höheren Wirklichkeitsstufe erforderlich war. Ich habe zwar lediglich den Beginn dieses Prozesses mitgemacht, aber so viel scheint mir sicher: Wie mangelhaft auch immer das Leben erschien und wie schmerzhaft auch immer die Diskrepanz zu dem empfunden wurde, was es hätte sein können – die Qualität des Erkenntnisweges als solche kompensierte dieses Manko früher oder später für jeden, unabhängig davon, wie man ihn mit den uns geläufigen Maßstäben einschätzen mochte. Mir dämmerte, dass dabei nicht nur Verbrecher emporgehoben, sondern auch so manche Heiligen zurückgestutzt wurden.

Wozu hatte er mich mitten aus diesem eigentlich wohltuenden Vorgang zurückgeholt? Ihm als Gleichnis zu dienen, etwa wie jener andere Lazarus, der – anders als der ehemals Reiche – in Abrahams Schoß ruhen durfte? Oder sollte ich Zeugnis ablegen als einer, der am Rand der biblischen Phänomene Himmel und Hölle gestanden war? Wusste er womöglich gar nicht, was da drüben wirklich los war, und kam er daher entgegen seinen Behauptungen gar nicht von dort? War er demgemäß nicht der Messias?

Wie aber hatte er mich zurückgeholt, wenn ihm keine übernatürlichen Kräfte zu Gebot standen?

Oder bildete ich mir das ohnehin nur ein? War es nur ein – immer schwächer werdenden – Abklatsch meiner früheren Existenz…

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Interview mit dem Darsteller des Lazarus

F: Wie haben Sie sich auf diese Rolle vorbereitet?

Ich war zunächst verwirrt, denn – wissen Sie – diese abgehobenen Sujets liegen mir nicht gerade.

F: Denken Sie, dass eine (Anführungsstriche) religiös orientierte Rolle Ihrem Image schaden könnte?

Ich hab’s befürchtet, befürchte es noch, hoffe aber, dass ich mich täusche. Ich probier‘s einfach einmal. Hoffentlich geht es gut.

F: Was sind Ihre nächsten Pläne?

Was völlig anderes! Ich spiele eine Drag-Queen!

F: Sie erstaunen mich!

Was haben Sie erwartet: Dass ich mich auf eine Rolle festlegen lasse! Was halten Sie eigentlich von mir.

F: (beschwichtigend) Aber seien Sie doch nicht aufgebracht…

(verlässt grußlos die Szene, um dann innerhalb von fünf Minuten wiederzukehren)

F: ???

Ich musste auf die Toilette. Wir können das Interview fortsetzen.

F: Ich bin jetzt ein wenig aus dem Konzept gekommen – (beiseite: das ist eine Scheißbefragung).

Was ist daran schwierig. Wir waren bei der Drag-Queen! Welche Art Drag-Queen.

F: Na schön. Welche Art Drag-Queen?

Ich liebe es, wenn Sie mich so fragen. Eine Wucht von einer Drag-Queen: Großgewachsen, blendend in Form…

F: Welche Rolle spielen Sie da konkret?

Lassen Sie mich zunächst einmal in den Accessoires schwelgen, als da wären: Sündhafte rote Spitzen werden meinen Körper umarmen, sodass ich mich fühle wie eine Sirene. Einen Cache-Sexe, ein Element getragen als Mittel zur Verschleierung des männlichen Genitals. Damenschuhe in Herrengrößen. Hüftenstrümpfe. Drag-Queen Brustformen. Lange Perücken. Und als Clou: Ein Traum in Satin!

F: Lassen Sie mich noch einmal fragen: Welche Rolle spielen Sie!

Das ist nicht so wichtig!

F: Also eine richtige Scheißrolle!

Im Gegenteil: Ich spiele mich selbst. Anders als beispielsweise im „Lazarus“ spiele mich selbst! Aussagen wie „Drag-Queens sind Männer, wie Frauen kleiden“ sind wirklich simpel. Sie neigen dazu, mehr über die Person, die die Aussage tätigt, auszusagen. Eine Drag-Queen versucht nicht, eine Frau zu sein. Eine Drag-Queen will keine Frau im Sinne einer Transsexuellen sein. Eine Drag-Queen zieht sich nicht an, um eine sexuelle Phantasie zu erwecken, das wäre eine Transvestie. Drag-Queens sind Künstler. Es ist Ausdruck des Künstlers, auf Emotio-nen und Kreativität einzugehen. Drag ist eine Kunstform. Einige Drag-Queens ak-zentuieren feminine Linien und Kurven, während andere wieder die Rolle persiflieren, zu der Frauen gezwungen wurden. Die Schönheit einer Drag-Queen ist nicht dadurch gegeben, inwieweit sie einer natürlichen Frau ähnelt. Make-up, Haare, Kleider, Schuhe und weiter sind sehr persönliche Ausdrücke, die jede Queen wählt. Es gibt keinen falschen Weg einer Drag-Queen.

(Der Frager ist wie massakriert von dieser Fülle an Details und empfiehlt sich heimlich.)

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Ich konnte mir meine Rollen fallweise nicht aussuchen – ich brauchte das Geld, um zu überleben. Es blieb mir nichts anderes übrig, als den männlichen Part bei einer Adagio-Nummer zu übernehmen. Partnerin war meine liebe Kollegin Aurora, die auf die Moneten genauso angewiesen war wie ich. Wir waren fast nackt, das hatte sich so eingebürgert, dass die Regisseure beziehungsweise die Regisseurinnen angezogen waren, während die Schauspielerinnen beziehungsweise die Schauspieler sich in immer gewagteren Stadien der Entblößung präsentierten, manchmal bis zur völligen Nudität – dabei konnten wir noch froh sein, dass die wichtigsten Teile bedeckt waren, bei Aurora und mir hatte man einen G-String erlaubt, meine Freundin war barbusig.

Wir mühten uns redlich ab, so gut es ging. Wir waren mit einer bronzenen Farbe versehen, vom Kopf bis an die Füße. Ich hatte sowieso eine Glatze geschoren, bei Aurora war das alles andere als einfach – die Haarpracht gab sie nicht ohne weiteres auf. Der Regisseur sagte: „Dann müssen uns jemanden anderen suchen, glauben sie nur ja nicht, dass hier einen Mangel gibt!“ Ich bekniete Aurora, dass sie sich nicht so anstellen sollte. „Dein Haar wächst wieder nach – aber was ist mit unserer Gage!“ Aurora beharrte noch kurz auf ihrer Weigerung, knickte aber dann doch ein – mein Hinweis auf das Honorar, das nicht unbeträchtlich war, gab für sie den Ausschlag.

Der Regisseur plante so etwas wie „Florentina Holzingers Ophelia‘s Got Talent“, nur nicht so aufwendig und eine Spur weniger nackend als das Original. Und während Florentinas Truppe ausschließlich aus Frauen (inklusive der Regisseurin) bestand, begnügte sich der „Director“ nicht nur mit Damen, sondern er gab auch Männern eine Chance. In einer Rezension heißt es:

„Was für ein Kraftakt! Was für eine fulminante Show! Wer einmal Florentina Holzingers grenzüberschreitende Action-Inszenierungen gesehen hat, der weiß, dass diese Extrem-Künstlerin, die ursprünglich vom Tanz kommt, nichts für schwache Nerven ist. Obsessive, verstörende Bilder, getränkt von Schweiß, Schmerz und Blut, manchmal auch Exkrementen und anderen Körperausscheidungen, sind das Markenzeichen ihrer genreübergreifenden Bühnenkunstwerke. Inspiriert von Johann Kresniks radikalem Tanztheater und in der Tradition des Wiener Aktionisten Hermann Nitsch (ebenfalls Österreicher, das muss was zu bedeuten haben!) gibt es bei ihr keine Tabus. Holzinger entblößt Seele wie Vagina, ihre Künstlerinnen ziehen sich Angelhaken durch die Wangen, lassen sich Tattoos vor laufender Kamera stechen oder schieben sich Sonden durch Mund und Nase. Es sind behinderte und nicht behinderte Performerinnen, die sich hier bis zur totalen Erschöpfung verausgaben. Grenzerfahrungen auf beiden Seiten, auf der Bühne und im Parkett. Und falls es jemand noch nicht wissen sollte: Ihr zwölfköpfiges, rein weibliches Ensemble tritt selbstverständlich nackt auf und wird die ganze Zeit von einer Kamera begleitet, die viele Details in Großaufnahme auf zwei Leinwände projiziert.“

So weit wollte der Regisseur nicht gehen, er wollte eine abgespeckte Version seiner Geschichte (das heißt, nur mit uns beiden) liefern. Dabei wussten wir noch nicht genau, was er vorhatte – mir schwankte Böses. Egal, wir turnten hin und turnten her, wobei wir „bella figura“ machten oder zumindest zu machen glaubten. Wir schwitzten redlich, ohne dass die Farbe wieder abging. Wir ließen uns Tattoos stechen und wir schoben uns Sonden durch Mund und Nase – ich hatte bis dahin noch nicht einmal gewusst, wie so etwas tatsächlich funktionierte. Wir verausgabten uns bis zur totalen Erschöpfung.

Und dann kam der Kerl mit dem daher, was ich befürchtet hatte: „Zieht eure Slips aus und zeigt euch hüllenlos!“, das hören und dagegen zu protestieren, war für Aurora eins: „So haben wir nicht gewettet!“, schrie sie. „Dann suche mir anderes Gespann – die Duos stehen Schlange bei mir, wie ihr wisst!“, erwiderte der Regisseur. Es war an mir, den Schaden wieder zu kitten. „Schau, was sind schon diese paar zusätzlichen Fransen!“, versuchte ich abzuwiegeln.

„Ja, aber dann kann jeder, der es möchte, in mein Innerstes hineinschauen!“ Das war es also, was sie beschäftigte. „Wir haben nicht viel Zeit, um uns zu entscheiden – denke auch daran, dass wir das Geld brauchen!“, versuchte ich, sie zu locken.

„Sind die Herrschaften zu einem Ergebnis gelangt?“, fragte der Director zynisch. „Ja, wir machen es – und was immer sie wollen!“, sagte ich. „Dann legen wir los!“, war seine Antwort.

Er setzte bei mir auf meinen Steifen, jedenfalls solange er noch stand, und er stand schramm, angesichts der Lage, in der er sich fühlte – aufgeheizt. Aurora jedoch fand ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt. „Und du hast gesagt, dass alles ganz harmlos sein wird, dass er mir keinesfalls in mein Innerstes blicken – aber genau das ist jetzt passiert, er sieht meine inneren Schamlippen!“, gab sie sich entsetzt.

Und der Clou kam noch. Die Produktionsfirma ging pleite und wir fielen um unser Geld um. „Sorry!“, bedauerte der Regisseur. „Ich kann auch nichts machen!“

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Ich war ratlos. So ohne Honorar – ich nagte am Hungertuch, Aurora mit mir. Ich fühlte mich für sie verantwortlich, da ich sie umsonst in dieses Abenteuer hineingetrieben hatte. Ich suchte krampfhaft nach einem Ausweg: Lazarus war ein Flop zumindest per saldo, das Interview detto und von unserem Ausflug in die erotische Sphäre mochte ich gar nicht sprechen. Hatten wir unseren Beruf verfehlt? Das war mitnichten der Fall – da waren uns ganz sicher, schließlich hatten wir beide das Reinhardt-Seminar mit Erfolg bestanden. Das war zwar auch keine Garantie für den großen Wurf, aber immerhin.

Und dann – der entscheidende Durchbruch! Salome (die Theaterfassung) mit Aurora in der Titelrolle und ich als Herodes – wir waren überglücklich! Sodann ein anderer Regisseur – ich war davon überzeugt, dass er nicht so ein Windei wie der frühere. Seriös, seriöser ging‘s nimmer! Er probte mit uns und den übrigen Darstellern hart und gerecht.

Bis er dann herumdrucktste und uns insgeheim fragte, ob Aurora nicht den „Tanz der sieben Schleier“ am Ende nackt performen könnte. „Nackt, immer nur nackt!“, resignierte sie. Da war es ein geringer Trost, dass ich auch als König meine Kleidung im Zuge des „Tanzes der sieben Schleier“ ablegen musste – der fallweise Misserfolg des nichtaufgerichteten Penis inklusive. Aurora achtete nicht auf mich, sie fragte sich, wieso sie kein Engagement bekommen konnte, ohne dass sie sich im Zustand der völligen Entblößung befand.

Sie begehrte auf – allein das nützte ihr nichts. Wieder der Hinweis, dass es zahllose andere Schauspielerinnen gab, die problemlos alles mit sich machen ließen. Ich hatte mich nicht gerührt…